Ohne Blub
In meiner Erinnerung bin ich mir nicht in jedem Detail sicher, was damals geschah. Es muss im Winter gewesen sein, Anfang 1962. Auf dem Flur des alten Krankenhauses war es ziemlich kalt. An der den Fenstern gegenüberliegenden Seite standen Betten aufgereiht, Kopfteil an Fußende. In den meisten lagen Patienten, die auf eine Behandlung warteten. Der jüngste von ihnen war ich, der fünfjährige Blinddarm.
Nachdem ich in den Arm eine Spritze von einer Krankenschwester mit einem auf die Dauerwelle gesteckten Häubchen bekommen hatte, wachte ich in einem Zimmer auf, in dem es eine Heizung gab und fünf weitere Betten. Die Wärme machte die langsam beginnenden Schmerzen an der Operationsnarbe erträglicher. Die neugierigen Blicke der anderen Patienten verstand ich nicht. „Na, was ist es bei dir?“, fragte endlich einer von der anderen Zimmerseite.
Bevor ich die Frage verstanden hatte und antworten konnte, wurde die Tür aufgerissen. Alle Köpfe drehten sich in diese Richtung.
„Guten Tag, wie geht es uns denn heute?“, rief der alte Mann im weißen Kittel in das Zimmer und kam auf mich zu. Weitere weiß gekleidete Männer folgten ihm. Ich sah ihn stumm an.
„Wie geht es dem Blinddarmpatienten?“, fragte er halb an die weißen Männer, halb an mich gerichtet.
„Ich habe Hunger.“
„Da wird das Mittagessen helfen“, antwortete der alte weiße Mann, während er meine Bettdecke zur Seite schlug und meinen bandagierten Unterbauch abtastete. Ich verhielt mich dabei still, was ihn offenbar zufrieden stimmte. „Unsere Küche hat doch sicher wieder etwas schön Gesundes für unsere Patienten vorbereitet, oder?“, sprach er an die anderen weißen Männer gewandt, ohne eine Antwort zu erhalten.
„Das werde ich mir morgen gründlicher ansehen“, sagte er, wieder halb an die weißen Männer, halb an mich gerichtet und steuerte dabei auf das nächste Krankenbett zu.
Unendlich lange nachdem die weißen Männer gegangen waren, knurrte mein Magen so laut, dass alle im Zimmer es hören mussten. Ich versteckte mich unter der Bettdecke und tat so, als hätte ich mit dem Knurren nichts zu tun.
Dann kam endlich die Schwester mit der Häubchendauerwelle, die mir vor der Operation die Spritze gegeben hatte, mit einem Servierwagen durch die Tür und rief: „Es gibt leckeren Spinat zum Mittag.“ Mein Magen verkrampfte sich sofort und ich wünschte mich zu meiner Oma an den Küchentisch. Sie war die Einzige, die nicht nur wusste, dass ich Spinat hasste, sondern mir auch nie welchen auf den Teller füllte. Meine Mutter sagte immer: „Da ist sehr viel gesundes Eisen drin, und es wird gegessen, was auf den Tisch kommt.“ So sah es die Krankenschwester wohl auch. Sie stellte mir außer einem Becher Tee einen Teller mit Spinat, Salzkartoffeln und einem leicht angebrannten Stück Hackbraten auf den Auszug des Nachtschranks. Ich rührte den Teller nicht an.
Eine Weile später knurrte mein Magen noch lauter. Die Häubchendauerwellenschwester kam mit dem Servierwagen zurück und sammelte das Geschirr ein. „So geht das aber nicht, du musst essen“, sagte sie in einem sehr bestimmten Tonfall, als sie meinen unberührten Teller sah.
„Kannst du dich noch nicht richtig aufsetzen? Soll ich dir helfen?“ Sie hatte noch nicht zu Ende gefragt, setzte sich aber schon auf einen Holzstuhl neben den Nachttisch. Ich richtete mich etwas auf, weil ihr Gesichtsausdruck keinen Widerspruch duldete. Sie nahm die Gabel und führte sie mit Spinat darauf an meinen Mund. Automatisch öffnete ich Lippen und Zähne. Der Spinat berührte meine Zunge und meinen Gaumen. Ich musste würgen. Der Spinat wählte den Weg in die Richtung der weißen Schwesterntracht. Die Tracht und das Gesicht de Schwester waren grün gesprenkelt. Ich hörte ein lautes, entsetztes Schreien.
An das, was direkt danach geschah, erinnere ich mich nicht so genau. Ich bin aber sicher, dass ich in den folgenden Tagen der einzige Patient in dem Zimmer war, der vor der Essenslieferung gefragt wurde, ob ihm das Angebot der Küche zusagte.
Ich habe nie wieder an so vielen Tagen nacheinander mein damaliges Lieblingsessen, Kartoffelstampf mit Apfelmus, bekommen.