Seitenwind Woche 9: Konflikte

Zwischen Vätern und Töchtern

Freundschaft ist nicht nur irgendein Ding, es ist nicht mal einfach nur ein Wort. Freundschaft ist wie ein Lebewesen. Es entwickelt sich, es macht Fehler, es verzeiht, es zerbricht, es wächst wieder zusammen … Freundschaft ist so lebendig wie die Menschen, die sie verbindet.
Entgegen allen Bemühungen der beiden Väter hatte sich zwischen Mirabella und Jelenehea eine wahre Freundschaft entwickelt. Das Saatkorn der Freundschaft war zwischen sie gefallen, als sie gerade einmal sechs Jahre jung gewesen waren. Inzwischen zählten sie schon zu den jungen Frauen der Stadt. Seit elf Jahren hegten und pflegten sie ihr Pflänzchen der Freundschaft, so sehr ihre Väter auch versuchten, die beiden zu trennen.
Mirabella war die Tochter des wohlhabendsten Obstbauern der Stadt. Der Familie gehörten sämtliche Obstbäume auf dem großen Hain vor den Toren der Palastmauern. Damit war die Familie sehr reich geworden und flanierte durch die obersten Gesellschaftsschichten.
Jelenehea dagegen war die Tochter des städtischen Alchemisten. Sie führten ein bescheidenes Leben und waren zufrieden damit. Da sie leider nicht aus Stein einfach Gold machen konnten, würden sie auch nie reich genug werden, um annähernd mit Mirabellas Familie mithalten zu können. Alchemie ist nämlich keineswegs Zauberei, sondern eher Wissenschaft, vor allem Heilkunde.
Als Mirabella und Jelenehea gemeinsam bei Nacht aus der Stadt wegliefen, hinterließen sie ihren Vätern nicht mehr als einen Brief. Am Morgen trafen sich die wütenden Väter auf halber Strecke zwischen ihren Häusern. In den Händen hielt wedelnd jeder einen Brief. In der Szene glichen sie einander und waren doch so verschieden. Die Anwohner, die durch das Geschrei geweckt wurden, waren sich uneins, wer von den beiden nun Recht hatte.
„Wie konntest du nur?“, brüllte der Obstbauer los. „Wegen dir ist meine Tochter weg! Dein Balg hat sie entführt!“
Wer gegen die Ehre und Tugend seiner Tochter sprach, machte sich mit dem Alchemisten einen Feind, den man nicht haben will. „Wage es nicht, meiner Tochter unterzuschieben, was deine Göre tat! Sie hat meinen Stern mit Flausen vergiftet. Deine Tochter fand es so langweilig bei dir, dass sie abgehauen ist!“
„Das ist nicht wahr! Dein Nachwuchs hat die Flausen im Kopf und hat meine Mirabella angesteckt! Erst hast du mir meine Frau genommen, jetzt auch noch meine Tochter! Dafür wirst du hängen!“
Der Obstbauer wollte auf den Alchemisten losgehen, da entschieden die Zuschauer sich doch noch, in den Streit einzugreifen. Ein junger Mann bekam die erhobene Faust gerade noch zu fassen, während sich der Alchemist schon wegduckte.
„Jetzt beruhigt euch“, forderte der junge Mann. „Wieso hat er dir deine Frau genommen?“, will er vom Obstbauern wissen.
„Er hat sie getötet!“, presst dieser zwischen den Zähnen hervor. In ihm herrschte solch angestauter Druck, dass er bald platzen würde.
Der Alchemist dagegen senkte den Blick zu Boden und wurde plötzlich sehr leise. „Das habe ich nicht. Ich konnte ihr nicht helfen, so sehr ich es versucht habe. Ich bin kein Zauberer und auch kein Gott. Um unserer Freundschaft Willen hätte ich sie dir von den Toten zurückgebracht, doch das kann ich nicht. Genauso wenig kann ich unsere Töchter zurückholen.“
Auch der Obstbauer wurde ein wenig ruhiger, nur dass er dabei das Gefühl hatte, an der Trauer zu ersticken. Der Zorn hielt ihn am Leben. „Du hättest ihr helfen müssen.“
„Ich wollte es doch so sehr. Aber auch jetzt, zehn Jahre später, hätte ich keine Heilung für ihre Krankheit. Du hast an dem Tag nicht nur deine Frau verloren, ich habe meine Schwester verloren. Glaubst du nicht, ich hätte alles versucht? Wieso können wir nicht gemeinsam trauern?“
Seit Jahren hatten sie nicht mehr derart ruhig miteinander gesprochen. Der Obstbauer musste zugeben, dass er seinem alten Freund eigentlich nicht wirklich den Mord an seiner Frau vorwarf. Etwas anderes war viel schlimmer: „Du siehst ihr so ähnlich.“ Wie bei Zwillingen eben üblich, auch wenn sie unterschiedlichen Geschlechts waren.
Vorsichtig wagte der Alchemist einen Schritt auf seinen Schwager zu. „Nun haben wir auch noch unsere Töchter verloren. Lass uns diesmal weise genug sein, uns zu stützen.“
Es würde noch lange dauern, ehe sie eine Dekade Feindschaft aufgearbeitet hätten. Bis dahin hätten Mirabella und Jelenehea in der Fremde vielleicht gefunden, was sie suchten, und würden zurückkehren in eine Freundschaft der Familien.

Der Tennisball

„Los, her damit! Ich habe den Tennisball als Erster gesehen!
Bill ballte seine kleine Faust, so dass die Knöchel hervorstachen.

„Aber ich habe ihn doch dorthin gelegt“ sagte Phil und rollte mit seinen Augen „Also bekomme ich den Tennisball“

„Nein und nochmals nein. Wer ihn zuerst sieht bekommt ihn auch“ sagte Phil.

„So ein Quatsch, hätte ich den Tennisball nicht genau dorthin gelegt, könntest du ihn ja gar nicht als erster sehen“.

Phil kniff die Augen zusammen und fixierte Bill, der schon schwer schnaufte.

„Wen du mir nicht sofort den Tennisball gibst, dann halte ich bis heute Abend die Luft an!“ schrie Bill, der vor Wut kochend einen hochroten Kopf hatte.

„Du fieser Stinker, ich lass mich nicht erpressen! Ab jetzt bist du für mich unsichtbar“.

Beide standen sich mit verschränkten Armen grollend gegenüber, keiner ließ den anderen aus den Augen.

Plötzlich ging die Kinderzimmertür auf und Lisa trat pfeifend herein,
„Öhm … Jungs, habt Ihr den Tennisball gesehen? Ma meinte, weil Fips im Garten auf ihn gepinkelt hat, soll der Tennisball in die Waschmaschine.

„Adam, du Dreckskerl!“ Wütend schleuderte Eva die graue Waschtasche ihres Mannes in die leere Badewanne. Ein Flakon fiel heraus und zerbarst scheppernd auf der harten Emaille.
In ihrer Hand hielt Eva die halbvolle Blisterpackung, die sie gerade aus dem Seitenfach des Kulturbeutels gefischt hatte. Ein blöder Zufall. Sonst rührte Eva Adams private Sachen nicht an. Heute aber hatte Adams Waschtasche vergessen auf dem Toilettendeckel gestanden und Eva war beim Wegräumen das seitliche Knistern unter dem dünnen Stoff aufgefallen.
Die Tabletten waren gelb. Eva wusste sofort Bescheid. Die Potenzpillen hatten sie gemeinsam im vergangenen Türkei-Urlaub als Stimulanz für Adam gekauft. Um „die Erotik ausgiebiger genießen zu können“, hatte Adam ihr stattdessen glaubhaft machen wollen. So verdeckte er geschickt seine Mannesschwäche.
Der intensive Geruch des teuren Rasierwassers im Bad stieg Eva in die Nase. „Verdammt!“ In ihrem Magen breitete sich ein hässliches Gefühl aus: Als wolle Adam ihr über das herbe Aroma seine stetige Präsenz verdeutlichen und ihr - wieder einmal – sagen: „Eva, das redest du dir ein. Da ist nichts.“
Adam hatte eine Affäre. Aus anfänglichen winzigen Details waren im Lauf der Monate handfeste Beweise geworden: die versteckten Belege der Kreditkarte, die Quittung eines Juweliers und seine frische, ihm vorher sonst so verhasste, Intimrasur. Zunächst hatte Eva ihre vage Vermutung noch ignoriert, weil sie es einfach nicht glauben wollte. Später hatte sie gezielt nach Hinweise gesucht und war immer wieder fündig geworden.
Eva hatte Adam konfrontiert. „Du hast eine Andere!“
Doch Adam stritt alles ab. Selbst als Eva seine Kreditkartenabrechnungen offen auf den Küchentisch legte, auf denen sie Restaurantbesuche und Doppelzimmer im immer gleichen Hotel rot markiert hatte. Adam warf nur einen Blick darauf, zuckte mit den Schultern und ließ Eva stehen. Als sie ihm nachlief und Antworten forderte, sah er sie spöttisch an. „Was willst du, Eva? Das waren Geschäftsessen. Und Hotelrechnungen von Dienstreisen. Du bist echt paranoid. Hast du etwa deine Tabletten abgesetzt?“
Mit diesem Argument schlug Adam Eva verbal k.o.
Als sie sich kennengelernt hatte, war es Evas unbändige Neugierde auf das Leben, die Adam fasziniert hatte. Seit sie verheiratet waren, hatte Evas Abenteuerlust erst nur ein paar feine Risse bekommen. Doch mit jedem Ehejahr wurde Evas Interesse an fremden Kulturen und anderen Menschen schwächer bis sie sich kaum noch vor die eigene Haustür wagte. Die Beziehung zu Adam hatte ihr alle Energie geraubt, und ließ Eva gleich einem Kalkstein immer poröser werden. Jetzt wartete sie nur noch auf den Moment, an dem sie gänzlich zerbrach und zu Staub zerfiel.
„Aber nicht heute!“, sinnierte sie laut vor dem Waschbecken.
Eva wusste, dass Adam die Pillen wegen einer anderen Frau bei sich trug. Die in der Türkei versprochene frische Liebeslust im Ehebett hatte er dann doch nie mit Eva ausprobiert. Wochenlang hatten die Tablettenschachteln nach dem Urlaub ungeöffnet in seinem Nachtschrank gelegen. Eines Tages waren sie verschwunden.
Eva konnte sich nicht erinnern, wann sie und Adam zuletzt miteinander geschlafen hatten. Nun sie starrte auf die angebrochene Tablettenpackung in ihrer Faust. Es war so billig und so erniedrigend. Eva spürte ihre Wut und dachte nach. Es hatte wenig Sinn, Adam zur Rede zur stellen.
Dann lächelte sie. Es würde nur ein kleiner Streich sein, den sie ihm spielte. Aber womöglich mit Folgen größerer Tragweite als Adam lieb war. In ihrem Apothekenschränkchen fand sie was sie suchte. Dieser Blisterstreifen war zwar größer als das Original, aber Adam würde höchstens durch den Stoff fühlen und dem Knistern im Seitenfach lauschen, um sicher zu gehen, dass er das Wichtigste für die morgige Dienstreise dabeihatte. Eva tastete probeweise selbst und fühlte den Rand des Blisters. Das würde reichen, um Adam nicht misstrauisch werden zu lassen, befand sie, und zog den seitlichen Reißverschluss zu.
„Ich wünsche dir einen vergnüglichen Abend, Schatz“, sprach Eva in den Raum und lächelte schadenfroh. Statt der stimulierenden Liebespillen würde Adam ein anderes wirksames Heilmittel aus der Tasche ziehen. Gut, dass Eva immer ein Vorrat an Lutschtabletten bei Halsschmerzen zu Hause hatte. Selbstverständlich zuckerfrei.
Eva öffnete das Badezimmerfenster und ließ erst einmal frischen Wind hinein.

Die Apfeltüte

Mittwoch, 07.12.22

Yvonne:
Hallo Eltern, gestern nach der Klassenfahrt ist Kyla aufgefallen, dass ihre AirPods seit der Busfahrt nach Hause verschwunden sind. Hat jemand sie vielleicht aus Versehen eingepackt? Wäre schön, wenn sie auftauchen würden, war nämlich ein Geburtstagsgeschenk von ihrem Vater.

Julia:
Hast du auch wirklich alles gecheckt? Lilly hat mal ihre in der Hosentasche vergessen, die hätte ich fast mitgewaschen …

Yvonne:
Ich habe die Tasche dreimal durchsucht und auch alle Jackentaschen und Hosentaschen sonst würde ich ja nicht fragen. :frowning:

Thomas:
Frag doch mal beim Busunternehmen nach. Oder im Museum, da mussten sie ihre Taschen einschließen, vielleicht sind die Dinger da rausgefallen.

Yvonne:
Danke für die Tipps, aber könntet ihr einfach mal in den Rucksäcken Eurer Kinder nachsehen, ob sich was „verirrt“ hat?

Anna:
Was soll das denn heißen?

Yvonne:
Jonas und Paul saßen direkt hinter ihr im Bus, vielleicht ist da was durcheinandergekommen?

Anna:
Verdächtigst du meine Jungs? Ist ja ein starkes Stück. :frowning_face:

Yvonne:
Wäre ja nicht das erste Mal.

Anna:
Pass auf, was du schreibst, du hängst den beiden immer was an, wenn ich das jetzt schriftlich kriege bist du dran wegen Verleumdung. Ich erwarte eine Entschuldigung! :angry:

Julia:
Kommt mal ein bisschen runter. Täte Euch gut die „digitalen Regeln“ aus dem Schulplaner zu lesen, S. 24., ist ja wie im Kindergarten hier.

Anna:
Du bist immer der Besserwisser. Was geht dich das an?

Julia:
Wenn schon: Besserwisserin! Übrigens, ich bin der Admin der Klassengruppe.

Anna:
Sag ich doch, Klugscheißer.

Anna wird aus der Gruppe entfernt

Thomas:
Ok, Leute, wir sehen und nächsten Donnerstag auf dem Elternabend, dann könnt ihr euch alle mal aussprechen. :slight_smile:

Gestern:
Yvonne:
Hallo zusammen, ich wollte Euch nur sagen, kein Grund zur Aufregung: Kyla hat die AirPods in der Apfeltüte gefunden, echt sorry für den ganzen Ärger.

Kreuzweg

„Nun geh` mir schon aus dem Weg, du hässliche Kuh!“

Es folgte das übliche Lachen der anderen Mädchen, die sich an Jasmin vorbeidrängten, während ihr jede den Ellbogen in die Seite hieb.

Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat dasselbe. Jasmin schwieg sich durch die Angst der ersten Wochen, durch die Scham der folgenden Monate, durch den Zorn danach. Und sie schwieg noch immer, als sie gar nicht mehr so genau wusste, was sie eigentlich fühlte. Sie nannte es ihren „Hindernislauf“, ihren „Kreuzweg“, ihr „Schicksal“ und irgendwann ertrug sie nur noch und fand keine Worte mehr. Sie hörte auch auf, die Tage zu zählen, bis der Abschluss geschafft und sie frei wäre.

Das Gesicht, das sie im Spiegel sah, verlor ebenso an Farbe, wie ihr Inneres. Die Lippen wurden schmal, die Augen ausdruckslos, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. War sie hässlich? Sie hätte es nicht sagen können. Sie fing an, nichts zu sein, als sie nichts mehr fühlte.

„Hast du nicht gehört?“ Nina drängte sich als letzte der Gruppe an ihr vorbei. Ein erneuter Schubser, ein Ellbogen. Jasmins Seite schmerzte. Vor ihnen lag die Treppe. 28 Stufen. Sie hatte sie so oft gezählt wie die Tage, die noch kommen würden.
Aus der eigenen Leere sprang sie plötzlich etwas Finsteres an. Ein Tier aus Hass, Zorn und blinder Wut. Für einen Moment war sie wieder, wenn auch nicht wie vorher. Sie schnellte vor, Arme und Hände ausgestreckt, angespannt. Alle Kraft, die noch in ihr war, steckte in diesem Moment. Und Nina schien für einen Augenblick schwerelos, als sie weit über die erste Stufe hinaus nach vorne flog.

Dann zerrte die Schwerkraft gnadenlos an dem anderen Mädchen. Jasmin hörte Schreie, Schmerz und Knochen auf Stein. Und während die Außenwelt in Chaos versank, legte sich Frieden über die wiederkehrende Leere.
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Supermama

Ich habe schlecht geschlafen. Nein, schlecht, ist vielleicht das falsche Wort. Ich habe mal wieder einen 10-stündigen, nächtlichen Stopp-and-Run-Marathon hinter mir. Etwa im zwei Stunden-Takt. Ich könne froh sein, sagte mir meine Mutter. Es könnte auch ein ein-Stunden-Takt sein. Na bravo, Mama, jetzt weiß ich, woher unser angespanntes Verhältnis kommt. Überhaupt könne ich froh sein, weil sich ja die Männer von heute auch viel mehr kümmerten. Ja, genau, danke auch Patrick, danke vielmals, dass du alle zwei Nächte mal aufstehst und Nils für eine Stunde durch den Gang trägst, damit ich anstatt zwei Stunden mal drei Stunden schlafen kann, die ich aber wiederum hauptsächlich wach liege, weil ich natürlich trotzdem aufgewacht bin, höre wie du summend über die knarzenden Dielenbretter schunkelst und ohnehin weiß, dass ihr spätestens nach 3 Stunden wieder an meiner portablen Milchbar läutet: Dingdong, Hunger! Also her mit dir, mein Kleiner.

Es ist 11 Uhr vormittags und natürlich schläft Nils jetzt einwandfrei in seinem Kinderwagen. Ich schiebe ihn träge zwischen zwei parkenden Autos hindurch und laufe quer über den Parkplatz zum dm, mein persönliches Shopping-Paradies der letzten Wochen. Um diese Uhrzeit sind hier zwei Sorten Mensch anzutreffen. Kinderwagen schiebende Mütter und viel zu gut gelaunte Rentnerinnen. Ich schlendere durch die Reihen und stapel nacheinander Windeln, Feuchttücher, Deo, Duschgel am Fußende des schlafenden Nils, als eine dieser besagten Rentnerinnen schwungvoll um die Ecke biegt und in meinen Kinderwagen hineinläuft. Dabei fällt ihr ihr Alnatura-Linsen-Dal aus der Hand und zerbricht klirrend auf dem Fußboden. „Na, sowas…“, sagt die schlechtgefärbte, pink-lippige Mittsechzigerin zu mir, mit einem Unterton, der sich mir ins Mark bohrt… Na sowas! Na sowas???!!!

„Passen Sie doch selber auf, blöde Kuh!“, brülle ich sie an, navigiere meinen Kinderwagen um sie herum und lasse sie einfach mit ihrer Linsen-Dal-Pfütze stehen. Dumme Schnepfe! Sie guckt mich an wie ein Auto. Ist mir egal. Ich stampfe wütend zur Kasse unter den ratlosen Blicken der umstehenden Kinderwagenmamis. Ja, ihr perfekten Kinderwagenmamis, ihr macht wahrscheinlich immer alles richtig! Ich knalle meine Einkäufe mit Nachdruck auf das Fließband. „Mit Karte“, sage ich nur. Die Kassiererin nickt eingeschüchtert. Dann schmeiße ich alles zurück zu Nils, der immer noch selig schläft und verlasse mit lauten Schritten das Geschäft.

Erst als ich wieder zu Hause bin, lässt die Wut langsam ab. Irgendwann wacht Nils auf und schaut mich an, mit seinen blauen Äuglein. Und das ist der Moment, ab dem ich nicht mehr aufhören kann, zu lachen. Ich hebe ihn hoch und lache Tränen. „Oh Mann, wir zwei, Bürschchen… ich sag’s dir! Das wird mal eine lustige Geschichte, wenn du groß genug bist, sie zu verstehen.“

Er baute sich schwankend vor ihr auf und blies ihr seinen nach Alkohol stinkenden Atem ins Gesicht. „Na, willst du nicht fragen, wo ich herkomme und was ich gemacht habe?“ Sie sah nicht auf und tat weiter so, als würde sie lesen. Vielleicht würde ihm das Streiten keinen Spaß machen, wenn sie nicht reagierte. „Hast du dir schon wieder ein neues Buch gekauft? Haben wir deswegen nie genug Geld?“ Speicheltropfen flogen in ihr Gesicht und auf die Seiten. Sie beging den Fehler, sie vom Papier zu wischen. „Du ekelst dich wohl vor mir?“ Er griff nach dem Buch, doch sie war schneller und zog es weg. „Was? So ein Drecksbuch ist dir wichtiger als ich?“ Sie war aufgesprungen und drückte das Buch an ihre Brust. Obwohl er ziemlich betrunken war, war er immer noch schnell. Schnell und stark. Er griff nach ihr, krallte sich das Buch, schlug es auf und riss es vor ihren Augen in zwei Hälften. Die warf er ihr an den Kopf. „Da hast du es! Sogar in doppelter Ausführung.“ Höhnisch lachend beäugte er sie.

Sie riss sich zusammen, um nicht aufzuschreien. Es war nur ein Paperback-Roman. Vielleicht brauchte man nicht viel Kraft, um den Buchrücken zu zerreißen. Aber wer sich an Büchern vergriff, der würde vielleicht … In ihrem Kopf hämmerten kurze Sätze wie ein Mantra. „Sag nichts. Sag jetzt bloß nichts. Reize ihn nicht. Reize ihn bloß nicht.“ Ihr Herz schlug voller Panik. Wenn er genau hinsah, würde er sicher entdecken, wie ihre Halsschlagader pulsierte. Sie zwang sich zur Ruhe. Ihre Stimme klang heiser: „Hast du Hunger?“

„Aber nicht auf deinen Fraß.“ Sein Blick wurde lauernd. „Hast du noch Geld?“

Sie nickte.

„Her damit. Ich will mir etwas Ordentliches zum Essen besorgen.“

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, trat sie zum Garderobenschrank, an dem ihre Tasche hing. Sie nahm ihr Portemonnaie heraus und wollte es öffnen. Doch er war wieder schneller und entriss ihr auch das. Grinsend steckte er es in seine Manteltasche. „Warte nicht auf mich. Liebling.“ Das letzte Wort sprach er aus, als würde er es ausspucken. Mit leicht unsicheren und doch raschen Schritten ging er davon und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

Sie lehnte sich mit zitternden Knien an die Wand. Ihr war vor Angst ganz schlecht. In ihrer Geldbörse waren über einhundert Euro. Ihre Gedanken rotierten. So schnell käme er nicht zurück. Sie konnte erst einmal aufatmen. Wenn das Geld alle war, dann wäre er garantiert so betrunken, dass er nicht streiten könnte. Er würde hereinkommen, aufs Bett fallen und anfangen zu schnarchen. Wenn sie Glück hatte, musste er sich nicht einmal übergeben. Sicherheitshalber sollte sie aber schon mal einen Eimer bereitstellen.

Das Schlimmste war also überstanden. Sie begann sich zu beruhigen. Morgen würde er sie wieder auf Knien anflehen, ihm zu verzeihen. Wenn sie nicht zu ihm hielte, dann wäre er verloren. Was solle denn dann aus ihm werden? Er würde lauter solche Sachen sagen und an ihr Mitgefühl appellieren. Sie würde nachgeben. Wie schon so oft. Und einige Wochen wäre alles genauso, wie es sein sollte. Bis …

Als sie mit dem Eimer in der Hand aus dem Bad kam, fiel ihr Blick auf das zerrissene Buch. Sie hob es auf, legte die Teile zusammen und strich mit den Fingerspitzen über den kaputten Buchrücken. Einen kurzen Moment starrte sie darauf. Wie aus dem Nichts schoss heiße Wut in ihren Bauch. Sollte das jetzt den Rest ihres Lebens so weiter gehen?

Sie gab dem Eimer einen Tritt, dass er durch den Flur kullerte. Dann steckte sie das kaputte Buch in ihre Tasche, holte ihr zweites Portemonnaie aus dem Schrank, in dem die Handtücher lagen, und zog Jacke und Schuhe an. Sie lief die Treppe hinunter, während sie eine Nachricht in ihr Handy tippte. Die Haustür hinter sich ließ sie sperrangelweit offen.

Mein Vater sagte schon früh: „Kind, wenn du weiter so rumzickst, wirst du niemals gemocht werden.“ Was er allerdings nie verstand war, dass diese angebliche Zickigkeit eigentlich nur ein Hilfeschrei war. Ein Hilfeschrei, nach Liebe und Aufmerksamkeit.

Also fing ich an, mich bewusst zurück zu ziehen. Ich wollte die Aufmerksamkeit nicht mehr, ich wollte nicht mehr nerven. Ich wollte lieber übersehen als gehasst werden.
Selbst jetzt, 10 Jahre nach dem Auszug aus meinem Elternhaus, bin ich noch immer eine typische Außenseiterin. Ich halte mich zurück, im Hintergrund. Sage nie „Nein“ und setze auch keine Grenzen. Wenn ich mal wütend werden sollte, verstecke ich mich und… weine.
Das brachte mich in meinem Leben zwar nicht sonderlich weit, aber wenigstens gebe ich den Menschen um mich keinen Grund mich zu hassen. Wahrscheinlich mögen Sie mich auch nur darum.

07:30 Uhr, ich bin mal wieder die erste im Büro. Da meine Kollegen meistens nicht vor 08:00 Uhr zur Arbeit erscheinen, kann ich zumindest mal die ersten 30 Minuten für mich genießen und in Ruhe vorarbeiten, denn wir „Ja-Sager“ haben nun mal die meiste Arbeit.
Nachdem ich aber gestern den 8. Nervenzusammenbruch in zwei Wochen hatte und ich kurz vor einem Burnout stehe, da ich jeden Tag 12 Sunden in diesem undankbaren Büro arbeite, habe ich mir für heute vorgenommen endlich Grenzen zu setzen. Also, eigentlich nehme ich mir das schon seit ein paar Tagen vor, aber heute wirklich!

„Frau Zimmer, telefonieren Sie noch heute diese Kundenliste ab. Ich benötige bis 17:00 Uhr die Rückmeldung.“ Er schmiss mir einen ganzen Papierstapel auf den Tisch.

Dämliches Arschloch. „Seien Sie mir nicht böse, aber ich habe noch ganz viel zu tun und heute Abend einen wichtigen Termin. Reicht Ihnen die Rückmeldung auch bis morgen?“

„Bis 17:00 Uhr. Heute. Stellen Sie sich gefälligst nicht so an, so machen Sie sich hier keine Freunde.“

Mein Herz raste, meine Brust verengte sich und ich spürte wie sich in meinem Kopf ein Schalter umlegte. Ich versuchte mir meine Wut nicht anmerken zu lassen, die Tränen brannten jedoch bereits in meinen Augen und meine Hände, diese Verräter, ließen sich nicht ruhigstellen. Der Schmerz aus meiner Kindheit, der Jahrelang so gut unterdrückt und versperrt wurde, schien sich befreit zu haben. Sich zu kanalisieren.
Im nächsten Moment schaltete sich mein Kopf aus und ich hörte mich schreien: „Sie verdammter Mistkerl, seit Jahren lasse ich mich von Ihnen mit Arbeit überschütten während Sie in Ihrem Büro Solitaire auf dem verdammten PC spielen. Ich arbeite mich hier kaputt und Sie wagen es so mit mir zu sprechen?“
Er fixierte mich sichtlich schockiert, die Augen weit und der Mund leicht geöffnet. Ich ließ meinen Blick nicht von ihm ab. Ich starrte ihm direkt in die Augen, entschlossen und mutig.
„Ich kündige.“ Sagte ich mit einer wiedergewonnenen Sanftheit, die selbst für mich in diesem Moment befremdlich war, nahm meine Handtasche und knallte die Tür hinter mir zu.

Heute wird ein guter Tag.

Schlussstrich

Der Lehrer verließ den Raum. Die Fünf-Minuten Pause begann und sie kamen. Einer schnappte sich den Ranzen, der nächste das Mäppchen und ein Weiterer zog ihm den Stuhl weg. Das war vorherzusehen, der Schubs allerdings nicht. Timmy stürzte zu Boden und schlug sich den Hinterkopf am Tisch an.
Der Aufprall schmerzte, doch das Gelächter war schlimmer. Timmys Kopf lief rot an und so sehr er sich auch dagegen wehrte, ein paar Tränen bildeten sich in seinen Augenwinkeln. Darauf hatten sie nur gewartet. Das Johlen der Bande wurde immer lauter, während der Inhalt seines Ranzens durch das Klassenzimmer geworfen wurde.
Seine Bücher wurden durch den Dreck gezogen. Sein Pausenbrot wurde zu einer Kugel zusammengedrückt und seine Stifte wurden zerbrochen. Das hatten sie schon des Öfteren gemacht und er war ihnen hinterhergerannt, während sie sich gegenseitig seine Sachen zuwarfen und zerstörten. Solange bis ihnen die Lust daran verging und er seine Sachen mühselig wieder aufsammelte. Unzählige Male hatte er diese Tortur über sich ergehen lassen.

Doch das spielte in diesem Moment keine Rolle mehr. Denn seine Faust traf den erstbesten Peiniger direkt auf die Nase. Der Schlag traf und das viele Blut der gebrochenen Nase schockte die Angreifer …
…und den Lehrer der gerade herein kam und die neue Stunde beginnen wollte. Aber es fühlte sich gut an.

Keine Stunde später saß er bei seinem Vater im Wagen. Er wurde für den Rest der Woche von der Schule suspendiert. Gewalt würde an dieser Schule nicht toleriert werden, hatte ihm die Schulleiterin eindringlich erklärt. Diese Heuchlerin, dachte er sich. Und sein Vater hatte ihm unter dem Beisein der Schulleitung die Strafe seines Lebens angekündigte.

Aber im Auto ließ er die Maske fallen. »Das hast du gut gemacht mein Sohn. Ich bin stolz auf dich. Hast du Hunger auf Eis?«

Ich sagte: Nein!

Sophie, ich habe nein gesagt. Da steht dieses kleine Mädchen vor mir, dieser kleine Mensch und starrt mich aus ihren großen Augen an.
Ich will aber. Ihre Unterlippe schiebt sich vor und beginnt zu zittern.
Das kann ich gut verstehen, setze ich an, doch es ist bereits zu spät.
Die kleine Person schreit, dass es mir in den Ohren klingelt. Sie stampft mit den Füßen auf den Boden und trommelt mit ihren kleinen Fäusten gegen meine Oberschenkel.
Stopp, Sophie. Das tut mir weh!


Mir auch, Mama. Alles tut weh. Am meisten der Bauch. Du verstehst mich einfach nicht. Immer nur nein, nein, nein. Ich soll hören. Aber du bist viel zu leise. Wieso schreist du nicht, so wie ich? Warum sagst du, es tut weh und lächelst dabei?


Mein Geduldsfaden wird jeden Moment reißen. Dabei weiß ich doch, wie sehr sie mich genau in diesem Augenblick braucht. Das Lächeln rutscht mir von den Lippen, ich lasse mich auf die Coach fallen, schaue nun zu den großen Kulleraugen hinauf, halte die kleinen Fäuste.
Ich weiß nicht weiter. Das ist manchmal echt unfair, oder?
Ein zaghaftes Nicken.


Was ist mit Mama los? Ich streichle ihre Hand. Die Hitze in meinem Bauch ist weg.
Ich hab dich lieb.
Mama lacht und schluchzt. Oh mein Schatz. Ich dich.

Haarige Probleme

»Mirko!«, rief eine strenge Vaterstimme den zweiundzwanzigjährigen Sohn aus dem Badezimmer.
»Was habe ich denn jetzt schon wieder verbrochen?«, krächzte der Sprössling aus einem Nebenraum, ohne sich jedoch dem Bad auch nur um einen Millimeter zu nähern.
»Du hast dich nass rasiert und deine Haare gekürzt. Vielleicht wärst du jetzt auch so freundlich, die verunreinigenden Überbleibsel deiner Morgentoilette wieder zu entfernen.«
»Das sind doch nur ein paar Haare, die kannst du doch schnell mit Wasser entfernen«, unterwies der Sohn seinen Vater.
»Tatsächlich, und warum hast du das dann nicht gleich gemacht, wenn das doch so einfach ist?«, erkundigte sich eine weiterhin erboste Vaterstimme. »Komm gefälligst her und mach das Becken sauber. Und ein bisschen schnell, wenn ich bitten darf, ich muss ins Büro!«
»Mensch Papa, ich muss zur Uni. Ich bin schon spät dran, heute Morgen habe ich eine wichtige Vorlesung.«
»Und ich habe heute Morgen eine wichtige Besprechung, deshalb beweg jetzt deinen Hintern hierher, und verlier keine weitere Zeit.«
»Ich kann jetzt gerade nicht«, erklärte der Filius.
»Du verlässt mir das Haus nicht, bevor du nicht das Becken sauber gemacht hast«, brüllte jetzt erbost ein autoritärer Erzieher.
»Jetzt hört endlich auf zu streiten, ihr zwei«, ließ sich eine diplomatische Frauenstimme aus der Küche vernehmen. »Am Ende bin ich doch immer diejenige, die die Haare aus dem Waschbecken entfernen muss, und zwar von euch beiden!«

Geheime Briefe

Hallo Herr Müller,

nicht alle Menschen sind gleich und das ist auch gut so. Wie langweilig wäre es sonst auf der Welt.

Wer mir nicht sympathisch ist, ob seiner Weltanschauung, seiner Wortwahl, seiner Mimik und Gestik, seiner Körpersprache, seinem Verhalten oder sonstiger Aspekte – dem gehe ich im privaten Bereich ganz einfach aus dem Weg.

Das geht im Job leider nicht.

Als Sie vor knapp 4 Jahren zu uns kamen, hielt ich das für eine gute Entscheidung, auch wenn es nur bedingt meine war. Wir suchten lediglich einen Konstrukteur, der uns im techn. Bereich unterstützen und den Ausfall von zwei Kollegen kompensieren sollte. Sie haben es vorzüglich verstanden, sich gut zu verkaufen und uns alle geblendet, was sich leider erst nach ein paar Monaten zeigte.

Unser gemeinsamer Chef, Herr Meier, sah in Ihnen die Chance, einen unbelasteten Mitarbeiter zu haben, der unsere Firma nach der Insolvenz wieder in die Spur bringen könnte.

Ich erhielt Einblick in einen Teil der Vereinbarung zwischen Ihnen und Herrn Meier und war erschrocken über die Höhe Ihres Gehaltes. Das steht – aus heutiger Sicht – in keinerlei Verhältnis zu der von Ihnen erbrachten Leistung. Diese definiert sich nicht dadurch, dass man fast in der Firma wohnt. Damit meine ich, 12 Stunden-Arbeitstage zu absolvieren. Anfangs waren Sie zudem an nahezu jedem Wochenende da. Im Laufe der Zeit wurde das zu einer immer größer werdenden Belastung für alle Mitarbeiter. Regelmäßige Kontrollgänge und Fragen über Fragen.

Ein kritischer Blick von außen kann grundsätzlich sehr hilfreich sein, um unsinnige, kostentreibende und ineffektive Vorgehensweisen zu entlarven und Mitarbeiter aus einer gewissen Lethargie „Das haben wir immer schon so gemacht“ zu befreien. Dazu bedarf es aber auch eines gewissen Know-hows, das ich bei Ihnen nicht wirklich erkennen kann. Stattdessen zeichnen Sie sich durch ein permanentes „unter Druck setzen“ aus. Sowohl gegenüber den Mitarbeitern, als auch gegenüber Lieferanten. „Geht nicht, gibt´s nicht. Sie müssen in Lösungen denken, nicht in Problemen.“ „Betrachten Sie alles aus der Vogelperspektive und passen Sie auf, dass Sie am Ende niemand von der Bushaltestelle abholt.“ Diese immer gleichen Sprüche und von Ihnen erdachten Gleichnisse sind ermüdend und vor allen Dingen sinnfrei. Sie leugnen die Realität im Betrieb, d.h. unbezahlte Warenrechnungen, unreparierte Produktionsmaschinen, fehlendes Arbeitsmaterial, mangelhaften Arbeitsschutz und mehr, erwarten aber gleichermaßen die Einhaltung von knappen Lieferterminen, die Sie aus dem Bauch heraus an Kunden kommunizieren. Sie verlangen eine Planung, die Ihre Fantasietermine realisieren soll, obwohl Sie wissen, dass diese aus vorstehend genannten Gründen nur bedingt möglich ist. Für Sie ist dies kein Argument. Man müsse immer so planen, als wenn alles parat wäre und schließlich müsse das ja auch so sein.
Sie erwarten von uns die uneingeschränkte Erfüllung von Kundenwünschen, so abwegig sie auch sein mögen. Sie befeuern diese Wünsche, sagen zu fast Allem ja, entziehen sich dann aber der persönlichen Verantwortung. Viel lieber suchen Sie dann andere Schuldige, bemängeln die Planung und verweisen auf ihre Email-Flut an die Mitarbeiter mit der sinnfreien Bemerkung: „Sie waren im Verteiler.“ Ihre sehr mangelhafte Rechtschreibung und oftmals irritierende und unverständliche Ausdrucksweise, sowie Ihr teilweise unflätiger Ton am Telefon führen dazu, dass sich Kunden und Lieferanten in erster Linie bei mir beschweren, kenne ich die meisten doch schon seit Jahrzehnten.

Ein großer Teil dieser Geschäftspartner lehnt es ab, weiter direkt mit Ihnen zu kommunizieren.

Tun sie es doch und jemand ruft Sie an, weil er ein Problem oder nur eine simple Frage hat, rennen Sie meist wie ein aufgescheuchtes, hilfloses Huhn durch das gesamte Firmengebäude, bis Sie jemanden finden, der Ihnen mit Sachverstand und Wissen aus der Misere helfen kann. Ist das dann geklärt, kehren Sie wieder den Möchtegernchef raus.

In meinen Augen mangelt es Ihnen an Kompetenz, Führungsstärke und charakterlicher Eignung. Sie sind zu keiner eigenverantwortlichen Entscheidung fähig. Zudem sind Sie absolut beratungsresistent.

Sie versuchen das mit teilweise persönlichen Angriffen zu kompensieren. Sie lieben es geradezu, Ihre Mitarbeiter und Kollegen zur Weißglut zu treiben und kommentieren das dann mit einem süffisantem Lächeln und dem Spruch: „Fahren Sie den Puls runter.“
Unmittelbar nachdem man dann explodiert ist und Ihnen mehr als deutlich und laut sagt, dass jetzt Schluss sei und man so kein weiteres Wort mit Ihnen wechseln würde, vollziehen Sie eine Vollbremsung und spielen kurzzeitig den verständnisvollen Kollegen, teilen Urlaubsfotos, wählen vorsichtige Worte und schieben – mal wieder – die Verantwortung für die Situation auf andere, dann vorzugsweise auf den bösen Chef, Herrn Meier. Mit diesem hätten Sie ja auch so gut wie überhaupt keinen Kontakt, was offenkundig nicht der Wahrheit entspricht.

Sie bezeichnen sich selbst als Mützenträger, als den „Head“ und plakatieren und verbreiten das auch auf Ihrer Visitenkarte und in Gesprächen mit Geschäftspartnern.

In Wahrheit sprechen Kollegen, Mitarbeiter und sogar Geschäftspartner hinter vorgehaltener Hand von Ihnen als dem Vollpfosten, der jeden Respekt verloren hat.
Sie sind kein Heilsbringer, kein Superman, der alles kann, sondern einfach nur unerträglich lästig.

Machen Sie es gut – am liebsten woanders.


Hallo Herr Meier,

Ich schreibe Ihnen heute, weil es an der Zeit ist, Ihnen einmal klar zu sagen, was ich von Ihnen halte.

Im Prinzip genügt ein Wort: Nichts.

Ein Geschäftsführer sollte eine Respektsperson sein. Jemand, dem man vertrauen kann, der die Geschicke des Unternehmens und seiner Mitarbeiter zu deren Wohl lenkt. Zielorientiert, gewinnorientiert, der Zukunft zugewandt agiert. Ein offenes Ohr für auftretende Probleme hat, Mitarbeiter wertschätzt, sie führt und leitet. Eine Vorbildfunktion einnimmt. Gesellschaftliche und gesetzliche Regeln und Umgangsformen beherrscht und anwendet.

All‘ diese Dinge treffen auf Sie nicht zu.

Sie sind absolut unqualifiziert und unfähig, sich den Dingen des Lebens zu stellen. Sie verachten Ihre Mitmenschen und vor allen Dingen Ihre Mitarbeiter. Sei es hier bei uns, als auch bei Ihnen selbst. Das berichten mir die Kollegen Ihres Erstunternehmens. Es interessiert Sie einen Dreck, was wir denken und fühlen, welche Ideen wir haben, welche Vorschläge. Sie ignorieren einfach alles. Sie schweigen, zeigen keine Empathie, kein Interesse. Sie lassen alles vor die Wand laufen. Scheiß drauf. Die Folge: Ich habe längst innerlich gekündigt, sitze die Zeit bis zur Rente oder bis zur Schließung der Firma einfach ab. Wenn es mal so einfach wäre. Beschäftige mich mit Fragen der Kündigungsschutzklage und dem Vorruhestand, Krankschreibungen, etc. Für das Unternehmen effektiver wäre eine Identifikation. Ein Wollen bedingt immer auch ein Dürfen. Das fehlt leider komplett. Ich muss lernen zu akzeptieren, wie Sie sind. Ich werde Sie nicht ändern. Nur leider kann ich mich selbst auch nur bedingt ändern. Ich versuche, mein Verhalten anzupassen. Mit mehr Gelassenheit aufzuerlegen. Zu akzeptieren, dass die Verantwortung für den Niedergang nicht bei mir, sondern ausschließlich bei Ihnen liegt.

Meine Therapeutin empfahl mir, Ihnen diesen Brief zu schreiben. Ich habe für mich nicht das Gefühl, dass mich das nach vorne bringt. Es löst nicht meine Existenzängste. Es erspart mir leider nicht die Gedanken, wie es weitergeht, was ich machen kann.

Impulse

"Seit Wochen wirfst du mir diese Geschichte vor. Verdammt, ich kann es wirklich nicht mehr hören!“ Sofie betont jedes Wort mit ausgestrecktem Zeigefinger, den sie wie ein Florett gegen Toms Attacken schwingt.
„Geschichte? Geschichte ist gut! Das klingt wie ausgedacht und harmlos. Immerhin hast du eine ganze Nacht bei deinem Ex verbracht, während du mir erzählt hast, du wärst bei deiner Freundin, der es nach ihrer Trennung angeblich so dreckig ging. Wie soll ich das denn, bitteschön, deiner Meinung nach richtig interpretieren?“
„Auf jeden Fall nicht als Affäre, die du mir andichten willst! Es ging mir an diesem Tag nicht gut und ich brauchte jemanden, bei dem ich mich mal ausheulen konnte.“
„Okay“, sagt Tom, „ich verstehe. Und da gehst du natürlich nicht zu deinem aktuellen, sondern zum abgelegten Ehemann.“
„Ach Tom, genau das ist der Punkt! Es geht darum, dass du nur noch deine Bauprojekte im Kopf hast. Du bist regelrecht besessen von ihnen. Und wenn ich dich mal brauche, vertröstest du mich wie ein Kind mit ‚Jetzt nicht, Liebling, wir reden später darüber‘. Selbst für eine gut funktionierende Ehe sind gute Freunde, denen man sich bedingungslos anvertrauen kann, wichtig. Und wenn mich jemand wirklich gut kennt, dann ist es Bodo. Nur weil er ein Kerl ist, heißt das noch lange nicht, dass ich dich mit ihm betrüge.“
„Hallo? Er ist dein Ex!“
„Ja, richtig! Ex. Vergangenheit!“
„Warum verstehst du mich nicht, Sofie? Ich finde ich den Gedanken einfach unerträglich, dass du deinem Bodo brühwarm von unseren Problemen erzählst. Wer weiß, mit wem du sie noch teilst, Twitter und Facebook sei Dank. Wie du dich da zeigst, ist schon die reinste Einladung und bringt die Typen da zum Hyperventilieren und ihre Testosteronspiegel in den roten Alarmbereich.“
„Woher willst du wissen, was ich twittere oder bei Facebook poste? Schnüffelst du mir etwa hinterher oder was? Moment mal … wenn ich so darüber nachdenke … woher weißt du überhaupt, dass ich bei Bodo und nicht bei Lea war?“
„Habe ich dir das nicht erzählt, Liebes? Sie rief an dem besagten Abend hier an, weil sie dich um etwas bitten wollte. Man muss nicht Einstein sein, um deine Lüge zu entlarven.“
„Aber Lea ruft mich nie, wirklich nie, auf dem Festnetz an!“
„Ja, was weiß ich, vielleicht war es dringend und ihr Handyakku leer oder sie hatte kein Netz?“
„Tom, ich bin mir jetzt fast sicher, dass du mir nachspionierst. Womöglich hast du sogar einen Privatdetektiv auf mich angesetzt, der Buch führt, von wann bis wann ich in meinem Nagelstudio arbeite, wieviele und welche Kunden kommen, und was ich in meiner Freizeit mache!“
„Jetzt sei aber bitte nicht albern. Du guckst definitiv zu viele Schundserien und Doku-Soaps, Sofie. Davon wird man paranoid oder gaga oder beides!“
„Wenn hier einer ein psychisches Problem hat, dann wohl eher du mit deiner wahnhaften Eifersucht. Du siehst ja wirklich hinter jedem Busch den Feind sitzen!“

Tom atmet tief ein und mit einem gedehnten Seufzer wieder aus. Er muss sich bremsen. Der Streit droht zu eskalieren und vielleicht ist sogar etwas dran an dem, was Sofie ihm vorwirft. Plötzlich tut ihm die Heftigkeit seiner Anschuldigung sogar leid. Sie sieht verletzlich aus, wie sie da auf dem Sessel kauert, beide Beine angewinkelt auf dem Sitz und dabei so eng von ihren Armen umschlungen als wolle sie sich an sich selbst verankern. Wie eine Miesmuschel, die sich mit ihren Byssusfäden an Holzpfähle heftet. Sofies Kinn ruht auf ihren Knien, aber ihr Blick fixiert so starr die Obstschale auf dem Tisch, dass Tom sich einbildet, jeden Augenblick Zeuge einer bisher verschwiegenen telekinetischen Fähigkeit zu werden, die die Äpfel darin zum Fliegen bringt.

„Weißt du, Liebes, womöglich hast du ja recht.“ Tom folgt einer spontanen Eingebung. „Die ganzen letzten Wochen waren randvoll mit unbequemen Terminen und Hektik im Büro. O Mann, dieser elende Stress und kein Ende in Sicht … da war ich möglicherweise total überreizt und dir gegenüber tatsächlich ungerecht. Aber ich habe da vielleicht eine gute Idee! Was würdest du davon halten, wenn wir uns einfach für ein langes Wochenende auf die Ferienhütte verdrücken? Ich sage meine Termine ab und wir fahren am Mittwoch früh los, dann sind wir gegen Mittag da. Was meinst du, hm? Die Ruhe und die Abgeschiedenheit wird uns beiden gut tun. Wir hätten Zeit zum reden und auch für andere schöne Dinge“, er grinst anzüglich.

Sofies Mimik bleibt unverändert, aber sie denkt über den Vorschlag nach, das erkennt Tom daran, wie sie mit dem linken Mittelfinger rhythmisch ihren Daumennagel reibt. Er befürchtet schon eine Abfuhr, denn sie lässt sich mit der Antwort Zeit.

Hätte sie es doch nur getan.

Konflikt
Ich stehe vor dem alten, verstaubten Regal. Lange war ich nicht mehr in dieser Kammer. Da ist ja die kleine Schachtel, die ich gesucht habe. So groß wie ein Schuhkarton, das Blümchenmuster unter der Staubschicht kaum zu erkennen.
Vorsichtig nehme ich sie und trage sie zu dem Tisch in der Ecke. Mit dem Staubtuch entferne ich den gröbsten Schmutz, bevor ich den Deckel vorsichtig entferne.
Es ist lange her, dass ich hineingesehen habe. Was wird mich erwarten?
„Wie kann ich dir helfen?“, fragt das kleine Engelchen, welches in der einen Hälfte des kleinen Kartons wohnt. Es hat sich hier hell und gemütlich eingerichtet. Ich meine sogar einen kleinen Sonnenstrahl zu sehen.
„Ich soll über einen Konflikt schreiben und darüber, wie sich jemand verhält, der wütend ist.“
„Den Konflikt, den machst du jetzt schon mit dir selber aus. Und über Wut weiß ich nichts zu berichten.“
„WUT, das ist ja auch MEIN Metier!“, meldet sich das Teufelchen. Es bewohnt die andere Seite der kleinen Schachtel. Dunkel ist es dort und kleine Gewitterwolken schweben von der einen Ecke in die andere.
„Kennst du denn auch Schimpfwörter? So richtig schlimme, böse Schimpfwörter?“, frage ich zaghaft.
„Na klar“ brüstet sich mein kleiner Teufel. „Mein allerallerschlimmstes Schimpfwort ist“ und Teufelchen senkt die Stimme zu einem verschwörerischen Raunen:
„Wurzelzwerg!“
„Wurzelzwerg ist dein schlimmstes Schimpfwort?“, frage ich fassungslos.
„Ja, selbstverständlich. Und stell dir mal die Dramatik vor, wenn du dabei noch die Tür zuknallst“. Teufelchen kichert bei diesem Gedanken leise vor sich hin.
„Teufelchen, die Türen von heute knallen nicht mehr, wenn man sie zuwirft.“
„Dann knall doch denTelefonhörer auf die Gabel!“
Wie soll ich ihm erklären, dass das auch nicht mehr geht.
Resigniert verschließe ich den kleinen, blumengemusterten Karton und stelle ihn wieder in das Regal.
„Dann schreibe ich diese Woche eben keine Geschichte“, seufze ich leise.

Valentina

Valentina Kowalewas Pech war es, dass sie nicht die Großmutter von Viktor Petrenko war.
„Uns wurde gemeldet, hier ist ein verlassenes Kleinkind untergebracht? Das ist kein passender Ort für ein kleines Kind“, sagte der Mann in Zivil.
Die knochige alte Frau stand erschrocken ihm gegenüber in der Tür. Hätte sie sie doch nur nicht geöffnet! Bisher war sie stets obrigkeitstreu gewesen, hatte sich arrangiert, das Naheliegende versucht zu regeln. Genug zu essen, Wasser, Wärme. Lippenbekenntnisse waren ihre Sache nicht, und Landesgrenzen waren ihr bisher auch immer egal gewesen. Seit ein paar Monaten aber fühlte sie sich gezwungen, sich zu entscheiden, gegen die einen oder anderen, und dabei hätte sie doch am liebsten ihre Ruhe gehabt. Das Leben in Kriegszeiten war nicht einfach. Sie nickte. Nein, das war eigentlich kein Ort für ein kleines Kind.
„Viktor Petrenko. Bist du seine Babuschka?“
Sie nickte wieder. Immer nicken, wenig sagen, dann waren sie vielleicht schnell wieder weg, war ihre Devise.
„Ausweis!“, befahl der Mann.
„Hab keinen.“
„Keinen russischen Pass?“
Sie holte widerstrebend ihren ukrainischen Pass aus der Schublade.
„Der gilt hier nicht mehr. Den behalten wir gleich ein.“
Er schlug den Pass trotzdem auf.
„Da steht Kowalewa, nicht Petrenkova. Bist du seine Großmutter mütterlicherseits?“
„Nein.“
Hätte sie doch ja gesagt! Aber sie hatte in ihrem Leben noch selten gelogen und war es gewohnt, nicht zu widersprechen. Schon gar nicht einem Mann und erst recht nicht, wenn ein Soldat mit entsicherter Kalaschnikow im Hintergrund stand.
„Ich kümmere mich um den Jungen.“
„Bist du eine Verwandte?“
„Die Nachbarin.“
Viktor zog an ihrem Kittel. Sie nahm ihn auf die Arme. Nun in Augenhöhe mit dem fremden Mann, studierte der kleine Junge dessen Gesichtszüge so ernst und besorgt, als erwarte er drohendes Unheil.
„Du bist alt und kannst kaum noch laufen. Solche wie du sollten sich nicht um unsere Kinder kümmern. Der Junge kann noch nicht sprechen? Wo sind seine Eltern?“
„Der Vater arbeitet.“
Dass er im Heizkraftwerk dafür kämpfte, dass sie alle nicht erfrieren mussten, wollte sie nicht sagen und erstickte fast daran. Stolz war sie auf Andrij, als sei er ihr eigener Sohn.
„Die Mutter?“
„Im Krankenhaus.“
„Das Krankenhaus ist geschlossen worden. Wo ist die Mutter?“
Valentina schwieg. Sie wollte nicht darüber reden, dass die junge Frau zu den ersten Streubombenopfern im Ort gehört hatte.
Von oben kamen andere, die die Wohnung der Petrenkos durchsucht hatten.
„Alles kalt. Der Kühlschrank ist leer. Keine Lebensmittel. Nichts.“
‚Na warum wohl, nachdem alles zerbombt ist, und man kaum etwas kaufen kann‘, dachte Valentina und zügelte ihre aufkeimende Empörung.
„Also ein unbeaufsichtigtes Kind. Ein russischer Junge, verlassen von seinen Eltern. Wir werden ihn in Obhut nehmen und ihn in der sicheren Zone unter staatliche Aufsicht stellen. Und du solltest auch mitkommen, Mütterchen. Bei uns gibt es schöne Heime für Senioren, und das mit deinem Pass regeln wir dann auch.“
Wie sollte sie sich dagegen wehren, sie hatte doch nie etwas falsch gemacht, warum nahmen sie ihn ihr jetzt weg, machten alles kaputt … Valentina versuchte zu verhandeln, log sogar, aber aus dem Verhandeln wurde unbeabsichtigt ein Flehen, weil die Furcht sie beschlich, es könne vergebens sein.
„Ich will nicht. Ich will hierbleiben. Das Kind gehört doch hierher, seine Mutter kommt bald zurück.“
Der Mann entgegnete ungerührt:
„Sei still und verhalte dich kooperativ. Es ist schließlich nicht dein Kind. Wir nehmen dir nur eine Last ab.“
„Ihr könnt mir doch das Kind nicht so einfach wegnehmen!“, rief sie entsetzt. Sie drehte sich ab und entzog Viktor dem Zugriff, den sie schon kommen sah. „Ich bin seine Babuschka, ich passe auf ihn auf!“
Das Kind erstarrte vor Angst. Etwas Bedrohliches schien sich zu nähern. Noch einmal flehte sie, und spürte, wie die lähmende Ohnmacht ihr die Stimme zu ersticken drohte.
„Siehst du nicht, Soldat, wie er Angst hat und bei mir bleiben will? Er kennt mich, ich bin seine Babuschka, er will hierbleiben, Soldat!“
„Nehmt ihn mit.“
Die Frau von der Jugendfürsorge, die sich, straff bestrumpft, im dunkelblauen Kostüm, bisher im Hintergrund gehalten hatte, drängte sich nun nach vorne, zwang energisch den Jungen aus den Armen Valentinas in die ihren. Ohrenbetäubendes Kindergebrüll ertönte, Viktor griff hilfesuchend nach Valentinas Finger. Valentinas Herz umkrampfte eine eiskalte Faust des Entsetzens und drückte es so eng zusammen, dass es schmerzte und ihr zum Hals hinausspringen wollte.
„Nein!“, schrie sie, „Soldat, nein!“
Sie rief den Namen des Kindes, als sei es ein Hündchen, das sie locken wollte, als könne das Kind aus eigenen Kräften hier noch etwas entscheiden:
„Viktor, mein Lieber, mein Kleiner, komm zurück, komm zu mir!“
Und dann glitt die kleine Hand Viktors endgültig aus der ihren, und die Frau von der Jugendfürsorge trug das verzweifelt brüllende Kind hinaus.
Valentinas Herz zersprang und platzte mit einem markerschütternden Schrei aus ihrer Kehle. Sie stürzte der Frau nach, versuchte, wieder einen Finger der kleinen Hand zu erhaschen, ein Ärmchen vielleicht, um das Kind zurückzuholen.
Der Mann in Zivil schob sich zwischen sie und Valentina.
Aber in Valentina hatte sich etwas geöffnet, ein tiefer Abgrund voller Wut, ein Vulkan voll glühender Lava, aus dem ein übermächtiger, sprachloser Hass auf alles emporschoss, was die letzten Monate geschehen war, auf die Zerstörung und das Leid und die Not und die Unschuld der Unschuldigen und die Verkommenheit der Verkommenen. Sie brach aus ihr heraus, die ganze unterdrückte Wut der letzten Monate, und Valentina schrie gellend und ohne Unterlass, hämmerte mit ihren Fäusten auf den Mann in Zivil ein, haute und biss und schlug um sich und schrie, schrie, schrie, schrie.
Ein kurzes aufforderndes Nicken des Mannes in Richtung des Soldaten mit der Kalaschnikow genügte. Das harte Knallen eines einzelnen Schusses hallte durch das Treppenhaus und Valentinas Schreien verstummte für immer.

Lila hielt sich eigentlich für einen geduldigen Menschen. Sie war weder leicht zu reizen noch besonders nachtragend. Doch dieses Mal war dieses Biest zu weit gegangen.
Gestern war Lilas kleiner Bruder Flo völlig verheult und voller Schrammen vom Spielen nach Hause gekommen.
Flo war für sein Alter klein, trug eine dicke Brille und stotterte leider auch noch, wenn er nervös war. Ein perfektes Opfer für Kim und ihre Gang von Halbstarken. Lila kannte Kim nur zu gut. Bevor Kim das Jahr wiederholen musste, waren sie zusammen in die 8. Klasse der Heinrich-von-Kleist-Schule gegangen.
Wie an den meisten Nachmittagen lungerte Kim im Park herum. Sie saß auf der Bank unter der großen Weide und tippte mit mürrischem Gesichtsausdruck auf ihrem iPhone herum. Kim’s E-Scooter lehnte am Stamm der alten Weide.
„Verzogene Göre“, ging es Lila durch den Kopf und sie freute sich darüber, dass Kim ganz allein war.
Das würde es einfacher machen.
Kim hörte ihre Schritte auf dem Schotterweg erst, als sie die Parkbank beinahe erreicht hatte und hob den gelangweilten Blick. Sie erstarrte und grinste dann böse, als sie Lila erkannte.
„Hey Lila, wie geht es F… F… F… Flo“?
Heiße Wut flutete durch Lila, doch äußerlich blieb sie die Ruhe selbst. Sie lächelte und setzte sich neben Kim auf die Parkbank.
"Weißt du, was ich auf den Tod nicht ausstehen kann? ", fragte Lila und betrachtete Kim von der Seite.
„Weiß ich nicht und ist mir auch ziemlich egal. Was willst du“?
Lila lächelte wieder und Kim rutschte verunsichert etwas von ihr ab.
„Erstens möchte ich, dass du Florian ein für alle Mal in Ruhe lässt und zweitens möchte ich dir eine Lektion erteilen“.
Kim lachte, aber es klang gekünstelt.
„Ich hasse es, wenn man sich an Schwächeren vergreift“, fuhr Lila fort.
Kim stand auf und baute sich drohend vor Lila auf. Sie war größer, schwerer und deutlich stärker, wirkte jetzt aber doch verunsichert.
Lila lächelte noch immer. In aller Ruhe schlug sie die Beine übereinander und tastete in ihrer Jackentasche herum.
„Ich meine es ernst“, sagte sie.
„Drohst du mir, bitch? Was willst du machen? Mich beim Lehrer verpetzen? Deine Mama rufen“?
Lilas Hand umschloss die kleine Puppe, die Kim verblüffend ähnlich sah. Daumen und Zeigefinger fanden die kleine Stecknadel mit dem schwarzen Kopf und drückten sie tief in den weichen Puppenkörper.
Schreiend griff sich Kim an den Oberschenkel und ging zu Boden. In aller Ruhe zog Lila die Puppe aus der Jackentasche. Die Nadel hatte das Bein der Puppe durchbohrt. Es sah schmerzhaft aus.
Langsam zog sie die Nadel heraus und der schmerzverzerrte Gesichtsausdruck verschwand aus Kim’s Gesicht.
„Ich wollte dir nur sagen, dass vielleicht mal jemand kommt, der den Spieß umdreht“, sagte Lila und bohrte die kleine Nadel in den Unterleib der Vodoo-Puppe.
Das andere Mädchen heulte auf und wand sich zu ihren Füßen. Sie drückte die Nadel noch etwas tiefer in die Puppe.
„Hör auf“, flehte Kim weinend und Lila zog die Nadel wieder heraus.
Mit vor Schrecken geweiteten Augen, starrte Kim auf die Puppe, dann begriff sie.
"Wie ist das möglich? ", fragte sie panisch.
Lila zuckte nur mit den Schultern.
„Du hasst mich wirklich sehr wütend gemacht“, antwortete sie nur.
„Wirst du Flo jetzt in Frieden lassen“?
Kim nickte eifrig.
„Ich verspreche es“.
Lila hielt dem anderen Mädchen die Hand hin und zog es auf die Beine. Kim war noch immer sehr blass und zitterte am ganzen Leib.
Lila wandte sich ab und wollte davon gehen.
"Was wirst du mit der Puppe machen? ", rief Kim mit angstvoller Stimme hinter ihr her.
Lächelnd schaute Lila noch einmal zu Kim zurück.
„Ich denke, ich werde sie Flo geben. Nur zur Sicherheit“.

Die Prinzessin und das Feuer

Es war vor allem die Stille, die mich verrückt machte. Seine Reglosigkeit. Dieser Blick, halb fragend, halb gelangweilt. Und dazu das leichte Lächeln, das seine Lippen umspielte. Kaum wahrnehmbar, aber mein im Laufe der Jahre bestens geschultes Auge kannte dieses Lächeln mit der genau dosierten Spur Herablassung. So stand er da, aufrecht, sich unmerklich auf den Zehenspitzen wiegend. Alles an ihm schien mich geradezu anzuschreien: bleib locker! Aber ich konnte nicht locker bleiben. Und ich wollte auch nicht.
Jedes negative Gefühl raubt dir eine Lebensstunde, hatte er mir regelmäßig gesagt. Nicht mit erhobenem Zeigefinger, nein, dafür war er zu cool. Dozierte dann über Zen und wie man negative Gefühle annehmen solle und umwandeln in neue Kraft, oder was weiß ich. Aber ich wollte da nichts umwandeln, ich wollte es ausspeien wie ein Feuer. Wenigstens dieses eine Mal. Scheiß auf deinen esoterischen Lass-es-fließen-Mist. Das hier musste raus!
„Jedes negative Gefühl raubt dir eine Lebensstunde, Prinzessin“, sagte er mit salbungsvoller Stimme und legte den Kopf auf diese Art leicht schräg, die mich schon immer zur Weißglut gebracht hatte. Ein Mann sollte nie, niemals das Verhalten eines Hundewelpen zeigen. Und wie ich dieses „Prinzessin“ hasste. Ich habe einen Namen, Gregor. Aber gut, heute kam mir das alles genau richtig zusammen.
Der heiße Ball in meiner Brust wurde größer und größer, nährte sich von dem nun deutlichen, herablassenden Lächeln in seinem ach so entspannten Gesicht. Er stieg mir die Kehle hoch, Stück für Stück. Ich musste nur noch den Mund öffnen und die Welt mit seiner unendlichen Zerstörungskraft versengen.
„Halt dein verdammtes Maul!“
Der Feuerball traf sein hübsches Gesicht, zerschmetterte das Lächeln und brannte einen ungläubigen Blick in seine Augen. Mit einer Spur Besorgnis. Wie wunderbar. Ich hob den Arm und schleuderte noch die Tasse hinterher. Sie traf ihn am Ohr, zerschellte dann am Boden. Es klang für mich wie Siegesfanfaren. Da hast du deine Prinzessin!

Ein fantastischer Fleck

Kunstakademieprofessor Buntvogel versank in Ehrfurcht vor dem großformatigen Gemälde des derzeit angesagtesten Schöpfers abstrakter Malerei, Josef Pinslinger. Dieses wandhohe, erdfarbene Quadrat übte auf ihn eine unwiderstehliche Sogkraft aus. Dieser monochrome Traum, durchzuckt von einem einzigen, wohlgesetzten perlsilbernen Pfeil, raubte ihm den Atem. „Blitzgewitter über dem Park“ war der Titel des Bildes. Hinreißend.

„Sowas kann doch jeder, einfach braune Farbe auf eine Leinwand spachteln, innerhalb von fünf Minuten, dann schnell noch einen schrägen weißen Strich, und schon hast du ein paar Hunderttausend verdient.“

Buntvogels Magen krampfte sich schmerzvoll zusammen. Er ersparte sich einen Seitenblick zu dem jüngeren Mann, der neben ihm auf der Galeriebank Platz genommen hatte. Es lohnte nicht, er kannte sie zur Genüge, die Banausen ohne Kunstsinn. Da stand er drüber, da war Hopfen und Malz verloren und jegliche Liebesmüh.

„Meine Tochter, die ist fünf, die macht das besser, da ist ein Baum noch ein Baum und ein Blitz ist ein Blitz, und was für einer“, plauderte Buntvogels Nachbar weiter und lehnte sich zu ihm hinüber. „Die fabriziert wahre Kunstwerke, schwöre ich Ihnen. Ich habe ein Foto im Smartphone dabei, hier, schauen Sie mal!“

Buntvogel schluckte trocken durch und blickte unbeirrt geradeaus.

Sein Nachbar rückte noch ein bisschen näher an ihn heran, stupste ihn mit dem Ellbogen und hielt ihm das Handy vor die Nase: „Echt begabt, meine Kleine, das müssen Sie zugeben, nicht wahr. Und das kostet mich praktisch nix. Die Kleine schafft das nur mit einem Stück Papier und ein paar Farbstiften. Aber was hier geboten wird, das ist doch eine ausbeuterische Zumutung, sagen Sie selbst.“

Buntvogel schob den Ellbogen des jungen Mannes unwillig beiseite.

„Warum besuchen Sie dann überhaupt diese fabelhafte Pinslinger-Ausstellung?“, fragte er, jetzt leicht genervt.

„Weil auf dem Plakat ‚Fantastische Landschaften‘ steht, ich liebe Landschaften, und ich wollte meiner kleinen Künstlerin einen Katalog mitbringen“, konterte der Mann mit angehobener Stimme.

„Dem steht doch nichts entgegen“, gab Buntvogel ebenfalls laut zurück und wendete sich mit feurigem Blick erstmals seinem Nachbarn zu.

„Aber diese stümperhaften Schinken hier mit nix drauf, sind doch eine fantastische Frechheit, und das für 15 Euro Eintritt“, polterte der Mann zurück.

„Sie Ignorant“, zischte Buntvogel, sprang auf, griff nach dem Buch, das neben ihm auf der Bank lag, und schlug es dem Nachbarn auf den Kopf.

„Da haben Sie den Katalog für Ihr talentfreies Dummchen“, brüllte er, drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte erhobenen Hauptes davon.

„Dem haben wir es aber gegeben, gel, verehrter Pinslinger“, murmelte er noch mit einem Blick auf den erdfarbenen, überdimensionalen Fleck an der Galeriewand.

Lila poetry love

Der letzte Schultag vor den Herbstferien hätte ein perfekter Tag werden können. Sophie eilte mit ihrer besten Freundin Lila aus dem Schulhaus, na ja, es war auch ihre einzige Freundin. Und die erste, wenn man Lena von der achten Klasse nicht mitzählte, die Sophie ständig hatte abschreiben lassen müssen: Hausaufgaben, Klassenarbeiten, Aufsätze … anderenfalls hatte Lena sie ignoriert.
Aber jetzt hatte sie Lila. Lila war anders. Sie war dieses Schuljahr neu zu ihnen gekommen und trug ihre Haare in fliederfarbenem Undercut. Sophia verstand nicht, warum Lila sich mit ihr – der Langweilerin – abgab, aber zum Teufel, sie würde das nicht hinterfragen. Lila schrieb verrückte Gedichte, so was wie:

Eckige Köpfe
Sperrholzromantik
bumm!

Ich wildere mein wildes Herz.
Dein Kuss fließt.
Und liebt.

»Man, Soph, endlich ein bisschen Freiheit.« Lila kramte eine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche.
»Was machst du da? Wir sollen nicht rauchen.«
»Du rauchst ja auch nicht, nur ich.«
Sophia grummelte, während sie die Allee entlanggingen, blickte auf ihre Füße und wedelte von Zeit zu Zeit den Rauch aus dem Gesicht. Konnte Lila nicht ein bisschen vernünftiger sein?
»Hey, wer sind die denn?«
Sophia blickte auf. Ihr stockte der Atem. An der Straßenecke stand Luca mit seinen Kumpels. »Ich glaub, der Blonde heißt Luca«, sagte sie so beiläufig wie möglich. Hoffentlich war sie nicht rot geworden. »Die sind aus der Elften … oder so«, murmelte sie.
Lila brummte und schnippte ihren Zigarettenstummel davon. Sophia sog scharf die Luft ein. So eine gedankenlose Umweltverschmutzung!
»Hm?« Lila sah sie fragend an.
Bevor Sophia in Erklärungsnot kam, unterbrach sie ein Ruf. »Ey ihr!«
Sophia riss die Augen auf. Luca! Er hatte sie wahrgenommen, zum ersten Mal.
»Was denn?«, rief Lila ihm frech grinsend zu.
Sophia versuchte Haltung zu bewahren und zu lächeln.
»Seid ihr Lesben oder so?«
Das konnte doch nicht wahr sein! Sah sie aus wie eine Lesbe? Davon abgesehen war das ja total übergriffig und …
»Und wenn es so wäre?«, sagte Lila.
»Lasst ihr uns zugucken?« Die Jungen lachten. »Ein bisschen lesbisch rummachen is schon geil.«
Sophia hätte im Boden versinken können.
»Wenn schon, dann bi«, sagte Lila.
»Ooooh … OK.«
Sophia atmete ein. »Wir sind nicht lesbisch. Und wenn, wäre es weder schlimm, noch würde es euch was angehen!« Das war doch ganz gut, oder? Damit wusste Luca eindeutig, dass sie auf Jungs stand, und sie hatte sich für Toleranz eingesetzt und gleichzeitig selbstbewusst gewirkt. Perfekt! Das musste Lilas Ausstrahlung sein, die auf sie abfärbte.
»Klar, wär das OK«, sagte Luca »’schuldigung, wollt’s nur wissen.« Er … hatte … sie … angesprochen …!
»Und wenn, würden wir euch nicht zugucken lassen«, sagte Lila.
»Habt ihr Instagram oder so?«
Sophia wollte antworten, aber Luca blickte nur Lila an. Sie nutzte ja gar kein Social Media, hatte sie Sophia gesagt.
»Klar. Lila poetry love. Kannste meine Gedichte lesen.«
Was zur …?!
Luca grinste. »Werd ich. Ich adde dich!« Er zwinkerte Lila zu.
»Und wir müssen jetzt los«, sagte sie zuckersüß. »Ciao.«
Sophia hatte es die Sprache verschlagen. Lila poetry love. War das nur ausgedacht, um Luca loszuwerden?
»Hatt ich ganz vergessen«, sagte Lila tonlos. »Das mit dem Account.«
Sophia konnte es ich fassen! Lila hatte sie angelogen. Und Luca würde Lila hinzufügen. Für Sophia hatte er sich überhaupt nicht interessiert. Sie biss sich auf die Unterlippe. Scham und Enttäuschung, eine Flut, ein Meer davon schwappte über sie. Für Wut war nicht mal mehr Platz.
»Ich … muss meinen Bruder abholen!«, log Sophia und rannte davon.

„Stehst du jetzt mal auf? Du hast gleich Training und deine Hausaufgaben sind bestimmt auch noch nicht fertig.“, sagte die Mutter gestresst zu ihrem Teenager, der so wie er aus der Schule gekommen war, auf seinem Bett lag. „Ey, chill mal. Alles easy.“, antwortete dieser und sah kaum von seinem Handy auf. „Jetzt beeil dich mal. Ich habe dir doch gesagt, dass ich noch einen wichtigen Termin habe!“, versuchte seine Mutter es erneut. „Muss ich dir erst das W-Lan abdrehen?“ „Machst du doch eh nicht.“, erwiderte der Teenager gelangweilt. „Alles leere Drohungen.“ „Ich geb dir noch zehn Minuten. Dann stehst du angezogen unten, sonst kannst du sehen, wie du zum Training kommst.“

Als sie die Tür schloss, die sie am liebsten mit einem lauten Knall hinter sich zugezogen hätte, atmete sie erst einmal tief durch. Diese täglichen Reibereien mit ihrem Sohn forderten sehr viel Geduld und Energie, die sie in ihrem anspruchsvollen Alltag kaum aufbringen konnte. Sie kochte vor Zorn, denn sie wusste genau, was passieren würde. Ihr Herr Sohn würde frühestens in einer halben Stunde auftauchen und zum Training chauffiert werden wollen. Und sie würde ihre eigenen Pläne wieder hinten anstellen müssen und es nicht pünktlich zu ihrem Termin schaffen. Die Mutter atmete noch einmal tief durch, zog ihre Schuhe und Jacke an, nahm den Autoschlüssel vom Tisch und wartete. Nach zehn Minuten war aus dem Zimmer ihres Sohnes immer noch nichts zu hören. Sie öffnete die Haustür und verließ das Haus.

Weitere zwanzig Minuten später kam der Teenager aus seinem Zimmer geschlurft, seine Sporttasche hinter sich herziehend. Irritiert blickte er sich um. „Mama?“, rief er. „Wir können jetzt los.“ Als er keine Antwort erhielt, sah er aus dem Fenster und entdeckte die leere Einfahrt. Fluchend stürmte er hinaus und schnappte sich sein Rad, um es noch einigermaßen pünktlich zum Training zu schaffen.