Zivilcourage oder couragiertes Weglaufen?
[Sonntag]
Das Geräusch des Feuermelders wurde lauter und lauter, je weiter wir die Straße entlang liefen. Mein Blick glitt zu meiner Schwester, die Hände tief in meinen Jackentaschen vergraben. Meine Wangen mussten ebenso wie meine Nase knallrot sein von der herrschenden Dezemberkälte und ich bereute, keinen Schal umgelegt zu haben, als wir das Haus verließen.
„Hörst du den auch?“
Ich nickte und wie automatisch bewegten sich meine Beine in Richtung des Geräuschs.
Tue es nicht. Lass es einfach bleiben! Wieso willst du da jetzt nachsehen gehen? Das ist wirklich nicht dein Problem! Ernsthaft! Vielleicht hat auch wieder irgendein Trottel das Essen anbrennen lassen und nun schreit dieses dumme Ding! Oder die Wohnung steht leer und das Teil ist einfach defekt! Dreh um und geh!
Ich ignorierte meinen eigenen kleinen Kopfdämon, welcher oftmals leider gar nicht so klein war, und lief an dem langen Reihenhaus entlang.
„Hier ist es“, sagte ich zu meiner Schwester.
Um zu überprüfen, ob ich richtig lag, machte ich einige Schritte weg von dem angekippten Fenster. Vor, zurück. Das Resultat blieb dasselbe. Unterhalb des Fensters hörte ich den Feuermelder am lautesten.
„Sollen wir die Feuerwehr anrufen?“
Wir sahen uns etwas unbehaglich um. Die anderen Fenster der Wohnung waren geschlossen, die Rollläden hinuntergezogen.
„Vielleicht ein Fehlalarm“, merkte meine Schwester nervös an.
Oh ja. Das kam uns bekannt vor. Waren wir doch erst vor wenigen Monaten von einem solchen um den Schlaf gebracht worden. Schon davor hatten wir ebenfalls diverse Fehlalarme von defekten Rauchmeldern erlebt.
„Und was, wenn jemand da drin ist? Wir können ja nichts sehen“, sagte ich.
Eine Weile herrschte Schweigen zwischen uns, während wir beide in Gedanken versunken dem nervigen Geräusch des Rauchmelders lauschten. Vielleicht kam ja doch noch jemand und schaltete ihn aus. Im Haus schien es auch niemanden zu beunruhigen. Die Erfahrung mussten wir leider auch schon am eigenen Leib machen, dass Menschen taten, als würden sie nichts sehen oder hören. Wegschauen hieß wohl das Prinzip. Kalte Gesellschaft.
In meinem Kopf arbeitete es. Feuerwehr anrufen oder nicht? Erst zuletzt mussten wir den Notruf wählen, wegen eines gefährlichen, randalierenden Mannes im Haus.
Lass es. Ganz ehrlich. Vermutlich steht die Wohnung eh leer. Du machst dich nur lächerlich. Ihr macht euch nur lächerlich. Das willst du Sabine doch nicht antun, oder? Außerdem … Was geht es dich an? Du bist nicht betroffen. Das ist nicht euer Haus. Es ist sogar einige Straßen entfernt. Interessiert es dich wirklich? Wie heißt es doch so schön: Aus den Augen, aus dem Sinn oder nicht?
Geh weiter. Geh einfach und vergiss es.
Die Stimme in meinem Kopf schien gewonnen. Meine kleine Schwester beäugte mich, schien darauf zu warten, wie ich reagierte. Als ich mich wieder in Bewegung setzte, tat sie es auch.
„Wir sollten die Feuerwehr anrufen“, sagte ich, als wir einige Schritte entfernt waren. Es war angenehmer, nicht mehr direkt unter dem Fenster zu stehen.
Das laute Piepsen triggerte mein Innerstes und ich sah Sabine im Gesicht an, dass es bei ihr nicht anders war. Sie nickte, während sie mich anschaute.
„Ich habe aber kein Handy dabei“, gab sie zu bedenken.
Mir fiel ein, dass ich meins vorhin noch schnell in meine Hosentasche gestopft hatte, ehe ich aus der Wohnung gelaufen war. Mit kalten Fingern holte ich es hinaus und hielt es ihr hin. Sie wusste, dass es mir schwerfiel, zu telefonieren, weshalb sie souverän die Nummer des Notrufs wählte. Ich bewunderte ihre Souveränität immer wieder.
Die Situation war schnell erklärt, auf ein Klingeln hin öffnete niemand die Tür und der Mitarbeiter in der Zentrale ließ uns wissen, dass er jemanden schicken würde. Wir sollten warten.
Meine Schwester legte auf und reichte mir das Mobiltelefon zurück.
„Wir sollen warten“, teilte sie mir nochmal mit.
Ich nickte, während die Stimme in meinem Kopf mich fast ohrenbetäubend anschrie, was ich mir dabei bitte gedacht hatte. Meine posttraumatische Belastungsstörung mochte keinen Stress, keine Trigger und auch keine anderen Menschen. Einen Spaziergang zu machen war für mich schon eine unglaubliche Herausforderung und nun sollte ich hier stehen und auf die Feuerwehr warten.
Warten mochte sie im Übrigen auch nicht. Zu viele Gedanken im Kopf, zu viele Optionen was alles Schlimmes passieren konnte, also perfekt um eine Panik herauf zu provozieren.
„Wollen wir einfach noch eine kleine Runde gehen? Nützt ja nichts, wenn wir hier stehen bleiben und warten. Die brauchen bestimmt einen Moment und wir hören und sehen die ja, wenn die in die Straße reinfahren.“
Meine Schwester nickte und ich war froh, nicht warten zu müssen. Stumpfes Herumstehen. Angst bekommen vor Dingen, die nicht mehr existierten oder nie existiert hatten und nervig von meinem Dämon angebrüllt werden.
„Ich wollte doch nur in Frieden spazieren gehen“, witzelte ich etwas steif.
Sabine lachte, doch ich sah, dass sie ebenfalls gestresst war. „Ja, ich auch. Aber wann ist unser Leben schon mal friedlich? Wir sind doch echt scheiße darin Dinge zu ignorieren.“
Da hatte sie leider nicht Unrecht. Wegschauen lag uns nicht. In unseren Leben war das durch andere Menschen viel zu oft passiert, was tiefe Narben bei uns hinterlassen hatte. Das bedeutete jedoch nicht, dass wir genauso sein mussten.
Doch, doch das bedeutet es! Du solltest die Dinge um dich herum einfach mal ignorieren, dann würde es dir auch besser gehen!
Ja, vielleicht. Wahrscheinlich aber eher nicht.
Ich verabscheute Menschen, die wegschauten. Aber Zivilcourage von anderen verlangen, jedoch selbst keine besitzen kam für mich schon als Kind nicht in die Tüte.
Wir kamen die Straße gerade wieder hoch, als wir die ersten Sirenen auf der Hauptstraße hörten.
Viele Sirenen.
Verwirrt blickte ich zu meiner Schwester.
„Die kommen aber nicht alle hierher, oder?“, fragte ich. Meine Stimme wackelte nervös. Ich und viele Menschen, keine gute Mischung.
Überhaupt nicht gut. Du wirst nur in Panik ausbrechen und das hast du dann davon!
Mein Blick glitt an dem Reihenhaus nach oben. Ich entdeckte einen alten Mann mit einer Fluppe in der Hand, wie er aus dem Fenster schaute, uns neugierig beäugte.
Ehe ich mich versah, rief ich nach oben: „Entschuldigung? Wissen Sie, ob in der Wohnung dort drüben links jemand wohnt?“
„In der Midde? Nä, da wohnt niemand mehr, die wohnt jetze hier, ganz unten“, rief er zurück.
Ich deutete auf die Wohnung vor mir. „In dieser hier?“
„Ja, jenau! Wieso? Was iss’n los?“
„In der Wohnung da drüben schreit ein Rauchmelder“, antwortete ich.
Der Alte rümpfte die Nase. „Is bestimmt nur kaputt des Scheißding. Passiert doch dauernd bei den Teilen! Klingeln se mal bei der, die wohnt ja hier, die hat garantiert noch nen Schlüssel, weil die immer noch Kram da in der Wohnung hat!“
Na, der wusste ja Bescheid. Ich machte einige Schritte vor und drückte auf die Klingel, welche zur genannten Wohnung gehören musste. Niemand öffnete.
„Da macht keiner auf! Wir haben die Feuerwehr angerufen!“
Der Alte verschluckte beinahe seine Zigarette. „Was? Ach du Schreck, wieso’n das? Der is bestimmt nur defekt!“, rief er.
Ich zuckte die Schultern.
„Sicher ist sicher“, schaltete sich nun auch Sabine ein.
Kurz darauf hielt bereits ein Feuerwehrwagen in der Straße neben uns. Es folgte ein Polizeiwagen und dann wurden es mehr und mehr.
Ich spürte, wie die altbekannte Panik in mir hoch wallte wie ein Stachel, den niemand zu ziehen vermochte. Mein Dämon machte erneut auf sich aufmerksam. Laut und erbarmungslos.
Noch ist genug Zeit, um das Weite zu suchen! Was, wenn in der Wohnung niemand ist? Was, wenn die jetzt mit so einem Großaufgebot anrücken und da ist nix? Hm? Ganz schön peinlich, oder? Außerdem hast du Angst vor Menschen, schon vergessen? Große Angst. Gemein, gehässig, verurteilend …
Ich wusste, dass mein Dämon noch eine ganze Menge mehr auf Lager hatte. Viel mehr.
Halt die Klappe! Halt bitte endlich mal die Klappe! Ich fauchte ihn zwar nur in meinen Gedanken an, aber für die nächsten Minuten war er still. Zumindest so lange, bis mir ein netter Polizist halb im Gesicht steckte.
Viel. Zu. Nah.
Die Panik wollte ausbrechen. Ich wollte schreien, wegrennen oder laut heulen. Aber mein Körper bewegte sich keinen Millimeter, trotz meines Dämons, welcher mich mürbe machte. Das rationale Denken zimmerte ihm eins drüber und ich machte einen Schritt zurück, während der Polizeibeamte meine Daten aufnahm.
Meine Hände zitterten, kalter Schweiß stand mir im Nacken und wie sooft war ich mir sicher, dass mir jedermann meine Panik im Gesicht ablesen konnte, trotz meines aufgesetzten Lächelns.
Es dauerte gefühlte Stunden, obwohl es nur Sekunden waren, und hinter meiner Stirn hämmerte es. Sabine neben mir sah nicht minder unruhig aus, als ich mich fühlte. So viele Feuerwehrleute, so viele Schaulustige, das machte zusammen gefasst sehr, sehr viele Menschen.
Lauf endlich weg! Die Stimme in meinem Kopf meldete sich lauthals zurück. Die starren dich alle an, weil sie dich für eine Psychopathin halten! Wer ruft denn bitte am Adventssonntag den Notruf an? Hm? Die glauben doch, du bist bekloppt! Wegen eines Fehlalarms ein ganzer Löschzug plus Bevölkerungsschutz und Polizei. Du musst ernsthaft verrückt sein! Verrückt!
Er lachte hämisch in meinem Kopf dieser Mistkerl von Dämon. Am liebsten wollte ich ihn lauthals anschreien, weil es mir allmählich reichte. Doch ich war die wortwörtliche Geduld in Person – für gewöhnlich. Schreien mochte ich nicht, es war irrational und nervig, zudem wurden meist nur andere Menschen verletzt. Ja, mein Dämon mochte kein Mensch sein, laut herumschreien bewältigte dieses Problem allerdings auch nicht.
„Ich habe keine Fragen mehr“, ließ uns der Polizeibeamte wissen und wir suchten rasch das Weite.
„Frau wurde in Wohnung ohnmächtig beim Rauchen. Am 2. Adventssonntag ereignete sich in München Allach-Untermenzing beinahe eine kleine Katastrophe. Die gerufenen Rettungskräfte waren jedoch schnell genug Vorort und konnten Schlimmeres verhindern. Eine Frau war beim Rauchen …“
Weiter brauchte Sabine gar nicht zu lesen.
„Ein Glück nicht weggerannt“, murmelte ich in meinen nicht vorhandenen Bart. Der Dämon randalierte schon wieder in mir, bereit für eine neue Auseinandersetzung.
Ätzend.
Zivilcourage kann Leben retten.
Danke fürs Lesen <3