Der gefundene Brief
Lieber Leser,
wenn Du diese Zeilen liest, hauchst du dem alten, unserem alten Haus wahrscheinlich neues Leben ein. Es wird Veränderungen mit sich bringen und neue Geschichten werden entstehen. Wenn Du nun denkst, Häuser erzählen keine Geschichten, dann solltest Du den Brief weglegen und mit dem weiter machen, womit du gerade beschäftigt warst. Bist Du dem gegenüber aber offen, dann mach es Dir bequem und nimm Dir die Zeit, um eine Geschichte zu hören.
Damals, als wir das Haus erwarben, waren wir jung und enthusiastisch. Wir waren frisch verheiratet und dank meiner Großtante, welche mir eine kleine Erbschaft hinterließ, konnten wir uns den Traum vom Eigenheim erfüllen. Das Haus, wie du es heute kennst, hat seither viele Wandlungen durchlaufen und hat mit dem Gebäude von damals nicht mehr viel gemein.
Das Gemäuer war stabil, wenn auch an einigen Stellen renovierungsbedürftig.
Das Dach musste erneuert werden, der Schornstein war in sich gesackt und der Garten war ein Urwald. Mein Mann war gelernter Zimmermann, wodurch wir viele Arbeiten selbst erledigen konnten. Mein Vater half uns mit seiner Erfahrung bei den Dingen, die uns unbekannt waren.
Ich hoffe, auch Du hast helfende Hände, denn so ein Haus zu renovieren ist leichter gesagt als getan.
Da das Haus recht klein war, wir aber bald mit der Familienplanung beginnen wollten, dass Dach sowieso gemacht werden musste und noch etwas Geld übrig war, entschieden wir uns, das Dachgeschoss auf die gesamte Hausgröße auszubauen. Und so wurde aus einem Wohnzimmer, einem Schlafzimmer, einer Wohn- und einer Waschküche das für uns schönste Haus mit zwei weiteren Schlafzimmern und einer Toilette, die direkt in das Haus integriert war.
Wenn Du noch sehr jung bist, kannst Du es Dir vielleicht schlecht vorstellen, aber damals waren integrierte Bäder und Toiletten noch nicht die Norm.
Eine Renovierung bedarf viel Zeit und nicht immer waren wir einer Meinung. In unserer noch sehr jungen Ehe kam es immer wieder zu Streitereien über, im Nachhinein, belanglose Dinge. Wir hatten in unserem Ehe-Gelübde geschworen, auch in schweren Zeiten zueinanderzuhalten. Aus heutiger Sicht waren die Arbeiten am Haus zwar eine anstrengende Zeit, schwer jedoch nicht. Meinungsverschiedenheiten gehören zum Leben dazu. Wir sind gestärkt aus diesem Abschnitt unseres Lebens gegangen.
Man wird im Leben immer mit Hindernissen konfrontiert sein und zwischendurch denkt man auch an Trennung. Das frisch verliebt sein hält leider nicht ewig. Jedoch wächst daraus Vertrauen, Verbundenheit, Zugehörigkeit und Verlässlichkeit.
Wenn auch Du irgendwann an den Punkt kommst, über eine Trennung nachzudenken, besinne Dich daran, was Ihr bisher durchgestanden habt. Auch mit einem anderen Partner wird nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen sein.
Doch zurück zu unserer Geschichte.
Noch während wir das Haus umgebaut haben, erfuhren wir, dass wir Nachwuchs bekommen. Die Bau-Prioritäten lagen dann also beim Kamin, dem Schlafzimmer und dem Bad. Neun Monate klingt nach sehr viel Zeit, doch am Ende kommt es dir vor wie ein Wimpernschlag. Die Schwangerschaft hat mir sehr viel abverlangt, weshalb ich nicht mehr beim Umbau helfen konnte.
Die Monate vergingen und am 21. November 1963 erblickte unser Sohn Richard das Licht der Welt. Auch wenn unser Haus noch einige Baustellen aufwies, war es das schönste Gefühl, es mit Leben zu füllen. Anfangs schlief er im Beibettchen, später in seinem eigenen Zimmer. Alles lief, wie es laufen sollte. Bis zu dem Moment, als ich morgens in Richards Zimmer kam und mein kleiner Schatz das irdische Leben hinter sich gelassen hatte.
Vielleicht warst Du schon im Garten hinter dem Haus und fandest einen kleinen Stein mit seinem Namen darauf.
Viele Jahre habe ich mir die Schuld daran gegeben. Habe ich ihn zu früh in sein eigenes Bettchen gelegt? Habe ich seine Schreie nicht gehört? Habe ich irgendetwas falsch gemacht um dieses Schicksal zu verdienen? Auch heute schmerzen die Gedanken daran noch sehr, doch das Leben hat mir gezeigt, dass wir nicht alles kontrollieren können.
Der Verlust war eine der schweren Krisen, von denen ich sprach. Mein Mann trauerte anders. Ich war in meiner Trauer so gefangen, dass ich nur den starken Mann sah, der weiterhin am Haus baute und zur Arbeit ging. Der mit Freunden sprach und Sport trieb. Ich warf ihm vor, er würde unseren Sohn vergessen, seinen Tod als selbstverständlich hinnehmen. Ein anderer Mann hätte vielleicht bei meinen Launen die Flucht ergriffen, doch er blieb und half mir durch die Stabilität aus meinem Tief heraus. Er trauerte auch, nur anders.
Das Kinderzimmer, sein Zimmer, blieb sehr lange unbewohnt. Da es für mich nicht mehr in Frage kam, jemals ein Kind darin schlafen zu lassen wurde es später zu einer Terrasse umgebaut. Zwei Jahre später kam unsere Tochter Manuela zur Welt. Mit ihr durchlief unsere Ehe die nächste Krise. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, mein Kind nicht bei mir zu haben. Also schlief sie immer bei uns, erst im Babybett, anschließend mit in unserem Bett.
Du kannst Dir sicher vorstellen, dass das einer Partnerschaft nicht guttut.
Mein Mann nutze viele Gelegenheiten, eine gesunde Distanz zwischen mich und meine Tochter zu bringen. Mit 3 Jahren, 4 Monaten und 12 Tagen schlief sie das erste Mal in Ihrem eigenen Kinderzimmer. Da er meine Ängste ernst nahm, schliefen wir anfangs abwechselnd in Ihrem Zimmer. Eine große Hilfe war ebenfalls, dass ich mich mit anderen Müttern austauschte und feststellte, dass das Schicksal auch andere teilten.
Ich gebe Dir den Rat, dass Ihr immer miteinander kommunizieren solltet. Nehmt die Ängste und Sorgen des Partners ernst und steht Euch bei. Sucht Lösungen, habt Geduld und scheut Euch nicht, Hilfe von anderen anzunehmen.
Ein weiteres Jahr verging und erneut wurde ich schwanger. Am 10. Februar 1969 kamen unsere Zwillinge zur Welt. Zwei Jungen, Frank und Manfred. Da wir aufgrund der Terrasse nur noch ein Kinderzimmer hatten, mussten wir erneut anbauen. Wir dachten, ein großes Zimmer für beide wäre ausreichend, denn man sagte auch damals schon Zwillinge seien untrennbar. Später wurden wir eines Besseren belehrt. Auch wenn unsere beiden Jungs sich sehr ähnlich waren, waren sie einzelne Individuen. Das Geld saß nun, bei 3 Kindern, nicht mehr so locker. Ein erneuter Anbau war also nicht realisierbar.
Da Frank und Manfred die Welt als Spielplatz nutzten, war es nicht schlimm, dass wir das Zimmer in zwei aufteilten. Frank war der Sportliche, Manfred der Forscher. Beides Interessen, die sich nicht in 9m² abspielten. Außerdem kamen wir dadurch oft im Wohnbereich zusammen, was die Familie noch mehr zusammen brachte.
Sorge dafür, dass Ihr einen Platz habt, indem alle gleichberechtigt sind. Ein neutraler Ort für alle, die ihn gerade nutzen möchten. Achte aber auch darauf, dass jeder einen Rückzugsort hat und dieser auch respektiert wird. Auch Ihr braucht solche Räumlichkeiten.
Die Kinder wurden größer und ich konnte neben der Erziehung meiner Leidenschaft, dem Nähen, nachgehen und so etwas zum Verdienst beitragen. Im Laufe der Jahre bauten wir unseren Keller aus, errichteten eine Garage, und führten kleinere Renovierungen durch.
Das Haus durchlebte viele Geburtstage, Weihnachtsfeste, Abende mit Freunden und Partys. Es bekam viel Drama mit, aber auch viel Liebe und Freundschaft. Es ließ sich immer wieder an die jeweilige Lebenslage anpassen und war stets unser Mittelpunkt.
Wir haben das Haus damals gebaut, um unseren Kindern später einen Ort zu hinterlassen, in dem sie Ihre eigenen Geschichten schreiben können. Vielleicht fragst Du Dich, weshalb dann nicht unsere Kinder hier leben, sondern Du der neue Eigentümer bist. Das mein Freund, ist das Leben. Die Welt steht Euch offen und sicher werden auch Eure Kinder irgendwann das Nest verlassen. Das ist in Ordnung. Wichtig ist nicht der Ort, sondern das Gefühl dass Ihr mit dem Haus habt entstehen lassen.
Unsere Kinder hat es in die Welt gezogen und wir sind ihnen gefolgt. Unsere Geschichte in diesem Haus endet hier und Ihr habt die Aufgabe, das Buch fortzusetzen. Dabei wünschen wir Euch alles erdenklich Gute.
In Liebe