Narzissus muss sterben
Dir Ben,
nach einem weiteren nächtlichen Höllenritt bin ich abermals schweißgebadet aufgewacht. Ohne jegliche Erinnerung an das, was mich derart aufschrecken ließ. Wie schon so viele Nächte zuvor. Doch ein Teil von mir weiß, dass es mit dir zu tun hat.
Es ist deine überwältigende Präsenz, derer ich mich nicht entziehen kann oder sich dieser Teil von mir nicht entziehen will. Entsetzlich. Fakt ist, dass du dich nach Monaten immer noch wie eine hinterlistige Schlange in mein Bewusstsein schleichst, dein Gift in meine Gedanken speiest und ein einziges Chaos in meinem Kopf hinterlässt.
Von Null auf Hundert fahren meine Gefühle Achterbahn und es kostet mich so unendlich viel Kraft sie neu zu ordnen. Mein Denken ist wutverzerrt und die Worte für dich in meinem Kopf sind so hassgefärbt, dass ich mich vor meinem eigenen Spiegelbild schäme.
Denn Zorn und Hass haben Spuren in meiner Mimik hinterlassen und zuweilen habe ich Angst, dass mir die Menschen in meinem Umfeld diesen Zorn ansehen. Zorn, der mich in einer Weise altern und mich selbst vergessen lässt, so dass ich es kaum greifen kann. Zorn, der sich nicht einfach auflöst, weil ich ihn überschminke.
Denn dieser Zorn braucht etwas viel Größeres um heilen zu können, denn er lässt sich nicht mit Vergebungsritualen oder allumfassender Liebe verbannen. Nein. Diese Art Zorn benötigt etwas Übersinnliches, etwas Hyperreales, sich der Realität entziehendes. Etwas, was sich ein durchschnittliches Gehirn nicht zu denken traut und daher unsichtbar für die meisten Menschen bleibt. Und ich habe erkannt: Solange ich dich nicht los werde, so lang wird auch der Zorn der ungebetene Gast in meinem Herzen und meinem Denken bleiben.
Du klebst an mir wie frisches Baumharz und es kommt mir vor, als wären wir aneinander gefesselt. Eine immerwährende Strafe für eine Tat, die ich nie begangen habe. Und es erschließt sich mir nicht, warum ich die Fessel, die Geißel Ben nicht von mir lösen kann.
Alles, was mich an dich erinnert habe ich vernichtet. Weggeschmissen und verbrannt, um dich aus meinem Denken und Fühlen zu exilieren. Zumindest dachte ich das und doch stoße ich im Alltag auch nach Monaten immer noch auf handschriftliche Liebesschwüre von dir. Versteckt zwischen den Seiten meiner Lieblingsbücher oder auf gelöscht geglaubten Bilder im Speicher meiner Digicam.
Du bist mein ungebetener Gast, ein allgegenwärtiger materialisierter Fluch, der dieselbe Luft einatmet wie ich. Als wärest du physisch in meiner Nähe und alles wäre erst gestern geschehen. Und wider jeglichen Verstandes erinnert sich mein Körper schmerzhaft an deine zärtlichen Händen. Meine Haut brennt wie Feuer und lechzt nach deiner Berührung. Ich spüre wie mein Unterleib zu pulsieren beginnt und in diesen kurzen aufflackernden Sequenzen alles in mir nach dir verlangt.
Meine Erinnerungen und meine Realität vermischen sich und gleichzeitig erlebe ich die gemeinsamen Momente unserer Lust, wie auch deine schmerzhafte, blaueingefärbte Wut auf meinem Körper. Dann höre ich wieder deine ruhige, tiefe hypnotische Stimme und wie sie sich über meinen Gehörgang einen Weg in mein Gehirn bahnt. Ein sprechender Tinnitus, den ich weder abschalten oder wenigstens übertönen kann und der mich in den stillem Momenten des Tages, leichtfüßig in den Wahnsinn treibt.
Ich erleide Höllenqualen und die Konzentration auf die täglichen Dinge des Lebens fallen mir unsagbar schwer. Es ist, als ob mein Körper um Erlösung bettelt. Nur, Erlösung von was? Von dem Schmerz, den du mir zugefügt hast? Bildet sich mein Körper tatsächlich ein, dass er von dir einen Ausgleich für die angerichteten Qualen benötigt, um wieder in Balance zu kommen?
Was ist, wenn mein Verstand, getrübt von den Erlebnissen der vergangenen Monate einen Teil meiner Persönlichkeit abgespalten hat?
Was ist, wenn er meinem Verstand paranoide Erklärungen einflüstert und diesen ermutigt die Flucht zu ergreifen?
Was ist, wenn dieser Teil sich nicht in die hintere Ecke des Vergessens geschlichen, sondern die Oberhand in meinem Leben übernommen hat?
Verdammte Scheiße. Was ist, wenn ich auf dem besten Wege bin meinen Verstand zu verlieren, ohne es wirklich zu bemerken?
Und schon wieder nimmt mein Gedankenkarussell zusehends an Fahrt auf und ich finde einfach nicht den passenden Moment abzuspringen. Ich kann es weder anhalten noch abschalten, denn der fabelhafte Konstrukteur hat mir leider nicht mitgeteilt, wo er den Schalter hingesetzt hat. Wirklich dumm daran ist nur, dass der Arsch von Konstrukteur - mein Gehirn, an einer Art Amnesie zu leiden scheint.
Könnte das ein Zeichen von beginnendem Schwachsinn sein?
Zweifel kriechen mir die Wirbelsäule hoch und kaltschweißige Hände legen sich um meinen Hals und drücken mir langsam den Kehlkopf ein. Scheiße, ich habe mich erneut im Irrgarten meines Denkens verlaufen und entferne mich immer weiter vom Mittelpunkt meiner eigenen Koordinaten, um meinem Verstand hinterher zu laufen und ihn zum Bleiben zu animieren.
Und weil ich ihn nicht einhole, höre ich aus dem Nichts deine Schritte. Dein Geruch streift meine Nasenflügel und ich zucke zusammen, weil ich glaube dein Seufzen neben mir wahrzunehmen und deine Hände auf meinen Körper zu spüren. Doch ich sitze allein auf dem Sofa.
Das macht mir Angst. Angst, dass mein Zorn und mein Schmerz mein Hirn auf unbestimmte Zeit in den Urlaub geschickt haben. Angst, weil ich etwas wahrnehme, was definitiv nicht sein kann. Das Schlimmste ist, das mein Verstand - mein Retter der Vergangenheit, mich dieses Mal schmählich im Stich lässt.
Mein Puls nimmt an Geschwindigkeit auf und ich spüre wie Adrenalin meinen Körper flutet und mich in eine Art Rausch versetzt, in dem ich nur noch vernichten will. Dich vernichten will. Jeder Schlag meines Herzens gegen die Innenseite meines Brustbeins raubt mir die Luft zum Atmen.
Ich will, dass du für das, was du mir angetan hast bestraft wirst. Doch keine Sorge, ich will dir nicht bloß dein physisches Leben nehmen. Das wäre viel zu einfach. Das wäre viele zu schnell. Du sollst auf allen Vieren in das dreckige Loch zurück kriechen, aus dem ich dich herausgeholt habe. Du sollst dreifach, jeden beschissenen Moment zurückerhalten, den du mir zugemutet hast.
Ich will es genießen, wenn du am eigenen Leibe spürst, wie dich dein Schmerz zerreißt. Dir dabei lächelnd in die Augen sehen, wie sich dein Leiden millimeterweise auf grausame und langsame Art durch jede Faser deines Körpers frisst.
Kraftlos soll jeder deiner Tage sein und doch sollst du im Panzer deiner eigenen Gefühlskälte so sehr bibbern, dass du dir sehnlichst herbeiwünschst, endlich erfrieren zu dürfen. Aber nur, um danach in der Mitte deines eigenen Höllenfeuers zu schmoren, durch das du mich ungebeten und ohne Rücksicht auf Verluste selbst hindurchgejagt hast. Ich will, dass du erfährst, wie es sich anfühlt, wenn einem bei lebendigem Leibe das Herz herausgerissen wird. Ich will, dass du für jede Träne die ich vergossen habe, Herzblut als Opfergeld an mich zurückzahlst.
Aber es soll noch nicht jetzt geschehen. Du sollst auf der Leiter deines neuen Lebens, deren ersten Sprossen ich dir gebaut habe, noch ein bisschen höher steigen. Und kurz vor deinem Ziel will ich, dass du fällst. Abgrundtief. Ich will, dass du genauso wie ich es fühlen musste, spürst wie dir der Boden unter deinen Füßen weggerissen wird. Ich will, dass du in ein ebenso tiefes, schwarzes Loch katapultiert wirst, wie das, in das du mich mit einem verachtenden Lachen hineingeworfen hast.
Ich will, dass du von einem schwindelerregenden Strudel in die Tiefe hinabgezogen wirst und um dich herum nur schleimige Wände ohne jeglichen Halt. Tiefer und tiefer sollst du Fallen und ohne jede Aussicht auf ein baldiges Ende in die eisige Dunkelheit abrutschen.
Ich will, dass du weißt wie schwer es sich mit einem Granitblock am Hals, einem Dolch in der Brust und einem blutendem Herzen atmet. Starr und regungslos sollst du das tägliche Allerlei ertragen und dich durch jeden deiner Tage kämpfen müssen. Ohne jegliche Hoffnung auf Besserung.
Du sollst wissen wie es ist, wenn der Tag mit einem Mal achtundvierzig Stunden und die Nacht nur fünfundsechzig Minuten lang sind. Zitternd in deinem eigenen Schweißsee sollst du aufwachen und an deinen nicht geweinten Tränen zu ersticken drohen. Raue, kalte Nacht atmen und mit deinem Mund tonlose Worte formen, für die es weder Vokale noch Konsonanten gibt.
Ich will aber auch, dass du die kurzen Momente der Leichtigkeit des Seins erfährst. Die beglückenden Augenblicke, an denen die Hoffnung aufflackert, es jetzt endlich überstanden zu haben. Hoffnungsfroh sollst du dankend den Blick nach oben richten, dich darüber von Herzen freuen, dass die guten alten Freunde Friede, Glück und Hoffnung dich wiedergefunden haben, um sie gleich im nächsten Augenblick wieder zu verlieren. Damit du deinen Weg im schmierigen Tunnel deines eigenen Abgrunds fortsetzen kannst.
Und genau zu diesem Zeitpunkt, werde ich in dein Bewusstsein zurückkehren. Dann will ich, dass mein Geruch und mein Lieblingsparfüm, welche du so gern an mir gerochen hast, deinen ganzen Kopf ausfüllen. Ich will, dass du in diesem Moment meine Hände auf deinem Körper spürst. All‘ die zärtlichen Worte, die ich dir in unseren Nächten ins Ohr geflüstert habe, sollen dich auf deinen Weg nach Unten begleiten. Ich will, dass du mein Lachen, welches dich aus deinem persönlichen Tief herausgeholt hat, dich dieses Mal auf der Abfahrt deines Lebens begleitet. Und ich will dass diese Abfahrt kein Ende nimmt. Ganz im Gegenteil, die Bilder deines Lebens und deiner Erinnerungen sollen in so aberwitziger Geschwindigkeit an dir vorbeirauschen und verschwimmen, bis dein Verstand sich auflöst.
Meine Worte und meine Wut sind hässlich, vernichtend und unbarmherzig. Sie sind mein Geschenk an dich. Der Geschmack von bittersüßer Rache liegt auf meiner Zunge und sein Aroma entfacht einen olfaktorischen Orgasmus in meinem Kopf und die bunten Lichter meines Gedankenkarussells flackern funkelnd im dunklen Teil meiner Seele.
Beleuchten den tiefen Schmerz und die Sätze, die sich wie glühende Eisen in mein Herz und meine Seele gebrannt haben. Die Wunden, die du mir geschlagen hast, wollen einfach nicht heilen. Lange Zeit habe ich die Eigendynamik meiner Gedanken nicht verstanden. Im letzten Winkel meines Denkens gehofft, dass du eines Tage zu mir kommst und mich um Verzeihung bittest. Doch diese Worte wirst du nie finden, weil sich dein Denken nur auf dich fokussiert.
Ich verstehe mich selbst nicht mehr, verstehe die Eigendynamik meiner Gedanken und Emotionen nicht mehr. Kann nicht begreifen, wie sie sich so verselbständigen können. Ich will, dass es aufhört und ich weiß, dass es nur aufhört, wenn du aufhörst. Denn ich kann den verkackten Knopf zum Ausschalten undenkbarer Gedanken nirgends entdecken.
Meine Augen brennen und ich kann nicht sagen, ob es der Rauch meiner Zigarette ist oder ob es die hässlichen zornbeschmutzten Worte sind, die sie quälen, weil ich wieder einmal in einer langen schlaflosen Nacht meine ohnmächtige Wut und Trauer ins Notebook hämmere.
Der Teer meiner Zigarette lähmt meinen Gedankenfluss. Er stagniert und ich spüre wie meine dazugehörigen Emotionen im Nikotinsumpf absaufen. Meine Kehle fühlt sich rau an und meine Zunge klebt an meinem Gaumen. Nichts schmeckt schrecklicher als ungelöste Wut, nichts lässt sich schwieriger schlucken und ist salziger als Tränen schmerzerfüllten Zorns.
Ekelerregend zieht der kalte Rauch aus dem Aschenbecher neben mir auf und kriecht in meine Nasenhöhlen, um meine Geruchsnerven zu beleidigen. Und doch ist das immer noch angenehmer auszuhalten, als dich zu spüren und zu riechen, dich meinen schönen Prinz, der sich in von heute auf morgen in eine modrige fette Kröte verwandelt hat.
Und endlich, endlich nehme ich das Gewicht meiner Augenlider wahr - genau der richtige Moment, um in die Federn zu fallen. „Vielleicht sogar traumlos? Denn ich kenne einige inakzeptable Mittel um Kröten zu vernichten, die nicht unter den Artenschutz fallen.“, denkt es in mir. Moment mal. Was ist das für eine Stimme? Die kenne ich ja noch gar nicht? Egal. Darum kümmere ich mich später. Ben geht vor.
Jolly Jane