Seitenwind Woche 6: Kannst du die Zeit anhalten?

Unser Schreibthema der Woche: Erzählzeit und erzählte Zeit

ANREGUNG

Wenn du es willst, vergehen Jahrhunderte in einem Wimpernschlag, Sekunden dehnen sich über Seiten.

Verlangsame die Zeit und erzähle einen Moment, der das Leben deiner Figur verändert hat. Ihren ersten Kuss. Einen Autounfall. Ihr Versagen bei der Aufnahmeprüfung für die Schauspielschule.

Raffe die Zeit. Lass deine Leser wissen, dass seit diesem Ereignis Monate, Jahre, Jahrzehnte vergangen sind.

Dann erzähle von der Gegenwart deiner Figur.

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Viel Spaß! :star_struck:

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Sie spürte die Scheiterhölzer unter ihren wunden, aufgerissenen Füssen, der Eichenpfahl drückte sich in ihr Rückgrat. Wütend zerrte sie an ihren Fesseln. Alle starrten sie zu ihr hoch, der Dorfpfarrer, die Müllerin, die einfachen Bauern. Allesamt versammelten sie sich auf dem Feld, die Ernte war gerade erst eingebracht worden.
»Tod der Hexe.«
»Brenne, Morgaine.«
Morgaine spuckte aus, ihre grünen Augen funkelten. Geholfen hatte sie ihnen, jeden Einzelnen. Dank ihr war das Vieh gesund, die Ernte reich. Sie half bei Krankheit, Geburt und Liebesdingen. Seit jeher hatte sie ihre Gaben zum Guten eingesetzt.
Dann traten drei von ihnen mit ihren Fackeln näher, sie kannte sie gut. Denn sie, Morgaine, war es, die ihnen aus dem Mutterleib auf die Welt geholfen hatte. Die Fackeln senkten sich und entzündeten den Scheiterhaufen. Knisternd, erst zögerlich, suchten sich die Flammen den Weg. Kletterten hinauf, umzingelten ihre Füße. Morgaines rotes Haar, wurde eins mit dem Feuerrot. Und sie lachte.

»Der Wind drehte sich, setzte die Stoppelfelder in Brand, den anliegenden Wald, das Dorf. Überall fand man ihre gepeinigten, gekrümmten Körper. Auf den Feldern, in ihren Häusern, in ihren Betten. Nur Morgaines Gebeine, die fand man nie. Die Flammen verschonten nichts. Nichts, bis auf dieses Haus, das Haus der Hexe. Sehen Sie, wie unberührt es erscheint. Die getrockneten Kräuter, die Tinkturen. Der schwere Eichentisch mit der polierten Oberfläche, das einfache Strohlager. Nichts hat sich in diesem Haus verändert, nicht seit 300 Jahren. Die Nachbardörfler umfuhren diese Gegend viele Jahrzehnte lang mit ihren Karren. Sie sahen in der Nacht den Rauch aus dem Kamin im Mondenschein, aber betreten hat dieses Dorf niemand mehr für mindestens 100 Jahre.
So, damit ist diese Führung beendet. Ich bedanke mich für ihren Besuch.«

Sie setzte sich auf den Holzschemel vor dem Holzfeuer, schlüpfte aus ihren Schuhen und rieb sich die vernarbten Füße. Ihr rotes Haar schimmerte im warmen Licht des Feuerscheins. Gleich würde sie ihr Notebook aus der alten, eichenen Truhe nehmen. Ihr online Verkauf lief gut, Liebestränke, Blasentees, Kräutermischungen für Wechseljahrbeschwerden. Es war einfacher heutzutage. Sie musste ihre Waren nicht mehr in den weit entlegenen Dörfern verkaufen. Auch eine Hexe wurde nicht jünger.

„Hey“, wollte ich sagen, „Hey, lass sie in Ruhe.“

Ich kam nicht einmal bis zum ersten Ypsilon. Der Typ ließ das Mädchen in der blauen Bluse los, drehte sich um, und eine Hundertstelsekunde später spürte ich, wie mir ein Pony in vollem Galopp in den Bauch rannte. Wellen von Bauchfett breiteten sich regelmäßig auf meiner Vorderseite aus. Meine Innereien schickten sich an, ihre angestammten Plätze zu tauschen. „Entschuldigung, Herr Dünndarm, lassen Sie doch mal die Niere nach vorn.“ Meine Wangen blähten sich und entspannten sich beim Ablassen der Luft wieder. Durch den Treffer in der Körpermitte musste ich mich zwangsläufig verbeugen. Mein Blick fiel auf den Boden und ich wollte noch denken „Nanu, ein Parkettboden in einer Diskothek ist aber ungeschickt“, doch ich kam nicht einmal bis zum zweiten „n“. Ein Aufwärtshaken wie aus dem Lehrbuch traf mich unter dem Kinn, und meine Bewegungsrichtung kehrte sich um. Auf meinem Gesicht spielten sich dieselben Veränderungen ab, als säße ich in dem Fahrgeschäft auf einer Kirmes, mit dem man nach oben katapultiert wird: erst alle Haut nach unten, anschließend alle Haut nach oben. Der linke obere Eckzahn verließ den Ort, an dem er 19 Jahre ohne nennenswerte Zwischenfälle verbringen konnte, erreichte unter mehrfachen Schraubensalti den Höhepunkt seiner Flugbahn und setzte zur Landung an. Nächster Halt: Mädchen im gelben Blümchenkleid. Ich wollte noch denken „Hoffentlich gibt das keinen Fleck“ – doch ab dem „a“ stellte ich das Denken ein. Licht aus.

„Heute ist wieder Helden-Jahrestag“, sagt meine Frau lächelnd. „Zum Glück passt es mir immer noch. Soll ich zur Feier des Tages wieder mein Blümchenkleid anziehen?“

Zurückgeblieben

Sarah ist vor drei Wochen gestorben. Heute ist unser Hochzeitstag. Es wäre unser Zweiundfünfzigster gewesen.
Mühsam quäle ich mich aus dem wuchtigen Armsessel. Den haben wir vor achtundzwanzig Jahren gekauft. Das war in dem Jahr, als mein Vater starb. Traurig schaue ich das alte Ungetüm an. In meinem Kopf höre ich Sarahs Stimme, wie sie schimpft, weil sie das schwere Sitzmöbel beim Staubsaugen zur Seite schieben muss. Sie wollte immer alles allein machen, denn sie wusste, es dauerte länger, wenn sie mich um Hilfe bäte.
»Mir kommt da eine Idee! Was hältst du …?« Wenn sie so anfing, wusste ich, dass wieder viel Arbeit auf mich zu käme. Nicht, dass ich mich davor scheute, aber es dauerte immer eine Weile, bis mich meine Frau überzeugt hatte. Ich suchte nach Ausreden, die länger dauerten, als ich für die eigentliche Arbeit benötigte.
Wie leid mir heute alles tut. So leid.

Sarah hat für alles Listen geschrieben. Dinge, die zu tun waren; Arbeiten, die keinen Aufschub duldeten. Lauter solche Sachen standen auf ihren Zetteln. Wenn sie damit ankam, wusste ich, dass ich dem nichts entgegenzusetzen hatte. Wie ich auch argumentierte, am Ende kam es so, wie sie es geplant hatte.
Vor vier Wochen habe ich einige ihrer Listen gefunden; Planungen für den kommenden Sommer. Ich lasse mir Zeit bei der Arbeit, denn ich spüre, dass sie bei mir ist, während ich all’ die Dinge erledige, die sie aufgeschrieben hat. Ich spreche mit ihr und entschuldige mich, wenn es mal nicht hundertprozentig gelingen will. Sie sieht es mir nach und lächelt, wie sie es immer getan hat, nachsichtig und verständnisvoll. Sarah brauchte nie eine Wasserwaage, um ein Bild gerade aufzuhängen. Wenn es nur einen Millimeter schief hing, ihr prüfender Blick bemerkte es sofort.

Müde gehe ich ins Arbeitszimmer. Ihr Foto steht auf dem Schreibtisch. Ich nehme das gerahmte Bild in meine Hände und betrachte es wehmütig. Eine schöne Frau.
»Alles Liebe zum Hochzeitstag, mein Schatz«, sage ich laut. Mein Blick verschwimmt.
Ein Geräusch draußen vor dem Haus.
Ich stelle das Bild zurück. Mit den Handballen wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht und gehe zum Fenster. Bedachtsam schiebe ich zwei Finger zwischen die Lamellen der heruntergelassenen Jalousie. Das Tor zur Straße steht wieder auf. Eine schlichte, eiserne Eingangspforte. Nichts Besonderes. Ich ziehe die Finger zurück und streife den Staub ab, der auf meinen Knöcheln haften geblieben ist.
»Machst du mal bitte das Tor zu? Es steht schon wieder auf.«
Sarahs Stimme ist in diesem Haus noch immer lebendig. Folgsam gehe ich zur Garderobe und ziehe meine Schuhe an. Mein Blick fällt auf einen hochkant stehenden Karton. Seit neun Monaten steht der neue Schuhschrank original verpackt in der Ecke. Immer wieder habe ich einen Grund gefunden, ihn nicht aufbauen zu müssen, und Sarah hat es hingenommen. Sie war immer nachsichtig mit mir, und ich habe ihre Geduld schamlos ausgenutzt.

Gedankenverloren nehme ich den Haustürschlüssel und gehe hinaus. Auf dem Weg zur Straße schaue ich hinüber zum Fenster. Dort steht sie und lächelt mir dankbar zu. Das tat sie immer, auch wenn ich hier und da einen mürrischen Gesichtsausdruck hatte.
Damals ahnte ich nicht, wie krank sie war. Ob sie es gewusst hat? Gesagt hat sie nichts, wenigstens nicht direkt. Hätte ich doch nur besser zugehört. Ich schließe das Tor.
»Siehst du Liebes, heute hast du nicht mit mir schimpfen müssen«, murmele ich und starre auf den Parkplatz vor unserem Haus. Sarah steht dort und hebt die Einkaufstaschen aus dem Auto.
»Lass mich das machen. Die sind doch zu schwer für dich.«
»Was glaubst du, wie die ins Auto gekommen sind?«, fragt sie mich. Das Bild löst sich auf.

Eine Nachbarin geht vorbei und grüßt zaghaft. Ich nicke ihr zu. Sie hat oft mit meiner Frau hier gestanden und ein Schwätzchen gehalten. Gut, dass sie heute nicht stehen bleibt. Ich gehe zurück ins Haus. Staub liegt auf dem Karton des Schuhschranks. Morgen werde ich ihn aufbauen, gleich Morgen.
»Das Tor ist zu«, rufe ich laut in den Flur. Meine Worte bleiben ungehört. Ich ziehe die Schuhe aus und gehe ins Wohnzimmer.
Das Telefon klingelt. Vor einem Jahr haben wir uns ein neues Gerät angeschafft.
»Ich brauche eins ohne Strippe«, hatte Sarah gesagt. »Das kann ich mit in die Küche oder in den Garten nehmen. Jedes Mal muss ich in einem Affentempo zum Flur rennen, wenn es klingelt. Eines Tages werde ich mir dabei noch den Hals brechen.«
Also haben wir ein schnurloses Telefon gekauft. Es lag fast immer in der Küche und meistens war der Akku leer, weil Sarah fortwährend vergaß, es auf die Ladestation zu stellen.
Im Flur nehme ich den Apparat, drücke auf die grüne Taste und melde mich.
»Hallo Papa.« Es ist Bastian, unser Ältester. Ich freue mich, seine Stimme zu hören. Im Wohnzimmer setze ich mich in den Sessel und höre meinem Sohn zu. Er hat den Hochzeitstag seiner Eltern nicht vergessen, und er hat viel zu erzählen.


Ich schrecke hoch. Einen Moment lang weiß ich nicht, wo ich mich befinde. Es ist dunkel. Langsam erinnere ich mich wieder. Ich sitze in dem alten Armsessel. Ich muss eingeschlafen sein. Das passiert mir in letzter Zeit öfter. Es ist einfach zu still im Haus ohne Sarah.
Mein Rücken schmerzt. Als ich mich aufsetze, fällt irgendwas auf den Teppich. Ach ja, das Telefon. Es dauert eine Weile, bis ich auf meinen Beinen stehe. Ein Schimmer der Straßenlaterne dringt durchs Fenster herein. Nicht viel, aber genug, um den Weg zur Stehlampe zu finden, ohne gegen den Tisch zu stoßen. Langsam taste ich mich hinüber und trete auf den runden Drücker am Boden. Den Fuß zu heben, bringt mich aus dem Gleichgewicht. Erst beim zweiten Tritt treffe ich den Schalter. Das warme Licht erhellt die Stube. Der Schein blendet mich. Mit zusammengekniffenen Augen drehe mich von der Lampe weg. Jetzt sehe ich auch das Telefon. Es liegt vor dem Sessel. Meine Gelenke knacken, als ich in die Hocke gehe und das Gerät aufhebe.
Ich bringe es zur Ladestation und gehe zurück in die Stube. Mein Blick fällt auf die Wanduhr. Es ist eine Funkuhr. Sören hat sie uns letzte Weihnacht geschenkt. Sie hängt mittig über dem Türrahmen. Sarah wollte es so. Sören ist unser Jüngster. Er und Bastian sind fünf Jahre auseinander.

Es ist kurz nach elf. Mit der Hand fahre ich mir über die Stirn. Wann hatte Bastian angerufen? Draußen war es noch hell gewesen. Mein schmerzender Rücken bestätigt es. Ich habe fast vier Stunden im Sessel geschlafen.
»Zeit ins Bett zu gehen«, ruft Sarah aus der Küche. Ihre Stimme ist nur in meinem Kopf. Im Zimmer bleibt es still.
Als wir jünger waren, sind wir nie vor Mitternacht schlafen gegangen. Manchmal, wenn wir uns im Fernsehen einen Film anschauten, wurde es noch später.
»Haben wir mal wieder die Nacht zum Tag gemacht«, sagte Sarah dann und gähnte ausgiebig.
Ich schalte das Flurlicht an und trete wieder auf den Taster der Stehlampe. Dieses Mal erwische ich ihn sofort. Die Treppe hinauf zum Schlafzimmer kostet meinen verkrampften Muskeln die letzte Kraft des Tages.
Ich fühle mich erschöpft, und mir ist warm. Ein paar Minuten sitze ich auf dem Bettrand. Nur einen Moment Atem schöpfen. Ich ziehe mich aus und lege die Sachen ordentlich gefaltet über den Stuhl. Eine mir jahrelang anerzogene Pflicht, der ich mich auch nach Sarahs Tod nicht entziehen kann. Täte ich es nicht, würde sie arg mit mir schimpfen. Auch wenn es nur in meinem Kopf geschähe, möchte ich mir ihre tadelnden Worte doch ersparen. Ich schlüpfe in meine Schlafanzughose und lege mich mit nacktem Oberkörper aufs Bett.

Meine Gedanken finden keine Ruhe. Mir ist immer noch warm. Ich stehe wieder auf und stelle das Fenster auf Kippe. Ein kalter Lufthauch streift über meine Haut, nimmt mich an die Hand und begleitet mich zurück ins Bett.
Die Kühle der Nacht ist angenehm. Wenn ich die Augen schließe, erscheint Sarahs Gesicht. Es verändert sich jede Nacht. Mal ist sie das junge Mädchen, in das ich mich damals verliebte. Ein anderes Mal die glückliche Mutter, mit dem kleinen Bastian auf dem Arm. Es schmerzt mich, sie zu sehen. Zu sehen und nicht in die Arme nehmen zu können.
Ich öffne die Augen, um ihr Bild zu verdrängen, den Schmerz zu lindern. Die schwarze Unendlichkeit des Zimmers ist gegen mich. Sarahs Gesichtszüge kehren zurück, tauchen auf aus der Schwärze und legen sich auf mich, als wollten sie mich zudecken und vor der Kälte schützen.
Wie aus dem Nichts kommt die Erinnerung. Jede Nacht fällt sie mich hinterrücks an, ringt mich nieder und attackiert mich mit den Bildern, die aus der Tiefe meiner Vergangenheit aufsteigen. Mein Verstand will sie nicht sehen, aber meine Sehnsucht verzehrt sich danach. Alles ist wieder da. Sarahs Stimme ist in mir. Ein Wispern, zärtlich, liebevoll. Es hat seine eigene Melodie, mit der es mich einhüllt und sich an mich schmiegt.
»Sarah …«
Sie lächelt mich an. Ihre Lippen bewegen sich, formen Worte, vertraute Worte. Ihre Hand legt sich auf meine Wange, tröstend, aber auch wie zum Abschied. Jede Nacht werden ihre Besuche kürzer. Wie wird es in zwei Wochen sein? Im nächsten Monat? Werde ich sie dann noch spüren können?

Als sie von mir ging, war ich bei ihr. Wie jeden Tag, seit sie ins Hospital kam, saß ich neben ihrem Bett. Die letzten Tage hatte sie nur geschlafen. Die starken Schmerzmittel ließen nicht zu, dass sie aufwachte. Der Arzt hatte mir keine Hoffnung gemacht. »Ihre Frau wird friedlich einschlafen, ohne Schmerzen.« Tröstende Worte, die er sicherlich schon Hunderte Male aussprechen musste.
Als es geschah, hielt ich ihre Hand. Sie war kalt und weich. Sanft strich ich über ihre Finger. So zart und doch hatten sie kräftig zupacken können, wenn es darauf ankam. In diesem Augenblick fühlte ich die leichten Bewegungen. Ihre kleine Hand drückte die meine. Nur schwach und sanft, aber ich spürte es. Es war ein Abschied. Die unausgesprochenen Worte: »Ich warte auf dich.« So hatte sie mich immer verabschiedet, wenn ich das Haus verließ. Jetzt musste ich sie gehen lassen. Ich beugte mich über sie und küsste sie auf die Stirn, wie ich es immer getan hatte. Dann setzte ich mich neben sie, nahm ihre Hand, betrachtete die feingliedrigen Finger und schmiegte sie an meine Wange.
»Ich beeile mich, mein Schatz, dann bin ich schnell wieder bei dir.«
Noch während ich die Worte sprach, wurde mir bewusst, dass ich darauf keinen Einfluss haben würde. Wenn ich dieses Mal zu spät käme, wäre es Gottes Wille.

Mit einem tiefen Atemzug kehre ich zurück in die Dunkelheit meines Schlafzimmers. Ich ziehe die Decke über mich und drehe mich zur Seite, auf der Sarah geschlafen hat.
»Gute Nacht, Liebes. Schlaf gut und träum was Schönes.«

Sarah ist tot. Sie starb vor drei Wochen. Heute ist unser zweiundfünfzigster Hochzeitstag.

Wellen erreichten meine Zehenspitzen, Füße, Knöchel,
siedend heiß brachten sie einen in die Knie zwingenden Schmerz,
immer stärker schwappten sie empor. Unaufhaltsam.
Kein Laut entwich meinen Lippen.
Die Atemzüge gingen prustend, beschwerlich.
Plötzlich versiegte der Strom.
Blubberbläschen sprudelten seiner statt von der Quelle des Glücks empor,
kribbelten, bebten.

Die Zeit verlor ihre Bedeutungslosigkeit.
Der Raum ergab sich schwerelos.
Ein zarter, kräftiger Schrei durchbrach das Rauschen in meinen Ohren.
Umgab mich. Erfüllte mich. Von da an warst du alles für mich.
Bist es immer noch.

Wars erst gestern, so fragt mein Gefühl.
Ein halbes Jahrzehnt, spricht der Kalender.

Entlocktest mir Tränen seitdem,
vor Freude und Glück.
Sorgen formten Verstecke,
bildeten Fältchen auf meiner Stirn.
Sie kamen und blieben.
Kein Tag war wie der andere,
kein Moment wie der davor.
Möcht keinen einzigen mehr missen,
nicht gestern, nicht heute, nicht morgen.
Wunschdenken.
Die Zukunft wird uns entzweien,
das ist der Lauf der Zeit.
Hier und Jetzt werd ich nicht daran denken,
einzig den Augenblick genießen.
Denn letztlich ist nur dieser gewiss.

Herzlichen Glückwunsch, mein Wunder

„Sind sie so empfindlich?“

„Woher soll ich das wissen? Das ist mein erstes Kind!“, blaffe ich die Krankenschwester an und es tut mir nicht einmal leid. Seit mehr als 24 Stunden liege ich in diesem Krankenhausbett, atme Desinfektionsmitteldämpfe ein, starre die weißen Wände und die weiße Bettdecke an, habe Wehenhemmer und eine Lungenreifespritze bekommen und notgedrungen ungenießbares Brot mit bleicher Wurst und Käse verdrückt. In der gerade erst schwindenden Nacht habe ich drei Schwestern um ein zusätzliches Kissen für meinen Rücken gebeten, der mich schier umbringen will, und nicht mehr als mitleidige Blicke erhalten. Meine Geduld ist so ziemlich aufgebraucht, ich bin hundemüde, aber das interessiert wirklich keinen auf dieser Station. Ist ja auch kein Wunder! Hier wird im Minutentakt entbunden.
Mein Untermieter hat eigentlich noch einen Mietvertrag über anderthalb Monate. Genau sechs Wochen. Seit genau so vielen Wochen liegt er mit seinem zarten Po voran, den Beinen an den Ohren und der Nase den Sternen zugewandt, total verkehrt herum, in seiner kuscheligen Höhle. Für die Ärzte und Schwestern steht daher unumstößlich fest, dass sie dem jungen Herren per Kaiserschnitt, aber heute natürlich nicht vor dem Mittagstisch, bei seinem ersten Umzug helfen werden.
Mir ist dieser Räumungsbescheid zwar bekannt, der Termin aber gänzlich unerwünscht, denn eigentlich hätte ich an diesem Montagmorgen gern hochkonzentriert in der ersten Zivilrechtsklausur für das zweite juristische Staatsexamen gesessen, und mir das Gehirn über fiktive Probleme zermartert statt echte auszubrüten.
Aber bei meiner Planung hat der Krümel sich wohl bereits ins Fäustchen gelacht und gedacht:
„Oh, Mann, wie langweilig! Fünf Stunden still sitzen ohne Geschaukel und Musik? Kenne ich schon. Das geht gar nicht!“
Und ich bin mir in diesen Minuten unter Schmerzen und Hitzewallungen und dem Bedürfnis mich einfach nur zu übergeben, absolut sicher, dass der Kleine genauso wenig von den Plänen des Krankenhauspersonals hält, wie von meinen. Aber wie soll ich denen das begreiflich machen? Schließlich habe ich nur Jura studiert, aber vom Kinderkriegen und vom Leben, das sich über meine Pläne platt lacht, keine Ahnung!

„Egal, ob ich überempfindlich bin oder nicht“, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: „die Rückenschmerzen werden, in immer kürzeren Intervallen, immer heftiger. Wenn Sie nichts weiter für mich tun können, bringen Sie mir bitte endlich das besch… Kissen für den Rücken oder ich mache mich selbst auf die Suche. Und sagen Sie dem Oberarzt und dem Anästhesisten Bescheid, dass ich nicht glaube, wirklich gar nicht, dass dieses Kind sich noch bis Mittag Zeit lässt.“

Ich sehe auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand, es ist 7.26 Uhr. Das sind noch fünfeinhalb Stunden bis zum geplanten Kaiserschnitt. Bis dahin bin ich tot. Umgebracht von diesen verdammten Rückenschmerzen! In den Wahnsinn getrieben von überarbeiteten Krankenschwestern. Keine Ahnung, wer dann das Kind auf die Welt bringt. Ich nicht!
Ich sehe das mitleidige Gesicht der jungen Schwester, das skeptische der älteren, die mir wieder versichert, der Wehenschreiber würde keine Wehen anzeigen und ich hätte noch Zeit, sei ja meine erste Geburt. Ich fühle die Schmerzwelle im Rücken, die mich anschreit, dass da keine Nadel zur Betäubung reingejagt werden wird. Sehe die Zettel, die ich jetzt ausfüllen soll, für die Narkose am Mittag. Sind die alle irre? Ich bin hier absolut im falschen Film.
Übelkeit steigt in mir auf. Ich atme sie mühsam weg. Keine Ahnung, wie das richtig geht. Ich war erst einmal in diesem verdammten Geburtsvorbereitungskurs.
Ich konnte ja nicht ahnen, dass in mir ein Mietnomade heranwächst und sich bereits nach 34 Wochen verändern will! So gechillt, wie er in den letzten Wochen drauf war… wer kommt denn auf die Idee, dass einer, der zu faul ist sich zu drehen, auf einmal zum Abenteurer mutiert? Das genau derselbe kleine Faulpelz es auf einmal wahnsinnig eilig hat, diese kalte, graue, matschige Dezemberwelt zu erkunden? Wahrscheinlich hat er in seiner Unfähigkeit, einfach wild Purzelbäume in mir zu schlagen, festgestellt, dass ihm das Ambiente nicht mehr gefällt. Klar, ich hab vergessen Weihnachtsschmuck aufzuhängen! Jetzt will er ein Zimmer mit Aussicht auf den hell erleuchteten Weihnachtsmarkt.
Aber bitte pronto!
Apropos eilig…der werdende Vater hat immer noch keine Ahnung… die Schwestern wollten ihn ja vorhin noch nicht wecken. Echt witzig. Das ich wegen meiner Rückenschmerzen nicht schlafen konnte, war denen Schnuppe, selbst nach meinem Klingeln gegen drei Uhr und fünf Uhr.

„Können sie jetzt bitte meinen Mann anrufen, dass er ins Krankenhaus kommt? Ist mir egal, ob sie denken, er hätte noch Zeit.“

„Wir versuchen ihn zu erreichen.“

Sie erreichen ihn natürlich nicht. Die Geburt wird eine eilige Notentbindung, ohne Kaiserschnitt, denn während alle philosophierten, steckte der Zwerg bereits die ganze Zeit im Geburtskanal fest.
Uups! Tut uns aber Leid!
Um 8.27 Uhr wird er blitzeblau, ohne jedes Anzeichen von Atmung, auf die Neonatologie getragen. Und mir ist alles, alles was sein sollte, alle Pläne, Prüfungen, meine Schmerzen, meine Übelkeit, der eklige Krankenhausgeruch, Weihnachten, alles ist mir egal. Nur zwei Sachen nicht. Dieses Kind, das eigentlich noch gar nicht da sein sollte. Und mein Mann, der da sein sollte, um es begleiten zu können, es aber nicht ist. Nichts, gar nichts ist, wie es sein sollte und das Schlimmste ist, dass ich nicht weiß, über Stunden nicht wissen werde, was mit dem kleinen Menschen ist, der sich da gerade auf die Welt gekämpft hat.
Ich liege da, auf dieser Liege, friere wie ein Eisblock, werde genäht, allein gelassen. Mir laufen die Tränen, ohne, dass ich sie aufhalten kann. Warum hat mich keiner vorgewarnt, dass eine Geburt auch so verlaufen kann? Sekunden, Minuten, Stunden werden zu quälenden Ewigkeiten, in denen ich beten lerne, ohne je gläubig gewesen zu sein. Denn wir brauchen dringend, ganz dringend ein Weihnachtswunder. Bitte vor Weihnachten. Heute. Jetzt. Sofort.

Es dauert zwei Stunden, ehe eine Schwester Entwarnung gibt und mich nach deinem Namen fragt. Es wird Mittag, ehe dein Vater kommt und wir gemeinsam dich, dieses 43 cm kleine Menschenkind mit nur 1.880g in die Arme schließen dürfen. Deine seidige Haut ist viel zu groß für deine dürren Ärmchen und Beinchen, wirft überall Falten, vor allem an den Beinen, die sich schwer tun, die Ohren allein zulassen. Ohren, wie ich sie nur von Mr. Spock, dem Vulkanier kenne und dazu passen auch deine wahnsinnig dunklen Augen, die uns aufmerksam betrachten und uns und den Schwestern das Gefühl geben, als wärst du schon tausend Jahre alt und nicht gerade geboren. Aber dein Geruch ist unverkennbar der eines Babys. Duftend und zart, genau wie der helle, weiche Flaum auf deinem Kopf.

Drei Wochen später, am Weihnachtstag, dürfen wir das Krankenhaus mit dir verlassen. Mit dir, unserem ganz persönlichen Weihnachtswunder, unserem Dezemberkind. Und wir zwei sitzen, endlich wieder zu Hause, ganz ohne Weihnachtsbaum, halten dich abwechselnd in unseren Armen, wachen über deinen Schlaf, freuen uns über jede deiner Bewegungen, jeden zarten Ton, den du von dir gibst. Wir sind uns einig: wir wollen dich nie wieder loslassen. Denn du bist das kleinste und gleichzeitig größte und schönste Geschenk dieser Welt. Eines, das uns den Atem raubt und unsere Herzen mit unvorstellbarer Liebe flutet.

Irgendwann bist du in deine Haut hineingewachsen, hast die ersten Schuhe verwachsen, die Pubertät durchgemacht, das Abitur geschafft, und wir durften an dir wachsen. Tag für Tag. Jahr um Jahr. Durften lachen, weinen, staunen, grübeln, deinem Klavierspiel lauschen, helfen, dich machen lassen und unser Glück mit dir jeden einzelnen Tag genießen.
Immer, immer werde ich deine kleinen Ärmchen um meinen Hals spüren, deine feuchten Küsse auf meinem Gesicht und dich sagen hören: „Mama, ich hab dich sooo lieb.“ Denn das sagst du auch heute noch, wenn auch nicht mehr so häufig. Heute, wo du auf mich herabblickst mit deinen einem Meter und achtzig.
Tage, Wochen, Monate…wie viele werden es wohl noch gemeinsam unter einem Dach? Wie lange noch, bis du deine Sachen packen und dir eine neue, eigene Bleibe suchen wirst? Ich will es gar nicht wissen. Ich will jeden einzelnen Tag bis dahin und darüber hinaus einfach als Geschenk betrachten und dankbar sein. Denn egal, wie es kommt, und es kommt immer anders: Lebe, denn Leben ist das was passiert, während du andere Pläne machst.

Bald ist wieder Dezember. Dein Geburtstag und Weihnachten stehen vor der Tür, mit hellem Kerzenschein, Lebkuchenduft, heißer Honigmilch, deinen geliebten Dominosteinen, Weihnachtsmarkt und viel Lachen in unserer Familie und mit Freunden.

„Herzlichen Glückwunsch zum 20. Geburtstag, mein Großer! Du bist mein Wunder.“

Scherben

Es ist nur ein einfacher Ball, gegen den Hannes tritt. Sie kicken vor dem Grundstück vom Thiele. Sie sollten dort nicht spielen, denn der Thiele mochte keinen Lärm und auch keine Jugendlichen oder überhaupt Menschen.
Und so passiert es: Hannes tritt gegen den Ball. Der hebt gut ab, schießt auf Tom zu. Tom springt hoch, aber der Ball gleitet über seine Fingerspitzen und wird abgelenkt. Wild drehend fliegt er auf Thieles Haus zu. Tom reißt den Mund auf. Ein »Ooooh« formt sich auf seinen Lippen. Alle blicken dem Ball hinterher, erstarren. Der Ball bahnt sich seinen Weg und scheppert in Thieles Fensterscheibe.
Scherben.
Wäre das nicht passiert, hätte Thiele sich nicht Hannes geschnappt. Ihn verprügelt. Hannes Trommelfell wäre nicht geplatzt, Tinnitus und Schwindel hätten ihn nicht halb wahnsinnig gemacht. Er hätte nicht immer den Kopf eingezogen, wenn jemand lauter sprach. Hätte im Unterricht besser aufgepasst, ja, besser zuhören können. Er hätte nicht alles in sich hineingefressen. Und er wäre nicht eines Tages ausgerastet und hätte Lukas zusammengeschlagen. Der Schulverweis und die Konflikttherapie … der Psychiater, der ihm auch nicht helfen konnte. Die Schreckhaftigkeit blieb. Die Träume blieben und in ihnen das wutverzerrte Gesicht Thieles.
Scherben.
Zwei Jahre Bewährung. Für Thiele.
Und später für Hannes.
Hannes steht vorm Haus. Thiele ist lange tot.
Hätte er den Ball nicht getreten, wäre es nicht passiert oder hätte nur ein anderer einen Ball getreten und die Scheiben wären zersplittert?

Silberhochzeit

Sein Spiegelbild stimmte nicht mehr mit ihm überein. Seit seine Stimme begonnen hatte, sich tiefer zu färben. Schonungslos betrachtete er jenes Gesicht, das nicht seins war. Auf seiner Oberlippe zeigte sich ein erster Flaum, seine Augenbrauen zu dicht, sein Mund ohne Weichheit. Die Schultern zu breit, der Hals zu muskulös. Eine Hülle, in die er nicht gehörte, ein Gefühl des Gefangenseins. Er begann, sich vor sich selbst zu ekeln. Nur die dunklen Locken, die weich das fremde Gesicht umrahmten, harmonierten mit seinem inneren Ich. Innen, genau dort, wo seine wirkliche Identität wohnte.
Er stellte die Flügel des Schminkspiegels so, dass er sich von den Seiten betrachten konnte, ergriff den weichen Pinsel, mit dem seine Schwester für gewöhnlich einen Hauch Rouge auf ihre Wangen zauberte. Roch den feinen Duft, den er verströmte. Selig tauchte er ihn in die Palette mit den Rottönen und trug die Farbe in kreisenden Bewegungen auf seine Wangen auf. Ein angenehmes Kitzeln breitete sich in seinem Unterbauch aus, es fühlte sich richtig an. Er legte den Pinsel zurück, nahm den Lippenstift in Koralle, drehte lustvoll den roten Kopf heraus. Spitzte seine Lippen und genoss das Cremige, Feuchte, das die durch Benutzung abgeflachte Seite darauf hinterließ.
Schon besser, fand er, während er seinem nicht mehr ganz so fremden Spiegelbild eine Kusshand zuwarf. Er erhob sich, bewegte sich zum Schrank seiner Schwester hinüber, dem Schrein seiner Sehnsüchte. Ehrfurchtsvoll strich er über die glatte Oberfläche, bevor er die Schranktür öffnete. Seine Hände fuhren an den ordentlich ausgerichteten Bügeln entlang, bis sie an jener Stelle mit dem hellrosa Sommerkleid zur Ruhe kamen. Er zog es hervor, nahm es vom Bügel, drückte es an die Nase. Sog den Hauch von Parfüm ein, der sich darin hielt. Schnell streifte er sich das Kleid über, spürte die Kühle des Gewebes, ließ den fließenden Saum an seinem verwirrten Körper heruntergleiten. Er schauerte, als er sich dem Spiegel zuwandte. Nun erkannte er sein Spiegelbild, erkannte sich.

Die Tür zum Zimmer seiner Schwester flog auf, die Türklinke schlug an die Wand. Sein Vater stand im unbeleuchteten Viereck des Rahmens, bebend vor Zorn, sein Gesicht Stein. In zwei Schritten war er bei ihm, riss ihn herum, die linke Hand eine Schraubzwinge an seinem Oberarm. Mit der Rechten zog er ein Taschentuch aus der Hosentasche, spuckte hinein und begann, das Gesicht seines Sohnes zu bearbeiten. Wischte, spuckte, wischte. Im Spiegel beobachtete der Junge, wie die Farben in seinem Gesicht zu einer schmerzvollen Melange gerannen, Korallenrot schmolz das Kinn hinab und hinterließ einen Striemen wie Blut. Sein Vater ließ von seinem Gesicht ab, riss ihm das Kleid vom Leib. Er löste den Ledergürtel von seiner Hose. Dann begann er, damit auf ihn einzuprügeln. Der Junge hätte schreien mögen vor Schmerz, jedoch kein Laut kam über seine schwachroten Lippen.
Es ist nur meine Hülle, sagte er sich. Als sein Vater von ihm abließ, fühlte er nichts mehr. Betrachtete dessen zu einem Strich zusammengepresste Lippen, wie sie sich zu einem Spalt öffneten, um diesen einen Satz zu entlassen, der ihm lebenslanger Begleiter seiner Angst werden würde: „Wenn ich dich noch einmal so vorfinde, ich schwöre, ich schlage dich tot.“

„Schatz, bist du fertig? Die ersten Gäste sind da.“ In der Stimme seiner Frau, die von unten heraufdrang, schwangen Ungeduld und Vorfreude. Sein Blick fiel auf den Schlafzimmerschrank, an dem der dunkelblaue Anzug hing, den er gleich anziehen sollte und aus dessen Brusttasche ein kitschiges silbernes Blumensträußchen hervorlugte. Daneben das schneeweiße Hemd, die silberne Krawatte. Der Blick wanderte weiter auf das Bett, in dem er auf den Tag genau seit fünfundzwanzig Jahren neben ihr schlief. In das beide Kinder krochen, wenn es gewitterte. Ein Leben, das nie seines gewesen ist. Er ging hinüber zum Schminktisch seiner Frau, schaute in den Spiegel. Betrachtete ein Gesicht mit grauem Bart und unglücklichen Augen, das er bis heute nicht als seines annahm. Wusste mit jedem Blick, dass sein Spiegelbild noch immer nicht mit ihm übereinstimmte.
Aber heute, an diesem denkwürdigen Jubeltag, war es an der Zeit, die falsche Hülle abzustreifen, um all das zu befreien, was seit frühester Jugend in ihm gefangen war. Er ergriff ihren Lippenstift, drehte ihn heraus, schmückte seine Lippen in ihrem Lieblingsrot. Nahm ihre Puderquaste, tauchte sie ein in das schimmernde Pulver, fuhr sich über das Gesicht. Besser, sagte der Spiegel, viel besser. Bedächtig stand er auf, ging zu ihrem Kleiderschrank hinüber, entnahm ihm jenes dunkelrote Strickkleid, um das er sie immer beneidet hatte. Es war dehnbar, umfing seinen bebenden Körper, schloss ihn ein in einen Kokon aus Weiblichkeit. Noch einmal betrachtete er sich im Spiegel. Nickte. Sein Herz wurde leicht. Dann verließ er das Schlafzimmer. Als er die Treppe hinabging, suchte sein Blick seinen Vater.

Endlich – du bist da!

Ich habe Angst. Du gibst keinen Ton von dir, weder weinst noch lächelst du. Aber dein ganzer Körper bewegt sich in grösster Aufregung. Erst jetzt öffnest du den Mund und schreist dir die Anstrengung der letzten Stunden vom Leib. Ich höre mich wie in Trance fragen: „Ist sie in Ordnung?“ „Ja, bestens“, teilt die Schwester mir und Mama mit. Du bist da – Zoe – unsere Tochter! Dieser Moment übertrifft alles, was ich in meinem Leben bisher je erfahren durfte. Das hast du toll gemacht! Ich soll die Nabelschnur durchschneiden, welche dich die letzten neuen Monate so verlässlich versorgt hat. Ich habe Angst, dir weh zu tun, es knirscht dabei. Jetzt kannst du die Wärme von Mamas Bauch geniessen. Ich halte meine Gefühle nicht mehr zurück und weine vor Freude drauflos. Es schüttelt mich durch und durch. So etwas Wunderschönes habe ich noch nie gesehen. Du riechst so gut nach frischem Baby.
Die Erde scheint für einen Moment stillzustehen.

Es kommt mir heute an deinem zwanzigsten Geburtstag vor, als wäre es gestern passiert. Die wenigen Tage im Spital dauerten mir unendlich lange. Wir konnten dich dann endlich nach Hause nehmen. Das erste Lachen, als Mama dich am Fuss kitzelte, war das schönste Geräusch in meinem Leben. Die ersten Schritte, ein Welt-Wunder. Diese Jahre vergingen zu schnell, wie im Überschallflug bist du durch die Kindheit gerast. Hast dir das Knie aufgeschürft, im Kindergarten mir voller Stolz die kleine Fee vorgetragen und am Abend den ersten Zahn verloren. Deine Haarschneidekünste hast du gleich bei der kleinen Schwester ausprobiert. Plötzlich warst du so selbstbewusst und mit Gegenwind unterwegs, was wir deiner Pubertät zu verdanken hatten. Freund nach Hause gebracht. Erste Tränen der Trennung. Lehre geschafft und ausgezogen. Ich habe drei Nächte durchgeweint, mein Herz schmerzte unendlich.

Ist ja klar, du bist nicht fort für immer. Ich bin so stolz auf dich.
Du bestreitest jetzt dein Leben mit allen Höhen und Tiefen. Du möchtest den Kopf selber anstossen, dafür benötigst du Papa nicht mehr. Du hast das Nest verlassen. Doch solltest du mich brauchen – ich werde immer für dich da sein.

Und diese Augenblicke, wenn du in den Raum kommst, lassen alles drumherum verschwinden.
Die Erde scheint für einen Moment stillzustehen.

Begegnung mit der Vergangenheit

Geschrei drang von unten herauf und weckte Malte. Er lauschte einen Moment und setzte sich dann zögernd auf. Es waren Mami und Papsi, die sich laut stritten. Wütend. Das kannte er gar nicht, Papsi war immer freundlich und lachte viel, Mami wollte immer gern ihre Ruhe haben.
»Sollen wir nachsehen, Bernie?«, fragte er seinen Kuschelbär.
Bernie schien zuzustimmen, also schwang er die Beine vors Bett und schlich zur Zimmertür. Vorsichtig öffnete er sie und ging zum Treppenabsatz.
» … und wenn du es genau wissen willst, er war nicht der Erste!«, brüllte seine Mutter gerade.
»Was soll das heißen?«
»Was wohl?«
»Lass uns vernünftig reden.«
»Nein! Ich ersticke hier an deiner Langeweile, deiner Spießigkeit, an deiner Haus- und Familienidylle. Ich hab mir so oft vorgestellt, einfach abzuhauen, und das tu ich jetzt!«
»Aber der Junge …«
»Ich kann es nicht mehr hören! Dieses Kind hat alles kaputtgemacht! Ich hatte Pläne, ich wollte so viel erleben und bin in diesem Haus begraben. Ich will leben, ohne dich und dieses Blag! Ich gehe jetzt und lasse mich scheiden.«
Mit zwei Taschen stürmte seine Mutter zum Eingang. Sie drehte sich noch einmal um und sah eine Sekunde die Treppe hinauf, als ob sie Maltes Anwesenheit gespürt hätte. Ihre Blicke trafen sich, als er mit tränenüberströmten Gesicht Bernie an sich presste und seine Welt zerbrach. Die Haustür schlug zu.

Diese Szene lief wie ein Film vor Maltes Augen ab, nachdem er ahnungslos die Tür geöffnet hatte. Über zwanzig Jahre hatte er seine Mutter nicht gesehen, doch er hatte sie auf den ersten Blick erkannt. Sie war älter geworden, hatte einige Falten, die Haare gefärbt, um vermutlich graue Strähnen zu verdecken, im Übergang zwischen gepflegt aussehen und gepflegt werden. Sie hatte sich nie gemeldet, weder zur Einschulung, noch zu seinem achtzehnten Geburtstag, nicht einmal zur Beerdigung von Papsi vor zwei Jahren war sie erschienen. Sie hatte ihre erste Familie aus ihrem Leben gestrichen. Und nun stand sie hier.

»Hallo, Malte.«
»Was willst du?«
»Willst du mich nicht hereinbitten?«
»Nein.«
»Ich brauche dich.«
Kurz überkam ihn die irrationale Hoffnung, sein alter Wunschtraum aus Kindertagen würde sich erfüllen: Mami kehrte zurück, um sich zu entschuldigen, ihm eine Erklärung zu geben, und dann würde alles wieder gut werden. Doch zum Glück gewann seine gesunde Skepsis die Oberhand.
»Wozu?«
»Du musst mir helfen. Die Ärzte haben gesagt, ich brauche eine Nierentransplantation. Die Spenderniere eines nahen Angehörigen wäre ideal.«
Malte brauchte einen Moment, diese ungeheure Dreistigkeit zu verdauen. Heiße Wut kochte in ihm hoch, schrie nach einem Ventil. Doch er beherrschte sich.
»Nach all der Zeit tauchst du hier auf, kein Wort der Entschuldigung und meinst, ich spiele für dich das Ersatzteillager? Was bist du für ein Mensch?«
»Ich bin deine Mutter! Ich habe ein Recht darauf …«
»Du hast gar keine Rechte«, sagte Malte leise und deutete auf ihren Schoß. »Dass du mich da unten herausgepresst hast, macht dich nicht zu einer Mutter.«
Die Wut brach sich Bahn und er schlug die Tür zu. Er wusste nicht, ob der Knall von der Tür oder seinem Wunschtraum kam, der gerade zerplatzte.

Meine Frau war voller Unglauben, als sie auf das Ergebnis des Schwangerschaftstests schaute.

Lächelnd schauen wir unseren Enkelkindern beim Spielen im Garten zu.

Der Befehl

„Wegtreten!“
Scharf schnitt die Stimme des Kommandeurs durch die kalte Luft des Kasernenhofs.
Zuvor hatte es ein paar knappe Worte zum Manöver gegeben. Es war mehr eine Abrechnung als eine Zusammenfassung. Was ihm nicht gefallen hat, was schief gelaufen ist. Vermutlich hat er von seinem Vorgesetzten schon seinen Einlauf bekommen.
Den gab er uns weiter – wie immer in fester, aufrechter Haltung, alle Muskeln angespannt.
Klar, die Übung draußen im Gelände war keine Sternstunde. Jeder einfache Soldat, so wie ich, hat das kapiert.
Trotzdem hatten wir alles gegeben. Mein Knie schmerzte immer noch. Ich musste am Morgen eine Strecke kriechen, hatte dabei einen Stein erwischt. „Im echten Krieg liegen hier nicht nur drei Steinchen, sondern Stacheldraht“, fauchte der Unteroffizier, als ich den Schmerz nicht ganz unterdrücken konnte.
Und jetzt haben wir hier eine halbe Stunde angetreten gestanden, bis der Herr Major Zeit hatte: für drei Sätze. Vielleicht waren es vier.
Kein Wort der Anerkennung?
Ich schlich vom Platz wie ein geprügelter Hund, floh von diesem Ort. Der Befehl hat mich dazu angewiesen. Er markierte das ultimative Ende aller Unterhaltung. Kein „ja, aber“, kein Trost, keine Erklärung.

„Herr Keuner wird heute ins Heim aufgenommen. Geh doch bitte mit ihm die Anträge durch, ob alles passt.“ Die Stimme meiner Chefin ist freundlich.
„Kein Problem.“ Papierkram ist Routine. Ich mache das schon viele Jahre. Noch bevor die neuen Altersheimbewohner hier ankommen, habe ich grob überflogen, ob alles ausgefüllt ist. Damit dauert das Gespräch nicht lange. Ich bin bereit.
Draußen schlägt etwas gegen meine Bürotür. Danach folgt ein zaghaftes Klopfen.
„Herein!“, sage ich und gehe dem Besucher entgegen, öffne die Tür. Manchen fällt das schwer im Alter.
„Danke“, sagt eine Dame im mittleren Alter. „Guten Tag! Ich bringe meinen Vater.“ Schwer schiebt sie an dem Rollstuhl, bringt ihn aber ohne weitere Kollisionen durch die Tür.
„Herr Keuner?“, frage ich, während ich mich zurück an den Schreibtisch setze, und lege meinen besten Willkommensblick auf.
Der eingesunkene Herr im Rollstuhl mustert mich kurz. „Ja“, antwortet er knapp und mit bemüht fester Stimme.
Klar, so ein erster Tag hier ist nicht einfach. Alles ändert sich. Die alte Umgebung wird durch eine gänzlich neue ersetzt. Da regiert die Nervosität und nicht der Charme.
Für mich ist das Alltag. Ich habe auch gut reden, denn ich gehe nachher nach Hause, in meine gewohnte Umgebung.
Ich mache meinen Job gerne so, dass es den alten Leuten hier gefällt. Die Dokumente liegen schon bereit.
Ich sollte sie beim nächsten Mal genauer lesen und nicht nur zwecks Vollständigkeit überfliegen, fällt mir auf, als ich auf die persönlichen Daten schaue. „Keuner, Hannes, Major a.D.“ steht da.
Ich krame in meiner Erinnerung. Das Gesicht, der Name – da ist was …
Mein Knie schmerzt plötzlich und gräbt eine alte verschüttete Erinnerung aus. Der Alte tut mir leid. Er ist nur noch ein Schatten. Keiner seiner Muskeln scheint mehr angespannt zu sein.
Im Telegrammstil gehen wir ein paar Standardpunkte durch. Das ist wichtig, damit es keine Unstimmigkeiten zwischen dem gibt, was ausgefüllt ist, und dem, was man wirklich will.
„Alles in Ordnung“, sage ich, obwohl mein Knie eine andere Meinung hat. „Sie können zur Station weitergehen. Ich rufe einen Pfleger, der Sie hinbringt. Haben Sie noch Fragen?“
Die Dame schüttelt kurz den Kopf und lächelt, während ich telefonieren. Sie ist froh, dass die erste Hürde genommen ist.
Herr Keuner, Major a.D. lächelt nicht. „Was ist das denn hier? Muss ich gar nichts ausfüllen? Das hätte es früher nicht gegeben.“
Die Tochter tätschelt seine Hand. „Habe ich doch alles erledigt. Ist schon gut.“
„Bei mir früher, da herrschte Ordnung. Da gab es keine solche Larifari-Termine!“ Seine Hand stampft auf die Armlehne des Rollstuhls.
Die Tochter zuckt entschuldigend mit den Schultern.
Ich verstehe.
Der Alte nicht. „Wollen Sie nicht mal meinen Dienstausweis kontrollieren? Da kann doch jeder kommen und in das Objekt eintreten.“
„Er lebt noch …“, entschuldigt sich die Tochter.
„… in einer Kaserne“, vollende ich den Satz.
Sie seufzt.
Ich auch.
Der Alte nicht. „Na was ist denn jetzt?“, krächzt seine Stimme durch das Zimmer.
Nein, dieser Besuch ist nicht Routine so wie sonst.
Die Frau legt ihrem Vater die Hände auf die Schultern, um ihn zu beruhigen. Es hilft nicht.
Alte Leute brauchen Geduld, sie haben sie verdient. Ich bin ruhig, freundlich – normalerweise. Doch hier packt es mich und nicht nur mein Knie. Für einen Moment entgleitet mir die Kontrolle.
„Wegtreten!“, fauche ich und bereue es im nächsten Augenblick.
Es wirkt. Die Gegenwehr des Alten bricht zusammen.
Der Pfleger ist da. Herr Keuner fügt sich. Er kennt ihn noch, den militärischen Code, der das Ende jeder Unterhaltung anzeigt. Er wird ihn nie vergessen.
Ich auch nicht.

Drei Sekunden

Für die meisten waren drei Sekunden kaum spürbar oder wichtig, sie waren gar nichts. Deshalb schaute Lea, die linke Hand am Steuer, auch nur drei Sekunden auf ihr Smartphone, um zu checken, von wem die letzte Whatsapp-Nachricht war. Lea schaute nur drei Sekunden nicht vor sich auf die Straße. Sie überprüfte vorher den Straßenverkehr, alles frei. Sie fuhr durch die Stadt, mit knapp 60 Stundenkilometern. In drei Sekunden legte ihr Auto eine Strecke von knapp 50 Metern zurück, sodass Lea an etwa acht parkenden Autos, drei Bäumen und einer Einfahrt vorbeifuhr. Die Nachricht, für die Lea drei Sekunden nicht auf die Straße achtete, beinhalte ein Kussemoji. Mit einem zarten Lächeln und einem Kribbeln im Bauch aktivierte Lea die Bildschirmsperre, gerade, als sie ein lautes Hupen vernahm.
Erschrocken schaute sie auf, versuchte, sich zu orientieren, sah Bremslichter aufleuchten, sah das Heck des schwarzen Autos vor sich näher kommen, seit wann fuhr vor ihr ein Auto, fragte sich Lea und trat erschrocken und voller Adrenalin auf die Bremse. Bevor Lea auf die Bremse treten konnte, hatte ihr Auto allerdings weitere 18 Meter zurückgelegt, sodass sie nahezu ungebremst in das Heck des schwarzen Autos krachte.
Der vordere Teil ihres Autos drückte sich in den Kofferraum des Wagens vor ihr und verformte sich. Leas Körper wurde nach vorne gedrückt, ihr Sicherheitsgurt spannte sich unter der Bewegung, schnitt schmerzhaft in ihren Körper, aber hielt sie davon ab, durch die Windschutzscheibe zu fliegen. Ihr Kopf wurde nach vorne geschleudert, durch den Airbag gestoppt und zurückgeschleudert. Das alles passierte mit einem lauten Knall, Schaben, Knacken und Krachen. Doch Lea hörte nichts. Noch nicht einmal ihren eigenen Aufschrei. Sie hatte nur einen Gedanken: Ich will nicht sterben.

Lea war nicht gestorben. Doch der Autounfall war nicht ohne Folgen geblieben. Körperlich hatte sich Lea schon lange erholt. Ihre Seele aber hatte auch noch zwei Jahre nach dem Auffahrunfall mit den Folgen zu kämpfen. Lea hatte seitdem kein Auto mehr fahren können, zu groß war ihre Angst. Sie war zwar schon so weit, sich wieder in ein stehendes Auto zu setzen, allerdings überwältigte sie dann meistens eine Panikattacke. Lea hatte auch mit Selbstvorwürfen zu kämpfen, denn sie war ohne Zweifel Schuld an dem Unfall gewesen. Das hatte offiziell ein Richter bestätigt, auf Grundlage eindeutiger Beweise. Wie der Aussage einer Augenzeugin und der Unfallstelle an sich.
Wieso das schwarze Auto vor ihr gebremst hatte? Lea hatte später erfahren, dass ein Hund auf die Straße gelaufen war. Hätte Lea in den drei Sekunden, die sie für den Blick auf ihr Smartphone investiert hatte, auf die Straße geschaut, wären ihr die Bremslichter direkt aufgefallen und ihr Auto wäre nach etwa 36 Metern zum Stehen gekommen.

Jetzt verließ Lea gerade die Praxis ihrer Therapeutin und trat hinaus in die kühle Herbstluft. Langsam ging sie den Gehweg entlang und ließ die heutige Sitzung innerlich sacken. Dabei schaute sie wachsam auf das Geschehen um sich herum. Auf die Fußgänger, Radfahrer und vor allem die Autofahrer. Dabei sah sie, wie ein Autofahrer seinen Blick senkte, um auf etwas im Auto zu schauen, und sie zählte drei Sekunden, bis der Mann seinen Blick wieder hob, um auf den Straßenverkehr zu achten. Verärgert, angespannt und beklommen schüttelte Lea den Kopf. Dass drei Sekunden eben nicht nichts waren, das wusste sie nun.

Leben hinter Gittern

Keine Chance zu entkommen. Zusammengepfercht mit sechs anderen lag ich auf dem Boden. Es war so eng in diesem Gefängnis, dass wir uns nur gemeinsam fortbewegen konnten. Seite an Seite, stets den Kontakt zu den anderen suchend. Wenn ich durch die engen Gitter hinausschaute, um einen Blick zu erhaschen, wo wir uns befanden, dauerte es nie lange, bis mich ein Mithäftling wegdrückte, so dass ich nie ausreichend Zeit bekam, um mich zu orientieren.

An manchen Tagen ließ man mich in Ruhe. Ich war allein in einem vollständig abgedunkelten Raum mit wenig Luft zum Atmen. An diesen Tagen kostete ich jede Sekunde aus. Niemand störte mich, niemand trat oder schlug mich. An anderen Tagen jedoch, meist an den Wochenenden, war es unbeschreiblich. Wir wurden gleichsam zu Gegenständen degradiert, zusammengebunden und an einen unbekannten Ort transportiert. Ich wusste nie, wo wir uns befanden; ich wusste nur, dass es wechselnde Orte waren, an die man uns brachte. Schlimmer, ich wusste, was dann mit uns geschah.

An einem dieser Orte angekommen, wurden wir zunächst losgebunden und voneinander getrennt. Die »Behandlung«, so wurde dies grinsend von den Männern genannt, begann damit, dass mir langsam eine lange Nadel tief in den Körper eingeführt wurde. Dabei zog sich alles in mir zusammen. Was auch immer mir injiziert wurde, es bereitete grauenhafte Druckgefühle. Es wurde immer wärmer, ich geriet förmlich in Wallung und fühlte mich, als würde ich im nächsten Moment explodieren. Kaum auszuhalten.

In diesem Zustand begann dann erst die wirkliche Behandlung. Ich wurde permanent getreten. An allen Seiten. Besonders schlimm war der Mann, der vor der Behandlung Handschuhe anzog, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Dieser Mann trat mich so heftig, dass ich weit durch die Luft flog bevor ich auf dem Boden aufkam. Die anderen Männer kamen dann stets angelaufen und traten mich, den wehrlos Daliegenden.

So erging es mir über viele Wochen, Wochenenden und Monate bis zu jenem Tag, den ich nie vergessen werde, den 25. Mai 2013. An diesem Tag war die Behandlung besonders brutal. Ich wurde fast bis zur Besinnungslosigkeit getreten, bis zu der Sekunde als einer der Männer, Arjen, mich erst heftig trat, so dass ich durch die Luft flog bis vor ein riesiges Gitter, von dem ich abprallte und mit heftigen Schmerzen am Boden liegenblieb. Dann jedoch bückte er sich nach mir, hielt mich in seinen Armen fest, ließ mich fortan nicht mehr los und lief mit mir wild durch die Gegend. Ich bin seitdem bei ihm.

Ich habe den besten Platz in seiner Trophäensammlung erhalten. Vielleicht habe ich dies verdient, denn Arjen Robben hat mit mir an diesem Tag das Siegtor im Championsleague-Finale in London geschossen. In der 89. Minute traf er für Bayern München zum 2:1 Endstand gegen Borussia Dortmund.

Seitdem ist bei mir ziemlich viel Luft raus. Aber genau dies macht mein Leben lebenswert.

Freitag

Ein Auto? Kommt für mich nicht in Frage. Und wenn ich auf der Sitzbank festfriere. Der Weg zur Garage gleicht einem Alptraum. Nur wenige Grad über null, Nieselregen. Jetzt wäre ein Auto doch schön. Den Gedanken verwerfe ich umgehend. Ich muss mir treu bleiben. Sie bewundern mich. Alle. Haben Mitleid, den ganzen Herbst, den ganzen Winter, den Anfang vom Frühling, wenn dieser sich hinzieht.

Nur zehn Kilometer bis zur Arbeit. Ein Katzensprung. Da werde ich das bisschen Frieren aushalten. Schließlich genieße ich ihren Respekt, weil ich hart bin, kein Sensibelchen.
Laut ist anders. Ein dumpfes Geräusch, das ich so noch nie vernommen habe. Wie durch Watte. Die Sitzbank ist weg. Hektik um mich herum. In der Ferne heulen Sirenen. Stimmen. Direkt über mir. Entsetzte Augen starren mich an. Ich friere gar nicht mehr. Jemand meint, ich solle ganz ruhig bleiben. Ich bin ruhig. Jemand schreit. Bin ich das? Ich schreie doch nicht, oder?

Ein Auto? Das kommt für mich auch jetzt nicht Frage. Sie haben Mitleid, wenn sie mich sehen, nicht wegen der unangenehmen Jahreszeiten, bloß wegen der Stümpfe, die da sind, wo früher meine Arme waren.

Ich fluche leise und ziehe mich in den Schatten des Gebäudes zurück. Eine Frau kommt um die Ecke gebogen und geht mit festen Schritten auf den Eingang des Hochhauses zu. Die Ähnlichkeit zu mir selbst ist unverkennbar. Groß, durchtrainiert und 30 Jahre jünger. Verdammt, wie jung und selbstherrlich ich doch mal war.
Mein früheres Ich sieht kurz über die Schulter, fast so, als würde sie bemerken, dass sie beobachtet wird. Dann betritt sie das Hauptquartier der Biogen Science Group und ich folge ihr mit kurzem Abstand.
Ich muss mich nicht beeilen, da ich weiß, wo sie hingeht und was sie vorhat.
Meine Aufgabe besteht nur darin sie daran zu hindern.
Sie benutzt das Treppenhaus und steigt zu Fuß in den 7. Stock.
Ich keuche bereits, als ich den 2. Treppenabsatz erreiche und beneide mein jüngeres Selbst um ihre Kondition.
Hübsch, fit aber unglaublich dumm.
Eine zufallende Sicherheitstür, erzeugt ein hallendes Geräusch im Treppenhaus. Ich habe scheinbar das Labor betreten.
Eilig sprinte ich die letzten Stufen hoch und betrachte das Sicherheitssystem. Vor 30 Jahren sicherlich vom Feinsten, für mich lächerlich leicht zu knacken. Ich ziehe ein kleines Gerät aus der Tasche und halte es vor das Tastenfeld. Nach wenigen Sekunden entriegelt sich die Tür und ich betrete den Hochsicherheitsbereich. Leise schließe ich die Tür. Mein jüngeres Ich darf mich auf keinen Fall erwischen, sie würde es fertig bringen mich zu erschießen.
Ich ziehe meinen Phaser und stelle ihn auf Betäubung ein.
Der Gang wird nur durch das diffuse Licht, das durch die Milchglasfenster der Labors fällt erhellt. Die Überwachungskamera sind tot, dafür hatte ich vor 30 Jahren gesorgt.
Die dritte Tür auf der linken Seite ist nur angelehnt und ich schlüpfe leise hindurch und gelange in einen großen, kalten Raum. Untersuchungstische aus Edelstahl, weiß geflieste Wände und Böden. An den Wänden zahllose Metallkäfige. Ich ziehe ein kleines Paket aus meinem Rucksack und befestige es unter einem der Untersuchungstische. Mein Blick wandert kurz zu einem der Käfige. Ein Beagle blickt mich aus traurigen Augen an und für einen Moment verstehe ich mein früheres Ich. Sie konnte nicht wissen, was diesen armen Tieren angetan wurde. Welche Gefahr in diesen Tieren schlummerte.
Die Erinnerung überkommt mich plötzlich und ich sehe mich, wie ich die Käfige öffne und diese gepeinigten Kreaturen aus ihrem Elend befreie.
Bereits fünf Jahre später hat die Seuche, die mein früheres Ich aus diesem Labor entlassen hat 90 Prozent aller Wirbeltiere vernichtet. Eine weltweite Hungersnot folgte, dann der Krieg und der Kollaps.
Ich schüttel die düsteren Gedanken ab und konzentriere mich wieder auf meine Aufgabe.
Mein früheres Ich steht mit dem Rücken zu mir und ich weiß, dass sie gleich die Käfige öffnen wird. Ich trete hinter sie und richte meine Waffe auf sie. Als ob sie mich bemerkt hätte, fährt sie herum. Ihre Augen weiten sich erschrocken, dann trifft sie mein Betäubungsstrahl.
Lautlos bricht sie zusammen. Ich fange sie auf und lege sie sanft auf den kalten Boden.
Rasch befestige ich noch einige Sprengsätze an den Wänden, dann verlasse ich das Gebäude auf dem Weg den ich gekommen bin.
Unten an der Straßenecke drehe ich mich um und werfe einen Blick auf das unförmige Hochhaus.
Ich hole den Zünder hervor und atme tief durch.
Als ich den Auslöser drücke erschüttert eine gewaltige Explosion das Gebäude. Rote Feuerblumen erblühen und später wird man in den Zeitungen lesen, dass alle Versuchstiere in der Explosion umgekommen sind und die vielversprechenden Forschungsergebnisse von Biogen Science leider vernichtet wurden.
Der kleine Zünder fällt auf den nassen Asphalt. Ich bin vor 30 Jahren gestorben.

Das Leben in den Händen halten

Er hielt sein Leben fest in seinen Händen. Jeder Mensch tat das, sagte er sich. Ob du dich morgens entscheidest in den Bus zu steigen, oder wie er, hinter dem Lenker zu sitzen. Und dann gab es noch jemanden. Hätte sie sich doch damals anders entschieden.

Kastanien rauschten an ihm vorbei, sein Blick wechselte zwischen der Tachonadel und der alten Straße. Sein Blick wachsam, als sie die Ortschaft erreichten. Sie? Das war seine quietschgrüne Kawasaki Ninja und er.

Wenn du Motorrad fährst, erlernst du eine Reihe neuer Fähigkeiten. Die Fähigkeit der Vorahnung, des Gefühls „Hier stimmt was nicht“ und die Fähigkeit, die Zeit zu verlangsamen, wenn etwas deiner Kontrolle entgleitet. Und so war es auch hier, als der rostrote alte Volvo aus der Ausfahrt fuhr.

Wenn du Motorrad fährst, gibt es ein paar unausgesprochene Regeln. Eine Regel war, Blickkontakt aufzubauen. Bremsbereit sein, bis der Autofahrer den Blick erwidert. Selbst wenn du im Recht warst, wäre es Wahnsinn, sich darauf zu verlassen. Aber Blickkontakt war wie ein Handel, ein Deal. Baute der Autofahrer Blickkontakt mit dir auf, verband dich und dein Gegenüber plötzlich etwas im Geiste und Vorfahrt wurde grundsätzlich gewährt.

Die alte Dame mit den weißen Locken baute auch damals Blickkontakt auf. Er war sich so sicher gewesen. Sie hatte ihn angesehen, mehrere Sekunden lang und trotzdem, trotzdem überfuhr sie ungebremst die Straße. Ihr kastenförmiger Volvo stand plötzlich vor ihm wie eine Wand aus roten Ziegeln.

Er war ein guter Motorradfahrer. Er hielt sein Leben fest in seinen Händen. Ein Zucken zur linken Seite ging durch die den Lenker. Ein Impuls zur Flucht, zum Leben.

Das Hinterrad rutschte durch und sein Motorrad stellte sich quer. Er wird das schrille Quietschen der Gummis niemals vergessen. Rutschend sah er sich auf den Volvo zufliegen. Sein Bein musste er retten, bevor es zwischen Volvo und seiner Maschine zerschmettert wurde. Er lupfte sein Bein hoch, galant stieß er die Maschine von sich. Sie krachte mit voller Wucht gegen die Seite des Volvos, während er über das Dach segelte.

Hätte sie sich doch damals anders entschieden.

Sein Motorrad hatte die Scheiben des Volvos zertrümmert und die Fahrerin mit Scherben übersäht. Die alte Dame war noch am Unfallort an einem Herzinfarkt verschieden. Sie sei auf dem Weg zum Augenarzt gewesen, hatte man ihm später erzählt. „Im Alter machen es die Augen nicht mehr so, wie früher“, soll sie noch vor Abreise zu ihrem Mann gesagt haben.

Er hielt sein Leben fest in seinen Händen. Das war heute nicht anders als damals. Heute war sein Motorrad größer, das Licht der Frontscheinwerfer intensiver. Aber seine Augen, die tränten manchmal.