Vitzliputzli
Am Anfang war das Licht und aus dem Licht sprach eine Stimme. Sie rief meinen Namen, Vitzliputzli, und ihr zweites Wort, „Kolibri des Südens“ öffnete einen Spalt in der Finsternis und ließ das Licht auf Baumrindenpapier fallen. Ich erkannte, dass es vom Totenbuch des Volkes der Kolibri stammte, vor Urzeiten verfasst von einem Hohepriester des Jaguar-Clans, meiner treuen Priesterschaft. Ich danke Dir, kleines ahnungsloses Wesen, dass Du mich aus der Finsternis erweckt hast. Sprich weiter, sprich weiter, damit das Licht sich in deiner Welt ausbreitet und eine Brücke baut zwischen unseren Welten. Sei unbesorgt, ich tu Dir nichts, kleine Maria, so heißt Du, wie ich aus deinen Gedanken lese. Meine Jaguar-Krieger werden dich nicht anrühren, denn Du bist mein Bote, der mir deine Raum-Zeit öffnet.
Mit jedem Wort, dass du aus der Schriftrolle in deine Sprache übersetzt, Maria, wird mein Licht sich in deiner Welt ausbreiten. Das erste Wort „Vitzliputzli“ war der Urknall und eine Kugel aus Licht breitet sich um dich herum aus, als würde man mit einer Taschenlampe einen finsteren Raum betreten. Auf dem Tisch liegt eine verschollene Schriftrolle der Azteken, so nannten die bärtigen Boten der Götter von der anderen Seite des Großen Wassers mein Volk.
Hinter mir versammelt, wartet bereits meine Armee der Schattenkrieger. Ängstige Dich nicht, wenn Du mein Licht als Dunkelheit wahrnimmst. Denn was in meiner Welt Licht ist, ist in deiner Welt Finsternis. Fürchte Dich nicht, meine Krieger aus dem Schatten werden dich nicht anrühren, denn Du bist tabu in deiner Welt. Das gilt nicht für deine Mitmenschen. Meine Jaguar-Krieger werden in ihre Träume und Gedanken fahren und sie zu willenlosen Sklaven machen. Damit sie den Blumenkrieg in deiner Welt beginnen und mir Blutopfer bringen, die mich ernähren und meine Macht über diese Raum-Zeit bringen werden.
Was tust Du! Nein, lege die Schriftrolle nicht beiseite. Du hast die Beschwörung nicht gänzlich vollzogen, es fehlen noch die letzten Worte. Maria steht auf, meine Botin, und bewegt sich durch den Raum. Die Lichtkugel rollt mit ihr und wie durch eine Laterne angestrahlt, flackern Bruchstücke der Umgebung auf. Eine Bibliothek, wie ich deinen Gedanken entnehme. Ein Mann nähert sich, ein Professor für mittelamerikanische Geschichte. Er fragt, wie weit Du die Schriftrolle übersetzt hast und Du sagst, dass Du eine kurze Pause machst. Ihm fällt auf, dass Dich eine dunkle Aura umgibt, eine merkwürdige Verdunklung deiner Umgebung, die er sich nicht erklären kann.
Aber sein Argwohn kommt zu spät. Mein Odem berührt ihn und ein Wurmloch schafft eine Verbindung zwischen meiner Welt und seinem Kopf und aus der Dunkelheit hinter mit löst sich einer meiner Jaguar- Krieger, dringt in sein Gehirn und überwältigt sein Bewusstsein. Sein aussichtsloser Kampf dauert nur wenige Sekunden. Dann ist seine Seele im Kerker seines Unterbewusstseins eingesperrt und in der Gewalt meines Kriegers. Während Du dich durch die Universität bewegst, Maria, tauchen noch vier Studenten in deine Lichtkugel. Jeder der sich lange genug sich in deiner Aura aufhält, ist mein Opfer. Du sprichst sie an und baust eine Brücke für mich in ihr Gehirn und dann werden auch sie von meinen Schattenkriegern versklavt. Jetzt bin ich erschöpft. Die Versklavung hat mich viel Kraft gekostet. Ich brauche Blut, damit ich wieder zu Kräften komme.
Mit letzter Kraft löse ich mich von Dir und niste mich in deinem Professor ein. Als Parasit streife ich mit ihm und seinen versklavten vier Studenten durch die Nacht. Er lockt eine Kommilitonin in seine Wohnung. Dort steht eine Statue von mir. Er hat sie aus dem Museum entwendet, genauso wie das Opfermesser aus Feuerstein. Die vier Studenten werfen die Blume der Götter auf den Esstisch und jeder hält einen Arm oder ein Bein von ihr fest. Sie fleht um ihr Leben, aber meine Sklaven weiden sich nur an ihrer Pein. Der Professor schneidet ihr das zuckende Herz heraus und bespritzt damit meine Statue. Gierig sauge ich das Leben heraus und fühle wie ich zu Kräften komme. Ich frohlocke: die Blumenkriege haben begonnen.
Meiner Botin ahnt, was sie getan hat. Denn seit sie begonnen hat, die Schriftrolle zu übersetzen, findet man in der Umgebung des Campus immer mehr Opfer, deren Herz bei lebendigem Leibe herausgeschnitten wurde. Sie wird zur Gefahr, es wird Zeit, dass sie die letzten Worte aus der Schriftrolle spricht. Denn mit den letzten Worten der Beschwörung aus dem Totenbuch wird mein Licht explodieren und ihre Welt in Finsternis stürzen. Ich verführe sie, aber sie widersteht und übersetzt nicht weiter und bleibt stumm. Ich kann sie nicht töten, denn das würde das Band zwischen mir und ihrer Welt zerreißen. Sie ahnt, dass sie die Schriftrolle zerstören muss.
Das darf ich nicht zulassen und muss die einzige Rettung wagen. Ein Risiko, denn ich wollte weiterziehen und nicht noch mehr Verdacht erregen. Weitere Jaguar-Krieger unterwerfen Studenten auf dem Campus. Maria ist klug und hat einen meiner Sklaven in Verdacht. Sie folgt ihm, ich kann es nicht verhindern und sie wird Zeuge wie mein Hohe Priester das Herz aus einem Opfer schneidet. Er hat im Wald einen Opferstein gefunden und macht dort die Gefangenen aus den Blumenkriegen zu Blumen der Götter.
Maria will dem ein Ende setzten, finster entschlossen die Schriftrolle zu zerstören. Doch es ist für sie zu spät. Meine Krieger haben meine Rettung schon eingeleitet. Ihre Sklaven haben die Schriftrolle mit der Hilfe des Professors an sich genommen und haben sieben Menschenopfer in den Wald verschleppt. Ihre zuckenden Herzen geben mir die Kraft, ein Wurmloch zu schaffen, durch das sie in meine Raum-Zeit springen, im Zeitalter des Volkes der Kolibri landen oder der Azteken, wie die bärtigen Boten der Götter von jenseits des großen Wassers sie nennen und dort die Schriftrolle in meinen Tempel bringen. Doch was tust Du, Maria. Du springst ebenfalls? Durchstößt die Sphäre und landest im Zeitalter meines Volkes, im Kopf eines bärtigen Boten der Götter. Seid wachsam meine Schattenkrieger: Sie will die Schriftrolle zerstören.