Seitenwind Woche 5: Verlassene Orte

So dicht am Ort des Unheils

Da war es, das kleine Haus mit dem riesigen Garten im wohl noch ländlichsten Vorort von Neustadt. Fast hätte Melina ihr Elternhaus nicht mehr gefunden, so sehr hatte sich die ganze Gegend verändert. Statt der gemütlichen kleinen Häuser säumten jetzt identisch aussehende Mehrfamilienhäuser die engen Straßen. Das satte Grün der Vorgärten war verschwunden, der Asphalt ging nahtlos in den grauen Beton der Wohnmaschinen über.
Der hölzerne Zaun, der das Grundstück ihres Elternhauses mannshoch umgab, war noch verwitterter, als Melina es in Erinnerung hatte. Die Zeit hinterließ eben überall ihre Spuren, nicht nur in den Gesichtern der Menschen.
Sie zog die kleine Plastiktüte mit dem Schlüsselbund aus der Jackentasche, entfernte die Folie und schob einen der beiden an einem Metallring baumelnden Schlüssel in das Schloss am Hoftor.
Entschlossen betrat Melina das Grundstück und zog das Hoftor hinter sich ins Schloss.

Das kleine Haus lag in der Mittagssonne und verbreitete noch immer die schützende Geborgenheit, die sie von Kindesbeinen an gefühlt hatte. Das Haus war fast genauso alt wie sie. Ihre Eltern hatten es selbst gebaut, so wie es in den 1960er Jahren üblich war. Ein anderthalbstöckiger Bau mit kleinen Fenstern und Holzfensterläden, im Innern ein enges Treppenhaus. Unten gab es ein Wohnzimmer und eine große Küche, oben zwei Schlafzimmer und ein einfaches Bad mit schrägen Wänden. Nur die Heizung hatten ihre Eltern irgendwann erneuert lassen und im Laufe der Jahre hatten die Wände hin und wieder einen neuen Anstrich bekommen. Der Rest war noch genau so, wie ihre Eltern es einst angelegt hatten.

Melina schloss die Haustür auf und betrat den Flur. Sie stellte ihre Reisetasche ab und blickte ins Wohnzimmer. Alles sah so aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Nur die Möbel, die ebenfalls noch aus den 60er und 70er Jahren stammten, waren mit weißen Bettlaken abgedeckt und muteten so geradezu gespenstisch an. Sie öffnete die Fensterläden und sogleich fing der Raum an zu leben. Winzige Staubpartikel tanzten durch die Luft. Melina zog das Laken von der Couch und setzte sich. Sanft streichelte sie den verblichenen Blümchenstoff. Hier hatte man ihre Eltern gefunden, Hand in Hand waren sie in den Tod gegangen. Sie hatten sich vergiftet, ein Jahr nachdem Melina verurteilt worden war. Was damals wohl in ihnen vorgegangen sein mag?

Melina tat es leid, dass sie ihren Eltern das hatte zumuten müssen. Und es tat ihr leid, dass sie daran zerbrochen waren. Aber sie empfand weder Scham noch Trauer. Sie empfand gar nichts. Nicht einmal hier, so dicht am Ort des Unheils.

Nasaja

Willensstark hatten wir dem Abwehrzauber getrotzt, der uns mit Sturm, Regen und Hagel davon abhalten wollte, den sprechenden Baum zu erreichen. Er stand auf einem weiten Platz vor dem großen Stadttor zu Nasaja. Wir mussten das Rätsel des sprechenden Baumes lösen, um das Tor zu öffnen.
Nach all den Jahrhunderten, in denen der Abwehrzauber jegliches Entdecken abgewendet hatte, konnte man noch immer erkennen, wie einst die Kutschen um den Baum herum zum Tor gefahren waren. Die einen hinein, die anderen hinaus. Sicherlich hatte es eine vorgegebene Richtung gegeben. Rechts um die sprechende Eiche herum fuhr man hinein in die Stadt. Links um den Baum herum kam man heraus und steuerte die große, weite Welt an.
Viel war heute nicht mehr zu sehen. Die Fahrrinnen und Wege waren verschwunden. Seltsamerweise waren sie nicht überwuchert und gänzlich von der Natur verschlungen worden, aber immerhin mit dichtem Gras überzogen wie ein Haarflaum. Nur in meiner Phantasie konnte ich die Karren in die belebte Stadt fahren sehen.
Nasaja, die Stadt, die unsere Hoffnung sein sollte, existierte jedoch nicht mehr. Der sprechende Baum hatte uns für würdig erachtet, die heilige Stadt zu betreten, das Tor schwang auf und hoffnungsfroh wagten wir die ersten verstohlenen Blicke.
Gut war, dass das magische Abwehrwetter nicht hinter dem Tor tobte. Als hätte es der Zauber nicht geschafft, ein anderes Schutzschild zu überwinden. Nach dem Tor folgte eine breite Straße, die gesäumt war mit Statuen jeder Spezies, die man sich vorstellen konnte. Von den kleinen Gnomen über die Elben und Hexen bis hin zu den Riesen. Jede Spezies war ehrwürdig vertreten. Am Sockel jeder Statue prangte das entsprechende Siegel. Die Krone mit Tropfen wie Diamanten aufgesetzt gehörte eindeutig zu meinen elbischen Freunden in der Fallenden Stadt des Wassers. Ein Hufeisen mit Efeu umrankt ehrte die Zentauren, die schon seit mindestens zweihundert Jahren ausgestorben waren.
Mir wurde das Herz schwer, als ich daran dachte, dass es eine Zeit gab, da die Zentauren gemeinsam mit den Hexen, meinen Vorfahren, über diesen Weg gegangen waren, auf dem ich nun stand. Damals hatte niemand geahnt, was noch kommen würde. Jahrhunderte Folter, Knechtschaft und Tod.
Nach der langen Straße, die jede Spezies willkommen hieß, folgte nicht mehr viel. Ein nackter Berg ragte gen Himmel, davor stand eine große Halle, gestützt von Säulen. Mehr gab es nicht.
Laut der Abbildung im Buch sollte die Säulenhalle das unterste Zentrum einer einzigartigen Stadt sein. Um den Berg herum sollten sich Gassen und Häuser ziehen. Verbunden war alles mit breiten und schmalen Straßen, Brücken sogar. Verwinkelt und verwunschen. Und verwirrend für jene, die sich nicht auskannten.
Es ist nichts mehr da, dachte ich entsetzt. All die Erinnerungen waren fort. Die Stadt, die uns doch Hoffnung im Krieg bieten sollte, existierte einfach nicht mehr.
Ein eiskalter Schauer rollte von meinem Nacken über meinen ganzen Rücken. Ich hatte den Aufstand entfacht. Ich hatte versprochen, einen Ort zu finden, an dem die Kinder sicher wären. Ich hatte auf mein wertloses Leben geschworen, den Kampf nicht aufzugeben, solange noch ein Funke Leben in mir steckte. Ich hatte allen Hoffnung geschenkt, die nun vor meinem geistigen Auge zerbröselte wie der Sandstein, aus dem die Häuser hätten gebaut sein sollen. Es gab keinen Zufluchtsort mehr für uns. Wir waren dem Tod ebenso wehrlos ausgeliefert wie der Knechtschaft und dem Hunger.
Eine Träne lief über meine Wange und ich gestattete mir einen Augenblick der Schwäche in Träumereien. Einst waren Kinder durch die Straßen und Gassen gerannt. Der Bäcker stellte frische Brote zum Abkühlen auf die Fensterbank. Eine Frau fegte die Straße, während ihr Mann Blumenkübel bepflanzte. Auf der zweiten Hauptebene der Stadt soll ein Garten gewesen sein. Durch einen steinernen Torbogen war er deutlich vom Gewusel der Stadt abgetrennt und bot neben den Elfen des Waldes auch den Hexen einen Ort, um mit der Natur in Verbindung zu treten. Im Berg hinter der Stadt sollen einst die mächtigen Stollen der Zwerge gewesen sein, in denen sie ihre Behausungen in den Stein gehauen hatten. Auf dem Gipfel des Berges hatten sogar Drachen gewohnt.
Dies war das Abbild der Vergangenheit, auf dem ich die Zukunft aller hatte aufbauen wollen. Geblieben war nichts.
Durch meine tränennassen Augen sah ich einen Schleier der Vergangenheit aufblitzen. Ohne Menschen, doch mit den Häusern von Nasaja. Jedes Haus hatte seine eigene Grundform, alles schmiegte sich passgenau aneinander, die Dächer waren alle in verschiedenen Ziegeln gedeckt, auf einigen Fensterbrettern standen Blumenkästen, manche Holztüren waren angemalt worden und neben manchen Türen standen steinerne Bänke, auf denen alte Leute sitzen konnten und dem bunten Treiben beiwohnen, ohne selbst noch aktiv sein zu können.
Die Schleier lichteten sich und ich konnte mehr Details erkennen.
Die dritte Hauptebene war nicht mit Häusern aus hellem Sandstein bebaut worden, sondern mit Hütten aus Holz. Ebenso verschachtelt, doch dunkler und auf den ersten Blick instabiler. Das täuschte jedoch. Die Hütten waren im Inneren ebenso warm und abgedichtet wie die Häuser aus Stein. Selbst die Häuser, die in den Wipfeln hoher Bäume hingen. Es schaukelte so schön, wusste ich als Nachfahrin der Baumspringer. Neben den Waldelfen war meine Familie die Einzige, soweit ich wusste, die gern in luftigen Höhen vom Wind gewiegt wurde.
Mehr Häuser wurden sichtbar und materialisierten sich. Mit meiner Phantasie und dem gleichzeitigen Blick in die Vergangenheit und die Zukunft hatte ich offenbar auch das Leben zurückgebracht. Vielleicht hatte ich auch einen Zauber gebrochen, wer wusste es schon? Das Wissen über meine Kräfte war mir und allen armen Arbeitern dieser Welt seit jeher verweigert worden. Wissen ist Macht, hieß es. So konnten sie uns unterdrücken, uns alles nehmen und uns töten, ohne dass wir uns wirksam zu verteidigen gewusst hätten.
Doch jetzt, da ich den Aufstand angefangen hatte und auch Nasaja wiedererweckt hatte, war ich mir sicher, würde die Knechtschaft enden. Sobald mehr Leben in Nasaja einziehen würde, müsste auch die Bibliothek wieder auftauchen und unsere Wissenslücken füllen.

Ich hoffte es mit allem Herzblut!

Ich warte

Petra machte die Wohnungstür hinter sich zu und ging leise in das Wohnzimmer hinein. Alles war still. Alles stand reglos da. Sogar der Becher mit ihrem Lieblingstee. Auf der Kante noch etwas Lippenstift. Ihre Mutter hatte immer Lippenstift aufgetragen, wenn sie Besuch empfing.

Petra blieb stehen. Das Sofa mit seinem braunen Cord Überzug, der Sessel, eingedellt und Zeuge eines ganzen Lebens, der kleine runde Tisch mit dem Kreuzworträtselheft zu seiner Rechten. Es hilft gegen Demenz. Und ein täglicher Spaziergang auch.

Diffuses Licht drang durch die grauweißen Halbgardinen. An den Seiten hingen die sonnengelben Vorhänge, die ihre Mutter so sehr mochte. Gelb ist fröhlich, gelb ist happy, wie ihr junge Leute zu sagen pflegt. Und sie hatte dabei gelächelt. Im ganzen Gesicht.

Petra stand auf dem Terrakotta-farbigen Teppich, den sie bei Ikea gefunden hatten. Für Petra waren fünfzig Euro zu teuer gewesen, schließlich war die Mama nicht reich, aber es hatte Gisela nicht gejuckt. Petras Zwillinge hatten auch Omas Meinung vertreten und stundenlang auf dem gemütlichen Flokati mit Legosteinen gespielt. Es war Jahre her. Petra dachte mit einem wehmütigen Lächeln nach, wie oft sie damit Oma verärgert hatten. Vielleicht würde sie noch einen Stein finden. Wenn sie länger bliebe.

Aber der Teppich schluckte alle Geräusche. Das Fenster war zu. Und die Stille erdrückend. Der große Zeiger an der Wanduhr lief lautlos. Plötzlich roch es nach ihr. Nach Mama. In der stillen Kälte ihrer lang geliebten Wohnung. Petra schaute auf die beiseite gestellte Decke auf dem Sessel, die Pantoffeln, das Programmheft, die vielen Stiften. An der Wand entlang die Vitrine aus dunklem Holz mit dem Tee Service und den Tischüberwürfen. Die offene Küchentür, in dem sie noch gebacken hatte.

Petra schluckte schwer, auf einmal war es so laut in ihren Ohren, und ging zurück zur Haustür. An der Garderobe vorbei, etwas altgetragenes Parfüm, ein Hauch von ihr. Petra fand den Mut nicht mehr, länger zu bleiben, und drehte der Wohnung den Rücken zu. Sie war nur eingeschlafen, eine altbekannte Freundin, die sich auf Mamas Rückkehr freute.

In der gedämpften Stille eines sterbenden Nachmittags.

Die Villa

Mit einem Ächzen ging die Eingangstür auf, schwer wog die Türflügel aus braunem Holz, als ich sie aufschob. Die Löwenkopf-Klopfer aus grünlich oxidierter Bronze, klapperten jedes Mal, wenn einer der Flügeln kurz einrastete. Sofort schlug mir ein miefiger, feuchter Geruch entgegen, der mich an verschimmeltes Brot erinnerte. Meine Augen brauchten eine Weile, bis diese sich an das spärliche Licht in der Villa gewöhnten. Mein Blick glitt zuerst zum Fußboden, die Dielen waren verbeult und an manchen Stellen verzogen und gespalten. Dunkle Flecken verunstaltete das helle Holz. Der rote Samtteppich, der von den Stufen der Doppeltreppe bis zur Eingangstüre reichte, wirkte eher grau und zeigte Mottenfraß. Schwere Brokatvorhänge verdeckten die hohen Fenster und hinderten somit, das Licht der Sonne hineinzuscheinen. Die Bedienstete meinte, sie habe alles so gelassen, wie es vor dem Tod meiner Großtante war, doch konnte ich mir nicht vorstellen, das die arme Frau unter solchen Bedingungen gelebt hatte. Der modrig-süße Geruch wurde intensiver, als ich in die Eingangshalle eintrat. Unter meinen Schuhen knarrten die Holzdielen.
Mein Blick glitt zu den Wänden, die Tapete löste sich schon von dem Putz, schwarze Flecken unterbrach das Blumenmuster. Teile der Tapete waren von der Wand gerissen worden, wie Lumpen hingen die Streifen hinunter. Auf den Beistelltischen und der Garderobe lag eine dicke, graue Staubschicht, ich ekelte mich davor, meinen Mantel darauf abzustellen. Doch der kalten Schauder, der mir den Rücken runter lief, lies mich weiter den Mantel auf den Schultern tragen. Ich fragte mich, wieso sie ihr Vermögen nicht genutzt hatte, um das Gemäuer zu renovieren, doch schien sie viel zu geizig dafür zu sein. Wie eine Bettlerin lebte sie in einer halben Ruine, obwohl sie Millionen auf ihrem Konto hinterlassen hatte.
Graue Motten schreckten auf, wie kleine Staubfeen schwirrten sie durch die scheinbar dicke Luft, die ich bestimmt mit einem Messer hätte durchschneiden können. Keiner der Bedienstete hatte in den Jahren jemals gelüftet, so roch die Halle wie eine offene Gruft. Dann sah ich den dunklen Fleck, zwischen der Doppeltreppe, ein Fleck, welches das helle Holz weinrot färbte. Da wurde mir richtig bewusst, dass sie hier gestorben war, direkt vor meinen Füßen lag ihr Körper, bevor die Bestatter sie mitgenommen hatte. Auch einen Fleck Blut hatte sie mir hinterlassen. Sie starb allein im staubigen Haus, verlassen und vergessen. Hätte ich geahnt was mich hier erwartete, hätte ich das Haus sich selbst überlassen.

Gefangen

Ihr Kopf fühlte sich an, als ob ein Hammer gegen ihre Schädeldecke schmetterte.
Ihre Augen schmerzten von dem grellen Licht der Neonröhre, die provisorisch an zwei dünnen Drähten von der Decke hing und flackerte.
Ein muffiger Geruch, vermischt mit Eisen drang in ihre Nase.
Sie drückte ihre Hand auf den kalten Boden, der wie die nackten Wände um sie herum aus Beton waren, und versuchte aufzustehen.
Es war keine gute Idee, ein stechender Schmerz durchdrang ihren Körper vom Bauch abwärts.
Sie biss sich auf die Zähne, um den Schrei zu unterdrücken, der ihre Kehle hinauf kam.
Als sie an sich herabblickte, sah sie ein Nachthemd, es war durchtränkt mit Blut.
Sie hoffte, dass es nicht ihres war, aber das schien nicht infrage zu kommen.
Ihre Hände zitterten, während sie das Hemd langsam nach oben zog.
Eine frisch vernähte Wunde zierte ihren Bauch, oberhalb des linken Hüftknochens.
Mit einem Finger strich sie langsam hinüber und zuckte zusammen. Selbst bei dieser schwachen Berührung war der Schmerz kaum auszuhalten und sie ließ es fallen.
Panik kroch in ihr hoch, ihre Gedanken waren wie in einer Nebelwand gefangen, sie wusste nicht wo sie war, noch wie sie hier her kam.
Sie blinzelte gegen das Licht an und erkannte vor sich eine Tür.
Abgestützt an der Wand zog sie ihre nackten Füße hinter sich her.
Das Hämmern in ihrem Kopf wurde lauter und jeder Schritt schmerzte. Sie schwankte, ihre Beine gaben nach und sie fiel auf die Knie.
Dieser unerträgliche Schmerz machte sich wieder bemerkbar. Wie ein Schlag durchzog es jede einzelne Faser ihres Körpers und ließ sie beinahe das Bewusstsein verlieren.
Sie kniete gekrümmt mit verschränkten Armen vor dem Bauch an der Wand und versuchte, den Schmerz unter Kontrolle zu bekommen.
Ein Klappern ließ sie abrupt zur Seite blicken, die Tür öffnete sich.
Kurz dachte sie, dass ihre Gedanken ihr einen Streich spielen würden.
Doch dem war nicht so, sie erkannte sofort, wer vor ihr stand.

Besuch aus dem Jenseits

Es war am frühen Abend, als ich mein Auto auf dem Besucherparkplatz der Burgruine parkte. Die letzten Besucher machten sich bereits auf den Rückweg. Ich aber wollte die letzten Sonnenstunden dieses heißen Augusttages dazu nutzen, die besondere Atmosphäre aufzusaugen und direkt auf Papier zu konservieren. Dafür war dieser Schauplatz meines Roman-Projekts perfekt. Also schnappte ich mir meinen Rucksack mit dem Laptop von der Rückbank und machte mich auf den Weg.

Ich überquerte die Brücke, die über den Wassergraben führte, der aus dem angrenzenden See gespeist wurde und durchschritt das Burgtor, in einem der drei hufeisenförmigen Türme, die den Grundriss der Anlage bildeten. Der rote Backsteinbau aus dem 14. Jahrhundert schmiegte sich an ein idyllisches Gewässer, das in früheren Zeiten die Bewohner vor feindlichen Angriffen schützen sollte. Mein Ziel war in einem der beiden Türme, die am gegenüberliegenden Ende des Burghofs lagen. In der oberen Etage befand sich eine Art Saal. Dort, in einer Nische, war eine steinerne Sitzbank mit einem wundervollen Blick auf den See eingelassen, die zum Verweilen einlud.

Etwas außer Atem ließ ich mich nieder und baute mein Equipment auf. Das eiskalte Getränk aus der mitgebrachten Thermosflasche erweckte meine Lebensgeister und ich war voller Tatendrang. Mein Plan ging auf. Die Sätze bildeten sich in der mittelalterlichen Kulisse fast von alleine. So merkte ich kaum, wie der rote Feuerball langsam hinter den Baumwipfeln des nahegelegenen Waldes verschwand.

Jeans Augenlider flimmerten. Auf seiner wächsernen, kalkweißen Haut hatte sich ein dünner Schweißfilm gebildet. Er fasste noch einmal nach der Hand von Mathijs, der die ganze Nacht am Bett des Ritters gewacht hatte. Mit einem Seufzen schloss er für immer die Augen. Mathijs wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. „Jean, ich schwöre dir, dass ich deine Mission vollenden werde!“

„So, speichern und Schluss für heute.“ Erschöpft klappte ich den Laptop zu und lehnte mich an den mittlerweile kühlen Stein der Burgmauer.

Als ich die Augen wieder öffnete, erschrak ich. Ich hatte doch nur für einen Augenblick die Lider geschlossen. Doch nun war es stockdunkel. Hektisch packte ich meine Siebensachen im schummrigen Licht des Vollmonds, der in dieser Nacht glücklicherweise an einem unbedeckten Himmel stand. Ein kalter Schauer überkam mich und obwohl es den ganzen Tag über schwülwarm war, stellten sich die Haare an meinem Arm auf. Mir wurde kalt. Und just in diesem Moment bildete sich im Raum eine merkwürdige Dunstwolke. Ich war einfach übermüdet und rieb mir die Augen. Doch der Nebel, den ich zunächst als optische Täuschung einordnete, verschwand nicht. Vielmehr schälte sich eine Gestalt aus dem Zwielicht.

Verdattert begann ich mit meinen rudimentären Niederländischkünsten die Person anzusprechen, die ich in diesem Augenblick für einen Nachtwächter hielt. „Goeden avond, mijnheer.“ Die Gestalt antwortete nicht. „Es tut mir leid. Ich glaube ich bin eingeschlafen.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln zuckte ich mit den Schultern. Immer noch keine Antwort. Stattdessen kam der Mann auf mich zu und ich konnte ihn genauer erkennen. Ein Wappenrock, der mit einem Schwertgurt über Kettenzeug zusammengehalten wurde. Die Beine steckten in Lederstiefeln. Rotes, schulterlanges Haar umrahmte ein markantes Gesicht. Der ebenfalls rote Bart war gepflegt und kurz gestutzt. Auf eine merkwürdige Art kam der Eindringling mir bekannt vor. Er kam noch näher. „Ah, ich wusste gar nicht, dass hier auch Reanactment-Veranstaltungen stattfinden.“ Der Ritter zog schweigend das Schwert aus der Scheide und setzte mir die Spitze an die Kehle. „Wow, wow. Ich bin doch schon auf dem Heimweg. Das ist ein Missverständnis.“ Ich hob abwehrend die Hände.

„Du Wicht hast mich umgebracht!“

Viva la revolución

Die Morgensonne fiel durchs Fenster auf den großen Tisch, auf dem wild zerstreut die Spuren eines Abends zu finden waren. Überall lagen Kleidungsstücke, nachlässig verteilt. Das alte ausgesessene Sofa, dessen hervorlugende Sprungfedern unter einer verfilzten braunen Wolldecke verschwunden waren, wurde von Che Guevara bewacht. Der Held schaute - vor blutrotem Hintergrund - vielsagend in die Ferne. Er schien der Fels in der Brandung, unberührt vom Chaos der großen WG-Küche. Volle Aschenbecher, Tabak- und andere Krümel überall, auf Tisch, Arbeitsplatten und Boden. Ein Hund lag tief schlafend zwischen stehengebliebenen Schuhen. Wie kam er hierhin?
Die Stühle sahen aus, als müssten die Sitzflächen noch die Körperwärme ihrer Besucher abgeben. Dreckiges Geschirr stand auf jeder freien Fläche, die Reste des Essens auf den Tellern, gespickt mit ausgedrückten Kippen, sahen mehr als unappetitlich aus. Der Perlenvorhang in der Küchentür bewegte sich im Luftzug. Hätte sich nicht überall feiner, schwarzer Staub niedergelassen, würde man vermutlich nicht überrascht sein, dass jemand den Wasserkessel in Gang setzt, sich aufs Sofa fallen läßt, eine Zigarette dreht, einen tiefen zufriedenen Seufzer ausstößt mit ein Blick zu Che - "Viva la Revolución!”

Gefährlicher Ort

„Die Spuren führen in das verlassene Gebäude“, meinte Thomas. „Es ist gut versteckt, man sieht es kaum.“
„Und ziemlich baufällig. Wirkt, als ob dort seit Jahren keiner mehr war.“
„Das wissen wir erst, wenn wir drin waren, die Spuren sind jedenfalls frisch.“
„Es ist gefährlich“, meinte Lea. „Aber uns läuft die Zeit weg!“

In der Deckung des Unterholzes schlichen sie sich näher an das Gemäuer. Die alte Holztür hing schief in der Angel und ließ sich nur mit Gewalt öffnen. Vor ihnen lag ein dunkler Gang mit festgetretenem Lehmboden, elektrisches Licht gab es nicht. Thomas schaltete das Handylicht an und lief weiter. Die Fenster der Räume waren mit Brettern vernagelt, überall war es dunkel. Lea stand dicht hinter ihm und tippte auf ihr Handy, bis ihr Handy auch endlich Licht gab.

„Lass uns schnell das Haus absuchen. Ich denke, dass sie uns dicht auf den Fersen sind.“ Die Zeit arbeitete gegen sie. Beide strahlten die Ecken aus und durchsuchten systematisch das Haus. Die Luft roch muffig und abgestanden. Die Möbel standen noch auf ihrem alten Platz, einige waren jedoch umgeworfen. War schon jemand vor ihnen hier gewesen?
„In dem Regal liegt eine Waffe!“, rief Lea.
Thomas rannte zu ihr. „Also war er hier. Lass uns schnell weitersuchen.“
So schnell, wie es möglich war, die anderen Räume gründlich zu durchsuchen, ohne etwas zu übersehen, gingen sie von Raum zu Raum.
„Hier ist eine Tasche!“, Lea holte eine prallgefüllte Umhängetasche aus einem modrigen Schrank und griff hinein. Sie hielt ein Bündel Geldscheine in das Licht des Handys.
„Das Geld vom Banküberfall“, erwiderte Thomas. „Hier hat er es versteckt.“
Im Hintergrund waren Polizeisirenen zu hören. „Sie kommen. Nimm das Geld und lass uns schnell verschwinden.“

Die Höhle

Die Nacht drängt durch das kleine Fenster über dem Schreibtisch in das dunkle Zimmer. Zeitungen liegen unordentlich aufeinander gestapelt auf dem Boden. Es muffelt nach Schweiß und Tränen. Der Teppich in der Zimmermitte, ein Perser, hat die besten Tage schon hinter sich. Staub entlädt sich in der Luft und verteilt sich beim fallen auf dem Boden, während man mit Schuhen darüber läuft. Ein Regal ist vollgestopft mit zerfledderten Büchern und steht schief an der Wand. Gehalten wird es von einer bewundernswert einfallsreichen Konstruktion aus einem Besen und einem Eimer. Über dem Regal und ringsrum hängen Karten. Sie sind vergilbt und Wellen sich, die Eselsohren haben sich längst über die kleinen abgebrochenen oder bereits abgefallenen Reißnägel gerollt. In eine Ecke des Zimmers gestopft sind Sportutensilien, Gewichte und Matten. Abgenutzt und mit einer grauen Staubschicht belegt. Als wäre bereits geraume Zeit mit Ihnen lediglich noch in Gedanken trainiert worden. In der gegenüberliegenden Ecke steht ein vollgestopfter Wäschekorb aus Stoff mit einer großen Laufmasche im zwischen Metallstäben gespanntem Netz. Socken und ein weißes Shirt mit ausgeleierten Ärmeln hängen heraus. Auf dem Schreibtisch kann man, wenn man genau hinschaut, ein paar kleine Bilder mit Bilderrahmen entdecken. Zwischen Büchern und geöffneten Briefen wirken sie wie zufällig versteckt. Ein Schatz den es zu heben gilt. Lachende und fröhliche Menschen sind darauf zusehen. Menschen die sich umarmen und posieren. Den Tag genießen in einer schönen und ordentlichen Natur. Bäume, Sträucher alles ist an seinem Platz! Ganz anders wirkt das Zimmer, wenn man den Blick schweifen lässt. Die Dunkelheit verschluckt die Details, die sich vorm Tageslicht verbergen. Schleifspuren unter dem Stuhl am Schreibtisch etwa. Schmutz- und Fettflecken auf der Tapete. Eine Wildnis im Alltag. Doch nun wird bald wieder Ordnung einkehren! Das dachten alle, bis die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster glitten und auf den Fußboden trafen…

Als ich das Zimmer betrat, überkam mich ein Gefühl der Vertrautheit. Alles im Raum war wie in einer letzten Momentaufnahme meines Daseins eingefroren. Als hätte ich mich nie von dem Raum verabschiedet.
Die vereisten Scheiben ließen von der Morgensonne nur kaltes, bläuliches Licht hindurchkommen. Ich suchte einen Lichtschalter aber fand keinen.
Überall waren Bücher verteilt. Auf den dunklen Schränken, in den Vitrinen, auf der Couch und auf dem Boden. Über dem Kamin hing ein großes Bild auf dem ein Mann mit einem Buch dargestellt war.
Auf dem Schreibtisch stapelten sich Fachzeitschriften meterhoch. Daneben lag eine alte Zeitung. Auf der Titelseite stand: »Grüne Villa brennt lichterloh, Besitzer verschollen. Wertvolles Gemälde unbeschädigt.«
Auf dem Stuhl lag ein altes Buch, das aussah wie eine alte Bibel. Die Seiten waren vergilbt und abgegriffen. Dieses Buch musste mich am meisten beschäftigt haben. Ich schlug es auf aber ich konnte den Text nicht lesen.
Ich entzündete ein Feuer im Kamin und setzte mich mit dem Buch in den alten Ohrensessel und sah lange in die Flammen. Ein Knacken hinter mir holte mich zurück. Ich fuhr herum, erblickte aber nur einen großen Spiegel an der Wand. Ich stand auf und ging langsam auf den Spiegel zu. Er hatte einen Sprung bekommen. Im Spiegelbild sah ich einen Mann mit einem Buch vor dem Kaminfeuer. Es schien, als stünde der Mann mit dem Buch in Flammen.

Das verlassene Haus

Als Rentner habe ich mir ein außergewöhnliches Hobby zugelegt. Ich begebe mich an Orten, wo es spukt. Zumeist durchforste ich die Soziale Medien nach themenspezifische Geistersuche. In meiner Samtgemeinde spukt es auf einem vergessenen Friedhof. Das fand ich interessant. Aber dann fiel mir ein Bericht vor die Augen, wo ein verlassenes Haus an einer stark frequentierten Kreisstraße sei. Die Bewohner waren spurlos verschwunden. Was mir den Anlass gabt, diesen Ort aus zu wählen.

Die Beschädigungen am Gebäude, obwohl es seit zirka zehn Jahren leer steht, waren der Verwitterung geschuldet. Normalerweise sind bei so einem Haus die Scheiben eingeschmissen oder etliche Sprayer hätten ihre Graffiti hinterlassen.

Ich schwang mich auf meine Maschine und ab ging der Peter.

Es war stark bedeckt, als ich meinen Shopper vor dem Haus anhielt. Das Blubbern des 1200cc Evo ließ, im Strahl des Scheinwerfers, die Schatten des verwilderten Gewächses an der Häuserfront tanzen.

Ich saß noch eine Weile im Sattel, ließ mich durchrütteln und rauchte. Ein sanftes Kribbeln wanderte die Wirbelsäule hinauf und meine Nackenhaare sträubten sich. Ein untrügliches Zeichen, dass ich hier richtig war.

Das Haus bestand aus zwei Gebäuden. Das Rechte war sicher das Wohnhaus, es hatte eine zweite Etage, wirkte aber durch das tiefherabgezogene Dach kleiner, als das im rechten Winkel anschließende Haus. Es waren zwei Fenster in der Schleppgaube, die auf mich herabblickten.

Zunächst durchschritt ich das hölzerne Rosentor zum Eingang. Die Tür im Landhausstil weiß, mit einem eloxierten Türknauf aus Messing. Im oberen Drittel war, unter den Wiener Sprossen, das Glas satiniert.

Auf beiden Seiten hatte es große Fenster, aber wegen des Gestrüpps konnte ich nicht dorthin, um durch sie ins Haus sehen.

Ich beschloss links vorbei, am Nebengebäude einmal um das Ganze zu schreiten. Dort war die Fassade schmutzig und es sah heruntergekommen aus. Ein Schaufenster und ein Eingang aus Glas sagten mir, dass hier ein Geschäft betrieben worden war. Doch länger, dann ungenutzt dem Zahn der Zeit ausgesetzt gewesen sei.

Das Kopfsteinpflaster der Einfahrt hatte Furchen und war verunkrautet. Eine rostige Treppe führte hoch zum Dachboden, welcher von einem niedrigen Holzverschlag verschlossen war. Neben dem fensterartigen Glasbaustein gab es eine Metalltür. Sie war verschlossen.

Ich ging weiter und betrat eine ungepflegte Wiese, um einem riesigen Lorbeerbusch herum. Die Rückseite des Nebengebäudes hatte gleichfalls Glasbausteinfenster. Das verwahrloste Grundstück wurde durch eine gekalkte Mauer begrenzt, die auch bessere Zeiten gesehen hatte. Davor ein Wald aus Tannen, die mindestens fünfzehn Meter hochstanden. Nur unterbrochen von einem Gastank. Ich kam auf eine Art Terrasse und das Haupthaus hatte am Ende wieder die beliebten Glasbausteine der sechziger Jahre. Aber es gab auch zwei Fenster. Das kleinere der beiden sicher zum Bad und WC. Ich schaute durch das größere und erahnte ein Esszimmer in dunklem Holz. Als ich einen schuppenartigen Überbau durchschritt, der beide Häuser verband, stand ich auf den Stufen vor einem Nebeneingang zum Hauptgebäude. Es war verschlossen. Aber das primitive Schloss getraute ich mir zu entriegeln.

Mein Dittrich öffnete mir den Zugang und ich trat ein. Tastete nach einem Lichtschalter, es klickte und blieb dunkel. Also Taschenlampe hervorgezogen und es war die Küche. Abgesehen von den Spinnenweben, die meine Exkursion begleitete, sahen die Schränke, Spüle und das Ceranfeld mit der Dunstabzugshaube edel aus. Ich trat auf helle Holzdielen vorbei am Küchenanbau mit Backofen auf halber Höhe und dem Kühlschrank ins Esszimmer.

Die dunklen Möbel im Kolonialstil riss der Lichtfinger aus seinem Dornröschenschlaf. Man sollte meinen, dass Polizei und Offizielle, oder andere Personen wenigstens den Tisch abgeräumt hätten. Aber ein Kaffeegedeck für Zwei samt Kuchen, na ja, dass was einmal es gewesen sein mochte, waren noch an Ort und Stelle. Ich spürte eine Atmosphäre der Verlassenheit beinahe körperlich. Eine Gänsehaut kroch mir den Körper empor.

Die nächste Tür führte mich in dem L-förmigen Flur. Linkerhand war eine Nische. Dort stand ein hoher Gefrierschrank. Plötzlich bemerkte ich eine Bewegung, erschrocken richtete ich den Lichtstrahl in die Richtung, und war geblendet. Ich sah die Gestalt vis-à-vis, als ich die Taschenlampe zu Boden richtete. Mein Gott, was hatte ich einen Schrecken bekommen. Es war ein mannshoher Spiegel, und die Gestalt war ich.

Eine Tür neben dem Gefrierschrank führte sicherlich in den Keller. Darüber eine Treppe in die obere Etage. Der längere Teil des Flurs endete an der Eingangstür. Ich drehte mich und sah zwei weitere Türen. Eine musste ins Bad und WC gehen, die andere zum Wohnzimmer, das ich betrat. Hier mussten ältere Menschen gelebt haben, mit jungenhaften Geschmack für Einrichtung. Ich sah einen großen Flachbildschirm auf einem roten TV-Schrank, begleitet von gewachsten Schränken beiderseits. Vor dem roten Ledersofa stand der passende Holztisch. Verwelkte Blumen darauf. Ebenso auf Schrank und Fensterbank. Darüber ein sechsarmiger Kronleuchter, das Gegenstück stand auf einen rotem Beistelltischen. Es gab, eine weitere, Strukturellen verglaste Tür.

Dort im Zimmer war die andere Seite von den Glasbausteinen. Des Weiteren ein brauner Kleiderschrank links und rechts, wo die vordere Terrasse lag. Alles Staubige und voll Spinnennetze. Wieder auf dem Flur bewegte ich mich zur Treppe, und schon wieder eine Tür. Das war wohl das Haus der tausend Türen. Ich öffnete sie und sah hinein. Schlafzimmer, das hab ich hier unter nicht erwartet. Die Stufen knarrten. Oben angekommen. Türen, was sonst? Vier an der Zahl. Ich öffnete die direkt vor mir, Kartons Gerümpel. Die Zweite führte zum Raum mit der Gaube. Hier war Renovierung nötig. Hinter der Dritten fand ich ein teilsrenoviertes Zimmer vor. Ich wendete mich der letzten Tür zu. Ein vollgestopftes Arbeitszimmer empfang mich. Bücher in Regalen an jeder Wand. Ein mächtiger Schreibtisch mit Computer und Zeitschriften, Hefte und Bücher. Was für Leute haben hier gelebt?

Ich folgte mit dem Finger die Bucheinbände: Clive Baker „Bücher des Blutes“, H.P. Lovecraft, Steven King, Anne Rice usw. Literatur von Hexen, Dämonen und Teufeln. Das hatte ich nicht erwartet. Nirgends sah ich etwas Satanisches. Keine Pentagramme oder schwarze Kerzen. Ketzerisch Zeichen. Derjenige, der in dem Raum sich beschäftigt haben mag, hatte ein großes Interesse an dunkler Literatur.

Als ich wieder unten angekommen bin, hörte ich ein leises Rauschen. Lief irgendwo Wasser? Eine kaputte Leitung? Ich ging darauf zu. Die Tür zum Keller stand auf. Mir wurde mulmig. „Wer da?“, sagte ich, und erschrak vor meiner eigenen Stimme. Keine Antwort.

Ich blieb stehen und hörte mein Herz laut Pochen. Ich leuchtete um die Ecke hinein in den Keller. Nur eine alte Treppe nach unten, und schmutzige weißgetünchte Wände. Der Boden festgestampfter Lehm. Spinnenweben. Ich schloss die Tür und sah eine Bewegung. Ja, der Spiegel. Doch es war irgendwie anders. Ich näherte mich der Spiegelfläche, betrachtete mich darin. Da sah ich den Schatten, der aus mir heraus zu dampfen schien. Ungeschickt trat ich vorwärts und fiel in das Glas. Das Letzte was ich merkte - da war kein Widerstand.

Ich stellte den Motor meiner Shovelhead aus. Stieg von der Harley und blickte in den bedeckten Himmel. Es wird Regen geben. Trat in die verwilderte Einfahrt, um einmal um das Gebäude zu laufen …

Eigene Spuren, längst verloschen

Ein schwarzgähnendes, gruseliges Loch klafft in Deiner Brust. So kann es also aussehen, wenn das Herz herausgerissen wird…
Deine schönen Augen rabiat ausgestanzt – blind gemacht.

Was Dich ausmachte, wurde grobschlächtig rausgebrochen, niedergemäht und weggeworfen. Nichts ist übrig von Deinem Charme. Alles ist grausam verzerrt und entstellt.
Ich kann nicht mehr, schwanke, plumpse auf einen der zahllosen Baumstümpfe - umgemachte schöne alte Eichen - und heule mir die Seele aus dem Leib; alles in mir brennt …

Über 400 Jahre hattest Du damals bereits auf dem Buckel. Robust überdauert in einer grandiosen Landschaft. Alleingestellt, in sich abgeschlossen wie in einer magischen Glaskugel, auf dieser kleinen Waldwiese.
Ein viertel Jahrhundert ist es mittlerweile her, dass wir für eine Handvoll Jahre bei Dir unterschlüpften und Dich dann so unglücklich wieder verlassen mussten.

Ich reiße mich zusammen. Damals hieß das rustikale Grubenhaus uns und unsere Besucher herzlich willkommen. Nun schlüpfe ich wehmütig durch diese monströse Öffnung, die vom Ausschlagen der uralten, massiven Holzzarge mitsamt der schweren Kassettentür und dem antiken Eisenriegel übrig geblieben ist.
Wie ein verlorengegangenes Puzzleteil, das gerade seinen angestammten Platz finden will, um die letzte Lücke zu füllen, dringe ich ein. Erwarte etwas. Was Diffuses. Ersehne mir ein altes Echo, dessen Rufen endlich aufgefangen werden will. Aber hier erwacht nichts mehr. Hier ist es wie in einer toten, leeren Hülle.
Schnell gewöhne ich mich an das staubig glitzernde Schummerlicht, das durch die Löcher der derbe rausgewuchteten alten Sprossenfenster einströmt.

Der knifflige, mühsam von uns aufgebrachte, heitergelbe Lehmputz ist vergraut und großflächig abgeschlagen. Am Ende des Flures ist unsere sorgfältig selbst gebaute, aparte und an die Wand gezimmerte Garderobe aus mühevoll zusammengesammelten alten Weinkisten nicht mehr da. Lediglich ein unförmiger, fieser Nagel lugt aus den Putzresten heraus. Daran hängt ein alter Parka, der aussieht, als plage ihn die Staupe.

Unsere liebevolle Küche mit dem sentimentalen Küchenbuffet, dem weiß schimmernden Gasofen mit den Bakelitschaltern, der überbreiten Eckbank mit den fetten Kissen, die jedem sofort zuraunte: „Komm zu mir…“ – alles ist weg. Selbst der schöne, breite Dielenfußboden, der sicher noch ein weiteres Jahrhundert überstanden hätte, ist rausgerissen. Überall im Erdgeschoss sind unsere warmen Böden fort. Nackte Erde glänzt, als wäre sie feucht.
Weiter hinten, im ehemals integrierten Stall, ist der wertvolle alte Brunnen verschwunden. Zugeschüttet. Auf den krümeligen Erdschollen wurden lediglich ein paar rohe Planken zum Laufen verteilt.
In dem von uns ausgebauten Badezimmer strotz ein überdimensionales Loch im Boden, so tief und dunkel, als hätte jemand versucht, dort das Raum-Zeit-Kontinuum zu versenken. Sicher, die Fliesen wären heute nicht mehr die modernsten, vor allem, da wir keine sogenannte „zeitlose“ Keramik ausgewählt hatten. Zu unpersönlich und kalt. Unwillkürlich muss ich ganz hässlich lachen. Jetzt sind die Wände bis aufs Mauerwerk entkernt. So wüst, dass ein Gefühl in mich hineinkriecht, als müssten die Steine jeden Moment anfangen zu bluten, weil ihnen gar nichts anderes übrig bleibt.

Die alte bäuerliche Treppe nach oben ist unsinnigerweise rausgerissen, ohne jeglichen provisorischen Zugang. Es gibt es keine Möglichkeit zu unserem ehemaligen geborgenen kleinen Nest hoch zu gelangen. Die kleine Schlafstube, die durch die hellen Kiefer Paneelen eigentlich immer eher ein wenig wie eine gemütliche Schweden-Sauna aussah. Und dem großen, luftigen Wohnzimmer mit der riesigen Fensterfront und dem Holzbalkon. Mit seinem spektakulären Ausblick auf die kleine Lichtung… Unser Ort des Friedens. Unser altes, längst vergangenes Glück. Ich kann nur erkennen, dass die Öfen auf einen Haufen geworfen wurden, die Wohnzimmerwand, die mit einem Hauch lindgrün eingefärbten Lehmputz fast samtig wirkte, eingeschlagen wurde. Ich muss hier raus…
Draußen fällt mir erst jetzt auf, dass der kleine Balkon ebenfalls abgebrochen wurde, nur der Verlauf der spröden Mauersteine dahinter lassen seine alten Linien noch erahnen.

Nirgends gibt es Schubkarren oder liegt Werkzeug. Auch keine Paletten, Verpackungsmaterial, Bierkästen oder Müll. Hier hat schon lange niemand mehr gearbeitet. Gott, was ist nur passiert? Klar, du gehörst zu anderen und jeder kann mit seinem Eigentum machen, was er will - hier wurde nur erst zusammengerissen und dann aufgegeben… Dir Perle in diesem seltenen Schatz der Natur, Dir ist deine einzigartige Schönheit genommen; und selbst die kleinsten unserer eigenen Spuren sind für immer und ewig entfernt…

Hausverkauf

„Und wenn Sie das Überholen beenden wollen fahren Sie einfach wieder nach rechts rüber. Zügig und rasch. Nicht zu knapp, halten Sie ein wenig Abstand zu dem Schleicher. Und hören Sie auf, den Blinker rechts zu setzen. Was soll das?“

Ich bemerkte, wie ich ungläubig meinen Kopf schüttelte. Unglaublich. Hat man früher wirklich so gedacht? Anscheinend schon. Denn immerhin halte ich ein vergilbtes Exemplar des Magazins „Fahrprüfung in Deutschland“ aus dem Jahr 1954 in den Händen.

Mein rechtes Knie beginnt sich bemerkbar zu machen.

Ich setze mich auf die Seite, stütze mich mit der linken Hand ab, merke aber schnell, dass ich dann in der alten Vitrine nicht mehr mit beiden Händen stöbern kann.

Also wechsele ich in eine Art Schneidersitz, was auch nicht gerade bequem ist.

Mehrere Romane der Reihe „Der Landser“ fallen mir in die Hände.

„Gebirgsjäger im Kaukasus“. „Und morgen gibt es Hitlerwetter“. „Panzer vorwärts! Aber mit Verstand!“

Vergilbt, dir Ränder zerbröselt, wie von Mäusen angefressen.

Ich merke, wie ich tiefer und tiefer in eine andere Welt abtauche, von der ich nichts verstehe. Nichts verstehen will!

Es war keine Abscheu, aber deutlich eine Art Widerstreben das ich empfand, als ich „Den Bunker“ betrat - einen als Hobbyraum und Werkstatt umgebauten Raum in der alten Scheune, welcher früher als Stall diente. Ich nehme einfach mal an, dass es ein Stall war, weil man am Rand der Wände steinerne Tröge erkennen konnte. Aber egal.

Muffig, alt, feucht - nichts, was mich anspricht. Und doch hänge ich hier und stöbere in den alten Sachen rum. Es ist ja nicht so, dass ich diesen Raum nicht kenne, schließlich habe ich jahrelang im angrenzenden Haus selber gewohnt, bis ich 18 war. Und auch später, als ich meine Eltern besuchte, war ich oft hier drinnen um mir Werkzeug auszuleihen. Aber irgendwie war das damals was anderes gewesen.

Niemand kommt mehr um zu fragen ob ich ein paar eingemachte Bohnen mitnehmen möchte. Oder ein paar frische Erdbeeren.

Die Gefriertruhe mit den restlichen eingelegten Beuteln hatte ich vorgestern entsorgt.

Heute geht es weiter mit Sachen, die ich gar nicht kenne, die mich aber jahrelang umgeben haben.

Ich stehe auf weil mir inzwischen beide Knie schmerzen und blicke auf die mit einem alten Tarnnetz bespannte Wand, an der mehrere unterschiedliche Stahlhelme und Bajonette in einem Halbkreis drapiert waren.

Daneben hängt ein altes Foto von mir in meiner Bundeswehruniform. In Gedanken höre ich meinen Vater sagen: „Hey, komm mal mit, habe dir schon meine neuen Obstbäume gezeigt?“

Der Vorhang

Er öffnet den Vorhang. Da drüben hat sie gewohnt, die letzten Wochen. Direkt seinem Zimmer gegenüber. Vor kurzem ist dort Mr. Tu Wan Too eingezogen, so nennt er ihn. Das Gebäude hat eine U-Form, so war es ihm möglich, unmittelbar in ihr Zimmer zu schauen, wenn morgens die Pflegerinnen die Vorhänge öffneten. Jetzt ist sie weg. Und er ist allein. Davor war´s schöner, allein zu sein, denkt er sich, ohne den Song zu kennen. Oft hat er sich seine Ruhe gewünscht, wenn sie die gleiche Frage immer und immer wieder von Neuem stellte. Oder mitten in der Nacht in seinem Zimmer erschien, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war. Einmal hat er sie auf der anderen Seite des Gebäudes besucht und etwas unter ihrem Tisch gefunden. Es sah wie ein Stein aus. Aber bei genauem Betrachten erkannte er die Exkremente. Wie hat sie das gemacht? Das muss schwierig gewesen sein, sich so tief runter zu ducken, dachte er. Mehr als zwei Drittel des Lebens mit dieser Frau. Egal, wie sehr ihn die vergangenen Monate zermürbt haben, jetzt fehlt etwas. Er will nicht auf die letzten traurigen Tage zurückblicken, sondern auf die vielen erfüllten Jahre mit ihr. Er will nicht irgendwann der neue Mr. Two One Two werden. Also schließt er den Vorhang und verlässt das Zimmer.

nur ein Spaltbreit

Es fühlt sich an wie ein Donnerwetter, als ich die Schwelle überschreite, die alles verändert. Und doch höre ich nichts als Atemluft.

Ich spüre, dass es ein verlassener Ort ist, den ich so behutsam wie möglich betrete. Und doch fürchte ich mich vor Begegnung.

Ein warmer Luftzug umgibt mich. Und doch schlottern mir die Knie, als würde ich frieren.

Wer hat diese Leere hinterlassen? Diese Risse in der Wand, die aussehen, als könnten sie niemals heilen? Wer hat hier gewütet, um sich geschlagen, mehr als nur die Oberfläche zerstört? Nur um dann einfach zu verschwinden? Werde ich je wissen, was hier geschehen ist? Ich atme ein – so langsam und so tief, wie ich es nur vermag. Ich rieche Angstschweiß, obwohl hier schon viel zu lange niemand mehr gewesen ist. Wie weit darf ich mich vorwagen in diesen Raum, der auf Neugestaltung wartet? Jetzt ist nicht die Zeit zu überlegen, wie viel Anstrengung es kosten wird. Ich sauge den Augenblick auf. Spüre, dass jede Liebe zum Abschied verdammt ist.

Meine Lippen zittern noch stärker als meine Stimme, als ich meine Umarmung etwas löse und ihr sanft über das Haar streiche: »Danke, dass du mir die Tür zu deinem Herzen einen Spaltbreit geöffnet hast. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als für immer darin wohnen zu dürfen.«

Strom

Komisch! Die Wohnung roch immer noch ein bisschen nach Stippgrütze und Bratapfelstrudel. Wahrscheinlich spielte mir die Erinnerung einen Streich. Und nach Muff. Sechs Monate ungelüftet, was sollte man da erwarten?
O ja, ein ganzes halbes Jahr war es jetzt her, dass ich sie zu mir genommen hatte. Das war ich ihr schuldig, hatte ich den Nachbarn erklärt. Und das stimmte hundertprozentig.
Probehalber knipste ich den Lichtschalter an. Na bitte, wenigstens funktionierte der Strom!
Ich blickte mich um. Und direkt in die Vergangenheit. Gut verstaut unter einer Staubschicht. Staub auf dem verschlissenen, kotzgelbgrünen Sofa. Das war bestimmt schon achtzig Jahre alt. Nie hatte sie sich etwas Neues gegönnt. Ich schlug mit der Hand auf eines der genau in der Mitte eingeknickten Häkelkissen und musste niesen. Staub auf dem rustikalen Wohnzimmerschrank, auf den Bilderrahmen und Hummelfiguren. Auf dem gestickten Stillleben an der Wand, dass dort schon hing, als meine Mutter noch ein kleines Mädchen war. Auf den fadenscheinigen, handgewebten Teppichen, und Staub auch in der Küche. Auf der Anrichte, dem Regal mit den Tellern aus Meißen, auf der Kaffeemaschine. Ich grinste. Kaffee würde ich hier sicher nicht mehr kochen. Trotzdem war ich froh, dass der Strom funktionierte.
Auch im Schlafzimmer sah es nicht anders aus. Staub auf dem Nachttischchen und dem zum Bersten vollgestopften Kleiderschrank. Das Bett mit dem erhöhten Kopfteil war sorgfältig gemacht, die Laken, Decken, Kissen glattgestrichen, ohne eine einzige Delle. Die Vorhänge vor die Spitzengardinen gezogen.
Staub und Muff auch im Bad. Auf dem Spülkasten der Toilette eine Ersatzklopaperrolle diskret versteckt unter dem gehäkelten Rock eines Barbiepuppenoberteils.
Ein Morgenmantel mit hellblauer Borde hing noch am Haken neben der vorsintflutlichen Waschmaschine, deren Schalter gelb flackerte. Ja, Gott – oder wem auch immer - sei Dank, der Strom funktionierte. Sie hatte nicht einmal eine integrierten Trockner, die Waschmaschine. Dafür gab es einen zusammenklappbaren Wäscheständer mit Klammerbeutel und Klammern mit runden Holzköpfen. »Ja, Holzkopf!«, hörte ich ihre schrille Stimme. »Holzkopf, wie dein Vater!«
Der Flur war dunkel. Auch hier, alles Eiche rustikal. Der schäbige Schuhschrank, die Garderobe mit den goldenen Knöpfen. Einzig die nagelneue, schneeweiße Tiefkühltruhe wirkte beinahe futuristisch. Hochmodern, klimaneutral und völlig geräuschfrei, hatte mir der Verkäufer versichert. Nicht einmal ein Summen würde sie verursachen.
Einen Meter zwanzig, aber sie würde genügen. Und eiskalt. Zum Glück funktionierte der Strom.

Das vergessene Gutshaus

Abseits gelegen und hinter hohen Mauern verborgen steht das über hundert Jahre alte Gutshaus, nur das eiserne Eingangstor gewährt einen kleinen Einblick auf das Grundstück. Es ist ein trauriger Anblick, der sich dem Betrachter, durch das kunstvoll verzierte Eisentor bietet. Vergessen, grau und ein verwilderter Vorhof. Und doch strahlt das heruntergekommene Gebäude eine magnetische Anziehungskraft aus. Da kommt es wie gerufen, dass das Tor einladend ein spaltweit offensteht. Rasch hindurchgeschlüpft, gelangt man über eine schmale, kurze Auffahrt zum Gutshaus. Aus unmittelbarer Nähe sieht man das ganze Ausmaß der Vernachlässigung. Die Holzfensterrahmen der bodenlangen und bogenförmigen Sprossenfenster im Erdgeschoss sind rissig und die einst weiße Farbe ist abgesplittert, die Fensterscheiben weisen teilweise Glasbruchspuren auf, während die kastenförmigen Fenster in den beiden oberen Stockwerken unversehrt aussehen, zudem liegen Schindel vom Dach hier und da verstreut auf der Erde. Ebenso ist die eingeritzte Inschrift im Holzrahmen der großen bogenförmigen Doppeleingangstür nicht mehr lesbar.

Interessiert wird das alte teilweise aus Bruchsteinen erbaute Gebäude umrundet. An der Westseite rankt meterhoch ein Geißblatt, angelehnt wie ein Schutzmantel, an der Hauswand empor und verströmt besonders in den Morgen- und Abendstunden ihren intensiven, betörenden Duft. Auf der hinteren sonnenreichen Südseite ist die Terrasse noch vage erkennbar. Die auf dem Boden verlegten Platten teilweise brüchig und größtenteils zugewuchert vom Unkraut. Der Blick verliert sich im weitläufigen Gelände. Bäume und Sträucher wachsen und wuchern unkontrolliert. Das Gras steht kniehoch. Einst muss dies einmal ein wunderschöner parkähnlich angelegter Garten mit solitär stehenden Bäumen, gestutzten Sträuchern und Blumen gewesen sein. Wieder dem Gutshaus zugewandt erregt eine aufgebrochene Terrassentür die Aufmerksamkeit der eingedrungenen Gäste. Die Neugierde ist größer als die Angst und das schlechte Gewissen in ein fremdes Haus einzudringen. Unter den Schuhen knirschen Scherben der zerbrochenen Scheibe der Terrassentür.

Im Innern riecht es muffig, die Zimmer sind lichtdurchflutet und großzügig geschnitten mit hohen, stuckverzierten Decken. Ideal für große Feiern. Die unteren Drittel der Wände wurden mit einer Holzvertäfelung versehen und die oberen zwei Drittel mit Tapeten überzogen. An einigen Stellen lösen sich allerdings die verblasten Tapeten von den Wänden, hängen schlaff herunter. Stellenweise wird in einigen Räumen das Parkett von abgewetzten und verblassten Teppichen bedeckt. Die wenigen noch vorhandenen Möbelstücke sind von einer grauweißen Staubschicht überzogen und stehen mit geöffneten, zum Teil aus den Angeln gerissenen, Schranktüren und rausgezogenen Schubladen herum. Überall auf dem Boden verstreut liegen Gerümpel der letzten Bewohner, wie einzelne Schuhe, Spielsachen oder zerbrochenes Porzellan. Eine breite Treppe führt in die oberen Stockwerke. Die Treppenstufen knarzen gefährlich beim Betreten, sind ebenso morsch wie das Holzgeländer. Mussten die Bewohner überstürzt und unerwartet das Haus verlassen oder wurden sie vertrieben? Niemand weiß es. Vergessen, wie das Haus selbst. Welche Geschichten wüssten die Wände zu erzählen, wenn sie könnten? Geschichten von herzerwärmenden Liebesbezeugungen und Freude, von verbotenen Affären und Verrat oder von Schmerz und Intrigen. Auch das werden wir nie nicht erfahren.
2022-11-09T23:00:00Z
Bei aller Erbärmlichkeit mit Vorstellungkraft, handwerklichem Können, Geld und Liebe kann dieses Gutshaus aus seinem langen Dornröschenschlaf wieder erweckt werden und im neuen Glanz erstrahlen. Zu einem Haus werden voller Menschen, die Lachen, Tanzen und sich am Leben erfreuen.

Eine kurze Pause

Er steht in der Tür und späht vorsichtig in den Raum, dann tritt er leise ein und schießt die Tür hinter sich. Das Zimmer wird von einem großen Kamin gewärmt, in dem ein Feuer kräftig lodert. Die Luft ist stickig und etwas rauchig, aber er traut sich nicht eigenmächtig das Fenster zu öffnen. Die kalte Herbstsonne scheint durch ein Fenster auf der linken Seite des Zimmers und die Staubflocken tanzen in den Sonnenstrahlen. Der Raum strahlt Ruhe und Geborgenheit aus, aber er hat dennoch das Gefühl durch seine Anwesenheit zu stören, was kein Wunder ist, da er sich ungefragt in einem fremden Haus befindet. Die Holzdielen quietschen unter seinen Füßen und er zuckt bei dem Geräusch zusammen. Neben dem großen Fenster steht ein Holztisch, dessen Maserung dunkelbraun glänzt. Die sechs Stühle um den Tisch sind aus dem selben Holz gemacht und er denkt, dass das teuer gewesen sein muss. Seine Hand gleitet über das Holz und er beäugt den Obstkorb, der mitten auf dem Tisch, auf einer runden, weißen Stickdecke, thront. Ob sie wohl merken würden, wenn eine Banane fehlt? Kurz entschlossen greift er sich sich die Banane und steckt sie in die Manteltasche. Dann noch einen Apfel. Nach kurzer Überlegung stopft er ihn sich direkt in den Mund und seufzt erleichter auf, endlich ist der bohrende Hunger kurzfristig verebbt.

Er nimmt einen der Stühle und zieht ihn vor den Kamin. Nachdem er umständlich seinen Mantel ausgezogen und über den Stuhl gehängt hat, setzt er sich, lehnt sich der Wärme entgegen und reibt sich die Hände. Ein zufriedener Seufzer entwischt seinem Mund, als die Wärme die Kälte vertreibt. Der ungewaschene Geruch seines Körpers steigt ihm in die Nase. Das kann er nun nicht ändern. Neben dem Kamin liegen, sorgfältig gestapelt, ein paar Holzscheite und er überlegt, wer wohl hinter dem Haus auf dem Hof gestanden haben mochte und dieses Holz gehackt hat. Er nimmt an, dass das Holz aus dem nahegelegenen Wald kommen müsse. Genau aus diesem Wald ist er gekommen.

Nachdem er aufgehört hat vor Kälte zu zittern, sieht er sich erneut in dem großen Raum um. Eine Sofalandschaft schmiegt sich in hinteren Teil des Zimmer, weit genug weg von dem Feuer, um die Glut poppende Holzscheite zu vermeiden. Daneben befindet sich eine Wand voller Bücherregale und er geht hinüber, um die Buchrücken zu betrachten. Es ist eine Mischung aus alten Werken, Krimis und Romanen. Auch Kinderbücher befinden sich auf Hüfthöhe. Dann lebt hier also auch mindestens ein Kind, denkt er. Er sieht sich erneut um, kann aber keine weiteren Dinge sehen, die auf ein Kind hindeuten würden. Trotz dem Staubes ist der Raum aufgeräumt, fast schon wie ein Museum, er kann sich kein lärmendes Kind hier vorstellen.

Sein Blick bleibt sehnsüchtig auf der gemütlichen Couch hängen. Der Drang sich dort einfach fünf Minuten hinzulegen wird übermächtig. Wie in Trance schlendert er auf die Couch zu, er ist so unsäglich müde. Die Hitze tut das Übrige und er schläft schon ein bevor sein Kopf überhaupt auf das Sofakissen gesunken ist.

Eine lange Zeit später, weckt ihn ein gellender Schrei.

Der gefundene Brief

Lieber Leser,

wenn Du diese Zeilen liest, hauchst du dem alten, unserem alten Haus wahrscheinlich neues Leben ein. Es wird Veränderungen mit sich bringen und neue Geschichten werden entstehen. Wenn Du nun denkst, Häuser erzählen keine Geschichten, dann solltest Du den Brief weglegen und mit dem weiter machen, womit du gerade beschäftigt warst. Bist Du dem gegenüber aber offen, dann mach es Dir bequem und nimm Dir die Zeit, um eine Geschichte zu hören.

Damals, als wir das Haus erwarben, waren wir jung und enthusiastisch. Wir waren frisch verheiratet und dank meiner Großtante, welche mir eine kleine Erbschaft hinterließ, konnten wir uns den Traum vom Eigenheim erfüllen. Das Haus, wie du es heute kennst, hat seither viele Wandlungen durchlaufen und hat mit dem Gebäude von damals nicht mehr viel gemein.

Das Gemäuer war stabil, wenn auch an einigen Stellen renovierungsbedürftig.
Das Dach musste erneuert werden, der Schornstein war in sich gesackt und der Garten war ein Urwald. Mein Mann war gelernter Zimmermann, wodurch wir viele Arbeiten selbst erledigen konnten. Mein Vater half uns mit seiner Erfahrung bei den Dingen, die uns unbekannt waren.

Ich hoffe, auch Du hast helfende Hände, denn so ein Haus zu renovieren ist leichter gesagt als getan.

Da das Haus recht klein war, wir aber bald mit der Familienplanung beginnen wollten, dass Dach sowieso gemacht werden musste und noch etwas Geld übrig war, entschieden wir uns, das Dachgeschoss auf die gesamte Hausgröße auszubauen. Und so wurde aus einem Wohnzimmer, einem Schlafzimmer, einer Wohn- und einer Waschküche das für uns schönste Haus mit zwei weiteren Schlafzimmern und einer Toilette, die direkt in das Haus integriert war.

Wenn Du noch sehr jung bist, kannst Du es Dir vielleicht schlecht vorstellen, aber damals waren integrierte Bäder und Toiletten noch nicht die Norm.

Eine Renovierung bedarf viel Zeit und nicht immer waren wir einer Meinung. In unserer noch sehr jungen Ehe kam es immer wieder zu Streitereien über, im Nachhinein, belanglose Dinge. Wir hatten in unserem Ehe-Gelübde geschworen, auch in schweren Zeiten zueinanderzuhalten. Aus heutiger Sicht waren die Arbeiten am Haus zwar eine anstrengende Zeit, schwer jedoch nicht. Meinungsverschiedenheiten gehören zum Leben dazu. Wir sind gestärkt aus diesem Abschnitt unseres Lebens gegangen.
Man wird im Leben immer mit Hindernissen konfrontiert sein und zwischendurch denkt man auch an Trennung. Das frisch verliebt sein hält leider nicht ewig. Jedoch wächst daraus Vertrauen, Verbundenheit, Zugehörigkeit und Verlässlichkeit.

Wenn auch Du irgendwann an den Punkt kommst, über eine Trennung nachzudenken, besinne Dich daran, was Ihr bisher durchgestanden habt. Auch mit einem anderen Partner wird nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen sein.

Doch zurück zu unserer Geschichte.

Noch während wir das Haus umgebaut haben, erfuhren wir, dass wir Nachwuchs bekommen. Die Bau-Prioritäten lagen dann also beim Kamin, dem Schlafzimmer und dem Bad. Neun Monate klingt nach sehr viel Zeit, doch am Ende kommt es dir vor wie ein Wimpernschlag. Die Schwangerschaft hat mir sehr viel abverlangt, weshalb ich nicht mehr beim Umbau helfen konnte.

Die Monate vergingen und am 21. November 1963 erblickte unser Sohn Richard das Licht der Welt. Auch wenn unser Haus noch einige Baustellen aufwies, war es das schönste Gefühl, es mit Leben zu füllen. Anfangs schlief er im Beibettchen, später in seinem eigenen Zimmer. Alles lief, wie es laufen sollte. Bis zu dem Moment, als ich morgens in Richards Zimmer kam und mein kleiner Schatz das irdische Leben hinter sich gelassen hatte.

Vielleicht warst Du schon im Garten hinter dem Haus und fandest einen kleinen Stein mit seinem Namen darauf.

Viele Jahre habe ich mir die Schuld daran gegeben. Habe ich ihn zu früh in sein eigenes Bettchen gelegt? Habe ich seine Schreie nicht gehört? Habe ich irgendetwas falsch gemacht um dieses Schicksal zu verdienen? Auch heute schmerzen die Gedanken daran noch sehr, doch das Leben hat mir gezeigt, dass wir nicht alles kontrollieren können.

Der Verlust war eine der schweren Krisen, von denen ich sprach. Mein Mann trauerte anders. Ich war in meiner Trauer so gefangen, dass ich nur den starken Mann sah, der weiterhin am Haus baute und zur Arbeit ging. Der mit Freunden sprach und Sport trieb. Ich warf ihm vor, er würde unseren Sohn vergessen, seinen Tod als selbstverständlich hinnehmen. Ein anderer Mann hätte vielleicht bei meinen Launen die Flucht ergriffen, doch er blieb und half mir durch die Stabilität aus meinem Tief heraus. Er trauerte auch, nur anders.

Das Kinderzimmer, sein Zimmer, blieb sehr lange unbewohnt. Da es für mich nicht mehr in Frage kam, jemals ein Kind darin schlafen zu lassen wurde es später zu einer Terrasse umgebaut. Zwei Jahre später kam unsere Tochter Manuela zur Welt. Mit ihr durchlief unsere Ehe die nächste Krise. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, mein Kind nicht bei mir zu haben. Also schlief sie immer bei uns, erst im Babybett, anschließend mit in unserem Bett.

Du kannst Dir sicher vorstellen, dass das einer Partnerschaft nicht guttut.

Mein Mann nutze viele Gelegenheiten, eine gesunde Distanz zwischen mich und meine Tochter zu bringen. Mit 3 Jahren, 4 Monaten und 12 Tagen schlief sie das erste Mal in Ihrem eigenen Kinderzimmer. Da er meine Ängste ernst nahm, schliefen wir anfangs abwechselnd in Ihrem Zimmer. Eine große Hilfe war ebenfalls, dass ich mich mit anderen Müttern austauschte und feststellte, dass das Schicksal auch andere teilten.

Ich gebe Dir den Rat, dass Ihr immer miteinander kommunizieren solltet. Nehmt die Ängste und Sorgen des Partners ernst und steht Euch bei. Sucht Lösungen, habt Geduld und scheut Euch nicht, Hilfe von anderen anzunehmen.

Ein weiteres Jahr verging und erneut wurde ich schwanger. Am 10. Februar 1969 kamen unsere Zwillinge zur Welt. Zwei Jungen, Frank und Manfred. Da wir aufgrund der Terrasse nur noch ein Kinderzimmer hatten, mussten wir erneut anbauen. Wir dachten, ein großes Zimmer für beide wäre ausreichend, denn man sagte auch damals schon Zwillinge seien untrennbar. Später wurden wir eines Besseren belehrt. Auch wenn unsere beiden Jungs sich sehr ähnlich waren, waren sie einzelne Individuen. Das Geld saß nun, bei 3 Kindern, nicht mehr so locker. Ein erneuter Anbau war also nicht realisierbar.

Da Frank und Manfred die Welt als Spielplatz nutzten, war es nicht schlimm, dass wir das Zimmer in zwei aufteilten. Frank war der Sportliche, Manfred der Forscher. Beides Interessen, die sich nicht in 9m² abspielten. Außerdem kamen wir dadurch oft im Wohnbereich zusammen, was die Familie noch mehr zusammen brachte.

Sorge dafür, dass Ihr einen Platz habt, indem alle gleichberechtigt sind. Ein neutraler Ort für alle, die ihn gerade nutzen möchten. Achte aber auch darauf, dass jeder einen Rückzugsort hat und dieser auch respektiert wird. Auch Ihr braucht solche Räumlichkeiten.

Die Kinder wurden größer und ich konnte neben der Erziehung meiner Leidenschaft, dem Nähen, nachgehen und so etwas zum Verdienst beitragen. Im Laufe der Jahre bauten wir unseren Keller aus, errichteten eine Garage, und führten kleinere Renovierungen durch.

Das Haus durchlebte viele Geburtstage, Weihnachtsfeste, Abende mit Freunden und Partys. Es bekam viel Drama mit, aber auch viel Liebe und Freundschaft. Es ließ sich immer wieder an die jeweilige Lebenslage anpassen und war stets unser Mittelpunkt.

Wir haben das Haus damals gebaut, um unseren Kindern später einen Ort zu hinterlassen, in dem sie Ihre eigenen Geschichten schreiben können. Vielleicht fragst Du Dich, weshalb dann nicht unsere Kinder hier leben, sondern Du der neue Eigentümer bist. Das mein Freund, ist das Leben. Die Welt steht Euch offen und sicher werden auch Eure Kinder irgendwann das Nest verlassen. Das ist in Ordnung. Wichtig ist nicht der Ort, sondern das Gefühl dass Ihr mit dem Haus habt entstehen lassen.

Unsere Kinder hat es in die Welt gezogen und wir sind ihnen gefolgt. Unsere Geschichte in diesem Haus endet hier und Ihr habt die Aufgabe, das Buch fortzusetzen. Dabei wünschen wir Euch alles erdenklich Gute.

In Liebe

Verloren und dennoch da.

Ich stehe mit meiner Mutter vor dem Haus der Familie. Heute dürfen wir noch rein, ab morgen beginnt der große Umbau. Ich kenne es von aussen und, von einem Besuch im Vorschulalter, auch das Treppenhaus.
Natürlich haben wir die Onkel und Tanten getroffen. Aber die sind dann zu unserem Ferienquartier bei meiner Oma gekommen.
Hundert Jahre lang haben hier Familienmitglieder gewohnt.

Angefangen hat es gleich nach der großen Ostseesturmflut. In der Nacht vom 12. auf den 13. November 1872. Da hat die Familie Ackerland verloren und musste den alten Hof aufgeben.
Mein Ururopa hat für sich und seine Familie ein kleines Haus gebaut. Zweieinhalb Zimmer groß.
Diesen Teil wollen wir uns zuerst ansehen.
Später wurde das Haus aufgestockt und angebaut, je größer die Familie wurde.

Wir betreten das Treppenhaus. Licht fällt nur durch die Glasscheibe in der Haustür. Ein alter verblichener Kokosläufer liegt auf den dunklen Holzdielen.

„Hier rechts stand ein runder Tisch.“ Sagt meine Mutter. „Dort legte der Postbote die Briefe ab. Da war immer eine Tischdecke und eine Vase mit Blumen drauf. Das mussten immer fünf oder noch besser sieben verschiedene Blumen sein. Und das Telefon stand da.“
„Wie? Ihr hattet Telefon?“
„Ja, wie hätten uns denn sonst die Urlauber erreichen oder die Kunden den Fisch bei Opa bestellen können? Strom hatten wir keinen, Wasser nur aus der Pumpe im Hof, das Plumpsklo im Garten. Aber Telefon, das hatten wir.“

Wir betreten die kleine Wohnung.
„Hier rechts stand Omas Herd,“ erzählt sie weiter, „eine Kochhexe. Das war achtzig Jahre lang die einzige Kochstelle im ganzen Haus. Hier wurde für die Familie und die Gäste gekocht.“
Ich sehe mich um. Die Decke ist niedrig. An einigen Stellen haben die Handwerker schon den Putz entfernt. Ich trau meinen Augen kaum. Schilfrohrhalme und Seegras sind zu sehen.
Wir kommen zu dem halben Zimmer. „Hier hat Uropa gewohnt“.

Ich wusste schon, dass die Altenteiler zu ihren Kindern zogen.

„Vor diesem Fenster hatte Oma im Vorgarten zwei Tonkrüge vergraben. Da hatte sie immer ihre eingelegten Gurken drin.“
Wir verlassen die Wohnung und gehen die Treppe hoch. Das Holzgeländer von den vielen Händen ganz glatt und eben. Samtzart fühlt es sich an.
„Hier hatte mein Vater und seine Geschwister ihre Zimmer. Und vom Mai bis September waren dann die Urlauber hier untergebracht.“

„Und wo haben dann die Geschwister geschlafen?“
„Oben auf dem Boden. Dort hinten in der Ecke ist die Stiege.“

Wir gehen hinauf und ich bin sprachlos. Auf Bodenhöhe sind ringsherum kleine Fenster, durch die ein wenig Licht fällt. Die Kammern für die Kinder sind nur notdürftig mit Holzwänden unterteilt. So schmal, dass gerade zwei schmale Pritschen reinpassen. Kein Schrank, keine Truhe, nichts.

„Da hinten ist doch noch mehr Platz“, sage ich, als ich wieder Worte finde.
„Da wurde im Winter die Wäsche getrocknet und Opa hatte seine Netze da“.

Wir verlassen den Teil des Hauses und gehen zum nächsten Eingang.
„In diesem Raum hat Oma den Mittagstisch für die Urlauber angeboten. Als dann Hitler an die Macht kam und wir hier die Ingenieure zur Miete hatten, da wurde dann ein Ladengeschäft daraus. Mal Obsthandel, mal Schlachter und zuletzt das Schuhgeschäft.“
„Und die Mieter, die bekamen nichts zu essen?“
„Nein, die wurden in der Kaserne versorgt, die haben ja alle auf Wustrow gearbeitet.“

Wir gehen in den letzten Anbau. Wieder eine Treppe hoch.
„Hier oben bin ich geboren“, sagt meine Mutter. „Es war eine schöne Kindheit“.
Und noch eine weitere Stiege. Auf dem Flur steht eine sehr, sehr kleine Kochstelle, kaum größer als ein Kinderspielherd, direkt unter einer Dachschräge.
„Das ist aber wirklich winzig,“ entfährt es mir.
„Ja, da war es wohl ganz gut, dass Tante Frieda so klein war,“ schmunzelte Mutti.
Ein Blick in die Wohnung machte mir auch sofort klar, hier war kein Platz für einen Herd, egal wie klein dieser war.

Schade, dass ich dies nicht mehr meinen Enkelkindern zeigen kann.