Das Abendmahl
Wie immer zu dieser Jahreszeit neigt sich der Tag rasch dem Ende und macht Platz für den Abend, der seinerseits wiederum von der Nacht zu Bette getragen wird. Nun mochte es irgendetwas zwischen siebzehn und achtzehn Uhr gewesen sein, als ein mir bekannter Duft durch die Räume unserer kleinen zweieinhalb Zimmerwohnung direkt in meine Nase kroch und mir ein lautes knurren im Magen bescherte. Im Fernseher lief wieder eine von diesen typischen Frühabend-Serien die ich als Kind bereits sehen durfte. Tom und Jerry, das typische Spiel zwischen einer Katze und einer Maus wie man sie den kleinen Kindern im Kindergarten immer wieder erzählt, war bereits vorbei und machte Platz für eine nicht weniger brutale jedoch eher real anmutende Sendung. Den Soundtrack habe ich noch heute im Ohr. Ich erinnere mich an all dies als wäre es gerade gestern gewesen und doch ist es bereits viele, sehr viele Jahre her.
Ich lag wie jeden Abend, nachdem ich von der Schule kam, meine Hausaufgaben zwar widerwillig und dennoch erledigt hatte auf dem Bauch mit nach oben ausgestreckten Beinen, meinen Kopf auf meine vor dem Gesicht verschränkten Handflächen gestützt und starrte interessiert in einen viereckigen mit roter Plastikverschalung ausgestatten Kasten der nicht viel Größer war als mein Schulranzen. Wir hatten halt nicht viel Geld und konnten uns daher weder Luxusgüter geschweige denn einen größeren Fernseher leisten. Das Bild welches mir entgegen flimmerte war noch nicht einmal in Farbe. Selbst dafür hat es einfach nicht gereicht. In den unterschiedlichsten Grautönen dargestellt und quäkend aus dem einzigen Lautsprecher tönend vernahm ich die mir allseits bekannten Worte die sich in fast jeder Folge wiederholten oder zumindest einmal vorkamen: „Harry. Ja Stephan. Hol doch schonmal den Wagen vor. Ja Stephan.“. Ich sprach diese Worte bereits mit einem Grinsen im Gesicht mit.
Die Stube war schummerig und spärlich beleuchtet. Die einzige Lichtquelle war der kleine Flimmerkasten. Einzig vom Flur her drang ein wenig warmes fast schon dunkelgelb schimmerndes Licht. Auch wenn es draußen bereits bitter kalt war, der Winter hatte bereits Einzug gehalten und ließ große weise Flocken ganz sanft zur Erde rieseln. Man konnte ihnen dabei zuschauen so langsame viel das weiße Zeug vom Himmel. Und es war so dicht, dass man sich vor dem anmutenden Nebel auf der anderen Seite der Fensterscheibe gruseln konnte. Schatten huschten herüber, Figuren von Schnee zeigten ihre Gesichter auf der Fensterscheibe für einen kurzen Augenblick bevor sie sich wieder im Nichts auflösten. Es war fast so als wären sie nie dagewesen.
Aus der Küche erklang gelegentlich ein Geklapper von auf einander schlagenden Tellern. Besteck wurde lauthals der Schublade entnommen und schepperte ganz fürchterlich. Gott sei dank war es eben in der Küche die etwas weiter weg war. So wurde ich beim Fernsehen also nicht gestört und ließ meine Beine weiterhin in der Luft hin und her tänzeln.
Inzwischen füllte der wohltuende Duft alle Räume. Die Zeichen für ein anstehendes Abendmahl waren mehr als deutlich. Alles sprach dafür das es in kürze losgehen müsste. Mein Magen wurde bereits ganz flau vor lauter Hunger. Es duftete nach Tomatensauce mit Käse und etwas was man darin einlegen konnte. Etwas, was gerade Kinder in meinem Alter zum einen besonders gern gegessen haben und zum anderen recht preisgünstig war. Denn man bekam eine große Dose davon schon für ganze neunundvierzig Pfennige. Doch es war mehr als nur diese Tomatensauce mit reichlich Käse und das was mein hineinlegte. Es duftete nach frischen Kräutern.
Klopf-Klopf machte es und eine Tür schob sich auf. „Essen ist fertig. Stellst Du die Teller bitte schon einmal auf den Esstisch. Danke“ rief mir meine Mutter aus der Durchreiche entgegen, die in einer verwinkelten Ecke der Stube an der Wand angebracht war und in der sich unsere kleine Essecke befand. „Ja, mache ich. Die Sendung ist gleich zu Ende.“ Antwortete ich ihr. Meine Mutter stellte zwei Teller in die Durchreiche. Dazu das benötigte Besteck. Den gefüllten Topf sowie eine Kelle zum Auffüllen.
Nachdem der Abspann mit der Titelmelodie nun lief, die ich versuchte mit zu pfeifen, was mir nach meinem Empfinden durchaus gelang, begab ich mich teils hüpfend, teils gehend in die Essecke. Knipste dort das Licht an als ich auf den dicken großen viereckigen Schalter mit meiner kleinen Hand drückte. Von der Decke scheint ein Licht welches aussah wie das der Abendsonne. Es war nicht weiß sondern tief gelb. Fast so als würde die Sonne selbst gerade zu Bett gehen wollen. Schatten zeigten und tanzten sich an den Wänden von Gegenständen, die in der näheren Umgebung lagen, standen oder hingen. Eine gespenstische wenn auch gemütliche Atmosphäre. Ohne einen Stuhl zu Hilfe zu nehmen kam ich nicht an die Durchreiche heran. Also zog ich mir einen Stuhl dahin, kletterte hinauf und holte einen Teller nach dem anderen aus der Durchrauche um ihn auf den tisch zu stellen. Besteck, Kelle als auch der dampfende Topf folgten. Es duftete köstlich. Ich schloss man die Augen, so verleitete der Duft von riesigen Tomatenplantagen, einem Meer von geschmolzenem Käse und reichhaltigen Kräutertöpfen unterschiedlichster Art zu träumen. Nun, der Topf war heiß. Also stellte ich ihn langsam und behutsam doch zugig auf die Topfunterlage in mitten des Tisches. Meine Mutter kam um die Ecke löschte hinter sich in den Räumen aus denen sie kam das Licht. Denn wir mussten sparen, an allem. Wir hatten nicht viel, doch es war uns genug. Als meine Mutter sich setzte, nahm ich ebenfalls Platz. Sie hob den Deckel des Topfes und ein eigenes Universum kindlicher Herrlichkeiten stieg in die Luft, der Sonne entgegen und versprach verheißungsvolles. Neugierig schaute ich über den Rand des Topfes. Ein rotes grobes Meer war darin von kleinen grünen flecken bedeckt wie kleine Inseln. Dann waren da noch lange weiße Nudeln die ab und an die Oberfläche durchbrachen wie Würmer. Das Licht war so schummerig, dass selbst die Nudeln gespenstische Schatten im Inneren des Topfes warfen. Heißer Dampf stieg auf. Ich griff zur Kelle und schickte mich an mir eine große Portion dieser Köstlichkeit auf meinen Teller zu füllen, als meine Augen über den Topf zu meiner Mutter hochsahen.
Der heiße Damp schien mir einen Streich zu spielen denn aus dem wunderschönen Gesicht meiner Mutter formte sich eine gehässige widerlich grinsende Fratze mit zwei Reihen scharfer Zähne und so großen wie weit geöffneten Augen, das sie aussahen wie Fußbälle. Der Gestank von Schwefel, Schimmel und Verwesung stieg mir in die Nase. Langsam sank ich auf meinem Stuhl zusammen und begann zu zittern. Ich wandte mich ab blickte verstohlen wieder in den Topf, während meine Hand mit der Kelle langsam gen Tischplatte niederging. Das Innere des Topfes brodelte und es wühlten weiße Würmer darin, schlangen sich um einander. Durchwühlten die dunkelrote fast schon matschige Flüssigkeit als wäre es zähes Blut. Kleine Blasen traten an die Oberfläche und zuklatschen laut hörbar. „Na hast Du denn gar keinen Hunger, Junge!“ schmetterte mir eine hämische und dunkle Stimme entgegen. „Was hast Du denn, sieht es nicht appetitlich genug für Dich aus?!“ donnerte die zweite Anrede wie Hammerschläge auf mich hernieder. Sie riss mir die Kelle aus der Hand, tauchte Sie tief in den Topf hinein, schöpfte großzügig daraus und wie ein Wasservoll ergoss sich Ihr Inhalt über meinen Teller. Sich noch immer um einander windend, schlingend wühlten sich die Würmer durch den Matsch. Dann tauchten aus den Untiefen meines Tellers Kugeln wie Tischtennisbälle auf, drehten sich so lange bis sie mich anstarrten. Es waren Augen, Augen die tief kalt, erschreckend umringt von einer wabernden Oberfläche auf der sich madenartiges Gewürm zum Tanz anstarrten. Dann wurde es dunkel …
„Huch was ist denn nun passiert.?“ Fragte meine Mutter mit sanfter Stimme in die Dunkelheit hinein. Das Licht war ausgegangen und auch der Fernseher. In unserer Wohnung war es stockdunkel. Allein der rieselnde Schnee vor den Fenstern bewegte sich. Ich saß ganz still, regungslos und in mich versunken auf meinem Stuhl konnte und wollte mich nicht bewegen. Ich hörte das ein Stuhl zurück gerückt wurde. Schritte tapsten über den Fußboden, schienen sich zu entfernen. Dann, das Klappern eines Metallkastens. Zweimal knallte es ganz fürchterlich laut und das Licht ging wieder an. Auch der Fernseher zeigt sich wieder in gewohntem Schwarz-Weiß Geflimmer mit quäkender Stimme.
„So das wäre erledigt.“ hörte ich meine Mutter sagen die gerade wieder um die Ecke kam. „Nun wollen wir essen nicht wahr.“. Ich schaffte es nur meinen Kopf langsam bestätigend zu nicken und schaute auf meinen Teller. Alles war, wie es sein sollte. Es gab Nudeln in Tomatensause mit aus der Dose, zusätzlich garniert mit reichlich Käse der sich inzwischen verflüssigte und seine gelben Spuren im roten Meer hinterließ. Es duftete noch immer ganz ausgezeichnet. Und Hunger verspürte ich ebenfalls. Also tauchte ich meinen Löffel in meinen Teller, schöpfte daraus und steckte mir den Löffel in den Mund. Es schmeckte herrlich. Doch dann versiegte das Fernsehprogramm. Die Sendung, die gerade noch lief verzerrte sich in weiß-schwarze zitternde streifen und leuchtete auffällig. Aus dem kleinen piepsigen Lautsprecher vernahm ich nur noch einen Ruf hellen und suchenden Ruf:„Carol-Ann … Carol-Ann wo bist du ?“…