Die Stadt der Vögel
Es war einmal ein kleines Mädchen, das ging mit seinen Eltern auf die Jagd in den Wald. Sie wollten ein Wasserschwein oder ein paar Ghuhus erlegen und zum Abendsignal wieder zuhause sein.
Es war ein besonderer Tag, weil das Mädchen seinen eigenen Bogen dabeihatte und ihn heute zum ersten Mal einsetzen sollte, um Beute zu erlegen.
Weil das Mädchen sehr neugierig und ein kleiner Wildfang war, ermahnten es die Eltern (wie jedes Mal), dass es sich im Wald nicht von ihnen entfernen sollte, weil es sich sonst leicht verlaufen könnte.
Sie paddelten ein Stück den Meerfluss hinunter und legten am Ufer nach der Einmündung eines kleinen, namenlosen Nebenarms an, um nach frischen Fährten zu suchen. Die Landspitze zwischen den beiden Wasserläufen war ein beliebter Treffpunkt, an dem sich die verschiedensten Waldbewohner zum Trinken einfanden.
Bei ihrer Ankunft stoben ein paar Wasserschweine ins Ufergehölz davon, ein Schwarm Vögel erhob sich, und aus den Baumkronen drangen die warnenden Rufe der Ghuhus.
Die Jäger hatten nicht vor, ihre Beute direkt an der Trinkstelle zu machen, denn das würde die Tiere auf lange Zeit von dort vertreiben. Sie wussten, dass sich die Tiere in den Wald zurückziehen und die Wasserstelle aus der Ferne beobachten würden. Aber die Jäger würden sich aus ihrem Rücken anschleichen…
Sie versteckten sich und warteten. Nach einer Weile pirschten sie sich in einem großen Bogen in den Wald, den Nebenarm hinauf und weg vom Hauptfluss. Sie kannten die Fluchtwege der Wasserschweine und wollten ihnen weiter oben auflauern.
Während sie sich lautlos durch das Unterholz bewegten, wuchs die Aufregung des Mädchens – bald schon würde sie mit ihrem Pfeil das erste Beutetier erlegen!
Ihre Mutter und ihr Vater schlichen voraus und zeigten ihr, wohin sie ihre Füße setzen musste, um Geräusche zu vermeiden, worauf sie achten musste, um nicht an Zweigen hängenzubleiben und auf welche Laute um sie herum sie Acht geben sollte, um die Bewegung eines Beutetiers und seine Richtung zu erkennen.
Immer wieder hielten sie kurz an, kauernd und horchend.
Aus den Augenwinkeln nahm das Mädchen eine Bewegung über sich wahr. Vorsichtig drehte es den Kopf und entdeckte im Blätterdach über sich ein Gesicht.
Es war ein junger Ghuhu, der da unbeweglich durch das Laub auf sie herunterstarrte.
Sie schätzte die Entfernung und wusste, dass ihr Pfeil das Tier treffen konnte.
Ihre Eltern setzen sich wieder in Bewegung, ihr Vater bedeutete ihr mit einem Wink, zu folgen.
Sie richtete sich vorsichtig auf – der Ghuhu rührte sich nicht. Vorsichtig, ohne den Blick von dem Tier zu wenden, hob sie ihren Bogen, an dem schon die ganze Zeit ein Pfeil angelegt gewesen war.
Sie spannte die Sehne, bis sie an ihre Wange drückte. Für den Bruchteil eines Augenblickes sah sie zu ihren Eltern, deren langsame Bewegung sie weiter vorne zwischen Büschen und Farnwedeln erahnen konnte.
Als sie wieder hinaufschaute, war der Ghuhu verschwunden.
Sie entspannte den Bogen, atmete aus und schickte sich an, den Anderen zu folgen… – Da sah sie ihn wieder!
Geräuschlos und flink bewegte er sich einen Ast entlang, hangelte sich weiter und lief dort oben genau in die Richtung, in der die Eltern irgendwo vor ihr sein mussten.
Sie setzte sich in Bewegung, um zu ihnen aufzuschließen. Den Blick zwischen dem fliehenden Tier über sich und dem Boden hin- und herbewegend eilte sie geduckt weiter.
Der Ghuhu hielt an und schaute sich suchend um. Sie duckte sich hinter einem Strauch und spähte durch die Blätter. Er sah sie nicht. Er bewegte sich ein wenig weiter, zögerte, und hielt wieder an, um nach der Verfolgerin Ausschau zu halten. Eine Frucht, die über ihm in Griffnähe herunterhing, nahm jetzt seine Aufmerksamkeit in Anspruch.
Schnell hob sie den Bogen mit dem Pfeil – dabei streifte sie einen Farnwedel. Das leise Rascheln ließ den Ghuhu aufschrecken. Sie verfolgte seine hüpfende Flucht mit den Augen – und versuchte gleichzeitig, sich mit einem Seitenblick zu vergewissern, dass ihre Eltern noch da waren. Eine Bewegung zwischen Büschen und Baumstämmen, nur einen halben Steinwurf entfernt, wog sie in Sicherheit. Sie wandte sich wieder ihrer Beute zu.
Der Ghuhu saß jetzt arglos hoch in einem Baum seitlich vor ihr und kaute genüsslich an einer Palmblüte.
Sie schlich sich so lautlos, wie sie es gelernt hatte ein paar Schritte näher und setzte den Bogen an. Diesmal achtete sie darauf, kein verräterisches Geräusch zu verursachen. Sie hielt den Atem an und spannte. Sie hatte das Ziel genau im Visier ihrer Pfeilspitze. Sie würde treffen!
Die Sehne schwirrte – sie blinzelte – der Ghuhu war verschwunden!
Hatte sie ihn getroffen? Oder hatte er sich vorher weggeduckt?
Suchend sprang ihr Blick zwischen Zweigen, Stamm und dem Waldboden hin- und her, doch sie konnte keine Spur mehr von dem Tier entdecken.
Sie seufzte enttäuscht und beschloss, diese verpasste Gelegenheit lieber schnell hinter sich zu lassen. Sie wandte sich dem Pfad zu, um die Eltern einzuholen. Dort, wo sie die beiden zuletzt gesehen zu haben meinte, war niemand. Sie sah sich um, horchte angestrengt und spähte in alle Richtungen – aber kein Laut war zu hören und nicht die geringste Bewegung zu sehen.
Wo waren sie hin?
Plötzlich zuckte sie zusammen – ein lautes kehliges Lachen erschallte aus der Baumkrone über ihr und hallte vielfach zwischen den Stämmen wider.
Sie blickte hinauf und sah weit oben den Ghuhu, der da gesund und munter auf seinem Ast saß und sich schüttelte. Lachte der sie etwa aus? Und – nicht nur der eine! Auf einmal tauchten ringsum die Köpfe von Artgenossen aus den Blättern, und alle ließen ihr spöttisches »G-hu-hu-hu-huu!« hören, als ob sich alle ausschütten wollten vor Hohngelächter über die erfolglose Jägerin.
Ärgerlich drehte sie sich um und ging weiter. Dann fing sie an zu rennen, wild entschlossen, ihre verschwundenen Eltern allein durch die Kraft ihrer Bewegung wiederzufinden… Kopflos ging es durchs Unterholz, durch widerspenstige Vorhänge aus Rankwerk drängend, über gewundenes Wurzelgeflecht stolpernd – bis ihr der Atem versagte… Sie hielt wieder an, schnaufend und schwindlig drehte sie sich im Kreis, denn sie hatte jetzt nicht mehr die geringste Ahnung, in welche Richtung sie gehen sollte, oder aus welcher sie gekommen war.
Ein mulmiges Gefühl überkam sie, eine Mischung aus Angst und vor allem Ärger. Ärger über die gemeinen Ghuhus, Ärger über ihre Eltern, die einfach davongelaufen waren, ohne sich um sie zu kümmern; und Ärger über sich selbst, weil sie nicht auf die Mahnungen der Großen gehört hatte.
Sollte sie laut rufen? Nein – sie würde sich doch nicht lächerlich machen wie ein kleines ängstliches Kind; außerdem würde sie damit alle Tiere aufschrecken und ihre Eltern noch ärgerlicher machen, als sie wohl schon waren.
Sollte sie einfach umkehren, zum Boot zurücklaufen und dort warten? Aber – in welche Richtung war zurück?
Mitten in diesen unerfreulichen Überlegungen drang ein Rauschen an ihr Ohr, sanft und fern zuerst, dann schnell näherkommend und brausend. Heftiger Regen setzte ein, trommelte ohrenbetäubend laut auf das Blätterdach und sandte Sturzbäche herunter auf den Waldboden.
Jetzt fing sie doch an, zu rufen. Verschämt und zaghaft am Anfang; aber als sie die eigene Stimme unter dem Regenlärm nicht hören konnte, legte sie die Hände an den Mund und schrie die Namen ihrer Mutter und Ihres Vaters aus Leibeskräften hinaus in alle Richtungen.
Nichts anders kam zurück als das harte Prasseln des Wolkenbruchs.
In den kalten Regen auf ihrem Gesicht mischten sich ein paar unbemerkte Tränen. Sie schloss die Augen und holte ein paarmal zitternd Luft, bis die Panik langsam nachließ. Sie fing an zu überlegen.
Sie musste zurück zum Meerfluss. Dem könnte sie folgen, bis sie entweder ihre Eltern fand, oder noch weiter, bis sie wieder ins Dorf zurückgelangen würde.
Aber erst musste sie wissen, wo sie war! Dann würde sie auch die Richtung kennen, in die sie gehen musste. Von ihren Eltern hatte sie gelernt, dass man sich nicht verlaufen kann, solange man den Berg sehen kann. Und den Berg kann man von fast überall im ganzen Land sehen.
Sie musste auf einen Baum steigen, einen hohen Baum, dessen Krone über die anderen hinausragte. Von oben würde sie den Berg und den Tempel sehen, und dann müsste sie nur solange nach rechts gehen, bis sie auf den Fluss stoßen würde.
Das Mädchen war, wie schon erwähnt, ein Wildfang, und zuhause tat es nichts lieber, als auf Bäume zu klettern. Also war es guter Dinge, dass sein Plan nicht schwer umzusetzen sein würde. Bald hatte es auch einen schönen, hohen Kletterbaum gefunden, mit Ästen und Ranken bis zum Boden herab. Der Regen machte es nicht ganz einfach, im rutschigen Astwerk Halt zu finden; aber das hatte sie schon oft geübt. Behände und flink wie ein kleiner Ghuhu schwang sie sich von Ast zu Ast empor, und bald hatte sie den Wipfel erreicht.
Als sie oben ihren Kopf durch die Blätter steckte, klatschte ihr noch immer der Regen ins Gesicht. Sie sah nichts als Bäume. Noch dazu stieg rings um sie dicker Dunst aus den Baumkronen und vermischte sich mit den tiefhängenden Regenwolken. In der geschlossenen Decke aus Laub gab es keine Unterschiede, keine Hinweise auf einen Flusslauf oder einen Hügel, keine Bewegung – nur Bäume im Regen. Vereinzelt tat sich eine Lücke im Dunst auf und gab den Blick in etwas größere Entfernungen frei – doch auch dort war nichts anderes zu sehen als die ausgedehnte, einförmige Blätterdecke des Waldes.
Verzweiflung überkam das Mädchen wieder, denn es wusste, dass sich das Wetter und die schlechte Sicht nicht so schnell ändern würde. Aber… Vielleicht konnte es warten, bis das Signal vom Berg zu hören war?
Es wartete und lauschte in den Regen. Unaufhörlich wendete es den Kopf in alle Richtungen, in der Hoffnung, einen Blick auf den Berg zu erhaschen, der sich vielleicht doch einmal in einer Lücke im Regendunst auftun könnte.
Und wirklich…
Für einen Moment riss ein verirrter Windstoß eine Bahn in den Nebel, und zwischen wirbelnden Wolkenfetzen sah das Mädchen einen Augenblick lang die dunkle Silhouette des Berges!
Doch was für ein Schrecken ergreift das Mädchen bei diesem Anblick! Der Berg sieht ganz anders aus, als es ihn kennt, seine Form ist ihm fremd – er sieht aus, als hätte ihn etwas gespalten und eine Hälfte würde fehlen. Und das schlimmste ist: Der Tempel ist nicht da! Dort wo auf halber Höhe des Berges sonst das vertraute sanfte Leuchten ins Land herüberscheint, dort ist Leere – einförmige dunkle Leere!
Grauen packt das Mädchen. Denn es weiß jetzt, dass es hinein ins Niemandsland geraten ist, in die verlassenen Gegenden hinter dem Berg. Ist es wirklich so weit gerannt, dass es die sicheren Landstriche verlassen und die Grenze überschritten hat? Wie soll es jemals den Weg zurück nach Hause finden?
Das Mädchen kauert dort im Regenbaum wie ein kleiner nasser Vogel; in den hängenden Zweigen rauscht der Regen durch das Laub, tief hinunter in das verlassene Dunkel des Waldes, in Dickicht, Wurzelgeflecht und Erde. Ihm ist, als träumte die Welt einen schweren Traum, und es sei darin gefangen – für immer verschollen im Regenland hinter dem Berg.
Da landet mit gespreizten Flügeln ein riesiger schwarzer Vogel neben dem Mädchen im Baumwipfel. Der Wipfel neigt sich ein wenig zu Seite, so groß und schwer ist der Vogel. Er hat ein schillerndes Gefieder und einen mächtigen glänzenden Schnabel. Er sitzt neben ihr und scheint sie von oben herab zu mustern.
Plötzlich – das Mädchen traut seinen Ohren nicht – spricht der Vogel zu ihm!
»Du hast dich verlaufen!«
Der Regen rauscht, der Vogel spricht…
»Du hast dich verlaufen. Aber du hast etwas gefunden.«
Hinter ihrem Rücken wird es mit einem Mal heller. Sie schaut sich um, ihr Blick geht über die endlosen dunklen Reihen der dampfenden Bäume weit bis ins Herz des verlassenen Waldlandes. Dort lichtet sich der Dunst, und der Himmel schickt gleißendes Licht durch die Regenschleier…
Etwas ragt dort über die Bäume, fast weiß in dem Kegel von Himmelslicht.
Ein Turm, nein – viele Türme! Mächtig und hoch scheinen sie das Himmelsgewölbe zu berühren, aus Stein gebaut, von Pflanzen bewohnt, die auf den Dächern und Kanten wuchern und ihre Luftwurzeln in die Tiefe der Schluchten zwischen den Gebäuden hinunterstrecken.
»Komm mit«, sagt der Vogel, »ich zeige dir unsere Stadt.«
Sie hat Angst. Sie sagt ihm, dass das Land hinter dem Berg gefährlich und verboten ist.
»Du hast die Wahl«, sagt der Vogel. »Ich kann dich jetzt zurück zu deinen Eltern bringen, oder du kannst eines großen Geheimnisses teilhaftig werden. Gleich wofür du dich entscheidest – dir wird nichts geschehen. Die einzige Bedingung ist: Wenn du das Geheimnis wählst, darfst du niemandem davon erzählen, was auch immer geschehen mag. Sonst wirst du Teil des Geheimnisses und darfst nie wieder in deine Welt zurückkehren.«
Das Mädchen blickt auf die leuchtenden Türme, rätselhaft, bedrohlich und verheißungsvoll im diesigen Licht des fremden Waldes. Es denkt an seine Eltern und an das Verbot. Aber der Vogel hat versprochen, dass ihr keine Gefahr droht…
Sie wählt das Geheimnis.
Und der Vogel trägt sie auf seinen Schwingen hin zur Stadt. Er zeigt ihr all die wunderbaren Dinge, die Rätsel und die Schönheiten, die dort von den Vögeln bewacht werden. Die Augen und das Herz des Mädchens werden erleuchtet von den Schätzen, derer es dort ansichtig wird, und sein Geist wird erfüllt von dem Wissen, das die Vögel dieser Stadt seit uralten Zeiten hüten.
Dann trägt der Vogel das Mädchen zurück an den Meerfluss, wo seine Eltern es überglücklich wieder in die Arme schließen dürfen. Und wie es versprochen hat, erzählt es kein Wort von seinem Erlebnis, nicht den Eltern und auch sonst niemandem…