Seitenwind Woche 9: Konflikte

Sie ist da!

Eine Glaswand teilt den Raum, in den ich von Adam geführt werde. Auf der anderen Seite steht sie, gebeugt über eine Anrichte, und drapiert sorgfältig etwas auf Teller. Sie trägt eine lange schwarze Schürze über einer kurzärmligen schwarzen Bluse, und auf ihrem Kopf sitzt ein adrettes schwarzes Häubchen. Der andere Adam, der schwarze, steht neben ihr und wartet.
Als wir eintreten, blickt sie ganz kurz auf, senkt aber ihre Augen sofort wieder, konzentriert auf die Tätigkeit ihrer Hände. Ich bin mir nicht sicher, ob ihr Blick mich überhaupt registriert hat.
Chan! Eine heiße, verzehrende Welle rollt durch meinen Körper. Meine Wangen glühen, und Tränen trüben mir den Blick.
»Komm, Dev.« Adam schiebt mich am Arm in den Raum diesseits der Glaswand.
Ohne den Blick von ihr zu wenden, lasse ich mich an die Schmalseite eines langen Tisches führen und auf einen Stuhl drücken. Der Tisch, weiß und leuchtend, ist mit edlen Gläsern, Besteck und Servietten gedeckt. Adam setzt sich an die breite Seite; und mir gegenüber am anderen Ende der Tafel wartet ein drittes Gedeck. Wird dort etwa der andere Adam sitzen, während sie uns bedienen muss?
Jähe Wut steigt in mir auf. Wie kann ich ihr zu verstehen geben, dass ich die beiden töten will? Ich sehe Messer beim Besteck – sind sie scharf genug? Wenn jede von uns einen übernimmt, kann es ganz schnell gehen… Blutige Bilder drängen sich in meine Vorstellung, zwei grausige, kahlköpfige Fratzen mit durchschnittenen Kehlen, das grellrot besudelte Weiß dieser makellosen Räumlichkeiten…
Mein stierer Blick schreckt hoch.
Jemand hat mir gegenüber Platz genommen.
Es ist sie.
Sie hat ihre Schürze und das Häubchen abgelegt. Ihr Haar sieht anders aus. Es gefällt mir. Wer hat es ihr geschnitten? Eine Maschine?
Ich sehe auch, dass sie ihr Netz noch trägt.
Und ihr Gesicht? Sie sieht nicht unglücklich aus. Eher genervt. Sie sieht mich mit demselben Ausdruck an, den sie bei der Aufzeichnung hatte, die Adam dem Captain gesendet hat, als er sie kurz ins Bild geholt hat und sie sich über das Essen beschwert hat.
Ich schaue sie schwer atmend an; meine Freude über das Wiedersehen ringt mit der Ahnung, dass etwas Fürchterliches über dieser Begegnung schwebt. Ich versuche, Chan wenigstens mit meinen Blicken zu berühren, suche in ihren Augen nach einer Erwiderung meiner Gefühle…
Adam sitzt zwischen uns und schaut erwartungsvoll von einer zur anderen. Dann winkt er dem zweiten Adam, der daraufhin mit einer Flasche Champagner an den Tisch kommt.
»Wo kommst du denn jetzt auf einmal her?«, blafft Chan plötzlich in meine Richtung.
Die Kälte ihrer Stimme fährt wie ein Schlag in meine Magengrube und lässt mein Gesicht erstarren. Neben mir schenkt der schwarze Adam mein Glas voll.
Ich bringe kein Wort heraus.
»Bist du etwa gekommen, um mich zu retten?«, fragt Chan mit einem keuchenden Lachen.
»Ich… ich…«, stammle ich verdattert.
»Ja wirklich!« Sie schaut den weißen Adam amüsiert an und zeigt dabei auf mich. »Meine Freundin Dev ist gekommen, um mich zu befreien! Wie rührend, wie toll!«
Ihre Stimme klingt völlig anders, als ich sie kenne: böse und gehässig. Jede ihrer beißenden Bemerkungen schmerzt mich wie ein Peitschenhieb.
Ich lasse meinen Kopf sinken und starre auf die Tischplatte.
Bruder Adam serviert das Essen.
Es gibt – natürlich – Blumenkrabbe.
Der intensive heiße Dunst von Meeresgetier, Hühnerfett, flüchtigem Alkohol und Zwiebeln dreht mir den Magen um.
»Lass es dir schmecken, Dev«, sagt Chan bitter. »Ist mit Liebe gekocht.«
Was ist mit ihr? Warum ist sie so gemein zu mir? Hat etwa das System sie so verdreht? Sie benimmt sich, als hätte ich ihr etwas Böses angetan, als wären wir in Streit und Zwietracht auseinandergegangen – wo doch das Gegenteil der Fall war! Wir waren uns so nahegekommen, schon bei unserer ersten Begegnung. Und an unserem letzten Abend war es, als ob Chan mir ihre Hand gereicht und eine schwere Last von mir genommen hätte…
Und jetzt?
Ihr grausamer Hass zerstört all meine Hoffnung und Zuversicht.
Ich bin umsonst hergekommen!

Adam hört zu essen auf und legt den gesenkten Kopf schräg, um meinen Blick einzufangen, der immer noch starr auf den unberührten Teller vor mir gerichtet ist.
»Nimm’s nicht so schwer, Dev. Zu mir ist sie die ganze Zeit so.« Er schaut zu Chan hinüber. »Na ja, ich hab’ sie angeblich ‚entführt’. Ich bin zwar immer noch der Meinung, dass ich sie einfach als erster gerettet habe, aber sie scheint das anders zu sehen.« Er seufzt und stößt einen kurzen Lacher aus. »Ich glaube, die lange Zeit allein dort unten hat ihr nicht gut bekommen. Sie war mal so ein süßes kleines Ding – aber sie ist ein richtig gemeines Biest geworden.«
Als Chan ihn mit einer finsteren Grimasse bedenkt, schaut er wieder mich an. »Was zwischen euch beiden los war, weiß ich nicht…«
Meine Augen sind noch auf Chan gerichtet, während Adam das zu mir sagt.
Und da – für einen Wimpernschlag – verwandelt sich ihr Gesicht!
Wie ein Schatten weicht der bösartige Ausdruck von ihr, und ein Lächeln strahlt mich an, erfüllt von der Zuneigung, die ich schon verloren geglaubt hatte.
Mein Herz macht einen Satz. Und Chan schickt noch schnell ein Zwinkern hinterher, das mich augenblicklich wissen lässt, wie ich ihre Worte verstehen soll.
Adam merkt meinem Gesicht etwas an, doch als er sich irritiert zu Chan umschaut, ist da wieder derselbe böse Blick wie zuvor.
»Jetzt esst doch«, sagt er ärgerlich »Es wird ja kalt!«
Ich bemühe mich, weiter Appetitlosigkeit vorzutäuschen, aber nach Chan’s Botschaft gelingt mir das nur für ein paar zaghafte Bissen.
Es schmeckt so gut! Ich fange an, hemmungslos zu schlingen.
»Na also!«, sagt Chan spöttisch. »Hau rein, Herzchen. Nicht einmal du kannst verbergen, dass dir mein Essen schmeckt.«
»Mit genügend Hunger schmeckt jeder Fraß«, knurre ich mit vollem Mund.
»Pass nur auf, dass du dich nicht wieder überfrisst«, lacht sie höhnisch. »Wie an unserem letzten Abend bei Deepak. Was habe ich auf dem Klo zu dir gesagt, während du gekotzt hast?«
»Nicht zu fassen!«, rufe ich entrüstet, »Jetzt fängst du wieder damit an! Mir war so schlecht, dass ich nichts darauf sagen konnte. Aber pass mal auf: Du hast mir gesagt, was du von mir hältst – und jetzt sage ich dir: Ich halte dasselbe von dir!«
»Du mich auch, Dev! Verstanden?«
»Ja, du mich auch! Eines Tages bekommst du es zurück! Hundertfach…«
»Das möchte ich sehen, haha!«
»Ich kriege dich!« Ich funkle sie giftig an. »Darauf kannst du dich verlassen!«
»Auf den Tag freue ich mich schon!«
»Du wirst weinen, wenn ich mit dir fertig bin! Du zitterst ja jetzt schon, schau dich nur an!«
»Weil ich es nicht erwarten kann, dich in die Hände zu bekommen!« Chan springt auf. Sie schnappt nach Luft und ringt zornig mit Tränen. »Am liebsten würde ich dich jetzt gleich… packen… und…«
Ich stehe auch auf. »Komm doch her…«
Ich presse meine linke Hand an meine Brust und strecke Chan die rechte entgegen – als wollte ich sie packen oder abwehren. Und sie tut dasselbe. Ohne Adam zu beachten, stehen wir uns keuchend gegenüber. Wir durchbohren uns feindselig mit Blicken, starren uns so tief in die Augen, dass ein schmerzhafter Sog entsteht, dem wir nur mit Mühe widerstehen können, eine Energie, die wir in diesem Moment gemeinsam spüren als wären wir eins; eine Energie, die uns beiden in alle Fasern dringt und uns verbindet mit einem Hochgefühl, das tausendmal intensiver ist als meine erste Begegnung mit dem goldenen Netz.
Chan!
»Jetzt reicht’s!«
Adam, der die ganze Zeit mit offenem Mund unseren theatralischen Schlagabtausch verfolgt hat, schlägt mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass Gläser und Geschirr klirren.
»Eure Streiterei geht mir auf die Nerven! Ihr setzt euch jetzt beide wieder hin und benehmt euch!«

Das Innere des Bunkers war düster und staubig, ein durchdringender Geruch nach Staub und Schimmel hing in der Luft. Ich blieb auf der untersten Stufe der Treppe stehen und sah mich in dem schwachen Streifen Tageslicht um, der durch die Luke in meinem Rücken hereinfiel. Die Umrisse einer kargen, zweckmäßigen Einrichtung schälten sich aus der Dunkelheit; ein wackeliger Tisch, beladen mit Papierstapeln und anderem Krimskrams, rundherum Stühle. Mir gegenüber zwei Regale an der nackten Betonwand und eine weitere, nur angelehnte Tür. Das Innere des Bunkers wirkte unordentlich, als wäre er durchsucht worden.

Ein leises Klirren ertönte, und ich zuckte zusammen. Außerhalb der Stadt war ich ungewohnt schreckhaft, aber das war es nicht, was meinen Puls zum Rasen brachte, sondern Pax, der mit gerunzelter Stirn durch den Raum streifte und alles mit scheinbarer Verachtung musterte. Gerade hatte er eine Tasse hochgenommen und drehte sie beiläufig in seinen Händen.

„Stell das wieder hin.“ Bevor ich es verhindern konnte, schossen die Worte aus meinem Mund, hart und scharf wie Dolche.

Pax hob den Kopf. „Wieso? Wen stört es?“

„Mich.“ Ich rang um Beherrschung, zwang mich, langsam zu ihm zu gehen und ihm die Tasse aus der Hand zu nehmen, statt zu rennen und sie ihm zu entreißen. „Und die … Bewohner.“
Bewohner?“ Er schnaubte und hielt seine staubverschmierten Finger in die Höhe. „Hier wohnt niemand mehr, und zwar seit einer ganzen Weile. Wahrscheinlich sind sie längst …“

Trotzdem gehört es sich nicht, in fremden Sachen herumzuschnüffeln“, schnappte ich, bevor er seinen Satz beenden konnte, und ignorierte die Tatsache, dass das vor uns offensichtlich schon jemand getan hatte. Ich drehte mich so, dass er mein Gesicht nicht sehen konnte, als ich die Tasse vorsichtig wieder auf dem Regal abstellte. „Die Sachen gehören dir nicht. Fass einfach nichts an.“

Ich spürte mehr, wie er näher kam, als dass ich es hörte. Seine Fähigkeit, sich nahezu lautlos zu bewegen, war wirklich unheimlich. Ich drückte den Rücken durch und rührte mich nicht, aber obwohl ich wusste, dass er hinter mir stand, zuckte ich zusammen, als seine Stimme plötzlich viel zu dicht an meinem Ohr erklang.

Du warst es doch, die uns hierher geführt hat“, raunte er. Sein Atem strich warm über die Haut an meinem Nacken und ich bekam eine Gänsehaut. „Es war deine Idee, diesen schäbigen alten Bunker aufzusuchen, also erzähl mir nichts von Hausfriedensbruch und Privatbesitz. Soll ich dir einen Tipp geben? Wenn du hier draußen überleben möchtest, solltest du deine moralischen Grundsätze über Bord werfen. Die sind ja ganz sexy, aber außerhalb der Stadt kommst du damit nicht weit.“

Mit einem Zischen fuhr ich herum – und stieß ihn mit aller Kraft von mir. Ich sah die Überraschung in seinem Gesicht, als er rückwärts taumelte und mit einem Poltern gegen den Tisch prallte. Mit Mühe schaffte er es, nicht hinzufallen, doch die Sachen auf dem Tisch hatten nicht so viel Glück. Ich zwang mich, nicht hinzusehen, als mehrere Messgeräte ins Rutschen kamen und über die Kante rollten. Glasröhrchen zersprangen splitternd in tausend Teile. Es war egal. Es waren nur Dinge.

„Erzähl mir nichts vom Überleben“, fauchte ich. Pax stand noch immer an den Tisch gelehnt, hielt sich mit den Händen an der Platte fest. Seine Miene drückte Verständnislosigkeit und Ärger aus. „Du kennst mich nicht.“ Zum ersten Mal erlebte ich ihn sprachlos, doch ich konnte meinen Sieg nicht genießen – wenn es denn überhaupt einer war. Ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte ich an ihm vorbei in den angrenzenden Raum.

Der Pilger

Eine höchst ungewöhnliche Szene spielte sich ab an diesem Sonntagvormittag, hier mitten im Wald, weit ab von Haus oder Ansiedelung. Von Ferne riefen Kirchenglocken die Gläubigen zur Sonntagsmesse.
Gestalten in Motorradkleidung und Helm waren von ihren Enduros gestiegen und bewegten sich, mit Schlagstöcken, einer Motorradkette und einem Messer bewaffnet auf einen Mann zu. Der stand mit dem Rücken zum Felsen auf seinen Stab gelehnt da und betrachtete regungslos die fünf bedrohlich näherkommenden Angreifer. Die Motoren der kleinen Geländemaschinen tuckerten im Leerlauf.
Er war gekleidet wie ein Pilger aus alten Erzählungen. Bequeme, feste Wanderschuhe, unter der dunklen verwaschenen Lodenkotze mit undefinierter Farbe waren Gamaschen zu sehen, die verhinderten, dass die Hosenbeine und die Oberseite der Schuhe nass wurden, beim Laufen durch Gras und Unterholz. Auf dem Kopf ein Schlapphut aus Filz und auf dem Rücken ein Stoffrucksack beide von ebenso undefinierbarer Farbe wie die Kotze. An den Rucksack war eine Decke geschnürt.
Er wirkte eher wie eine Statue, ein Denkmal, als ein lebender Mensch. Doch, als der erste Stock auf ihn herabzusausen drohte, kam Bewegung in die Statue. Das obere Ende des Wanderstabes schlug dem ersten Angreifer so hart an das Handgelenk, dass der Stock, den sie hielt, in hohem Bogen davon flog. Die untere Seite des Stabes traf den zweitnächsten Vermummten in einer Drehbewegung hinten am Genick und warf ihn, den Schwung des Angriffes ausnützend, zu Boden. Pilger und Stab wirbelten noch einen kurzen Augenblick durch die Luft und kehrten dann in die Ausgangslage zurück.
Das Pilgerstandbild blickte stumm, als sei gar nichts gewesen in den letzten drei Sekunden, auf die fünf Vermummten Gestalten, die allesamt am Boden lagen. Die sammelten sich, wie vom Blitz getroffen irgendwie zusammen und dachten nur noch daran, wie sie auf ihre Maschinen kamen und fort von hier.

Einige Stunden später, die Nacht war nicht mehr weit, bewegten sich der Pilger und noch ein Mann, Ende vierzig, durch die Schlucht. Da war nur der Bach, der Weg und Felsen. Der Pilger hatte es sich zur Aufgabe gemacht, seinen Begleiter unbemerkt an die Küste zu bringen. Aber sie mussten sich beeilen. Deshalb nahmen die beiden Männer das Risiko in Kauf, die zwei Kilometer durch die enge Schlucht zu gehen, ohne eine Möglichkeit sich zu verstecken, so wie der Pilger seinen Schützling im Gebüsch versteckt hatte, kurz vor dem Zwischenfall mit der Motorradgang.

Der andere Mann war wie ein normaler Wanderer gekleidet in moderner Funktionskleidung und mit Treckingrucksack, Schlafsack und Isomatte ausgerüstet. Er wirkte weit weniger sicher und vertraut mit dem, was er da tat als der Pilger.
Wie schon erwartet und befürchtet, kamen Motorengeräusche auf die beiden Wanderer zu. Erst von Norden, nach einer Weile auch von Süden. Die beiden Trupps bewegten sich ganz langsam, die Schlucht gründlich, Meter für Meter absuchend, mit lichtstarken Scheinwerfern ausleuchtend, so dass trotz der heraufziehenden Dämmerung nichts verborgen bleiben konnte.
Der Pilger nahm dem anderen Mann den Rucksack ab und legte ihn zusammen mit seinem eigenen Bündel nahe an der Felswand auf den Boden. Er packte seine Decke aus und breitete sie über das Gepäck. Dann setzte er sich drauf und zog seinen Begleiter neben sich. Er legte seinen Arm um ihn und nahm ihn bei der Hand. „Schließe die Augen und stell Dir vor, Du wärst unsichtbar. Auf keinen Fall die Augen öffnen und keinen Mucks!“ Der Pilger deckte die Lodenkotze über sich und seinen Begleiter und schloss ebenfalls die Augen. Die Fahrzeuge und die Scheinwerfer kamen näher. Nicht lange, und die beiden Männer merkten an der Helligkeit, die durch die geschlossenen Augenlider drang, wie das Licht der Scheinwerfer über sie hinweg glitt. Nichts geschah! Als die beiden Suchtrupps aufeinanderstießen, nicht weit entfernt von ihnen, hörten sie eine Weile die Stimmen der Suchenden, bevor diese mit ihren Fahrzeugen wieder abzogen. Sie waren nicht entdeckt worden!

Sie hatten nicht viel geschlafen letzte Nacht und kaum miteinander gesprochen. Dafür waren sie viel gelaufen. Der Begleiter des Pilgers glaubte, jedes Glied und jede Muskelfaser einzeln zu spüren. Er war Wissenschaftler, sein Platz war das Labor und nicht der Wald. Noch dazu im Dezember!

Man musste nicht Wissenschaftler sein, um einen Sack an Fragen zu haben, nach dem Vorfall gestern. Wieso hatten die Schergen der Chinesen sie nicht gefunden?

„Findest Du nicht, Du schuldest mir eine Erklärung?“, fragte er schließlich. „Sie haben uns nicht gesehen, obwohl sie uns direkt angeleuchtet hatten. Doch nicht, weil wir die Augen geschlossen haben und uns vorstellten, wir wären unsichtbar?“
„Aber ja“, antwortete der Pilger nach einer Weile. „Warum sonst? – hast Du noch nie mitbekommen, dass Kinder die Augen schließen beim Versteckspiel und denken, sie seien unsichtbar?“ –
„Aber sie sind es nicht, das ist doch mein Punkt!“, warf der Begleiter ein. –
„Nicht mehr!“, erklärte der Pilger weiter. Die Kinder haben noch den Reflex aus früheren Tagen, ohne den die Menschen wohl nicht überlebt hätten, diese unbewaffneten, langsamen, felllosen Kreaturen, die wir sind. Wir haben es mit der Entwicklung der Zivilisation im Laufe der Jahrtausende verloren. Alles, was nicht regelmäßig benutzt wird, verkümmert, wird abgeschaltet!“
„Und wieso hat es dann gestern funktioniert? Bist Du ein Außerirdischer oder ein unentdecktes Fabelwesen?“ Der Begleiter sah den Pilgern fast ehrfürchtig an. –
„Nein, ich lebe nur schon sehr lange anders. Immer auf Wanderschaft, immer draußen in der Natur. Diese Fähigkeiten scheinen nicht endgültig verloren zu gehen. Sie werden nur abgeschaltete. Mit der Zeit können sie, bei Bedarf und bei Geschick, wieder aktiviert werden.“
Der Pilger schien es ganz allgemein vor sich hinzusagen, zu niemandem im Besonderen.

„Gut, sagen wir mal, ich nehme Dir ab, dass Du das kannst“, hakte der Begleiter nach. „Aber ich und unsere Rucksäcke und Kleidung hätten doch gesehen werden müssen?“ –
Der Pilger räumte ein: „Ich kann das nicht so genau erklären. Es sind mehr Erfahrungswerte. Die Fähigkeit der Unsichtbarkeit überträgt sich nicht auf die Sachen, die Du anhast und trägst. Aber auf meine Sachen schon. Auch auf Menschen, die ich anfasse, scheint es zu wirken. Alles im Zusammenhang mit dem Aussenden der Botschaft mittels Gedanken, dass man unsichtbar ist, dass einen das Gegenüber nicht sehen wird. Da läuft auch was auf der geistigen Ebene ab. Ich nehme es, wie es sich mir bietet!“ –
„Kannst Du auch Gedanken lesen?“ -
Der Pilger lächelte nur leicht und sagte nichts.

„Wieso nennst Du Dich ‚der Pilger‘, hast Du keinen Namen?“ –
„Doch, ich habe einen Namen, aber ich trete hier auf, als ‚der Pilger‘. Kennst Du die Geschichte von der Braut des Prinzen, den ‚grausamen Piraten Roberts‘? Der echte Roberts hatte sich längst zurückgezogen und an seine Stelle war ein anderer getreten. Und an dessen Stelle wieder ein Anderer, und so fort. Der Name war eine Institution. War nicht mehr an den ursprünglichen Träger gebunden. Vor einem ‚grausamen Piraten Roberts‘ hatte jeder Angst. Das ersparte meist den Kampf. Vor einem ‚Piraten Westley‘ hätte niemand Angst gehabt.

Genauso bin ich hier in dieser Gegend ‚der Pilger‘ es gibt auch Pilger in anderen Gegenden. Die Pilger sind die Verbindung der ewigen Wanderer, manche nenne sie ‚die Uris‘ andere ‚die Touris‘, zur Zivilisation. In den meisten Kreisen der Bevölkerung ist das alles völlig unbekannt. In manchen Kreisen jedoch, unter den Wanderern und denen, die sich draußen in der Natur bewegen, ist ‚der Pilger‘ ein Begriff. Manchmal ist auch ein Anderer ‚der Pilger‘ und ich habe Urlaub. Der Pilger lächelte.

Dann nahm er den Kopf seines verdutzten Begleiters zwischen seine Hände und hielt ihn eine Weile fest.

„Das ist aber ein angenehmes Gefühl“, dachte Friedrich Schuller und er hatte keine Fragen mehr. Er wusste noch nicht einmal, dass er etwas gefragt hatte. Und - seine Glieder taten ihm längst nicht mehr so weh.

Verblendeter Kugelsternhaufen

„Hast du das Teleskop überprüft?“, fragte der Professor nach einer Weile.
„Ich bin gleich soweit“, murmelte sein Student Henri mürrisch.
Der alte Akademiker hatte die Stirn in Falten gelegt und blätterte weiter in den Journalen.
Henri zuckte zusammen. Für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen, freilich nur so lange, wie er sich sicher sein konnte, vom Universitätslehrer nicht beobachtet zu werden. Denn der Ordinarius hatte wieder angefangen, die Nase hochzuziehen. Jedes einzelne Mal, wenn er in Gedanken versunken war, schniefte er.
„Seit vielen Monaten studieren wir nun Tag für Tag Fotoplatten, Logbücher und Notizen“, sinnierte der Studios. „Ich ertrage seine Blasgeräusche langsam nicht mehr!“

Der junge Mann sah geknickt aus. Er dachte an seine Freunde, die sich aller Wahrscheinlichkeit schon am frühen Morgen am kühlen Nass erfreuten. Wohingegen er ganze Tage und Nächte hier verbrachte, um zu diskutieren, ob es sich bei Terzan 5 um ein Überbleibsel einer im Anfangsstadium unserer Milchstraße eingefangenen Zwerggalaxie handle oder nicht.
„Wie absurd anzunehmen, dass er den Hochschullehrer dazu bringen könnte, ernsthaft über seine Hypothesen nachzudenken!“ Er fühlte sich müde und erschöpft. Bisher hatte der Universitätsprofessor nicht annähernd seine Forschungsüberlegungen näher in Betracht gezogen.
„Beeindruckend!“ flötete der Professor und riss Henri dabei aus den Gedanken.
„Sie sind ja heute schrecklich still“.
Der Student versuchte zu lächeln.
„Haben Sie gerade über den Kugelsternhaufen nachgedacht?“, erkundigte sich der Universitätsprofessor. „Wieso fragen Sie?“, antwortete Henri, während er das Teleskop weiter kontrollierte.
„Können Sie etwa an andere Dinge denken?“ Der Professor zog verwundert eine Augenbraue nach oben.
„Ich für meinen Teil habe mir Ihre Aufzeichnungen nochmals angesehen“, posaunte er. „Sie sind nicht übel, außer wenn man bedenkt, dass Sie nicht miteinbezogen haben …“.
Für einen kurzen Moment unterbrach der Akademiker die Unterhaltung und starrte auf die Notizen.
Henri hantierte weiterhin am Teleskop und hing seinen Gedanken nach. Ihm war ganz und gar entgangen, dass sein Ordinarius mitten im Satz innehielt. Obwohl der Wissenschaftler inzwischen zügig weitersprach, war Henri gedanklich wieder am Badesee. Er musste sich auf anderes konzentrieren, er hielt die Geräusche, die die Atemnot des Alten verursachte, schlicht und einfach nicht mehr aus.
„Sollen wir heute länger bleiben und das Teleskop auf den Sonnenaufgang richten?“, schlug der Professor vor.
„Um Himmels willen, dann komme ich erst recht nicht nach Hause“, fuhr es Henri durch den Kopf. Was sollte er machen? Seinem Prof einen Korb geben? Wobei, wer würde daheim auf ihn warten? Seine Freunde hatten ihn seit Wochen nicht mehr gefragt, ob er mit ihnen an den See wolle. Andernteils waren diese furchtbaren Rachenlaute unerträglich geworden.
Henri biss die Zähne zusammen und sagte ausgelaugt: „Ja, warum nicht, ich möchte gerne wieder mal die Sonne beobachten“.
„Wunderbar“, erwiderte der Gelehrte. „Haben Sie alles fertig?“
Der Student prüfte abermals die Einstellungen und schwenkte das Fernrohr Richtung Himmelskörper. „Sie wissen“, mahnte der Alte, „die Sonnenfilter sind meine Angelegenheit“.
Henri verdrehte die Augen, was sein Hochschullehrer nicht sehen konnte, da sich sein Schützling dabei geschickt weggedreht hatte. Zum wiederholten Male schniefte der Professor kräftig erwartungsgemäß, als er die Filter in Augenschein nahm. Henri standen endgültig alle Haare zu Berge.
„Wenn er das weiterhin macht, muss ich ihn erwürgen“, durchfuhr es Henri.
„Alsdann“, meinte der Prof zufrieden. „Sind sie bereit?“

Fokus

„Weist du was ihn beruhigt hat, als er rausgelaufen ist und ich hinterher? Eine glitschige kleine Schnecke. Ich hab meinen Fuss da einfach hingestellt und er so: Vorsicht! Er hat die ganze Zeit die mini Schnecke beobachtet, hat sich richtig drauf fixiert. Das hat ihn beruhigt.“ Sia ist am Telefon und durch die kleinen Stöpsel leide ich mit ihr mit. Ich lasse den Popsocket los, weil ich mich ertappt fühle. Eigentlich dient der als Handyhalterung. Ich habe ihn irgendwann ans Armaturenbrett geklebt, weil mein Handy sonst nicht in die iPhone Halterung passt, und seit dem wird er dort von mir rein und wieder rausgedrückt, während dem fahren, so als Antistress - Button.

Das waren höchstens 20 Minuten französisch Klausur für Karl und die Blätter haben es wohl auch nicht im Ganzen überlebt.

Ich schlussfolgere, das wird mindesten ne sechs.

Erneuter Widerspruch

Sehr geehrte Personalagentur,

nach all meinen Erfahrungen halte Ihre Personalagentur die Sie mir so schillernd angepriesen haben, mit Abstand für die unseriöseste Personalvermittlung, mit der ich je zu tun hatte!

Um den Geschäftserfolg moralisch äußerst fragwürdig um jeden Preis sicherzustellen, werden Mitarbeiter von Ihnen

  • zuerst ganz ungeniert getäuscht,
  • dann willkürlich gekündigt,
  • dabei die Kündigungsfristen zugunsten der Personalagentur falsch berechnet,
  • ferner die zur Herstellung eines anderweitigen Arbeitsverhältnisses notwendigen Arbeitspapiere zurückgehalten
  • und zuletzt wird noch nicht einmal eine korrekte Lohnabrechnung erstellt!

Es grenzt schon an Unverschämtheit, wie hier der Arbeitnehmer über den Tisch gezogen werden soll!

Es fällt mir schwer, hinter all dem keine Absicht, sondern vielleicht tatsächlich nur Unkenntnis und Unfähigkeit zu sehen!

So oder so kann ich mir nicht vorstellen, dass Ihre Geschäftsleitung ein solches Vorgehen gutheißt!

Ich könnte mir auch gut vorstellen, dass so ein konkretes Fallbeispiel höchstwahrscheinlich auf großes öffentliches Interesse stoßen würde!

Sollten Sie obige Punkte aus Unkenntnis bisher bei Ihrem Personal anders gehandhabt haben und damit stets durchgekommen sein, dann nehmen Sie hiermit zur Kenntnis, dass Sie bei mir damit nicht durchkommen - das ist mein Recht!

Ich fordere Sie hiermit ein letztes Mal auf, mich korrekt aus dem Arbeitsverhältnis zu entlassen, ansonsten sehe ich mich leider gezwungen, mein Recht vor dem Arbeitsgericht durchzusetzen!

Als Frist setze ich Ihnen …

Uff, mit diesem geharnischten Antwortbrief hatte sich meine gesamte Wut entladen, die sich wegen der sich häufenden Jobungerechtigkeiten in den letzten Monaten in mir angesammelt hatten. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich das jetzt verarbeitet hatte.

Ein paar Tage später - an meinem Geburtstag - erhielt ich einen Anruf des Geschäftsführers. Er entschuldigte sich ausführlich bei mir und gab mir in allen Punkten Recht.

Die Personalvermittlerin, die mich dermaßen hinters Licht geführt hatte, bekam einen ordentlichen Rüffel und musste sich persönlich bei mir entschuldigen, was ihr hörbar schwerfiel.

Er versicherte mir, dass alles in Ordnung gebracht würde und dass das alles nicht der Geschäftspolitik der Personalfirma entspräche.

Und tatsächlich – innerhalb weniger Tage hatte ich alle Papiere, einschließlich korrigierter Lohnabrechnung auf dem Tisch, selbst der fehlende Lohn war auf dem Konto.

Na bitte – ging doch!

Morgen sehe ich rot, morgen bin ich tot.

Die Kabel an den Monitoren begannen plötzlich zu leben. Wie Schlangen kringelten sie sich durchs Krankenzimmer. Wie nur sollte er je wieder aus dem Krankenbett ins Ehebett kommen? Er müsste dann ja durch die wabernden unheimlichen Verbindungen hindurch. Panik machte sich in ihm breit. Erst wenige Tage zuvor war er mit einem septischen Schock nach Elbstett eingeliefert worden. Und als er aus diesem wieder zu Bewusstsein kam, drohte der nächste Schock. Sein Gehirn war zu einer Generator für Horror mutiert, es reihte Bilder aneinander, wie Perlen auf der Schnur: Bluttransfusion. Lungenbeatmung, Herzinsuffizienz, Leberversagen, Thrombose, angestochene Vene, Blutvergiftung, tanzende Gallensteine, die in Richtung Niere wanderten, die Füße wollten auch nicht mehr. Der Nervenzusammenbruch war eine Frage der Zeit und des Gefühls, er schwitzte, schreckte plötzlich im Bett hoch –mit einem Schrei. Er war auf der Flucht vor Fratzen, die nur die Nacht kennt. Er fühlte das grosze Geschrei durch die Natur aus dem Jahr 1895. Die Hamburger Kunsthalle hatte ein Bild davon. Er hatte beim Kunstmuseumbesuch hunderte Male darauf gestarrt. Es war ihm in Wien, in Oslo und bei Andy Warhol aufgefallen. Er erinnerte den Karl, der Andys Gesicht trug und mit seinem Chefarzt über Fallpauschalen stritt, die auszubildende Ärztin hatte die OP versaut! Es war ja nur die Erzieherin, die musste auch mal üben.
Als er die Augen ein letztes Mal aufschlug, sah er eine rote Frau am Krankenbett sitzen ,er hörte den Lärm auf dem Krankenhausflur und schlief einfach ein.

Miller in Amsterdam

Sanft glitt die Tür hinter ihnen zu und geräuschlos setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Schweben durch den Raum in einer High-Tech Kabine, in der jeder Quadratzentimeter Material Luxus und Überfluss ausstrahlte. Eisernes Schweigen mischte sich mit der diffusen Beleuchtung der Kabine zu einer unwirklichen Welt. Das Raubtier neben ihm mutierte zum Aal, von dem man nicht wusste, ob seine wulstigen Lippen grinsten oder einem sadistischen Gedanken vorauseilten, der jeden Moment zur quälenden Wirklichkeit werden konnte. Jeff Miller wurde abwechselnd heiß und kalt. Die Fahrt schien endlos und er wusste nicht mehr, ob es aufwärts ging oder abwärts, direkt in die Vorzimmer eines teuflischen Wesens.

Mit einem entfernten Rauschen öffneten sich die Türen wieder, und ohne ihn zu berühren, schob ihn der Aal vor sich her bis vor eine Tür, der man ansah, welch eine Festung dahinter lag. Sie wurde kurz geöffnet, und als sie wieder in ihr großes Schloss fiel, ein weiches Einschnappen von massivem Metall, stand Jeff Miller allein in einem großen Raum. Absolute Stille. Kein Laut drang durch die getönten Fenster. Sie waren also nach oben gefahren, wahrscheinlich ins oberste Stockwerk. Die Welt der Menschen lag tief unter ihnen.

Eine Stimme hinter ihm ließ sich vernehmen, deren Zynismus unüberhörbar war:

»Entweder haben Sie Mut, oder Sie sind einfach nur dumm!«

Jeff drehte sich erschreckt um und sah, wie sich der Raum hinter ihm an der Seite neben der Tür öffnete und in einen zweiten überging. Am Ende hinter einem massiven Schreibtisch saß der Mann, dessen Stimme er gerade gehört hatte: Groß und schlank in einem grauen Maßanzug und mit einem dieser unscheinbaren Gesichter, an die sich kaum jemand erinnern kann.

»Kommen Sie ruhig näher, Miller. Sie haben ohnehin nichts mehr zu verlieren!«

Die Selbstsicherheit in seiner Stimme war vernichtend. Jeff begann zu zittern. Alle seine Atemtechniken versagten. Er verstand, wie existentiell dieser Satz gemeint war, spürte es in jeder Faser seines Körpers. Seit er herausgefunden hatte, wer sich hinter dem Namen Anadeva Marananda Yogi verbarg, wurde ihm zunehmend klar, in welche Organisation er hineingeraten war. Für sie hatte er einen Fehler begangen. In einer solchen Organisation macht man keine Fehler. Und als wäre es ein Echo seiner Gedanken, sagte der Mann mit sanfter Freundlichkeit, deren Oberfläche die Endgültigkeit seines Urteils nicht zu verbergen versuchte:

»Miller, Sie wissen, Sie haben einen Fehler gemacht. Einen schwerwiegenden Fehler! Aber – Miller – bei uns – macht man keine Fehler! Und bestimmt keine, die an die Öffentlichkeit gelangen!« Und mit einer plötzlichen Wut: »MILLER!«

Jeff brach in kalten Schweiß aus. Diesen Wutschrei kannte er zu gut aus seinen Kindertagen. Er fühlte einen eisigen Hauch, gefolgt von einer Spur Verwesungsduft. Der Magen zog sich ihm zusammen.

»Mut war es nicht, der Sie hierher führte, Miller«, fuhr van der Molen mit seinem lächelnd zynischen Unterton fort, »eher abgrundtiefe Dummheit«, und wieder schreiend: »Sie sind ein VERSAGER!«

Jeff sah versteinert in das angewiderte Gesicht des Mannes. Das hatte er oft genug von seinem Vater gehört. Der Rebell in ihm stand auf und gab ihm etwas von seiner Fassung zurück:

»Ich weiß, wer Sie sind, Herr Fons van der Molen alias Anadeva Marananda!«

Der Mann im Maßanzug brach in schallendes Gelächter aus.

»Gewaltig, Miller, geradezu überwältigend! Ich hab’ mich nicht in Ihrer Naivität getäuscht! Was glauben Sie, warum wir SIE ausgesucht haben für unsere Mission? Sie abgebrochener Medizinstudent und Weltverbesserer! Hervorragendes Basiswissen in der Medizin, gerade genug, um saubere Injektionen zu setzen«, es schüttelte ihn wieder vor Lachen, »und zu wenig, um die größeren Zusammenhänge zu verstehen, denen Sie nur geschadet hätten. Es war ein idealer Moment, Sie den reaktionären Fängen der medizinischen Fakultät zu entreißen und Sie in den unendlich formbaren Sumpf der Esoterik zu tauchen.«

Er lachte vergnüglich.

»Dort konnten Sie mit dem gleichen Fanatismus als Weltverbesserer arbeiten, wie Ihr Vater in der Religion, und alles, ohne dass Sie es bemerkt hätten, denn es war in einem gänzlich anderen Gewande. Haha! Was seid ihr doch alle für blinde Hühner und würdet euch gern als Propheten fühlen! Kaum gibt man euch ein anderes Gewand, und schon merkt ihr nicht mehr, dass ihr immer noch in derselben Soße watet! Neue Namen, neue Götter, neue Regeln, derselbe Sumpf! Hühner? – Nein, eher Enten! Immer den Kopf in der Grütze! Und immer an der Oberfläche, ohne es zu merken! Den Kopf nach unten, und erreichen nie den Grund! Den Arsch in der Luft, und erreichen nie den Himmel. Welch traurige Rasse!«

Van der Molen badete in seinem Amüsement. Jeff schien der Boden unter den Füßen zu zerbröckeln. Er fühlte sich in einen gähnenden Abgrund fallen.

»Sie dürfen sich ruhig setzen, Miller«, gab van der Molen mit gespielt großmütiger Geste von sich.

Jeff griff nach einem Stuhl, der ihm nicht mehr den Halt bieten konnte, den er gebraucht hätte. Ein letztes Mal bäumte sich sein Widerstand in ihm auf:

»Und diese Spritzen!? Was haben Sie in dieser Substanz verborgen …?«

Van der Molen unterbrach ihn:

»Das – Geheimnis der Spritzen werde ich Ihnen nicht einfach auf die Nase binden. Das müssen Sie selber herausfinden«, er grinste breit, »wenn Sie Zeit dazu haben«.

Der sarkastische Unterton wurde unerträglich und Jeffs Hände hielten sich krampfhaft am Stuhl fest. Es war mehr als eine Ahnung, dass er hier nicht heil herauskommen würde.

Das Geheimnis der Spritzen! Seine Gedanken fieberten zwischen der Gier nach den letzten Zusammenhängen und nackter Existenzangst hin und her. Die Zeit lief unaufhaltsam davon. Wie sollte er einen klaren Gedanken fassen? Die Spritzen! Da musste ein Schlüssel liegen. In barschem Ton fuhr ihn van der Molen an: »Die Zeit ist um! Miller! Ende der Audienz!«

Mit seinem typisch abschätzigen Blick und halb angewidert erhob sich Fons van der Molen. Die zwei dunklen Typen aus seiner, wie er es gerne nannte, Exekutive, hatten inzwischen lautlos den Raum betreten. Jeff Miller war ihnen ausgeliefert.

Jeff zitterte nicht mehr. Er stand da, wie ein Tier, von seinen Jägern umzingelt und spürend, dass es kein Entrinnen mehr gab. Aller Widerstand zerfiel in Apathie. Die zwei nahmen Jeff in ihre Mitte. Er ging willenlos mit. Die schwere Türe schloss sich hinter ihnen mit dem gewohnt sanften Einschnappen massiven Metalls. Jeff Miller, eingerahmt von zwei Raubtieren in eleganten Anzügen, verschwand hinter sich lautlos schließenden Fahrstuhltüren. Zurück blieb ein leerer Raum, in dem die letzten Schwingungen einer Existenz langsam verebbten.

[aus meinem Roman »inject« von Hans von Holt - ISBN 978-3-7562-1049-7]

Warum sie sterben musste, wollte sie wissen. Was ist das denn für eine Frage? Sie war eben genauso kalt und ungemütlich, wie dieser Raum hier. Dunkel ist es hier, wie ihre Augenringe und Haare waren. Gerne würde ich der Inspektorin erzählen, dass sie eine Blondine war, denen man nie etwas Böses zutraut. In diesem Fall war es aber leider eine Brünette. Ihr Schopf war dunkel, lang und es sah sogar gesund aus.
Ich höre die Türe. Ein Klacken, ein Quietschen, ein Krachen.
«Sie bleiben also bei Ihrem Geständnis?»
«Ja, die Welt muss sich nun nicht mehr mit so einer Kreatur herumschlagen.»
«Das ist Ihr Motiv?»
«Wenn Adolf Hitler vor seinen grausamen Befehlen getötet worden wäre, wäre die gute Tat auch nicht als solche Erkannt worden.»
«Wie auch immer. Wie war sie?»
«Gestört. Unberechenbar.»
«Sie sieht sehr freundlich auf den Fotos aus.»
«Das ist es ja. Dieses süsse Lächeln. Dazu noch diese hohe Stimme. Da hätte ich ihr am Liebsten durchgehend die Fresse poliert. Weil sie aber nicht leiden musste, habe ich ihr einen Gefallen getan.»
«Es gibt Menschen, die mögen solche jungen Frauen.»
«Aber keine, die Jekyl und Hyde gleichermassen akzeptieren. Sie war durch und durch böse. Dieser Blick, wenn ihr etwas nicht passte: Durchdringend. So, als könnte sie einem mit ihren Gedanken um die Ecke bringen. Die dunklen, grossen Augen, die exakt zu ihrer dichten Haarpracht passten, veränderten ihren Ausdruck in Millisekundengeschwindigkeit. Diese Sommersprossen, leicht über ihr etwas bausbäckiges, olivhäutiges Gesicht gesprenkelt, konnten dann nicht mehr über ihren wahren Charakter hinwegtäuschen. Mir war von vorne herein alles zu glatt und einfach. Wie ihr Körper. Nicht modelmässig schlank, aber auch nicht dick. Richtig schön im gesunden Gleichgewicht. Alles passte genau, jedes Detail: Die Lippen waren nicht diese Gummibootdinger, wie sie billige Kosmetikerinnen mit Botoxspritzen verursachen, aber auch nicht diese schmalen, die einem normalerweise Misstrauen vermitteln. Dennoch hat sie immer damit verletzt, wenn sie sie bewegt hat. Immer bissige Bemerkungen.»
«Ist es nicht eine harte Strafe? Die Todesstrafe?»
«Seelische Verletzungen werden völlig unterbewertet. Sie machen einen kaputt. Diese Frau, auch ihre Grösse war durchschnittlich, verstand es perfekt zu manipulieren. Ihr Freund hat immer seitlich hinter ihr gestanden und abgewartet, wie sie reagieren würde. Schrecklich.»
«Er ist nun aber auch in Trauer.»
«Weil er eben nicht weiss, dass er gerettet wurde. Sie war unfähig in einer Gruppe zu leben. Ihre Kacke klebte nach ihrem Toilettengang noch in der Muschel, ihre langen, glatten Haare, zusammen mit ihren kurzen gekräuselten Schamhaaren verteilten sich nach dem Benutzen der Dusche in der Wanne. Der Boden im Badezimmer war patschnass. Nachdem ich sie gebeten hatte, den Bodenlumpen zu nehmen, um wenigstens trocken zu wischen, hat sie ihren Freund geschickt und mich mit einem vernichtenden Blick gestraft. Das war MEIN Haus, verdammter Mist nochmal. MEIN Haus!»
«Nun, sie hatten sie eingeladen.»
«Ja, um im Team zu arbeiten. Dann hat sie aber nichts mit mir und meinem Mann gesprochen. Kein Wort. Sie hat, wenn wir sie etwas gefragt hatten, nur ihren Kopf leicht in Richtung ihres Freundes gedreht, eine Augenbraue nach oben gezogen, an ihm vorbeigestarrt und er hat übersetzt. Zwar hatte sie unsere Sprache üben wollen, aber das ganze ohne sie zu benützten. Wenn es aber darum ging zu meckern, hat sie zwischendurch etwas verstanden. Sie konnte insgesamt mit der Freiheit, die wir in unserer Arbeits- Wohngemeinschaft hatten, nicht umgehen. Sie hat jegliche Art von Arbeit vermieden. Sie ist niemals ohne ihren Freund aus dem gemeinsamen Zimmer gekommen. Wenn, dann hat sie unsere Blicke vermieden. Gegrüsst hat sie nur, wenn man sie ganz direkt mit einem Gruss konfrontierte. Sie hat in ihrer Sprache vor uns allen über uns hergezogen. Dumm nur, dass ich am Ton, sowie an einigen Sätzen, die ähnlich formuliert werden, wie die Sprache der gleichen Sprachfamilie, die auch ich spreche, verständlich wurde, worum es ging.»
«Sie hören sich an, wie eine beleidigte Leberwurst.»
«Hören Sie mir nicht zu?»
«Doch, sie hatten es ganz offenbar mit einer unsicheren Person zu tun, die nicht wusste, wie man sich benimmt.»
«Aus ihrem Mund klingt das harmlos.»
«Nun, dieser schwache Charakter ist ohnehin eine Strafe fürs Leben. Die wäre immer wieder angeeckt, weggeschickt worden.»
«Ja, aber davor hätte sie immer und immer wieder Schaden angerichtet. Das hat sie auf der Arbeit gemacht und zu Hause. Weil sie kein Interesse zeigte, keine Empathie hatte, hat sie einfach irgendwas gemacht und damit unsere Vorarbeiten kaputt gemacht. Sie hat dann eine einfache Arbeit bekommen. Staubsaugen auf einer Baustelle. Nur den gröbsten Dreck. Sie hat es so genau genommen, als sollten wir von den Böden essen. Zu Hause wäre ihr das niemals in den Sinn gekommen. Totale Zeitverschwendung. Zweimal täglich musste sie duschen. Am Morgen und nach der Arbeit. Der Föhn war öfters zu hören, wie das Klappern des Geschirrs.»
«Hört sich nach Zicke an.»
«Ja, genau.»
«Benutzen Sie Parfums?»
«Wie kommen Sie jetzt darauf?»
«Der Geruch, der im Raum zu vernehmen war, als man sie fand.»
«Das war ihr billiges Parfum. Kaum zu ertragen. Süsslich, nuttig mit einem Hauch Putzmittelnote.»
«Ok. Wie dem auch sei. Sie bleiben erst mal in Untersuchungshaft. Das ist ihrer Beschreibung nach einfach nur kaltblütiger Mord und keine Selbstverteidigung.»
«Das Opfer wollte ich ja nie sein, also habe ich mir eben selbst geholfen.»
«Ja und wir helfen der Welt, indem wir sie wegsperren.»

Verschlafen

Das Gefühl zu haben, am Morgen verschlafen zu haben, ist wohl etwas vom Schlimmsten was einem passieren kann. Frühstress ist programmiert. Man stürzt noch verschlafen aus dem Bett. Gibt dem Wecker die Schuld, ohne dass er sich verteidigen kann. Auf dem Weg ins Badezimmer, es ist noch dunkel, stolpere ich über meine Schlarpen. Mit einem Kick fliegen sie in die gegenüberliegende Ecke. Die damit verbundenen Ausdrücke fallen unter die Zensur. Im Badezimmer angekommen, geht es unter die Dusche. Der beste Weg wach und wieder etwas ruhiger zu werden. Brausewasser auf, und ein Aufschrei nach dem ersten Wasserkontakt: „Himmel Herrgott wer hat den das Wasser so kalt eingestellt?“ Genervt versuche ich, dem Strahl auszuweichen, was natürlich nicht gelingt. Ich fluche und gebe der Brause die Schuld. Ich merke, ich bin heute genervt. Nach der ankleide geht es zum Kaffeeautomaten. Der Kaffeesatzbehälter ist, wie kann es an einem solchen Morgen anderst sein, wieder voll. „Du hast dir gestern Abend den letzten Kaffee rausgelassen, gib ja nicht der Maschine schuld.“ Ich nehme einen Schluck des Wachmachers. Er belebt, tut gut. Dann der Blick aufs Handy. Nur noch 10 Prozent Energie. Ich habe vergessen es zu laden. Bei meiner Laune ist es einfach dem Handy die Schuld dafür zu geben. Ich unterdrücke den Wunsch, es in die Ecke zu schmeißen. Das ist heute ganz klar nicht mein Tag. Ich schaue auf die Uhr. Oh! Schon zu spät. Gestresst stehe ich auf, nicht ohne auch noch den Rest in der Kaffeetasse zu verschütten. Himmel was ist den heute nur mit mir los? Geht es mir durch den Kopf. Was soll das? Nimm es endlich gelassener, ruhiger. Auszuflippen ist doch schliesslich nicht meine Art. Solche Tage gibt es und zu spät ist zu spät. Endlich habe ich für das alles ein Lächeln übrig.

In diesem Moment klingelt das Handy. Die Stimme dahinter: „Hi Alter, geht es dir gut? Bist du schon voll da? Schliesslich haben wir Wochenende. Hast du Lust auf ein Abenteuer?“

Wochenende! Nicht Freitag? Wieso …? Ach was: „Klar, ein Abenteuer, bin ziemlich gut drauf heute. Bin gut aufgestanden, habe fein geduscht, einen heißen aufmunternden Kaffee getrunken und genau in diesem Moment auf deinen Anruf gewartet. Ich bin bereit.“

In Wut und Trauer vereint

Er war in den letzten Tagen sehr ruhig. So ruhig wie ein uralter ausgetrockneter Bach. So schien es zumindest von außen. Im Inneren war er ein Vulkan und das Blut in seinen Adern war so kochend heiß, wie Lava.

Jetzt war es an der Zeit, nach Hause zurückzukehren. Er musste, obwohl dort nichts und niemand mehr auf ihn warten würde. Nichts, absolut nichts!
Sobald er durch die Tür dieser riesigen Villa innerhalb des gesicherten und bewachten Viertels trat, spürte er, wie die Wut in ihm zu kochen begann. Sie wollte aus ihm herausbrechen.
Und es dauerte nicht lang. Nachdem die schwere Tür aus Mahagoni hinter ihm ins Schloss gefallen war, brach es aus ihm heraus.

Wie ein Tornado fegte er, schreiend und schlagend, vom Eingangsbereich durch das Erdgeschoss. Kein Stein blieb auf dem anderen. Er zerlegte Tische und Stühle, warf Vasen samt verwelkten Blumen an die Wand.
Alles, einfach alles hatte man ihm genommen und nichts was sich in diesem Haus befand hatte nun noch irgendeine Bedeutung.
Erst als er schlitternd vor dem mittlerweile riesigen trockenen Blutfleck in der Küche zum Stehen kam, sank er zitternd und schluchzend auf die Knie.

Hier hat es geendet. Alles! Hier wurden ihm sein Leben, seine Liebe, seine Hoffnung aus dem Herzen gerissen. Hier hat er sie gefunden. Beide, seine Frau und seine kleine Tochter. Hier, an dieser Stelle, hörte sein Herz auf zu schlagen.

Das Teufelselexir

In alten Legenden wimmelt es von Zaubertränken mit unfassbaren Eigenschaften. Doch was, wenn die Realität solche Mythen einholt? Wenn sich herausstellt, dass unsere Großeltern Recht hatten und in der Natur tatsächlich Heilmittel für alle Arten von Leiden zu finden sind? Hier die Geschichte:

Vor kurzem habe ich eine solche Entdeckung gemacht. Auf einem Spaziergang mit meinem Hund stieß ich auf ein kleines Glasfläschchen, das mitten im Wald neben einer Eiche stand. Darin befand sich eine dunkle Flüssigkeit, die verdächtig nach Tinte aussah. Ich steckte es spontan in meine Tasche und brachte es nach Hause, um genauer untersuchen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, welches Abenteuer damit beginnen sollte .
Als ich das Fläschchen zu Hause öffnete, kam mir ein herber Geruch entgegen. Die Tinte roch alt und muffig, als hätte sie seit Jahren in der Erde gelegen. Ich beschloss, einen Versuch zu wagen und etwas von der Tinte auf meine Handfläche zu tröpfeln. Zunächst geschah nichts Außergewöhnliches damit - die Tinte war schwarz und trocknete schnell auf meiner Haut. Doch als ich den Tropfen mit dem Finger berührte, spürte ich plötzlich ein Kribbeln in meinem Arm. Was passiert hier? fragte ich mich. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis ich die Antwort bekam. Denn plötzlich veränderte sich die Tinte auf meiner Haut und begann, sich zu winden und zu kräuseln, als wäre sie lebendig. In Windeseile kroch die Tinte meinen Arm hinauf und verschlang meine Hand. Ich schrie auf vor Schreck, als ich sah, wie die Tinte immer weiter meinen Arm hinaufkroch, bis sie schließlich meinen ganzen Körper einhüllte.
Ich war gefangen in der Tinte - gefangen in einem dunklen, schwarzen Loch, aus dem es kein Entkommen gab. Ich brauche Hilfe! Was soll ich jetzt tun? Die Tinte hatte mich vollständig eingeschlossen und ich konnte nicht mehr atmen. Ich bekam Panik und begann, um Hilfe zu schreien, doch meine Schreie gingen in dem dichten schwarzen Nebel unter. Meine Panik wurde immer größer. Ich ruderte wild mit den Armen, um irgendwie aus dem Nebel zu entkommen, doch es war vergebens. Ich sah nur noch Schwärze und spürte, wie meine Kräfte schwanden.
Ich hörte plötzlich Stimmen. Meine Tochter betrat das Zimmer und sah mich hilflos in der Tinte gefangen. Sie schrie auf, packte das Kreuz, welches auf ihrer Halskette war und streckte es zu mir hin. Die Tinte zog sich von mir zurück und ich atmete heftig durch. „Was ist passiert?“ Fragte meine Tochter verängstigt. Ich schüttelte den Kopf, da ich selbst nicht wusste, was geschehen war.

Taktik ist alles

Wie in jedem Jahr stand in dem Teammeeting mit dem Chef auch die Spendenvergabe an Weihnachten auf der Tagesordnung.

Die überwiegend weiblichen Teilnehmer stimmten sich vor jedem Meeting ab. Das war keine offizielle Besprechung, sondern es geschah beim Kaffeetrinken… Es betraf vor allen Dingen die taktische Vorgehensweise. Männer waren nicht zugelas-sen. Fast immer kamen die Damen mit einer einheitlichen Meinung zum Meeting. Da hatte es der „Herr“ Chef schwer. Allerdings traf er kraft seines Amtes immer die endgültige Entscheidung.

„Was machen wir bei den Spenden für das Hospiz?“ Das war eine der Frage bei der Vorabstimmung.
„Das Hospiz braucht auf jeden Fall wieder die jährliche Spende! Dringend! Wenn es geht mehr!“

„Ihr wisst doch, dass der Chef immer das Gegenteil von dem entscheidet, was wir vorschlagen. In dem Fall müssen wir also eine Reduzierung für die Spende an das Hospiz vorschlagen, auch weil unsere Ergebnisse im letzten Jahr so viel schlechter waren.“

Das hielten einige für sehr riskant. Es folgte eine kurze Diskussion, aber dann blieb man bei dem Vorschlag für die Reduzierung.

Bei dem Meeting hörte sich der Chef den Vorschlag an und dann geschah das Un-erwartete: Er stimmte dem Vorschlag zu! Geflüsterte Bemerkungen machten die Runde: „Ich hab’s doch gleich gesagt“ und „Auf Männer kann man sich halt nicht verlassen.“

Jetzt zeigte sich aber, was eine gute Vorbereitung und eine sorgfältige Recherche wert sind. Die Leiterin des Controlling teilte mit, dass der größte Konkurrent die Spende an das Hospiz deutlich erhöht hatte. Nach kurzem Überlegen entschied der Chef, dass der gleiche Betrag wie im letzten Jahr gespendet werden sollte.

Fazit

Meistens kann man sich auf Männer doch verlassen!
Man muss immer ein Ass im Ärmel haben!

»Was hat Sie dazu bewegt, sich während einer Laufenden Gefechtsübung mit Ihrem Zug durch ein Gebiet den Weg zu bahnen, welches erstens gesperrt und zweitens und scharfen Beschuss stand? Stehen Sie bequem Harvey. Was verdammt noch mal haben Sie sich dabei gedacht? Sie wissen was auf Gehorsamsverweigerung steht?« – »Sir, lassen Sie mich erklären.« – »Erklären, was erklären? Das wegen Ihrer Inkompetenz vier gute Soldaten ihr Leben lassen mussten? Treten Sie mir aus den Augen, Harvey. Für Sie wird die Apokalypse eine ganz neue Definition haben.« – »Aber Sir…« – »Ich sagte wegtreten!« Harvey dreht sich um, öffnet die Tür und nachdem er durchgetreten ist, schließt er sie wieder. Er geht den Gang entlang. Sein Gesicht ist erstarrt vor Wut. Einem zufällig an ihm vorbei gehendem Soldaten schlägt er ohne Vorwarnung die geballte Faust ins Gesicht. Dieser geht mit stöhnenden Lauten und einer gebrochenen Nase zu Boden.

„Besuch unwillkommen“

Für jemanden, der untergetaucht war, konnte es sich nur um ein Warnsignal handeln.
Das alarmierende Zeichen erschien in Gestalt eines Bootes. Hardy erspähte es, als er mit seiner Morgenzigarette an das Schlafzimmerfenster geschlurft war, um einen ersten Blick über die Umgebung seiner Hütte taumeln zu lassen. Er riss den Vorhang zu, stolperte zum Nachttisch, warf die Zigarette in den Aschenbecher und griff nach dem Fernglas.
Hardy visierte das Boot durch den Gardinenspalt an. Eines, wie es Angler nutzten. Der Außenbordmotor war hochgeklappt. Zwei Riemen lagen über Kreuz auf den Sitzbänken. Ganz klar: Der Ankömmling hatte die letzte Wegstrecke gerudert, hatte sich angeschlichen. Warum war er auf Hardys Insel gelandet?
„Scheiße aber auch!“, flüsterte Hardy. Er ließ das Fernglas schweifen, suchte die Umgebung im nebelgetränkten Morgenlicht ab. Sand. Steine. Seetang am Wassersaum. Der schweinswalförmige Felsbrocken, auf dem sich Lachmöwen aneinanderdrängten. Alles war so wie gestern. Oder vorgestern. Abgesehen von diesem Boot!

Hardy warf sich in seine Klamotten. Er riss die Besteckschublade auf. Kramte. Schnappte sich das lange Brotmesser. Hardy sprang zur Haustür und quetschte sich in die Gummistiefel. Schweißperlen prickelten auf seiner Stirn. Er drehte den Schlüssel mit der Vorsicht eines Einbrechers. Der Türgriff knirschte, sanft drückte Hardy gegen die Tür. Sie wurde ihm aus der Hand gerissen, flog auf, krachte gegen die Hauswand. Ein Mann füllte den Türrahmen aus. Hardy sprang zurück, streckte das Messer nach vorn. „Ruhig, Alter, ich bin es!“ Die bekannte Tenorstimme stellte Hardys Nackenhärchen auf.

„Ist nicht gerade ein Palast. Und es stinkt nach Erbsensuppe.“ Der Ankömmling hatte sich einen Stuhl genommen und die Beine unter dem Tisch ausgestreckt. Er ließ den Blick durch die Wohnküche kreisen. „Einsam hier, oder? Leg´ doch das Messer weg, freu´ dich, dass mal Besuch kommt!“
„Ich bleib` stehen. Sag´ schon, was du hier suchst, Blacky.“
„Als ich rausgefunden habe, wo du bist, konnte ich nicht anders. Musste dich wiedersehen. Jetzt setz´ dich!“ Blacky zeigte auf den Hocker links neben sich. „Und pack´ endlich das Messer zur Seite!“
Hardy setzte sich auf den Hocker, legte das Messer auf den Tisch. „Brav. Du weißt noch, wer der Boss ist.“ Blacky grinste.
Hardys Beine zitterten. „Was haben wir zu reden? Ich will nichts mehr von früher hören.“
„Okay, keine Plauderstunde, machen wir es kurz. Wo ist mein Anteil an der Beute?“
„Die Kohle ist weg. Verbrannt.“
„Lüg´ nicht!“ Blacky rückte näher.
„Ist so. Alles verkokelt. In dem schrottigen Fluchtwagen, den du besorgt hast. Alles ist in Flammen aufgegangen.“
„Du verkohlst mich, Alter!“ Blacky nestelte in seiner Jacke herum, zog die Hand wieder hervor.
„Hatte Glück, mich aus der Kiste retten zu können.“ Hardy hob seinen rechten Arm, schob den Hemdärmel zurück und wies mit einem Kopfnicken auf die wulstigen Brandnarben. „Muss neu anfangen. Bleibe hier, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Niemand weiß von mir.“
„Doch. Und zwar dein Kumpel Blacky.“
Hardy senkte den Kopf.
„Geld her und Blacky vergisst dich!“
Hardy atmete schwer. Er wippte auf dem Hocker. Ein Gummistiefel quietschte.
„Na gut. Ich sollte dir vertrauen, wie schon immer“, raunte Hardy. Seine linke Hand schnellte vor. Er rammte die Messerklinge in Blackys Brust.

Am Horizont schimmerte es golden. Hardys Blick fing Sand, Steine, Seetang, das Boot und den Lachmöwenfelsen ein. Alles war wie heute Morgen. Abgesehen von dem langgesteckten Steinhügel.

Der Überfall

Seine Laune ist gut und die schlichte Mönchsrobe weht im Wind während er in Richtung Heimat gleitet. Im Auftrag des Bischofs rettet er die Seelen vor den Ungläubigen. Zart und bestimmt sind seine Worte. Schwer wiegen die Strafen seiner Gefolgschaft. Sein Weg führt ihn in den Wald. Bäume versperren ihm den Weg. Er sucht nach einer Lichtung. Doch dort lauert nicht das grüne Gras der Hoffnung. Nein. Einige Ungläubige haben ihm aufgelauert. Sie reden auf ihn ein. Er muss sich bekehren lassen. Seinen Glauben aufgeben. Kurz lässt er sich beirren. Doch dann sammelt er all die manische Wut, die ihn so weit getrieben hat und brüllt laut. „Ich! Bin der, der Euch von Eurem traurigen Irrtum befreit!“ Seine Augen Platzen fasst aus ihren Höhlen. Sein Herz schlägt wie das von einem Elefanten und die Bäume kommen näher, als würde er sie in sich aufnehmen. Er fühlt sich sicher, unbesiegbar und doch irgendwie einsam. Da trifft ihn der erste Schlag. Sein Kiefer bricht zuerst. Die verlorenen Seelen stürzen sich Zähne knirschend und mit Schaum vor dem Mund auf ihn. Morgenstern, Messer und Faust. Solche Werkzeuge der Gewalt trägt er selbst nicht bei sich. Doch auch in der Wut seiner Gegner hört das Blut in seinen Adern nicht auf zu kochen. Brüllen will er. „Verrat!“ Doch er verstummt in einem Gegurgel aus Blut und Fleisch die in seine Luftröhre gedrückt werden. Es ist fast als wäre in diesem Wald zwischen so vielen Bäumen es schließlich so gekommen, wie es ihm sein Vater prophezeit hatte. Von den selbst festgestellten höheren Weihen wollte der nichts Wissen. Dem Bischof wollte der an die Gurgel. Doch abbringen könnte er seinen Sohn nicht nun alleine auf der Lichtung zu sterben. Da besinnen sich die Angreifer und lassen von ihm ab. Sie haben ihren Wutrausch ausgelebt und begeben sich auf die Suche nach seiner Gefolgschaft. Jede Spur von ihm, jedes Wort soll vernichtet werden. Die Sonne scheint nicht mehr. Es sind Wolken, die den Regen bringen, der das Blut in die Erde wäscht.

Narzissus muss sterben

Dir Ben,

nach einem weiteren nächtlichen Höllenritt bin ich abermals schweißgebadet aufgewacht. Ohne jegliche Erinnerung an das, was mich derart aufschrecken ließ. Wie schon so viele Nächte zuvor. Doch ein Teil von mir weiß, dass es mit dir zu tun hat.

Es ist deine überwältigende Präsenz, derer ich mich nicht entziehen kann oder sich dieser Teil von mir nicht entziehen will. Entsetzlich. Fakt ist, dass du dich nach Monaten immer noch wie eine hinterlistige Schlange in mein Bewusstsein schleichst, dein Gift in meine Gedanken speiest und ein einziges Chaos in meinem Kopf hinterlässt.

Von Null auf Hundert fahren meine Gefühle Achterbahn und es kostet mich so unendlich viel Kraft sie neu zu ordnen. Mein Denken ist wutverzerrt und die Worte für dich in meinem Kopf sind so hassgefärbt, dass ich mich vor meinem eigenen Spiegelbild schäme.

Denn Zorn und Hass haben Spuren in meiner Mimik hinterlassen und zuweilen habe ich Angst, dass mir die Menschen in meinem Umfeld diesen Zorn ansehen. Zorn, der mich in einer Weise altern und mich selbst vergessen lässt, so dass ich es kaum greifen kann. Zorn, der sich nicht einfach auflöst, weil ich ihn überschminke.

Denn dieser Zorn braucht etwas viel Größeres um heilen zu können, denn er lässt sich nicht mit Vergebungsritualen oder allumfassender Liebe verbannen. Nein. Diese Art Zorn benötigt etwas Übersinnliches, etwas Hyperreales, sich der Realität entziehendes. Etwas, was sich ein durchschnittliches Gehirn nicht zu denken traut und daher unsichtbar für die meisten Menschen bleibt. Und ich habe erkannt: Solange ich dich nicht los werde, so lang wird auch der Zorn der ungebetene Gast in meinem Herzen und meinem Denken bleiben.

Du klebst an mir wie frisches Baumharz und es kommt mir vor, als wären wir aneinander gefesselt. Eine immerwährende Strafe für eine Tat, die ich nie begangen habe. Und es erschließt sich mir nicht, warum ich die Fessel, die Geißel Ben nicht von mir lösen kann.

Alles, was mich an dich erinnert habe ich vernichtet. Weggeschmissen und verbrannt, um dich aus meinem Denken und Fühlen zu exilieren. Zumindest dachte ich das und doch stoße ich im Alltag auch nach Monaten immer noch auf handschriftliche Liebesschwüre von dir. Versteckt zwischen den Seiten meiner Lieblingsbücher oder auf gelöscht geglaubten Bilder im Speicher meiner Digicam.

Du bist mein ungebetener Gast, ein allgegenwärtiger materialisierter Fluch, der dieselbe Luft einatmet wie ich. Als wärest du physisch in meiner Nähe und alles wäre erst gestern geschehen. Und wider jeglichen Verstandes erinnert sich mein Körper schmerzhaft an deine zärtlichen Händen. Meine Haut brennt wie Feuer und lechzt nach deiner Berührung. Ich spüre wie mein Unterleib zu pulsieren beginnt und in diesen kurzen aufflackernden Sequenzen alles in mir nach dir verlangt.

Meine Erinnerungen und meine Realität vermischen sich und gleichzeitig erlebe ich die gemeinsamen Momente unserer Lust, wie auch deine schmerzhafte, blaueingefärbte Wut auf meinem Körper. Dann höre ich wieder deine ruhige, tiefe hypnotische Stimme und wie sie sich über meinen Gehörgang einen Weg in mein Gehirn bahnt. Ein sprechender Tinnitus, den ich weder abschalten oder wenigstens übertönen kann und der mich in den stillem Momenten des Tages, leichtfüßig in den Wahnsinn treibt.

Ich erleide Höllenqualen und die Konzentration auf die täglichen Dinge des Lebens fallen mir unsagbar schwer. Es ist, als ob mein Körper um Erlösung bettelt. Nur, Erlösung von was? Von dem Schmerz, den du mir zugefügt hast? Bildet sich mein Körper tatsächlich ein, dass er von dir einen Ausgleich für die angerichteten Qualen benötigt, um wieder in Balance zu kommen?

Was ist, wenn mein Verstand, getrübt von den Erlebnissen der vergangenen Monate einen Teil meiner Persönlichkeit abgespalten hat?

Was ist, wenn er meinem Verstand paranoide Erklärungen einflüstert und diesen ermutigt die Flucht zu ergreifen?

Was ist, wenn dieser Teil sich nicht in die hintere Ecke des Vergessens geschlichen, sondern die Oberhand in meinem Leben übernommen hat?

Verdammte Scheiße. Was ist, wenn ich auf dem besten Wege bin meinen Verstand zu verlieren, ohne es wirklich zu bemerken?

Und schon wieder nimmt mein Gedankenkarussell zusehends an Fahrt auf und ich finde einfach nicht den passenden Moment abzuspringen. Ich kann es weder anhalten noch abschalten, denn der fabelhafte Konstrukteur hat mir leider nicht mitgeteilt, wo er den Schalter hingesetzt hat. Wirklich dumm daran ist nur, dass der Arsch von Konstrukteur - mein Gehirn, an einer Art Amnesie zu leiden scheint.

Könnte das ein Zeichen von beginnendem Schwachsinn sein?

Zweifel kriechen mir die Wirbelsäule hoch und kaltschweißige Hände legen sich um meinen Hals und drücken mir langsam den Kehlkopf ein. Scheiße, ich habe mich erneut im Irrgarten meines Denkens verlaufen und entferne mich immer weiter vom Mittelpunkt meiner eigenen Koordinaten, um meinem Verstand hinterher zu laufen und ihn zum Bleiben zu animieren.

Und weil ich ihn nicht einhole, höre ich aus dem Nichts deine Schritte. Dein Geruch streift meine Nasenflügel und ich zucke zusammen, weil ich glaube dein Seufzen neben mir wahrzunehmen und deine Hände auf meinen Körper zu spüren. Doch ich sitze allein auf dem Sofa.

Das macht mir Angst. Angst, dass mein Zorn und mein Schmerz mein Hirn auf unbestimmte Zeit in den Urlaub geschickt haben. Angst, weil ich etwas wahrnehme, was definitiv nicht sein kann. Das Schlimmste ist, das mein Verstand - mein Retter der Vergangenheit, mich dieses Mal schmählich im Stich lässt.

Mein Puls nimmt an Geschwindigkeit auf und ich spüre wie Adrenalin meinen Körper flutet und mich in eine Art Rausch versetzt, in dem ich nur noch vernichten will. Dich vernichten will. Jeder Schlag meines Herzens gegen die Innenseite meines Brustbeins raubt mir die Luft zum Atmen.

Ich will, dass du für das, was du mir angetan hast bestraft wirst. Doch keine Sorge, ich will dir nicht bloß dein physisches Leben nehmen. Das wäre viel zu einfach. Das wäre viele zu schnell. Du sollst auf allen Vieren in das dreckige Loch zurück kriechen, aus dem ich dich herausgeholt habe. Du sollst dreifach, jeden beschissenen Moment zurückerhalten, den du mir zugemutet hast.

Ich will es genießen, wenn du am eigenen Leibe spürst, wie dich dein Schmerz zerreißt. Dir dabei lächelnd in die Augen sehen, wie sich dein Leiden millimeterweise auf grausame und langsame Art durch jede Faser deines Körpers frisst.

Kraftlos soll jeder deiner Tage sein und doch sollst du im Panzer deiner eigenen Gefühlskälte so sehr bibbern, dass du dir sehnlichst herbeiwünschst, endlich erfrieren zu dürfen. Aber nur, um danach in der Mitte deines eigenen Höllenfeuers zu schmoren, durch das du mich ungebeten und ohne Rücksicht auf Verluste selbst hindurchgejagt hast. Ich will, dass du erfährst, wie es sich anfühlt, wenn einem bei lebendigem Leibe das Herz herausgerissen wird. Ich will, dass du für jede Träne die ich vergossen habe, Herzblut als Opfergeld an mich zurückzahlst.

Aber es soll noch nicht jetzt geschehen. Du sollst auf der Leiter deines neuen Lebens, deren ersten Sprossen ich dir gebaut habe, noch ein bisschen höher steigen. Und kurz vor deinem Ziel will ich, dass du fällst. Abgrundtief. Ich will, dass du genauso wie ich es fühlen musste, spürst wie dir der Boden unter deinen Füßen weggerissen wird. Ich will, dass du in ein ebenso tiefes, schwarzes Loch katapultiert wirst, wie das, in das du mich mit einem verachtenden Lachen hineingeworfen hast.

Ich will, dass du von einem schwindelerregenden Strudel in die Tiefe hinabgezogen wirst und um dich herum nur schleimige Wände ohne jeglichen Halt. Tiefer und tiefer sollst du Fallen und ohne jede Aussicht auf ein baldiges Ende in die eisige Dunkelheit abrutschen.

Ich will, dass du weißt wie schwer es sich mit einem Granitblock am Hals, einem Dolch in der Brust und einem blutendem Herzen atmet. Starr und regungslos sollst du das tägliche Allerlei ertragen und dich durch jeden deiner Tage kämpfen müssen. Ohne jegliche Hoffnung auf Besserung.

Du sollst wissen wie es ist, wenn der Tag mit einem Mal achtundvierzig Stunden und die Nacht nur fünfundsechzig Minuten lang sind. Zitternd in deinem eigenen Schweißsee sollst du aufwachen und an deinen nicht geweinten Tränen zu ersticken drohen. Raue, kalte Nacht atmen und mit deinem Mund tonlose Worte formen, für die es weder Vokale noch Konsonanten gibt.

Ich will aber auch, dass du die kurzen Momente der Leichtigkeit des Seins erfährst. Die beglückenden Augenblicke, an denen die Hoffnung aufflackert, es jetzt endlich überstanden zu haben. Hoffnungsfroh sollst du dankend den Blick nach oben richten, dich darüber von Herzen freuen, dass die guten alten Freunde Friede, Glück und Hoffnung dich wiedergefunden haben, um sie gleich im nächsten Augenblick wieder zu verlieren. Damit du deinen Weg im schmierigen Tunnel deines eigenen Abgrunds fortsetzen kannst.

Und genau zu diesem Zeitpunkt, werde ich in dein Bewusstsein zurückkehren. Dann will ich, dass mein Geruch und mein Lieblingsparfüm, welche du so gern an mir gerochen hast, deinen ganzen Kopf ausfüllen. Ich will, dass du in diesem Moment meine Hände auf deinem Körper spürst. All‘ die zärtlichen Worte, die ich dir in unseren Nächten ins Ohr geflüstert habe, sollen dich auf deinen Weg nach Unten begleiten. Ich will, dass du mein Lachen, welches dich aus deinem persönlichen Tief herausgeholt hat, dich dieses Mal auf der Abfahrt deines Lebens begleitet. Und ich will dass diese Abfahrt kein Ende nimmt. Ganz im Gegenteil, die Bilder deines Lebens und deiner Erinnerungen sollen in so aberwitziger Geschwindigkeit an dir vorbeirauschen und verschwimmen, bis dein Verstand sich auflöst.

Meine Worte und meine Wut sind hässlich, vernichtend und unbarmherzig. Sie sind mein Geschenk an dich. Der Geschmack von bittersüßer Rache liegt auf meiner Zunge und sein Aroma entfacht einen olfaktorischen Orgasmus in meinem Kopf und die bunten Lichter meines Gedankenkarussells flackern funkelnd im dunklen Teil meiner Seele.

Beleuchten den tiefen Schmerz und die Sätze, die sich wie glühende Eisen in mein Herz und meine Seele gebrannt haben. Die Wunden, die du mir geschlagen hast, wollen einfach nicht heilen. Lange Zeit habe ich die Eigendynamik meiner Gedanken nicht verstanden. Im letzten Winkel meines Denkens gehofft, dass du eines Tage zu mir kommst und mich um Verzeihung bittest. Doch diese Worte wirst du nie finden, weil sich dein Denken nur auf dich fokussiert.

Ich verstehe mich selbst nicht mehr, verstehe die Eigendynamik meiner Gedanken und Emotionen nicht mehr. Kann nicht begreifen, wie sie sich so verselbständigen können. Ich will, dass es aufhört und ich weiß, dass es nur aufhört, wenn du aufhörst. Denn ich kann den verkackten Knopf zum Ausschalten undenkbarer Gedanken nirgends entdecken.

Meine Augen brennen und ich kann nicht sagen, ob es der Rauch meiner Zigarette ist oder ob es die hässlichen zornbeschmutzten Worte sind, die sie quälen, weil ich wieder einmal in einer langen schlaflosen Nacht meine ohnmächtige Wut und Trauer ins Notebook hämmere.

Der Teer meiner Zigarette lähmt meinen Gedankenfluss. Er stagniert und ich spüre wie meine dazugehörigen Emotionen im Nikotinsumpf absaufen. Meine Kehle fühlt sich rau an und meine Zunge klebt an meinem Gaumen. Nichts schmeckt schrecklicher als ungelöste Wut, nichts lässt sich schwieriger schlucken und ist salziger als Tränen schmerzerfüllten Zorns.

Ekelerregend zieht der kalte Rauch aus dem Aschenbecher neben mir auf und kriecht in meine Nasenhöhlen, um meine Geruchsnerven zu beleidigen. Und doch ist das immer noch angenehmer auszuhalten, als dich zu spüren und zu riechen, dich meinen schönen Prinz, der sich in von heute auf morgen in eine modrige fette Kröte verwandelt hat.

Und endlich, endlich nehme ich das Gewicht meiner Augenlider wahr - genau der richtige Moment, um in die Federn zu fallen. „Vielleicht sogar traumlos? Denn ich kenne einige inakzeptable Mittel um Kröten zu vernichten, die nicht unter den Artenschutz fallen.“, denkt es in mir. Moment mal. Was ist das für eine Stimme? Die kenne ich ja noch gar nicht? Egal. Darum kümmere ich mich später. Ben geht vor.

Jolly Jane

Der Bruch

[Auszug aus einem Buchprojekt]

Lux Hand umfasste fester den Stoff seines Ärmels. Er war wütend. So sehr, dass er am liebsten seine Wut lautschreiend rauslassen wollte. Aber er wusste, wenn er schreien würde, dann gäbe es nur erneut Schläge von ihrem Vater. Seine laute Wut musste er also begraben lassen. Das änderte aber nichts daran, dass er seine Wut leise und boshaft entfliehen lassen konnte, während er Ravn ansah.

Sein Zwillingsbruder hob den Kopf an, als er den stechenden Blick anscheinend bemerkte. Wie immer wirkte Ravn, als würde er etwas sagen wollen, als hätte er eine Entschuldigung auf der Zunge liegen, die er einfach nicht in Worte fassen konnte. Doch, wie schon tausende Streitereien davor, brachte sein Bruder kein Wort heraus. Etwas zynisch musste Lux daran denken, dass das wohl sein ‚so viel stärkerer‘ Bruder war, zumindest in den Augen seines Vaters. Ein Kerl, der es nicht mal schaffte, sich bei seinem Zwilling zu entschuldigen. Irgendwie passend. Der Apfel fiel wohl wirklich nicht weit vom Stamm.

„Du hast mich verraten. Ich habe dich angefleht, es nicht zu tun, Ravn. Wie kannst du es wagen? Schon wieder? Hasst du mich so sehr?“, entfloh es ihm leise, aber nicht weniger angriffslustig.

Lux musste diese Frage eigentlich nicht stellen. Ravns Verhalten machte langsam immer deutlicher, dass dieser nichts auf ihre Verwandtschaft gab, nichts auf das Band, welches sie maßgeblich verband. Ravn interessierte sich nur dafür, vor ihrem Vater gut dazustehen. Wie ein dummer Feigling.

„Feigling“, rutschte es Lux noch heraus, wodurch sein Zwilling langsam einen Schritt zurückmachte. Es wirkte beinahe so, als hätte er Ravn geschlagen, aber vermutlich ging dieser Schlag nicht in das Gesicht, welches seinem so glich, sondern viel mehr in das schwarze Herz seines Vorzeige-Bruders.

„Es ist gefährlich, wenn du dich wegschleichst. Du weißt unser Vater ist in Geschäfte verwickelt, die dich nichts angehen, aber sie sind gefährlich! Gerade zu dieser Zeit ist es gefährlich, wenn du in der Nacht abhaust, Lux! Selbst wenn es nur ist um die dämlichen Katzen in der Nachbarschaft zu füttern, weil du so ein ätzender Gutmensch bist!“

Lux stierte einen Augenblick die Wand an, bevor er wieder in die braunen Augen seines Bruders sah. Ravns vorher noch nahezu sanfter Blick war einer deutlichen Widerspiegelung von Wut gewichen. Lux hatte ihn bisher nur selten so gesehen, aber es machte ihn in diesem Augenblick nur noch wütender. Bevor er jedoch einen Ton von sich geben konnte, öffnete Ravn wieder den Mund und irgendwo wünschte sich Lux nichts sehnlicher als irgendwelche fiesen Worte, die für noch mehr Chaos sorgten.

„Vater hat absolut recht! Du wirst dich nie ändern! Es ist gut, dass ich die Geschäfte irgendwann übernehmen werde. Du hast in der Mafia genauso wenig verloren, wie unsere Mutter. Du wirst genauso wie sie durch irgendeine Dummheit sterben. Wahrscheinlich bevor du überhaupt volljährig bist!“

Die Worte rissen ihn beinahe entzwei. Egal wie viel Chaos er sich gewünscht hatte. Ravn hatte die einzige Grenze überschritten, auf die sie sich vor Jahren geeinigt hatten. Ihre Mutter war niemals Teil eines Streits und Lux konnte nicht fassen, dass sein Zwilling sie nun doch zu einem Teil davon machte. Ravn klang wie ihr Vater.

Seine Hände ballten sich fester zu Fäusten, während er das dumpfe Gefühl von absoluter Hilflosigkeit in sich spürte. Es schnürte ihm die Kehle zu und ließ seinen Kopf beinahe pulsieren, wie bei einem schlimmen Kopfschmerz. „Meinst du das ernst?“, fragte Lux nach einem Moment doch leise. Seine Stimme klang brüchig, während er schmerzlich das Gesicht verzog.

Ravn antwortete nicht, sondern drehte sich um und verließ den Saloon ihres viel zu großen Hauses. Draußen hörte er die Stimme ihres Vaters. Er schien Ravn irgendwas zu fragen, was sein Zwillingsbruder mit der gleichen Abgeklärtheit wie immer beantwortete. Sie verließen den Flur, entfernten sich nahezu immer weiter, bis Lux zurückblieb mit seinen eigenen Gedanken.

Ein Schluchzen entfloh seiner Kehle. Es raubte ihm beinahe den Atem, weil es ihn derart erschütterte. Wenn er ein Gebäude wäre, dann war er wohl soeben gesprengt worden. Was zurückblieb, war nur die Asche eines traurigen Teenagers, der wohl nie gut genug sein würde für seine Familie.

Ich bahne mir einen Weg an den schnatternden Schülern vorbei, in den Klassenraum, Richtung Lehrerpult. Dort lasse ich mich auf meinen Stuhl fallen und verschränke die Arme vor der Brust. Tief durchatmen Mara. Abwartend sehe ich Herrn Knollenberg an. „Wie schön, dass Sie wieder zu uns gestoßen sind, Mara. Matt, wie schön, dass Sie hiergeblieben sind.“
„Sie haben mir nicht gerade eine Wahl gelassen“, antwortet Matt mürrisch. Das erhellt meine Laune ein wenig. Wenn Matt aufgrund dieser Aktion wütend ist, dann bringt sie mir wenigstens etwas.
„Also schön. Fangen wir mit dem Offensichtlichen an. Matt hat scheinbar etwas Wichtiges vor und wenig Interesse, hier zu sein. Mara macht nur mit, weil ich sie darum gebeten habe. Des Weiteren scheinen Sie beide ein Problem miteinander zu haben und sind nicht gewillt, das aus der Welt zu schaffen − was Schwierigkeiten mit sich bringt, denn ich wollte am Donnerstag die neuen Bücher verteilen. Wir sollten nach Möglichkeit versuchen, eine Lösung für das Dilemma zu finden. Deswegen schlage ich vor, wir finden zuerst einmal heraus, was für ein Problem wir haben. Also, wer will anfangen?“ Niemand sagt was und für einen Moment ist es still im Klassenzimmer.
„Mara?“ Ich antworte nicht. „Matt, vielleicht?“
„Ich kann dazu nichts sagen, ich habe kein Problem mit einer Zusammenarbeit“, antwortet er. Jetzt habe ich eine Chance. Jetzt kann ich meine ganze Wut rauslassen, wenn ich will.
„Nein, du hast kein Problem mit einer Zusammenarbeit, sie ist dir nur scheinbar nicht intensiv genug“, gebe ich ironisch zurück.
„Was denn? Immerhin bin ich nicht derjenige in unserer Beziehung, der prüde und langweilig ist.“
„Nur, weil ich nicht wie gewisse andere mit dem Erstbesten ins Bett springe, oder was? Wenigstens spiele ich den Leuten keine Gefühle vor, um sie rumzukriegen, nur wegen eines bescheuerten Aberglaubens. Außerdem haben wir keine Beziehung mehr.“ Ich muss aussehen wie eine Furie, während ich Matt anschreie, aber es ist mir egal. In dem Moment tut es einfach nur gut.
„Wenn du einfach mal ein bisschen lockerer wärst, dann hätte ich das auch gar nicht machen brauchen, denn dann wäre das schon längst erledigt gewesen. Außerdem willst du doch mit mir zusammen sein.“
„Ja sicher, nach der Aktion? Die Kopfverletzung da oben war ein eindeutiges Aus, oder brauchst du das schriftlich?“
„Nein danke, deine Ablehnung in gewissen Dingen war schon Antwort genug. Ich hätte einfach bei Julia bleiben sollen. Wie gut, dass ich sie vorher in den Plan eingeweiht habe.“
„Du bist und bleibst ein arrogantes Arschloch. Und ich hoffe, du steckst dich bei einer deiner nächsten Aktionen mit Syphilis oder sowas an.“ Bei meinem letzten Ausbruch bin ich aufgesprungen. Ich schaue nun zu Herrn Knollenberg herüber. „Kann ich jetzt gehen?“
„Nein. Nun da Sie über Ihre Probleme gesprochen haben, sollten wir vielleicht mal darüber reden, wie wir sie lösen können.“
„Sie meinen, wie man aus einem Arsch einen anständigen Menschen macht? Sorry, aber das scheint bei dem da angeboren zu sein.“
„Mara bitte. Wir wollen doch sachlich bleiben.“
„Das hätten Sie ruhig mal vor fünf Minuten sagen können, aber da haben Sie uns auch alles Mögliche sagen lassen, was sehr wohl persönlich und nicht mehr sachlich war.“
„Nun ja, manchmal kann es helfen, wenn man seinen Frust raus lässt.“
„In diesem Fall löst es aber nicht meine Probleme. Sehen Sie, ich kann mit ihm nicht mehr arbeiten. Ich kann ihn unmöglich in mein Haus lassen und werde auch seins nie wieder betreten. Und wie Sie gerade gemerkt haben, ist er definitiv zu zynisch und aggressiv, um konstruktiv mit ihm arbeiten zu können.“
„Und du bist besser, oder was? Das muss ich mir nicht antun. Herr Knollenberg, so kann ich nicht arbeiten.“
„Ach, auf einmal? Vor fünf Minuten hast du noch gesagt, du hättest kein Problem damit, wenn wir zusammenarbeiten“, sage ich zuckersüß.
„Merken Sie nicht, was sie hier tut? Sie will mich fertig machen, damit ich am Ende eine schlechte Note bekomme. Dafür würde sie sogar ihre eigene riskieren“, versucht Matt, die ganze Schuld auf mich zu schieben. Jetzt reichts aber.
„Jetzt tu du bloß nicht so, als seiest du hier das Opfer. Du hast mir eine Beziehung vorgespielt, während du mit deiner Freundin zusammen warst. Du wolltest mich rumkriegen, weil du geglaubt hast, eure Fußballmannschaft kann nur gewinnen, wenn wir in unserem Jahrgang keine Jungfrauen mehr haben. Du hast mich jedes Mal, wenn ich noch nicht so weit war, beleidigt. So lange, bis ich geglaubt habe, ich wäre schuld. Und am Ende hast du versucht, mich zu etwas zu drängen, wofür ich noch nicht bereit bin. Also tu jetzt bloß nicht so, als wärst du hier das Opfer!“, schreie ich ihn an. Matt schaut mich sprachlos an.
„Matt, ist das wahr?“, fragt Herr Knollenberg.
„Ja … also, nein, natürlich nicht …“
„Ach, was bist du denn auf einmal so sprachlos? Was ist denn passiert? Kannst wohl mit der Wahrheit nicht umgehen, was?“, kontere ich.
„Das ist nicht … na ja … also ich habe nicht … was soll das? Die da würde ich nicht mal mehr mit einer Kneifzange anfassen, da muss man ja Angst um sein Leben haben, nur weil man ein bisschen Spaß haben will.“
„Okay, das reicht. Sie gehen bitte direkt zu Direktor Jackson. Wir werden uns dort in einer Viertelstunde mit Ihrer Mutter treffen. Mara, wir sehen uns am Donnerstag zu Ihrer Nachschreibeklausur, und sollten alle Stricke reißen, dürfen Sie in meinem Kurs allein arbeiten. Sie können dann gehen. Würden Sie unterwegs bitte Coach Kent informieren? Matt erscheint heute nicht zum Training und er soll sich doch bitte mit mir und Direktor Jackson im Büro treffen. Danke.“ Damit verlässt er den Raum.
„Weißt du, was du da gemacht hast? Wenn meine Mutter das rauskriegt, bekomme ich ewig Hausarrest und wenn ich Pech habe, sperrt der Coach mich. Dann werden die das Spiel verlieren.“
„Und weißt du was? Das ist mir so was von egal. Du scheinst immer noch nicht begriffen zu haben, was du mir angetan hast, deswegen kann deine Strafe gar nicht hoch genug sein. Und es ist schon Ironie des Schicksals, wenn die Mannschaft genau das Spiel verlieren sollte, wegen dem du mich unbedingt verarschen musstest, oder?“ Vielleicht habe ich den Bogen etwas überspannt, aber es musste gesagt werden. Und dennoch sehe ich das Folgende nicht kommen. Noch bevor ich auch nur blinzeln kann, klebt Matts Hand schon in meinem Gesicht. Er hat mir eine geknallt.
„Wage es ja nicht noch einmal, mir so was anzutun, oder du lernst mich richtig kennen. Und eins solltest du noch wissen, Luka war daran genauso beteiligt wie ich.“
„Das weiß ich schon längst“, kontere ich.
„Ach ja, dann hat er dir sicher auch gesagt, es wäre seine Idee gewesen, dass ich das mit dir übernehme. Er hat uns nämlich verraten, dass die arme kleine Mara hoffnungslos in Matt verknallt ist. Er hat die Gelegenheit geschaffen, sonst hätte es jeder andere aus dem Team versuchen können.“ Matt dreht sich um. In dem Moment kommt Herr Knollenberg wieder herein.
„Ich habe ein paar Pap… Mara, was ist mit deinem Gesicht passiert?“ Er kommt auf mich zu.
„Das sollten Sie wohl besser Matt fragen. Und bitte tun Sie mir den Gefallen und sagen Sie aus, falls Sie darum gebeten werden. Denn ich werde dich anzeigen, Matt!“ Ich schnappe mir meine Tasche, renne aus dem Raum, die Treppen herunter und auf den Schulhof.

Toxolog – Fragment aus einem Audiomitschnitt unbekannter Herkunft

„Herzlich willkommen zu unserem Seminar für konfliktfreie Kommunikation. Ich freue mich über Ihr großes Interesse an unserer Veranstaltung, das man uns übrigens schon lange vor dem heutigen Starttermin entgegengebracht hat. Leider war das Interesse in der Anmelderunde sogar so groß, dass wir bei den Zusagen für die Teilnahme per Los entscheiden mussten. Und so sind Sie, liebe Teilnehmenden, gewissermaßen vom Schicksal begünstigt und haben die Chance, große Entwicklungsschritte zu machen in Richtung auf eine wachsende Fähigkeit konfliktfreier und damit letztlich auch herrschafts- ja sogar gewaltfreier Kommunikation. Ihr persönliches Umfeld, Ihre Familie und Ihre Freunde werden es Ihnen danken.
Erlauben Sie mir, Ihnen zuvor – also bevor wir gleich endlich beginnen – einiges über Sie selbst zu erzählen, dass Ihnen bestimmt unbekannt ist, wovon man aber immer eine Idee haben sollte, wenn man sich durch die Welt bewegt, die ja immer eine soziale Welt ist, also eine Welt der Beziehungen und damit von Situationen, die unsere Empathie und unser Feingefühl für die anderen Menschen fordern.
Wussten Sie zum Beispiel, dass nahezu 80% Ihrer gedanklichen Impulse aggressiver Natur sind und dass sie nicht weniger als 72% Ihrer geistigen Kräfte dafür nutzen, um Kränkungen und Konflikte zu verarbeiten? Und wussten Sie auch, dass diese Verarbeitung in 80% aller Fälle ohne fremde Hilfe misslingt?
Vor allem die männlichen Teilnehmenden unter uns haben besonders unter einem Überschuss gewalttätiger Impulse zu leiden. Ja, neuere Studien hierzu legen sogar nahe, dass es im männlichen Genom – also dem männlichen Erbgut – ein Gen gibt, dass Männer zu potenziellen Vergewaltigern macht? Und Sie werden sich nun natürlich fragen: Wenn das so ist, wie erfolgreich kann dann ein solches Seminar überhaupt sein?
Gestatten Sie mir, Ihre Blicke jetzt einfach mal als „überrascht“ zu interpretieren. Aber das ist noch nicht alles. Ein Bedürfnis, das in nahezu 100% aller Ihrer Konversationen eine tragende Rolle spielt, ist das Bedürfnis nach Dominanz. Das rührt daher, dass Ihr Denken nur scheinbar eine Angelegenheit des Großhirns ist. Viel interessanter ist der Teil, der noch direkt von unseren halbtierischen Vorfahren stammt: Stammhirn, mitunter sogar das Rückenmark.
In dessen Dienst stehen viele der Gedanken, die wir vielleicht sogar für besonders intellektuell halten. Aber wie sagte schon der Philosoph Friedrich Nietzsche sehr treffend: Unser Gehirn ist unser größtes Sexualorgan.
Sie sehen also: Es gibt eine Menge zu tun. Und wenn wir in diesem Seminar gemeinsam zu konfliktfreien Rednern werden wollen und damit zu vollwertigen Kommunikationspartner – ich bin versucht zu sagen: Menschen –, werden wir weit zurückgehen und uns dem Urmenschen in uns stellen müssen. ja, ich sehe Ihre Meldung, würde Nachfragen aber zunächst gerne zurückstellen.
Bevor wir aber beginnen, möchte ich Ihnen noch einige Regeln erläutern, die für alle Seminarteilnehmenden und für jede der kommenden Sitzungen absolut verbindlich sind.“

Hier endet die Aufzeichnung.