Die letzten Seiten
@ Nikki
„Es freut mich sehr, dass du eines meiner aussortierten Bücher kaufen möchtest. Beim Verpacken habe ich das Buch noch einmal durchgeblättert und gesehen, dass die letzten 6 Seiten (sie enthalten nur noch ein kurzes Glossar und weiße Blätter) etwas aneinander klebten. So weit ich mich erinnern kann, ist mir beim Transport etwas Putzmittel in meinem Korb ausgelaufen und hat die letzten Seiten des Buches erwischt. Möchtest du es dennoch für 3 € kaufen?“
@Yogini
„Da bin ich mir nicht sicher.“
@Nikki
„Ich kann dir ein paar Fotos schicken. Wenn es dir nicht gefällt hätte ich gerne nur die Portokosten von 1,55€ erstattet“
@Yogini
„Ich würde das Buch sehr gerne kaufen.“
In Yogini breitet sich ein warmes Gefühl aus. Es ist zwar nicht viel Geld, das sie bekommen wird, aber ein so schön bebildertes Lehrbuch ist einfach zu schade, dass es nicht gelesen wird.
Liebevoll legt sie das Buch in eine Schachtel, eine kleine Karte mit guten Wünschen dazu.
Tage und Wochen vergehen, eine Zahlung für den versandten Artikel bleibt aus. Das damals wohlige Gefühl vermischt sich mit Unbehagen und wird in Yogins Kopf zu einer dunklen Wolke der Vorahnung.
@ Nikki
„Ich möchte mich nur erkundigen, ob das Buch nicht bei dir angekommen ist?“
@Yogini
„Doch, ist es. Ich habe mich nicht getraut, es überhaupt anzufassen und es nur unter Zuhilfenahme einer Kneifzange gleich in die Altpapierkiste geworfen. Das ist echt eine Zumutung!“
Wut steigt in Yogini auf, beginnt innerlich an ihr zu nagen. Dies Gefühl muss sie unbedingt stoppen. Sie beginnt zu schreiben …: < Das ist eine absolute Frechheit, dass du so etwas behauptest. Das Buch war so gut wie neu. Nur die letzten Seiten hatten ein paar Tropfen Reiniger abbekommen, das kann doch nicht ekelig sein. Außerdem hast du die Fotos gesehen. Was bist du nur für ein Mensch, dass du solche Behauptungen aufstellst, als wollte ich mich bereichern? Schick mir das Buch sofort zurück und verpiss dich aus meinem Leben, du miese Ratte. Solche Menschen wie dich braucht die Welt nicht - und ich schon gar nicht. >
Gedankenblitze von schwarzer Magie brennen sich in ihre Stirn. < Ich schicke dir zurück, was du verdienst, du wirst schon sehen, was du davon hast. > Hass ploppt aus den Tiefen ihres Inneren hervor. Der Bildschirm vor ihr spiegelt ihr Ebenbild. Ein Gesicht voller Zorn, zusammengezogene dunkle Augen, die eine Zornesfalte hervorpressen, Stirnfalten, ineinander verbissene Zahnreihen, Kaumuskeln, die sich regellos bewegen, ein Ausdruck voller Hässlichkeit.
Sie klappt den Laptop zu und rennt auf die Balkontür zu, als wollte sie fliehen, vor der Person, die gleich aus dem surrealen Netz des Internets auftauen und sich auf sie stürzen könnte, ihre Giftzähne in Arme und Beine, vielleicht sogar in ihr Herz hineinschlagen würde. Sie spürt bereits wie dunkle Gedanken durch die Zellen ihres Körpers kriechen.
Sie reißt die Tür auf, atmet die frische Morgenluft tief in ihre Lungen hinein. Sie schaut den Rotkehlchen beim Picken in dem hölzernen Vogelhäuschen unter dem riesigen Lebensbaum zu.
Atmen.
Ein leises Rauschen schwingt in ihre Ohren. Wind, der die Stange mit dem kleinen Schiffchen auf der rostigen Stange hin und her schwingen lässt, fesselt ihren Blick.
Sie atmet.
Das ist das Leben, echt, sichtbar, spürbar, hörbar. Was sind da schon Worte, geschrieben auf Kunststofftasten, versendet über unendliches Gewirr von Glasfasern, an Menschen, die einander nicht kennen?
Sie atmet.
Sie lässt sich in den alten Korbsessel fallen und den Blick in sich hinein. Graue Gedanken wie, ich habs ja gewusst, werden zu < was soll ich damit anfangen? >
Das warme Gefühl von Freude etwas abzugeben breitet sich wieder in ihr aus.
30 Minuten später.
Eine Entscheidung. Taste Clear.
@Nikki
„Liebe Nikki. Vielen Dank für deine Rückmeldung. Danke für die 30 Minuten Zeit, die du mir geschenkt hast, um mein Herz wieder öffnen zu können. Du musst wissen, es hatte sich verschlossen. Ich möchte dich bitten, das Buch an jemanden weiterzugeben, der es gerne lesen möchte. Sei versichert, dass nichts Schmutziges an ihm haftet.
Bitte überweise mir kein Geld, auch nicht für das Porto. Ich wünsche dir alles Liebe. Yogini“
@Yogini
„Liebe Yogini. Ich möchte mich ganz herzlich bei dir bedanken, es ist nicht selbstverständlich, dass man/ich eine solche Rückmeldung bekommen darf. Wie selbstverständlich und ganz leicht ist es jedoch im Internet einfach böse und ungerechte Dinge zu schreiben. Ich muss dir sagen, dass ich einfach vergessen hatte, das Buch bei dir zu bezahlen. Und so war es mir peinlich und viel einfacher, gelogene Worte zu verschicken, als mein Vergessen zuzugeben. Hierfür bitte ich dich um Verzeihung. Ich wünsche dir alles Liebe. Nikki“.