Ein Auszug aus meinem aktuellem Projekt.
Ein Krüppel im 9. Jahrhundert
„Auf, HERR, hilf mir, mein Gott! Denn du schlägst alle meine Feinde auf den Backen und zerschmetterst der Gottlosen Zähne…
quia percussisti omnium inimicorum meorum maxillam dentes impiorum confregisti.“
Manfrieds Augen klebten an den Lippen des Mönches und lauschte konzentriert den Worten. Keiner der Anwesenden rührte sich. In die Stille hinein senkte der Mann seinen Kopf und stellte den Korb mit Brot und Äpfeln ab.
Morgen, war der Tag, der ihm entweder den Zutritt in das Innere des Klosters ermöglichte oder ihn zwang, weiter bettelnd durch das Land zu ziehen. Ihm war klar, dass er der Sonderling in diesem herumlungernden Haufen darstellte, doch sein Überlebenswille war stärker, als die Niederlage.
Nachdem der Riegel von innen krachend in sein Schloss gefallen war, stürzten alle gleichzeitig auf das Essen. Manfried, unfähig sich gegen den Mob durchzusetzen, wandte sich ab und überließ ihnen das Gnadenbrot des Klosters. Er humpelte zurück zu seinem Fleck an der Mauer und zog vom Vortag den Brotkanten aus dem Umhang und biss ein Stück ab. Eine gereichte Mahlzeit verschlang er nie komplett. Sein Leben als Sonderling hatte ihn Bescheidenheit und Vorsicht gelehrt.
Während er vor sich hin kaute, rief er sich die Worte des Mönchs in sein Gedächtnis und wiederholte leise die befremdlichen Laute, bis er vor Erschöpfung einschlief.
Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolken hervorkam und sein Gesicht berührte, erwachte Manfried. Sofort erinnerte er sich an seine Aufgabe und wiederholte in Gedanken die Worte des Mönches.
Der Tag zog sich und mit ihm die Verzweiflung am nächsten Morgen der Herausforderung, nicht gewachsen zu sein. Er beobachtete, wie die Jungen unbekümmert mit Stöcken spielten und dabei ihre Kräfte verglichen. Manfried war sich seiner Schwäche bewusst und sprach leise immer wieder die Worte vor sich her, aus Angst sie zu vergessen. Als die Nacht einbrach, nahm er nur noch das Klopfen an seinen Schläfen wahr und fiel in einen unruhigen Schlaf.
Wie am Morgen davor versammelten sich die Jungen vor dem Tor und warteten auf den großen Augenblick, indem sie auf die Schritte lauschten. Kaum war die schwarze Kutte durch die Öffnung getreten, herrschte eindringliches Schweigen. Anders wie beim letzten Mal standen sie in einem geordneten Haufen vor der Tür, bereit die Worte zu sagen.
Manfried stellte sich weit hinter die Gruppe und versuchte seine Aufregung, unter Kontrolle zu bringen. Seine Hände zitterten und waren feucht. Das Klopfen an seinen Schläfen blockierte seine Gedanken. Nervös trat er von einen Fuß auf den Anderen und warte bis er an der Reihe war.
Der Mönch zeigte auf einen Jungen und sagte: „Fang du an und wiederhole meine Worte.“ Ein hagerer großer Bursche richtete sich auf und stammelte ein paar zusammenhanglose Wörter. Das Gesicht des Bruders wandte sich ab und zeigte auf den Nächsten. Diese Prozedur wiederholte er, bis seiner Meinung nach jeder gesprochen hatten. Alle waren an dem Psalm gescheitert. Enttäuscht drehte sich der Klosterbruder zum Gehen.
Manfried schlug das Herz vor Aufregung den Hals hinauf und ließ sein Mal pulsieren. Seine Zeit war gekommen. Jetzt oder nie. Er befeuchtete seine Lippen und sprach:
„Auf, HERR, hilf mir, mein Gott! Denn du schlägst alle meine Feinde auf den Backen und zerschmetterst der Gottlosen Zähne.“
Seine Stimme brach, als er zum zweiten Teil ansetzte. Die fremden Laute kamen leise über seine Lippen, während seine Augen verzweifelt an dem Rücken des Mönches hafteten. Erleichtert sah Manfried, wie dieser sich langsam umdrehte und nach dem Redner suchte. Die Gruppe löste sich auf und gab den Blick auf ihn, den Außenseiter in der Runde, frei. Ein kurzes Aufblitzen der Überraschung erschien in den Augen des Mannes, nachdem er den Ursprung der Worte in ihm entdeckte.
Erstaunte und neidische Blicke bohrten sich in Manfried, deren Aufmerksamkeit jetzt auf seiner Gestalt lag. „Wie konnte es sein, dass diesem kleinen Monster all das gelang, was ihnen versagt geblieben war“, las er in den Gesichtern. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Meute langsam immer dichter an ihn heranrückte und ein Knoten breitete sich in seinem Magen aus.
Eine tiefe Stimme gebot der wütenden Meute Einhalt.
„Genau so ist es richtig mein Sohn. Du hast dir den Weg in das Kloster verdient. Tritt näher, damit ich dich begrüßen kann“, sagte der Mönch und hob einladend die Arme vor seinen Körper.
Mit zittrigen Knien bahnte sich Manfried den Weg durch die Umstehenden und richtete sich vor dem Mann auf. So nah bei dem Mönch stehend, war ihm klar er, was dieser in seinem Gesicht erblickte. Ein Schauer lief über seinen Rücken, gewappnet doch abgewiesen zu werden.
„Folge mir.“