Miller in Amsterdam
Sanft glitt die Tür hinter ihnen zu und geräuschlos setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Schweben durch den Raum in einer High-Tech Kabine, in der jeder Quadratzentimeter Material Luxus und Überfluss ausstrahlte. Eisernes Schweigen mischte sich mit der diffusen Beleuchtung der Kabine zu einer unwirklichen Welt. Das Raubtier neben ihm mutierte zum Aal, von dem man nicht wusste, ob seine wulstigen Lippen grinsten oder einem sadistischen Gedanken vorauseilten, der jeden Moment zur quälenden Wirklichkeit werden konnte. Jeff Miller wurde abwechselnd heiß und kalt. Die Fahrt schien endlos und er wusste nicht mehr, ob es aufwärts ging oder abwärts, direkt in die Vorzimmer eines teuflischen Wesens.
Mit einem entfernten Rauschen öffneten sich die Türen wieder, und ohne ihn zu berühren, schob ihn der Aal vor sich her bis vor eine Tür, der man ansah, welch eine Festung dahinter lag. Sie wurde kurz geöffnet, und als sie wieder in ihr großes Schloss fiel, ein weiches Einschnappen von massivem Metall, stand Jeff Miller allein in einem großen Raum. Absolute Stille. Kein Laut drang durch die getönten Fenster. Sie waren also nach oben gefahren, wahrscheinlich ins oberste Stockwerk. Die Welt der Menschen lag tief unter ihnen.
Eine Stimme hinter ihm ließ sich vernehmen, deren Zynismus unüberhörbar war:
»Entweder haben Sie Mut, oder Sie sind einfach nur dumm!«
Jeff drehte sich erschreckt um und sah, wie sich der Raum hinter ihm an der Seite neben der Tür öffnete und in einen zweiten überging. Am Ende hinter einem massiven Schreibtisch saß der Mann, dessen Stimme er gerade gehört hatte: Groß und schlank in einem grauen Maßanzug und mit einem dieser unscheinbaren Gesichter, an die sich kaum jemand erinnern kann.
»Kommen Sie ruhig näher, Miller. Sie haben ohnehin nichts mehr zu verlieren!«
Die Selbstsicherheit in seiner Stimme war vernichtend. Jeff begann zu zittern. Alle seine Atemtechniken versagten. Er verstand, wie existentiell dieser Satz gemeint war, spürte es in jeder Faser seines Körpers. Seit er herausgefunden hatte, wer sich hinter dem Namen Anadeva Marananda Yogi verbarg, wurde ihm zunehmend klar, in welche Organisation er hineingeraten war. Für sie hatte er einen Fehler begangen. In einer solchen Organisation macht man keine Fehler. Und als wäre es ein Echo seiner Gedanken, sagte der Mann mit sanfter Freundlichkeit, deren Oberfläche die Endgültigkeit seines Urteils nicht zu verbergen versuchte:
»Miller, Sie wissen, Sie haben einen Fehler gemacht. Einen schwerwiegenden Fehler! Aber – Miller – bei uns – macht man keine Fehler! Und bestimmt keine, die an die Öffentlichkeit gelangen!« Und mit einer plötzlichen Wut: »MILLER!«
Jeff brach in kalten Schweiß aus. Diesen Wutschrei kannte er zu gut aus seinen Kindertagen. Er fühlte einen eisigen Hauch, gefolgt von einer Spur Verwesungsduft. Der Magen zog sich ihm zusammen.
»Mut war es nicht, der Sie hierher führte, Miller«, fuhr van der Molen mit seinem lächelnd zynischen Unterton fort, »eher abgrundtiefe Dummheit«, und wieder schreiend: »Sie sind ein VERSAGER!«
Jeff sah versteinert in das angewiderte Gesicht des Mannes. Das hatte er oft genug von seinem Vater gehört. Der Rebell in ihm stand auf und gab ihm etwas von seiner Fassung zurück:
»Ich weiß, wer Sie sind, Herr Fons van der Molen alias Anadeva Marananda!«
Der Mann im Maßanzug brach in schallendes Gelächter aus.
»Gewaltig, Miller, geradezu überwältigend! Ich hab’ mich nicht in Ihrer Naivität getäuscht! Was glauben Sie, warum wir SIE ausgesucht haben für unsere Mission? Sie abgebrochener Medizinstudent und Weltverbesserer! Hervorragendes Basiswissen in der Medizin, gerade genug, um saubere Injektionen zu setzen«, es schüttelte ihn wieder vor Lachen, »und zu wenig, um die größeren Zusammenhänge zu verstehen, denen Sie nur geschadet hätten. Es war ein idealer Moment, Sie den reaktionären Fängen der medizinischen Fakultät zu entreißen und Sie in den unendlich formbaren Sumpf der Esoterik zu tauchen.«
Er lachte vergnüglich.
»Dort konnten Sie mit dem gleichen Fanatismus als Weltverbesserer arbeiten, wie Ihr Vater in der Religion, und alles, ohne dass Sie es bemerkt hätten, denn es war in einem gänzlich anderen Gewande. Haha! Was seid ihr doch alle für blinde Hühner und würdet euch gern als Propheten fühlen! Kaum gibt man euch ein anderes Gewand, und schon merkt ihr nicht mehr, dass ihr immer noch in derselben Soße watet! Neue Namen, neue Götter, neue Regeln, derselbe Sumpf! Hühner? – Nein, eher Enten! Immer den Kopf in der Grütze! Und immer an der Oberfläche, ohne es zu merken! Den Kopf nach unten, und erreichen nie den Grund! Den Arsch in der Luft, und erreichen nie den Himmel. Welch traurige Rasse!«
Van der Molen badete in seinem Amüsement. Jeff schien der Boden unter den Füßen zu zerbröckeln. Er fühlte sich in einen gähnenden Abgrund fallen.
»Sie dürfen sich ruhig setzen, Miller«, gab van der Molen mit gespielt großmütiger Geste von sich.
Jeff griff nach einem Stuhl, der ihm nicht mehr den Halt bieten konnte, den er gebraucht hätte. Ein letztes Mal bäumte sich sein Widerstand in ihm auf:
»Und diese Spritzen!? Was haben Sie in dieser Substanz verborgen …?«
Van der Molen unterbrach ihn:
»Das – Geheimnis der Spritzen werde ich Ihnen nicht einfach auf die Nase binden. Das müssen Sie selber herausfinden«, er grinste breit, »wenn Sie Zeit dazu haben«.
Der sarkastische Unterton wurde unerträglich und Jeffs Hände hielten sich krampfhaft am Stuhl fest. Es war mehr als eine Ahnung, dass er hier nicht heil herauskommen würde.
Das Geheimnis der Spritzen! Seine Gedanken fieberten zwischen der Gier nach den letzten Zusammenhängen und nackter Existenzangst hin und her. Die Zeit lief unaufhaltsam davon. Wie sollte er einen klaren Gedanken fassen? Die Spritzen! Da musste ein Schlüssel liegen. In barschem Ton fuhr ihn van der Molen an: »Die Zeit ist um! Miller! Ende der Audienz!«
Mit seinem typisch abschätzigen Blick und halb angewidert erhob sich Fons van der Molen. Die zwei dunklen Typen aus seiner, wie er es gerne nannte, Exekutive, hatten inzwischen lautlos den Raum betreten. Jeff Miller war ihnen ausgeliefert.
Jeff zitterte nicht mehr. Er stand da, wie ein Tier, von seinen Jägern umzingelt und spürend, dass es kein Entrinnen mehr gab. Aller Widerstand zerfiel in Apathie. Die zwei nahmen Jeff in ihre Mitte. Er ging willenlos mit. Die schwere Türe schloss sich hinter ihnen mit dem gewohnt sanften Einschnappen massiven Metalls. Jeff Miller, eingerahmt von zwei Raubtieren in eleganten Anzügen, verschwand hinter sich lautlos schließenden Fahrstuhltüren. Zurück blieb ein leerer Raum, in dem die letzten Schwingungen einer Existenz langsam verebbten.
[aus meinem Roman »inject« von Hans von Holt - ISBN 978-3-7562-1049-7]