Sie ist da!
Eine Glaswand teilt den Raum, in den ich von Adam geführt werde. Auf der anderen Seite steht sie, gebeugt über eine Anrichte, und drapiert sorgfältig etwas auf Teller. Sie trägt eine lange schwarze Schürze über einer kurzärmligen schwarzen Bluse, und auf ihrem Kopf sitzt ein adrettes schwarzes Häubchen. Der andere Adam, der schwarze, steht neben ihr und wartet.
Als wir eintreten, blickt sie ganz kurz auf, senkt aber ihre Augen sofort wieder, konzentriert auf die Tätigkeit ihrer Hände. Ich bin mir nicht sicher, ob ihr Blick mich überhaupt registriert hat.
Chan! Eine heiße, verzehrende Welle rollt durch meinen Körper. Meine Wangen glühen, und Tränen trüben mir den Blick.
»Komm, Dev.« Adam schiebt mich am Arm in den Raum diesseits der Glaswand.
Ohne den Blick von ihr zu wenden, lasse ich mich an die Schmalseite eines langen Tisches führen und auf einen Stuhl drücken. Der Tisch, weiß und leuchtend, ist mit edlen Gläsern, Besteck und Servietten gedeckt. Adam setzt sich an die breite Seite; und mir gegenüber am anderen Ende der Tafel wartet ein drittes Gedeck. Wird dort etwa der andere Adam sitzen, während sie uns bedienen muss?
Jähe Wut steigt in mir auf. Wie kann ich ihr zu verstehen geben, dass ich die beiden töten will? Ich sehe Messer beim Besteck – sind sie scharf genug? Wenn jede von uns einen übernimmt, kann es ganz schnell gehen… Blutige Bilder drängen sich in meine Vorstellung, zwei grausige, kahlköpfige Fratzen mit durchschnittenen Kehlen, das grellrot besudelte Weiß dieser makellosen Räumlichkeiten…
Mein stierer Blick schreckt hoch.
Jemand hat mir gegenüber Platz genommen.
Es ist sie.
Sie hat ihre Schürze und das Häubchen abgelegt. Ihr Haar sieht anders aus. Es gefällt mir. Wer hat es ihr geschnitten? Eine Maschine?
Ich sehe auch, dass sie ihr Netz noch trägt.
Und ihr Gesicht? Sie sieht nicht unglücklich aus. Eher genervt. Sie sieht mich mit demselben Ausdruck an, den sie bei der Aufzeichnung hatte, die Adam dem Captain gesendet hat, als er sie kurz ins Bild geholt hat und sie sich über das Essen beschwert hat.
Ich schaue sie schwer atmend an; meine Freude über das Wiedersehen ringt mit der Ahnung, dass etwas Fürchterliches über dieser Begegnung schwebt. Ich versuche, Chan wenigstens mit meinen Blicken zu berühren, suche in ihren Augen nach einer Erwiderung meiner Gefühle…
Adam sitzt zwischen uns und schaut erwartungsvoll von einer zur anderen. Dann winkt er dem zweiten Adam, der daraufhin mit einer Flasche Champagner an den Tisch kommt.
»Wo kommst du denn jetzt auf einmal her?«, blafft Chan plötzlich in meine Richtung.
Die Kälte ihrer Stimme fährt wie ein Schlag in meine Magengrube und lässt mein Gesicht erstarren. Neben mir schenkt der schwarze Adam mein Glas voll.
Ich bringe kein Wort heraus.
»Bist du etwa gekommen, um mich zu retten?«, fragt Chan mit einem keuchenden Lachen.
»Ich… ich…«, stammle ich verdattert.
»Ja wirklich!« Sie schaut den weißen Adam amüsiert an und zeigt dabei auf mich. »Meine Freundin Dev ist gekommen, um mich zu befreien! Wie rührend, wie toll!«
Ihre Stimme klingt völlig anders, als ich sie kenne: böse und gehässig. Jede ihrer beißenden Bemerkungen schmerzt mich wie ein Peitschenhieb.
Ich lasse meinen Kopf sinken und starre auf die Tischplatte.
Bruder Adam serviert das Essen.
Es gibt – natürlich – Blumenkrabbe.
Der intensive heiße Dunst von Meeresgetier, Hühnerfett, flüchtigem Alkohol und Zwiebeln dreht mir den Magen um.
»Lass es dir schmecken, Dev«, sagt Chan bitter. »Ist mit Liebe gekocht.«
Was ist mit ihr? Warum ist sie so gemein zu mir? Hat etwa das System sie so verdreht? Sie benimmt sich, als hätte ich ihr etwas Böses angetan, als wären wir in Streit und Zwietracht auseinandergegangen – wo doch das Gegenteil der Fall war! Wir waren uns so nahegekommen, schon bei unserer ersten Begegnung. Und an unserem letzten Abend war es, als ob Chan mir ihre Hand gereicht und eine schwere Last von mir genommen hätte…
Und jetzt?
Ihr grausamer Hass zerstört all meine Hoffnung und Zuversicht.
Ich bin umsonst hergekommen!
Adam hört zu essen auf und legt den gesenkten Kopf schräg, um meinen Blick einzufangen, der immer noch starr auf den unberührten Teller vor mir gerichtet ist.
»Nimm’s nicht so schwer, Dev. Zu mir ist sie die ganze Zeit so.« Er schaut zu Chan hinüber. »Na ja, ich hab’ sie angeblich ‚entführt’. Ich bin zwar immer noch der Meinung, dass ich sie einfach als erster gerettet habe, aber sie scheint das anders zu sehen.« Er seufzt und stößt einen kurzen Lacher aus. »Ich glaube, die lange Zeit allein dort unten hat ihr nicht gut bekommen. Sie war mal so ein süßes kleines Ding – aber sie ist ein richtig gemeines Biest geworden.«
Als Chan ihn mit einer finsteren Grimasse bedenkt, schaut er wieder mich an. »Was zwischen euch beiden los war, weiß ich nicht…«
Meine Augen sind noch auf Chan gerichtet, während Adam das zu mir sagt.
Und da – für einen Wimpernschlag – verwandelt sich ihr Gesicht!
Wie ein Schatten weicht der bösartige Ausdruck von ihr, und ein Lächeln strahlt mich an, erfüllt von der Zuneigung, die ich schon verloren geglaubt hatte.
Mein Herz macht einen Satz. Und Chan schickt noch schnell ein Zwinkern hinterher, das mich augenblicklich wissen lässt, wie ich ihre Worte verstehen soll.
Adam merkt meinem Gesicht etwas an, doch als er sich irritiert zu Chan umschaut, ist da wieder derselbe böse Blick wie zuvor.
»Jetzt esst doch«, sagt er ärgerlich »Es wird ja kalt!«
Ich bemühe mich, weiter Appetitlosigkeit vorzutäuschen, aber nach Chan’s Botschaft gelingt mir das nur für ein paar zaghafte Bissen.
Es schmeckt so gut! Ich fange an, hemmungslos zu schlingen.
»Na also!«, sagt Chan spöttisch. »Hau rein, Herzchen. Nicht einmal du kannst verbergen, dass dir mein Essen schmeckt.«
»Mit genügend Hunger schmeckt jeder Fraß«, knurre ich mit vollem Mund.
»Pass nur auf, dass du dich nicht wieder überfrisst«, lacht sie höhnisch. »Wie an unserem letzten Abend bei Deepak. Was habe ich auf dem Klo zu dir gesagt, während du gekotzt hast?«
»Nicht zu fassen!«, rufe ich entrüstet, »Jetzt fängst du wieder damit an! Mir war so schlecht, dass ich nichts darauf sagen konnte. Aber pass mal auf: Du hast mir gesagt, was du von mir hältst – und jetzt sage ich dir: Ich halte dasselbe von dir!«
»Du mich auch, Dev! Verstanden?«
»Ja, du mich auch! Eines Tages bekommst du es zurück! Hundertfach…«
»Das möchte ich sehen, haha!«
»Ich kriege dich!« Ich funkle sie giftig an. »Darauf kannst du dich verlassen!«
»Auf den Tag freue ich mich schon!«
»Du wirst weinen, wenn ich mit dir fertig bin! Du zitterst ja jetzt schon, schau dich nur an!«
»Weil ich es nicht erwarten kann, dich in die Hände zu bekommen!« Chan springt auf. Sie schnappt nach Luft und ringt zornig mit Tränen. »Am liebsten würde ich dich jetzt gleich… packen… und…«
Ich stehe auch auf. »Komm doch her…«
Ich presse meine linke Hand an meine Brust und strecke Chan die rechte entgegen – als wollte ich sie packen oder abwehren. Und sie tut dasselbe. Ohne Adam zu beachten, stehen wir uns keuchend gegenüber. Wir durchbohren uns feindselig mit Blicken, starren uns so tief in die Augen, dass ein schmerzhafter Sog entsteht, dem wir nur mit Mühe widerstehen können, eine Energie, die wir in diesem Moment gemeinsam spüren als wären wir eins; eine Energie, die uns beiden in alle Fasern dringt und uns verbindet mit einem Hochgefühl, das tausendmal intensiver ist als meine erste Begegnung mit dem goldenen Netz.
Chan!
»Jetzt reicht’s!«
Adam, der die ganze Zeit mit offenem Mund unseren theatralischen Schlagabtausch verfolgt hat, schlägt mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass Gläser und Geschirr klirren.
»Eure Streiterei geht mir auf die Nerven! Ihr setzt euch jetzt beide wieder hin und benehmt euch!«