„Wer fauler ist als Jeanette, ist schon tot“ grollte meine Kollegin Ellen gerade, als sich die Bürotür im Zeitlupentempo öffnete und Jeanette mit zwei Stunden Verspätung hereinschlich. Das Gesicht leidend verzogen schlurfte sie um Aufmerksamkeit heischend zu ihrem Platz und setzte sich ächzend und seufzend.
„Lass mich raten“, sagte Ellen und rollte genervt mit den Augen. „Dein Typ hat dich verprügelt.“
„Du weißt doch, dass ich im Moment keinen Freund habe“, sagte Jeanette schmollend mit ihrer Kleinmädchenstimme.
„Aua, aua,“ jammerte sie, als sie sich hinunter beugte, um den PC zu starten. „Das ist doch echt mal 'ne Fehlkonstruktion, könnte man den Knopf nicht am Bildschirm irgendwo anbringen“. Sie stöhnte noch einmal effektvoll, hielt sich den Bauch und sah erwartungsvoll von mir zu Ellen.
„Ich frag’ sie nicht,“ zischte Ellen mir zu, „ich will das nicht wissen.“
Auch ich verkniff mir jede Frage, um nicht wieder eine endlose Jeanette-Litanei herauf zu beschwören.
Aber das hielt Jeanette nicht davon ab, die ganze nächste Stunde laut zu ächzen und bei jeder noch so kleinen Bewegung zu wimmern und zu jaulen.
„Ok“, sagte Ellen genervt und sprang auf.
„Was ist jetzt schon wieder los ? Bist du vor einen Bus gelaufen ? Oder unheilbar an Stupiditas erkrankt ?“
Jeanette riss ihre babyblauen Augen weit auf, die Unterlippe zitterte verräterisch.
„Tracy Anderson“, flüsterte sie mit schmerzverzerrter Stimme, bückte sich und holte eine Tafel Schokolade aus der Tasche, ihre obligatorische 300 Gramm Milka Toffee Ganznuss, die sie spätestens vier Uhr inhaliert hatte.
„HÄH ?“
„Ich habe für mich das Tracy Anderson 30 Tage Programm entdeckt“, sagte Jeanette und sah erwartungsvoll in die Runde.
„In 30 Tagen zur Traumfigur“, erklärte sie nun eifrig. „Also ich hab die Bewertungen im Internet gelesen, das funktioniert wirklich.“
„Na, wenn es im Internet stand“, sagte Ellen, „dann funktioniert es mit Sicherheit. Genauso wie die Fatburnerpillen vom letzten mal. Und in 30 Tagen siehst du aus wie Heidi Klum.“
„Heidi Klum ist blond,“ sagte Jeanette verwirrt, „so kann ich gar nicht aussehen“.
Du bist innerlich blond," sagte Ellen zuckersüß, „Glaub mir.“
„Na ist ja auch egal“, winkte Jeanette ab, „also in 30 Tagen habe ich dann die Top Bikinifigur und ich habe doch bald Urlaub und ich wollte mir sowieso einen neuen Bikini kaufen. Ich hab da letztens so ein tolles Teil mit roten Mohnblüten gesehen.“ Sie kicherte.
Vor meinem inneren Auge sah ich Jeanette in einem Bikini mit Mohnblumen so groß wie Pizzateller.
„Das ist toll“ quetschte ich mühsam hervor und verscheuchte das Bild aus meinem Kopf. „Kannst du jetzt endlich mal anfangen zu arbeiten? Die Angebote müssen heute noch raus.“
„Das wird nur die ersten Tage so sein“, überging Jeanette meine Anweisung. „Also im Moment schaffe ich nur drei Wiederholungen. Aber in einer Woche dann sind es bestimmt schon fünfzehn und dann hat sich die tiefe Muskulatur daran gewöhnt und dann tut es auch nicht mehr weh.“
„Zehn Tage?“ Ellen musterte sie kritisch. "Wie lange machst du das jetzt schon? "
„Na seit gestern,“ sagte Jeanette erstaunt. „Ich hab mir die DVD doch erst am Wochenende gekauft.“
Ellen runzelte die Stirn. "Heißt das, du jaulst jetzt die ganze Woche hier herum?"fragte sie drohend.
Jeanette riss die Augen auf, ihre Unterlippe zitterte. Sie konnte auf Kommando heulen.
„Du bist ja so gemein“, sagte sie mit bebender Stimme und erhob sich ächzend auf. „Hier sind so negative Schwingungen, das kann ich nicht ertragen.“
Und verschwand mal wieder in Richtung Kantine.
„Eines Tages erwürge ich sie,“ sagte Ellen grimmig.
Ich sah auf die Tür und seufzte tief.
Ellen stupste mich aufmunternd in die Seite. „Na komm, Jeannette atmet, produktiver wird sie heute nicht mehr, Erstellen wir die Angebote halt selbst.“