Neue Götter
Uijuijojojui!
Was für eine rasante Rutschpartie! Mir ist schwindlig.
So war das nicht geplant. Nicht in diesem Tempo!
Von 0 auf 100 Olympsec. die Bahn hinunter …
Ich hatte mich zum Start zurechtgerückt. Am Scheitelpunkt meines Bogens.
Konzentration vor der Abfahrt. Da brauste Boreas heran. Versetzte mir einen Sturmstoß, als sei ich ein abgestorbener Ast, den es gilt, aus dem Weg zu räumen. Dieser Nordnerd stellt mir nach. Bei jeder Gelegenheit versucht er, seine eiskalte Verehrung zu zeigen. Stürmisch, ohne Feingefühl.
Von wem er erfahren hat, dass ich zur Erde will? Eigenständig, ohne Auftrag oder Botschaft? Nicht einmal Zephir, meinem sanften Geliebten, erzählte ich von meiner Absicht. Das muss ich nicht. Schon immer hatte ich meinen eigenen Kopf. Das wissen alle. Akzeptieren es, da ich zuverlässig meinen Job als Botin erfülle. Vermittlung von Botschaften und Warnungen der Götter an die Menschen.
In letzter Zeit erfolglos. Leider. An mir liegt es nicht. Und schon gar nicht an ihm, meinem treuen Bogen. Er strahlt betörend und leuchtend farbig wie eh und je.
Nur – die Menschen verstehen unsere Botschaften nicht mehr. Sie bewundern die Schönheit. Oberflächlich. Den tieferen Sinn dahinter übersehen sie.
Sie haben neue Götter.
Ich beschloss, mir selbst ein Bild zu machen. Den blauen Planeten besuchen. Alleine. Wie soll ich sonst helfen?
Sicher hat Hermes, der Schwätzer, geplaudert. Der kann nie etwas für sich behalten.
Trotzdem bin ich ihm dankbar. Ohne seine Ratschläge und Informationen hätte ich dieses Chaos nicht überstanden.
Mein Absprung war heftig, die Landung hart. Jetzt versuche ich erstmal, mich zu orientieren.
Ein großer Platz, gepflastert, schmutzig. Von zwei Seiten münden breite Straßen, Benzingeruch schwängert die Luft. Ringsum mehrstöckige Häuser, Arkaden. Ein Ladengeschäft neben dem anderen. Schreiend bunte Lichter, es blinkt und blitzt, Musik plärrt von allen Seiten – eine Kakophonie aus Light and Sound.
Überall hastende Menschen. Achtlos eilen sie aneinander vorbei. Bepackt mit riesigen Tüten: Armani, Versace, Mango, Zara, Delikatessen … Starren auf das blinkende Kästchen in ihrer Hand. Wischen, tippen. Manche beschimpfen es! Unglaublich! Aus dem Untergrund rollen Treppen heran. Spucken im Minutentakt Trauben von Menschen aus. Jeder von ihnen bewaffnet mit einem Blink-Kästchen. Selbst die Kinder. Einem kleinen Jungen fällt dieses Ding aus der Hand. Er heult auf und schreit: „Mein iPhone!“ Heureka! Jetzt weiß ich, wie das heißt! iPhone!
Doch halt. Eine Mutter belehrt ihr Kind: „Pass besser auf dein Smartphone auf, sonst bringt der Weihnachtsmann kein iPad!“
Ein junges Mädchen sagt zu ihrer Freundin: „Gib mir mal dein Handy!“
Also was nun? Das hat Hermes verschwiegen. Absichtlich, um mich zu verwirren.
Ehe ich den Gedanken zu Ende bringe, wie nun dieses Blinkkästchen genannt wird, lenkt mich eine Stimme ab. Sie gehört zu einem langhaarigen menschlichen Wesen – Mann, Frau, oder was auch immer – das inmitten des Platzes steht und in ein Fellrohr säuselt: „Friede den Menschen auf Erden“.
Ich bin baff. Das ist mein Part!
Was zum Hades ist hier los?
Ich muss mich sammeln. Vorläufig bleibe ich sitzen. Am Rand. Hauswand im Rücken. Fällt gar nicht auf. Der Boden ist kalt. Noch ist mir warm von der Aufregung. Meine Gedanken kreisen. Allgegenwärtiges Kästchen. Dient es zum Empfangen und Senden von Befehlen? Betrifft dies auch die Kleinsten? Im Kinderwagen? Schnuller, Brezn, Apfel, Nuckelflasche sind out? Die armen Kleinen, können noch nicht laufen oder sprechen und müssen so ein Gerät in ihren Patschehändchen halten und darauf herumtappen.
Was ist mit diesen jungen Leuten, die mit sich selbst sprechen? Einige lachen laut. Sind die crazy? 21 kamen schon vorbei. Ich habe mitgezählt. Warum reden sie nicht mit anderen? Sie scheinen alleine zu sein. Sind sie traurig, weil sie kein iPhone, Smart, oder sonst was Phone, dabei haben?
Niemand nimmt Notiz von mir. Bin ich unsichtbar? Ich rapple mich auf. Versuche, den Schmutz von meinem ehemals weißen Overall zu klopfen. Sinnlos, er ist fleckig und feucht. Mein Rücken schmerzt. Wo finde ich ein nettes Plätzchen mit Aussicht?
Dort! Ich humple zu der Treppe unter einem Torbogen, die von zwei Steinlöwen bewacht wird.
„Ihr erlaubt?“ frage ich höflich, ehe ich mich setze. Sie lächeln höflich zurück.
„Buon giorno, Iris.- Nimm Platz Göttin. Hier hast du alles im Blick.“
„Ihr habt mich erkannt?“
„Natürlich. Wurde auch langsam Zeit. Wie bist du hergekommen? Ohne Bogen?“
„Selbstverständlich mit. Ohne meinen Bogen geht gar nichts.“
„Wo ist er?“
„Ich schickte ihn sofort wieder zurück. Bin inkognito.“
„Deshalb die Verkleidung!“
„Ich befolgte den Rat eines Kollegen …“
„Du meinst Hermes? Der war kürzlich hier.“
Nun ist mir alles klar.
Hermes ist auf dem neuesten Stand. Hat mich vorgewarnt.
Sein Rat war hilfreich, nicht in meinen üblichen Seidengewändern herabzuschweben. Zu bunt, zu fließend, zu durchsichtig. Unpassend und divers für den Ort und die Jahreszeit.
„Fremdes, das sie nicht einordnen können, ist ihnen suspekt.“ Hat er gesagt.
„Besser du nimmst den weißen Overall. Damit fällst du nicht auf.“
„Wieso nicht?“
„In dem Aufzug könntest du gerade vom Yoga oder Taekwondo kommen. Das sindzur Zeit angesagte Sportarten.“
„Danke, das wusste ich nicht.“
„Deshalb sage ich es dir! – Noch etwas: Lass deine Flügel hier, sonst halten sie dich für einen exotischen Vogel und präparieren dich fürs Museum.“
Er zwinkerte mir zu. Schelmisch oder schadenfroh? Bei Hermes weiß man das nie so genau. Er ist und bleibt ein Trickser. Bildet sich mächtig etwas darauf ein, dass er den Boten für unseren Oberboss spielt. Und nicht ich.
Er hat nicht die leiseste Ahnung, wie froh ich darüber bin.
Wäre es anders gewesen, hätte ich mir die „Me Too-Bewegung“ der Menschenfrauen genauer angesehen. Obwohl ich nicht an einem Skandal im Olymp interessiert bin.
Mein Metier ist das Miteinander, nicht das Gegeneinander.
Es ist nicht so, dass ich nicht wüsste, was über die Jahrhunderte in der Welt geschah. Und was jetzt passiert.
Früher bin ich meist zwischen Olymp und Unterwelt hin und her geflitzt. Friedenstiftend. Übermittelte Botschaften und Warnungen der Götter an die Menschen. Oft vergeblich. Leider. Glaubt mir, ich habe einiges gesehen.
Nun bin ich hier. A Persona. Fassungslos.
Ihr meint, schlimmer gehts nimmer? Falsch! Schlimmer gehts immer!
Aber ich halte dagegen, gebe nicht auf!
Ich weiß, die Menschen haben sich neue Götter geschaffen. Die keiner sieht. Wenn überhaupt, sind sie in Blechkisten eingesperrt. Wie soll man da wissen, wofür die jeweilige Gottheit steht? Was sie tun wird? Die Menschen trauen ihren eigenen Kreaturen nicht. Sind verunsichert. Scheinen Angst zu haben.
Und unsere Götter sind müde geworden. Weil sie nicht mehr gebraucht werden, gaben sie es auf, göttliche Ratschläge und Botschaften zu senden.
Die gute Nachricht: Es gibt mich! Hellwach. Wir sind eins. Mein Bogen und ich.
Und das Beste: Man kann uns sehen!
In Schönheit und Liebe. Für Frieden und Miteinander.
Mal ehrlich, liebe Menschheit:
Gibt es eine Erscheinung am Himmel, die berückender und vollkommener ist als ein Regenbogen? Arcobaleno? Arc-en-ciel? Rainbow? Sogar der Name klingt wie Musik! Entschuldigt Sterne, so schön ihr seid, ihr glitzert nur golden oder silbern. Ich hingegen, male meinen wundervollen Bogen in allen Farben, leuchtend und zart zugleich. Umspanne damit die Welt. Nicht immer, oft nur kurz, jedoch mit großer Wirkung.
Zu allen Zeiten waren die Menschen entzückt, wenn sie uns erspähten. Hielten inne.
Riefen: „Ein Regenbogen! Schaut nur! Wie schön!“
Selbst die wildesten Kerle besannen sich kurz. Atmeten tief und friedvoll. Dann kämpften sie weiter.
Einen Wimpernschlag lang geschah das Wunder. An verschiedenen Orten der Welt betrachteten die unterschiedlichsten Menschen zur selben Zeit dieselbe Himmelserscheinung - meinen Regenbogen. Und waren in Liebe miteinander verbunden.
Weder Sonne noch Mond gelingt dieses Kunststück.
Und kommt mir jetzt nicht mit naturwissenschaftlichen Erklärungen. Sie schließen Wunder nicht aus.
Nennt es, wie ihr wollt. Entscheidend ist die Wirkung.
Zurück zur Realität am Großen Platz.
Was geschieht hier?
Mitten im Trubel packt ein junger Straßenmusiker – schlaksig, die aschblonden Haare zum Pferdeschwanz zurückgebunden, Lachfältchen um die hellen Augen - seine Ukulele aus. Spielt einige Harmonien. - Dann summt er eine Melodie.
Menschen bleiben stehen, lassen ihr Blink-Kästchen (iPh, Sm, usw., ihr wisst schon) sinken. Lauschen.
Der Musikant sieht mich an. Lächelt. Dann beginnt er zu singen:
„Somewhere over the rainbow – high above…“
„Mama, das ist schön!“ ruft ein kleines Mädchen.
Da lächeln auch die Menschen ringsumher.