Zwischen Vätern und Töchtern
Freundschaft ist nicht nur irgendein Ding, es ist nicht mal einfach nur ein Wort. Freundschaft ist wie ein Lebewesen. Es entwickelt sich, es macht Fehler, es verzeiht, es zerbricht, es wächst wieder zusammen … Freundschaft ist so lebendig wie die Menschen, die sie verbindet.
Entgegen allen Bemühungen der beiden Väter hatte sich zwischen Mirabella und Jelenehea eine wahre Freundschaft entwickelt. Das Saatkorn der Freundschaft war zwischen sie gefallen, als sie gerade einmal sechs Jahre jung gewesen waren. Inzwischen zählten sie schon zu den jungen Frauen der Stadt. Seit elf Jahren hegten und pflegten sie ihr Pflänzchen der Freundschaft, so sehr ihre Väter auch versuchten, die beiden zu trennen.
Mirabella war die Tochter des wohlhabendsten Obstbauern der Stadt. Der Familie gehörten sämtliche Obstbäume auf dem großen Hain vor den Toren der Palastmauern. Damit war die Familie sehr reich geworden und flanierte durch die obersten Gesellschaftsschichten.
Jelenehea dagegen war die Tochter des städtischen Alchemisten. Sie führten ein bescheidenes Leben und waren zufrieden damit. Da sie leider nicht aus Stein einfach Gold machen konnten, würden sie auch nie reich genug werden, um annähernd mit Mirabellas Familie mithalten zu können. Alchemie ist nämlich keineswegs Zauberei, sondern eher Wissenschaft, vor allem Heilkunde.
Als Mirabella und Jelenehea gemeinsam bei Nacht aus der Stadt wegliefen, hinterließen sie ihren Vätern nicht mehr als einen Brief. Am Morgen trafen sich die wütenden Väter auf halber Strecke zwischen ihren Häusern. In den Händen hielt wedelnd jeder einen Brief. In der Szene glichen sie einander und waren doch so verschieden. Die Anwohner, die durch das Geschrei geweckt wurden, waren sich uneins, wer von den beiden nun Recht hatte.
„Wie konntest du nur?“, brüllte der Obstbauer los. „Wegen dir ist meine Tochter weg! Dein Balg hat sie entführt!“
Wer gegen die Ehre und Tugend seiner Tochter sprach, machte sich mit dem Alchemisten einen Feind, den man nicht haben will. „Wage es nicht, meiner Tochter unterzuschieben, was deine Göre tat! Sie hat meinen Stern mit Flausen vergiftet. Deine Tochter fand es so langweilig bei dir, dass sie abgehauen ist!“
„Das ist nicht wahr! Dein Nachwuchs hat die Flausen im Kopf und hat meine Mirabella angesteckt! Erst hast du mir meine Frau genommen, jetzt auch noch meine Tochter! Dafür wirst du hängen!“
Der Obstbauer wollte auf den Alchemisten losgehen, da entschieden die Zuschauer sich doch noch, in den Streit einzugreifen. Ein junger Mann bekam die erhobene Faust gerade noch zu fassen, während sich der Alchemist schon wegduckte.
„Jetzt beruhigt euch“, forderte der junge Mann. „Wieso hat er dir deine Frau genommen?“, will er vom Obstbauern wissen.
„Er hat sie getötet!“, presst dieser zwischen den Zähnen hervor. In ihm herrschte solch angestauter Druck, dass er bald platzen würde.
Der Alchemist dagegen senkte den Blick zu Boden und wurde plötzlich sehr leise. „Das habe ich nicht. Ich konnte ihr nicht helfen, so sehr ich es versucht habe. Ich bin kein Zauberer und auch kein Gott. Um unserer Freundschaft Willen hätte ich sie dir von den Toten zurückgebracht, doch das kann ich nicht. Genauso wenig kann ich unsere Töchter zurückholen.“
Auch der Obstbauer wurde ein wenig ruhiger, nur dass er dabei das Gefühl hatte, an der Trauer zu ersticken. Der Zorn hielt ihn am Leben. „Du hättest ihr helfen müssen.“
„Ich wollte es doch so sehr. Aber auch jetzt, zehn Jahre später, hätte ich keine Heilung für ihre Krankheit. Du hast an dem Tag nicht nur deine Frau verloren, ich habe meine Schwester verloren. Glaubst du nicht, ich hätte alles versucht? Wieso können wir nicht gemeinsam trauern?“
Seit Jahren hatten sie nicht mehr derart ruhig miteinander gesprochen. Der Obstbauer musste zugeben, dass er seinem alten Freund eigentlich nicht wirklich den Mord an seiner Frau vorwarf. Etwas anderes war viel schlimmer: „Du siehst ihr so ähnlich.“ Wie bei Zwillingen eben üblich, auch wenn sie unterschiedlichen Geschlechts waren.
Vorsichtig wagte der Alchemist einen Schritt auf seinen Schwager zu. „Nun haben wir auch noch unsere Töchter verloren. Lass uns diesmal weise genug sein, uns zu stützen.“
Es würde noch lange dauern, ehe sie eine Dekade Feindschaft aufgearbeitet hätten. Bis dahin hätten Mirabella und Jelenehea in der Fremde vielleicht gefunden, was sie suchten, und würden zurückkehren in eine Freundschaft der Familien.