Die Reaktion von Lesenden bei meinem Beitrag zu Seitenwind 2022.Woche09 (Konfliktverhalten) brachte mich auf das Thema
„Nein“-Sagen (können): Eine Studie zu Sympathieträgern und Charakter-Entwicklung in Plots mit oder ohne Realitäts-Bezug
Einstieg ins Thema war mein Beitrag zu
Seitenwind 2022, Woche 09, Verhalten in Konflikten.
Aus einigen Reaktionen darauf schloss ich:
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„Unvollständige“, weil unaufgelöste Konflikte (und schon gar ohne identifikationsfähiges „Happy“-End) scheinen weniger Zustimmung von Lesenden zu finden.
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Wahrnehmung ist ein spannendes, weil subtiles Feld, gerade in „Täter“-„Opfer“-Kontexten. Da gibt es Subjekte, Kontexte und Perspektiven. Ich habe mir zunächst folgenden Happy-End-Pitch zum oben verlinkten Beitrag überlegt:
Zum Glück gingen andere Soldaten dazwischen, so dass der Unteroffizier mit dem Schrecken davonkam. Er nahm seinen Abschied vom Militär und wurde ein äußerst erfolgreicher Filmproduzent. Sein Name war Harvey Weinstein.
Dann dachte ich, der stilistische Anschluss ist vielleicht stimmiger, wenn ich den dramatischen Dialog als Erzählform beibehalte …
---- etwa so, vielleicht:
— Anschluss-Szene 1 —
„Achtung!“
„Was ist hier los?“
„Herr Leutnant, melde: vier Unteroffiziere und 2 Mannschaften beim Aufräumen nach einer Geburtstagsfeier.“
„Aha.“
Der Offizier vom Dienst blickte sich um.
„Unteroffizier Weinstein!“
„Herr Leutnant?“
„Nichts gegen ausgelassenes Feiern, aber lassen Sie mal besser die Glassplitter entfernen, sonst tritt am Ende noch jemand rein!“
„Jawoll, Herr Leutnant!“
— Anschluss-Szene 2 —
„Phiuuu, Harvey, das ist grade noch mal gutgegangen…“
„Ja, voll. Hast Du ein Schwein, dass es immer noch keine Einweisung für Wehrpflichtige in gefühlskontrolliertes und juristisch einwandfreies Verhalten bei Konflikten mit Vorgesetzten gibt.“
— Anschluss-Szene 3 —
„Mir doch egal. Ich mach’ hier sowieso bald den Abflug.“
„Im Ernst?“
„Ja, klar. Mein Bruder hat gerade ein Unternehmen für Filmproduktion gegründet. Er sagt, das hat viel mehr Möglichkeiten.“
– Ende –
Für alle, die es interessiert und kleine Lust haben, das selbst zu recherchieren: Diesen Twist habe ich mir aus dem Abschlussplädoyer des Verteidigers in „Die Jury“ von John Grisham abgekupfert und zeitgenössisch aktualisiert …
… frage mich aber immer noch, wie viel Alltags-/Medien-/Geschichts-/Kontextwissen beim Verwenden von Bezügen ich bei Leser:innen voraussetzen kann (/sollte, /dürfte, …), so dass „die Pointe“ an der Geschichte auch wirklich ‚rüberkommt‘: Würde im dramatischen Dialog
die 1. Anschluss-Szene mit dem Nachnamen genügen?
Oder bräuchte es auch noch
die 2. mit dem Vornamen,
oder wäre es sicherer, auch noch
die 3. hinzuzupacken?
Oder bräuchte es 4. noch mehr und eindeutigere Erläuterung, um die tatsächliche Pointe ‚rüberzubringen‘?
Indem ich z.B. 5. die emotional-dynamischen Zusammenhänge komplett aus der Realität in die Fiktion übertrage, so dass ich komplett ohne Bezüge auskomme?
Und was wäre
6. mit der Hauptfigur aus der ersten Szene? Würde 6.1. die Kontextverschiebung durch die Benennung des Unteroffiziers ihr das Mitgefühl von Lesenden erhalten? Oder müsste
6.2. ihr weiteres Schicksal mindestens so etwas wie (selbst-)erarbeitete Gefühlskontrolle zu gewaltfreiem Verhalten beinhalten, damit sie
6.2.1. eine Chance hat, als Sympathieträger erhalten zu bleiben
und nicht gar 6.2.2. komplett aus dem Fokus rutscht?
Oder müsste 6.2.3. in unserer heutigen Wahrnehmungskultur die Einstiegsfigur nicht doch besser gleich ein Mädchen / eine junge Frau sein, um für Lesende überhaupt als „opferakzeptabel“ und sympathierelevant 'rüberzukommen?