Seitenwind Woche 5: Verlassene Orte

Das alte Haus

(Ort: Im Süden Montenegros, im Rumija-Gebirge)
In Gedanken versunken war ich vom Weg abgekommen und suchte eine Abkürzung durch die karstigen Hügel. Ziegen- und Schafkot führten mich zu einem Trampelpfad bergabwärts. Zu meiner Erleichterung mündete der schmutzige Weg eine halbe Stunde später in einen breiten Feldweg. Nach einer Biegung hinter einem Felsen stand ich unvermittelt in einem verlassenen Anwesen mit zwei Ruinen und einem vollständig erhaltenen Steingebäude.
Die Anlage war unzweifelhaft Jahrhunderte alt und mochte ehemals das Zentrum eines größeren wirtschaftlichen Gehöftes gewesen sein. Eng an eine schützende Felswand hingebaut, hatte es über die Zeiten dem Verfall und der Witterung getrotzt. Das gesamte Gut war eindeutig seit Jahrzehnten verlassen. Armdicke Efeuranken hatten Zeit gehabt, baumartigen Strukturen zu bilden und waren mit den Mauern zu einer untrennbaren Einheit verwachsen.
Das Haupthaus besaß zwei Stockwerke, der Grundriss maß circa 15 mal 20 Meter. Das Dach des Gebäudes war mit kleinen roten Tonziegeln gedeckt und von Ranken und Gras völlig überwuchert. Es wies jedoch keine ernsten Schäden auf und hatte das Innere des Gemäuers vor Wetterschäden geschützt. Die gesamte Konstruktion der Anlage war solide wie eine kleine Festung aus hellgrauen Granitblöcken erbaut. Holzstiele von verrosteten Gartengeräten und Harken lehnten an der Hausmauer daneben Reste eines Eselkarrens und von der Sonne grau gebrannte Holzhaufen. Weitläufige Efeuranken hatten im Laufe von Jahrzehnten alles überwuchert und zu einer skurrilen Einheit verbunden. Das verwitterte Holztor war halb offen. Nichts hielt mich davon ab, die alten Gemäuer mit kindlicher Abenteuerlust zu erforschen.
Unmittelbar hinter dem Eingang führte eine schmale Steintreppe in den ersten Stock. Ich stieg vorsichtig hoch. Ich arbeite mich bei solchen Erstbesichtigungen meist von oben nach unten vor. Die Räume des ersten Stockes waren groß und voll mit vermorschten, verwitterten Resten ehemaliger Einrichtungsgegenstände. Im Obergeschoß angelangt, registrierte ich im dunklen Hintergrund des ersten Raumes ein halbes Dutzend übereinandergestapelter Reisekoffer, davor einige offene Holzkisten.
Neben dem Aufgang standen im Licht eines kleinen Fensters zwei Truhen mit Hausrat. Ich erkannte Messingbehälter, Kerzenständer und einen Samowar, in dem eine Wespenkolonie ihr kugeliges Nest gebaut hatte. Ich schätzte die Gegenstände auf Anfang des letzten Jahrhunderts. Interessant für lokale antiquarische Touristenläden aber historisch wertlos. Um die Reste eines Teppichs in der Mitte des Raumes waren einige kleine Möbel und Tischchen gruppiert, dazwischen von Mäusen zerfetzte ehemalige Sitzpolster am Boden. Weitere angenagte Teppiche, gerollt und gefaltet, waren entlang der Wand gestapelt, daneben leere Gestelle. An Wandhaken hingen Reste von Lederzeug.
Ich befand mich in einer Mischung aus bewohntem Dachboden und Abstellkammer. Alles überdeckende Spinnweben manifestierten einen Schleier des Vergessens. Meine Augen hatten sich an das Halbdunkel inzwischen gewöhnt und ich erkannte Beistelltischchen mit Einlegearbeiten, glänzendes Schildpatt und einfache Metallapplikationen. Plötzliche scharrende Geräusche unter den Haufen verrotteten Gewebes ließen mein Herz schneller schlagen. Es gab in dieser Region viele Schlangen und sogar giftige Insekten. Ich beschloss, diesen Bereich morgen genauer zu inspizieren und mich stattdessen im unteren Teil umzusehen. Im Moment ging es mir nur darum, einen Überblick gewinnen.
Zurück im Erdgeschoss fand ich im ersten Raum rechts vom Eingang eine offene Feuerstelle, daneben eine gemauerte Bank und einen klobigen Holztisch. Ein dahinter liegendes Zimmer war mit acht Holzpritschen belegt, vermutlich der ehemalige Gemeinschaftsschlafraum.
Durch diesen Raum gelangte ich in eine kleine Hauskapelle mit Gebets- und Andachtskammer. Ich sah gemauerte Betschemel, ein Wasserbecken mit eingravierten Symbolen und an drei Wänden Nischen für kleine Statuen. Private Kapellen waren in dieser Region typisch für adlige Häuser bis zum 16. Jahrhundert. In einen Gutshof in dieser Einöde passte so ein Ort aber ganz und gar nicht und die Reste von Kerzenwachs in den Gebetsnischen zeugten davon, dass dieser Raum in den letzten Jahrzehnten noch benutzt wurde. Mein ‚sechster Sinn‘ sagte mir, dass es hier etwas zu entdecken gab.
Einen Raum weiter hinten, auf der Ostseite des Hauses, zum Felsen hin gerichtet, betrat ich eine Art Bibliothek. Drei Wände waren mit Bücherregalen vollgestellt. Alle Bücher waren leider von Mäusen und Insekten zernagt worden. Ich identifizierte Überbleibsel von Pergamentrollen, ebenfalls völlig zerfressen oder verschimmelt. Vor der vierten Wand lag ein wirrer Haufen morscher Bretter, Reste von Regalen, dazwischen zersplitterte Glaskolben. Beim Herumstochern fand ich Holzmörser, Rührstempel und rostiges Besteck. Mein antiquarischer Jagdinstinkt erwachte erneut - ich befand mich im Experimentierzimmer eines Menschen, der die Kunst des Lesens in einer Zeit beherrschte, als Rezepte und Tinkturen noch auf Pergament weitergegeben wurden. Ich witterte mögliche Geheimnisse eines Alchemisten oder Kräutermischers.
Hinter einem Bretterhaufen erregte eine niedere massive Holztüre meine Aufmerksamkeit. Ein inzwischen zerfallenes Regal musste diesen Durchgang früher vollständig versteckt haben. Ich schob die Bretterhaufen mit dem Fuß zur Seite und inspizierte die Türe. Sie besaß ein stabiles Metallschloss, was ungewöhnlich für Innenräume in dieser Zeit war. Ich rüttelte mit aller Kraft und trat zwischendurch gegen die Tür. Das Schloss rührte sich keinen Millimeter, aber das Mauerwerk war über die Jahrhunderte weniger stabil geblieben. Der Mörtel rund um die Türzarge begann zu bröckeln, die Türangeln verschoben sich innerhalb der Mauer. Dadurch konnte ich die Türfalle gegen den Widerstand der Schnappfeder hochdrücken und die schwere Türe aufziehen. Sie hing schief in den Angeln, so dass sie durch das eigene Gewicht automatisch zufallen würde. Ich schlüpfte durch den Eingang und sicherte die Türe sorgfältig mit einem Holzkeil. Das Schloss wäre beim Zufallen wieder eingeschnappt und ich hätte mich auf die dümmste Weise der Welt hoffnungslos selbst eingesperrt.
Der niedrige Durchgang führte in eine nach unten versetzte Kammer. Ein winziges Fenster, nicht größer als eine Schießscharte, beleuchtete den Eingangsbereich. Der Raum war kühl, da sich die Nordseite im ständigen Schatten des dahinter aufragenden Felsens befand. Vermutlich diente dies einst als Vorratslager und Speisekammer. Ein Stapel Kisten neben dem Eingang ergoss verfaulte und nicht mehr identifizierbare Inhalte über den Boden. Alle Verwesungsprozesse waren schon vor langer Zeit abgeschlossen, so dass einzig der Geruch von vermorschtem trockenen Holz vorherrschte.
Gebückt stieg ich vorsichtig drei kleine Steinstufen in das Gewölbe hinunter. Das Licht aus dem nun freigewordenen Türrahmen hinter mir reichte aus, um den gesamten Raum ausreichend einsehen zu können.
Er maß etwa vier mal drei Meter. Im Hintergrund erblickte ich ein mannshohes Möbelstück. Fassungslos stand ich davor und konnte nicht glauben, was ich sah.

Aus der Zeit gerissen

Langsam betrat ich die Schwelle eines alten, von außen vornehm aussehenden, Hauses.
Es kam mir tatsächlich wie eine Schwelle zu einer anderen Zeit vor.

Die verschnörkelte Tür verbarg eine Eingangshalle, die für frühere Verhältnisse eher klein war. Links und rechts befanden sich Gänge, die sich wie Blutgefäße durch das Gebäude schlängelten und verzweigten.

Der Vergleich kam nicht von ungefähr. Der Besuch dieses Gebäudes war Teil meiner Ausbildung. „Das hier ist euer Erbe.“, pflegte mein Klassenlehrer immer zu sagen. „Hier kamen die Menschen zuerst rein. Andere Einrichtungen, die sich nicht mehr um sie kümmern konnten, organisierten Transporte, damit sie hier untergebracht werden konnten. Von hier aus ging es dann nach Links in den Gang.“, sagte ein hochgestochener Mann, zeigte gewichtig in einen Flur, während er voraus lief. Er nahm uns mit auf eine Reise durch die Zeit.

Auf der Rechten Seite des Ganges führten weitere Gänge und Türen in die Tiefe des Gebäudes. Der Flur sah karg aus. Weiß… „Krankenhausweiß…“, schoss es mir in den Kopf. Eine Farbe bei der ich nie verstand, wie sie den Menschen helfen sollte wieder gesund zu werden. Er mündete in einer weiteren Halle, in der sich rund ein Dutzend alter Bänke und Tische befanden. Hinten in einer Ecke hingen, ganz altmodisch, 3 Vorhänge, wovon 2 geschossen waren. Doch durch den dritten konnte man eine alte Liege und Instrumente sehen, wie sie in alten Kliniken benutzt wurden. Die restlichen Wände waren verkleidet mit Fotos, die diesen Raum mit Leben füllten. Jetzt jedoch wäre mir das karge weiß irgendwie lieber gewesen, denn die Bilder hinterließen ein bedrückendes Gefühl.

Von hier aus ging eine kleine, enge Treppe hinunter. Der „Keller“ war noch weitaus gruseliger als das Haus oben. Er glich einem Labyrinth mit niedrigen Decken und mit vielen tunnelartigen Bögen. Die Steinwände: kahl und grau. Alles wirkte finster. Links ging ein Raum ab, der wie der altertümliche Vorraum einer Dusche aussah. Dahinter führte eine Tür in eine Art Gemeinschaftsdusche. Die Dusche war vielleicht für 10 Leute gedacht, doch uns wurde erzählt, dass dort immer mehr als 20 Personen hingepressr wurden.

Massenabfertigung in einem schwarz- weiß- gekachelten Loch. Einige von uns wurden blass, andere schien dieses Bild nicht groß zu bekümmern. Für mich entsprach dieser Raum einem Klischee eines Horrorfilms. Man erwartete schon fast, dass aus irgendeiner Ecke ein Typ mit einem Messer hervorsprang. Im nächsten Raum, gleich nebenan, stand ein weiterer Untersuchungstisch, diesmal aus Stein. Original, wie man uns versicherte. Hier wurden die Menschen ein letztes Mal gründlich untersucht, bevor sie endlich ihr Ziel erreichten. Ein alter, riesiger, metallener Ofen…

Hier zumindest war das Leid zu Ende weswegen dieser Ort schon fast friedlich wirkte.

Die Menschen in der Stadt bekamen übrigens von all dem nichts mit. Sie sprachen zwar vom weißen stinkenden Dunst, der immer in den Straßen stand, wenn der Ofen mal wieder angeworfen wurde. Doch sie brachten ihn nicht mit den grauen Bussen in Zusammenhang, die zuvor in Richtung der Psychiatrie fuhren.

„Das ist unser Erbe!“, dröhnt es noch heute in meinem Kopf.

Abrupt endet mein Traum. Ein Traum, der mich seit Wochen, jede Nacht, heimsucht.
Es ist kein Alptraum, ganz im Gegenteil. Er entfacht eine Sehnsucht in mir. Eine Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, die mir bis dahin gar nicht bewusst war.

Angefangen hat alles vor vier Wochen. Ich war auf einer Ausstellung über Lost Places. Ausgestellt wurden Bilder, die vergessene Orte zeigen. Diese verlassen Orte, mit einer längst vergessenen Geschichte, haben mich schon immer interessiert. Ein Bild fiel mir dort besonders auf. Es hatte mich vom ersten Moment an in seinen Bann gezogen. Wie hypnotisiert stand ich vor dem Bild, bis dass ich aufgefordert wurde zu gehen, da die Ausstellung schließt. Ich hatte alles um mich herum vergessen, keine anderen Besucher wahrgenommen. Es zählte nur dieser Anblick. Er war so fremd und gleichzeitig doch so vertraut. Das Bild stellte einen Ausschnitt aus einem Raum dar. Bis auf die Zahllosen, durch die Zeit, braun gewordenen Blätter, die den Boden fast komplett bedeckten, war der Raum leer. Gegenüber der Zimmertür befand sich ein Balkon. Die Balkontüren waren weit geöffnet und gaben den Blick, auf das Meer und die dahinter liegenden Berge frei. Eingerahmt war die Aussicht von Efeu, der alles überwucherte. Auf dem Balkon wuchs riesiger Farn, der die ungehinderte Sicht auf das Meer etwas einschränkte. Was der Aussicht dadurch aber noch eine zusätzliche mystische Note verlieh. Direkt über den Balkontüren befand sich ein großes Bogenfenster. Auch dieses war mit Efeu überzogen. In die Seitenwände waren ebenfalls riesige Bogenfenster eingelassen, die fast bis zur Decke reichten. Durch die wenigen Lücken, die der Efeu gelassen hatte, schien die Sonne herein und tauchte alles in ein warmes Licht. Noch Stunden nach meinem Besuch in der Ausstellung dachte ich über das Bild nach und versuchte zu ergründen, warum es so eine Anziehungskraft auf mich ausübte.

Bis heute habe ich nicht herausgefunden, was genau mich an diesem Bild so fasziniert. Ist es der Ort selbst, oder die unerzählte Geschichte der Menschen, die dort gelebt hatten? Eines weiß ich aber ganz genau, ich muss der Sache auf den Grund gehen. Warum träume ich Nacht für Nacht von diesem Ausblick?

Die letzten Wochen habe ich einen Großteil meiner Zeit, darauf verwendet herauszufinden, wo dieser geheimnisumwobene Ort ist. Einem glücklichen Zufall ist es zu verdanken, dass ich nun auf dem Weg zu dem Haus bin. Genau genommen ist es eine Villa, die seit Jahrzehnten leer steht. Einst lebte eine glückliche Familie dort, aber von einem auf den anderen Tag verschwanden alle Bewohner spurlos. Nichts haben sie zurückgelassen. Alles war einfach weg. Bis heute hat niemand herausgefunden was damals passiert ist. Seitdem ist dieser Ort unbewohnt.

Die Villa steht einsam auf einer Klippe, umrahmt von einem, einige tausend Quadratmeter, großem Grundstück, welches sogar einen Wald enthält, durch den ich mich gerade kämpfe. Den einzigen Weg zur Villa hat sich die Natur schon vor langer Zeit zurückerobert. Als ich schon befürchte, dass ich mich verlaufen habe, lichtet sich der Wald und ich stehe auf einer Wiese. Das Gras geht mir fast bis zu meinen Knien. Hier ist die Natur unberührt. Außer dem herrlichen Vogelgezwitscher ist nichts zu hören.

In der Nähe sehe ich die Villa, ein Anblick, der mich traurig stimmt. Ein Großteil des Gebäudes ist mit Efeu bedeckt. Es ist deutlich zu erkennen, dass auch dort die Natur Einzug gehalten hat. Bei einigen Fenstern, die nicht vom Efeu überwuchert sind, sind nur noch die Gerippe der Stege, die einst das Glas hielten, zu sehen. In einem Teil des Gebäudes ist das Dach eingestürzt. Einst war die Villa sicherlich ein prachtvoller Anblick, nun ist davon nicht mehr viel übrig.

Ich mache mich auf den Weg, bringe die letzten Meter zum Haus fast rennend hinter mich. Außer Atem und mit klopfendem Herzen stehe ich nun vor der großen Eingangstür. Diese besteht aus dunklem Holz und ist überraschend gut erhalten. Zahlreiche, eingeschnitzte Blumen und Ranken verleihen ihr das gewisse Etwas. Ein Schloss gibt es nicht, lediglich einen Knauf. Der Knauf ist, passend zur Tür, groß. So groß, dass ich ihn mit einer Hand nicht ganz umschließen kann. Er scheint aus Messing zu sein und fühlt sich warm an, als ich ihn berühre. Mit zitternden Händen fasse ich den Knauf fester und drehe ihn. Die Tür geht überraschend einfach, fast lautlos, auf, so als hätte sie nur darauf gewartet, dass jemand kommt, um das Geheimnis zu lüften. Lediglich ein leichtes Scharren, das von den Blättern herrührt, die durch die Tür beiseitegeschoben werden, ist zu hören. Auch hier unten ist der Boden von zahllosen, welken, Blättern bedeckt. Zu meiner Überraschung riecht es frisch, lieblich, nach Blumen. Ehrfürchtig betrete ich die große Eingangshalle. Von der Decke hängen die Überreste eines einst wunderschönen Kronleuchters. Kleine Glasornamente, die zu dem Kronleuchter gehören, blitzen hier und dort zwischen den Blättern auf, als das Sonnenlicht auf sie trifft. Vorsichtig schaue ich mich in den unteren Räumen um. An allen Räumen hat die Zeit ihre Spuren hinterlassen. Zeichen, dass es hier mal Leben gegeben hat, gibt es nicht. Kein einziges Überbleibsel der Menschen, die hier mal gelebt, die Räume mit Liebe erfüllt haben, ist zu finden. Selbst die Küche ist nur anhand des, bunten, verblassten, Fliesenspiegels als solche zu erahnen.

Eine weiße Marmortreppe führt in das Obergeschoss. Das Holzgeländer ist an manchen Stellen nicht mehr vorhanden. Als ich vorsichtig meine Hand darauf lege ächzt es gefährlich, so dass ich befürchte, dass es mir gleich unter der Hand zerfällt. Schnell ziehe ich meine Hand wieder zurück. Ich hebe meinen Kopf und blicke nach oben. War dort gerade eine Bewegung in den Schatten? Etwas, eine Ahnung, zieht mich nach oben. Oben angelangt gehe ich zielstrebig auf einen Raum zu. Es ist der richtig Raum, der, den ich als Bild und in meinen Träumen gesehen habe. Das Zimmer ist unverändert, überall auf dem Boden verteilt liegen welke, braune Blätter und der Efeu bedeckt Fenster und Wände. Ich trete über die Schwelle und nähere mich dem Balkon. Ein plötzliches Gefühl des Ankommens, des nach Hause Kommens erfasst mich. Es ist, als wenn ein fehlendes Puzzleteil an seinen richtigen Platz gefunden hat.

Leise flüstert es: „Endlich bist du da.“

Fehlende Erinnerungen

Der Raum ist kein Raum, sondern eine Halle. Die Stille ist nicht nur zu Besuch, sie ist endgültig eingezogen. Manchmal erinnert mich alles an eine Totenhalle. Eine Gruft. Aber das stimmt so nicht.

Mir gegenüber thront ein Tisch aus Glas, darauf ein Computer aus Aluminium und zahlreiche Ladekabel, die in einem Kabelschacht verschwinden. Ihre kupfernen Adern sind gut verborgen, damit niemand auf die Idee kommt, hier könnte Chaos herrschen.
Oder Leben.
Denn Chaos ist auch immer Leben, weil sich etwas bewegt und bewegt wird.
Hier bewegt sich nichts.
Niemand redet, niemand lacht. Es weint auch niemand, aber das bedeutet nicht, dass keine Gefühle in dieser toten Herzkammer wären.
Gefühle sind hier, denn: Es wäre schön, wenn Papa mehr zuhause wäre und wir mehr Erinnerungen miteinander teilen könnten.

Auf der Suche

Ich weiß nicht, wann das angefangen hat. Irgendwann begann ich meine Umgebung danach zu beurteilen, ob sie ein gutes Versteck bietet. Keine Ahnung vor wem oder was ich mich verbergen will. Aber es ist so. Ich gehe durch den Wald und denke mir, dass man nah am Wegesrand nicht kampieren sollte, weil man da gleich gefunden wird. Lichter Kiefernwald ist mir ein Graus. Da wird man meilenweit gesehen. Dichtes Gebüsch ist schon besser. Aber es bietet keinen Schutz, wenn es regnet oder gar stürmt. Alte und verlassene Häuser mag ich nicht. Dafür habe ich zu viele Gruselfilme gesehen und eine eifrige Fantasie, die nichts auslässt, was mir Schauer über den Rücken jagt. Seit Jahren schon suche ich nach einem passenden Unterschlupf. Nur für den Fall, dass ich ihn benötigen sollte. Wofür? Ich habe wirklich eine Ahnung.

Aber es machte mich beinahe kirre, dass ich nichts fand, was meinen Vorstellungen entsprach.

Bis ich dann eines Tages auf dieser dänischen Nordseeinsel durch die Kiefernwälder wanderte. Ja, – Kiefern waren bis dato keine Option. Aber diese hier wuchsen nicht gerade in den Himmel. Sie waren krumm und hatten verschlungene Stämme. So als hätten sie es nicht immer geschafft, den Wind, der vom Meer kam, davon abzubringen, aus ihren Ästen Macramé zu flechten. Hier konnte man keine zwei Meter in das Dickicht schauen. Voller Freude wühlte ich mich hindurch. Es war mir egal, dass ich hängen blieb, stolperte und mir eine dicke Schramme an der Stirn holte. Und es wurde noch besser! Mitten im tiefsten Gewirr aus krummen Bäumen, Heidekraut und einigen trotzigen Birken fiel mein Blick auf einen Klumpen aus Beton. Halb im sandigen Boden begraben und überwuchert. Gut, ich war nicht die Erste, die ihn entdeckt hatte, das machten mir die Graffitis schnell klar. Als ich den teilweise versunkenen Quader umrundete, fand ich zu meiner großen Freude keinen Trampelpfad. Dieser Ort wurde nicht regelmäßig von Menschen aufgesucht. Ich steckte meinen Kopf in eine der kreisrunden Öffnungen, sah mich vorsichtig um und kroch hinein. Zufrieden atmete ich auf. Es stank nicht nach Urin und es lag auch kein Müll herum. Hier drin war man trocken und windgeschützt. Der Boden war sandig. Notfalls könnte ich hier sogar einige Vorräte vergraben. Aber es kam noch besser. Mein Unterschlupf entpuppte sich von innen weitaus größer als gedacht. Außerdem befinden sich an drei der vier Seiten Öffnungen. Eine davon ist so versteckt, dass ich sie beim Umrunden nicht entdeckt hatte. Es waren vielleicht einmal Luftschächte gewesen. Oder so etwas wie Fenster. Für mich sind es mögliche Fluchtwege. Der ursprüngliche Eingang ist wahrscheinlich unter dem weichen Dünensand, aus dem die ganze Insel besteht, begraben.

Aber das ist mir egal. Nein, es ist mir recht. Ich will nicht, dass hier jeder einfach hereinspaziert. Ich hole meinen Schlafsack aus dem Rucksack und krieche hinein. Seit ewigen Zeiten fühle ich mich endlich einmal wieder sicher. Als mir dieses Gefühl bewusst wird, muss ich grinsen. Meterdicke Betonwände sind zwar nicht besonders heimelig, können aber durchaus für Geborgenheit sorgen. Wer hätte gedacht, dass ich meine Seelenfrieden ausgerechnet in einem alten Wehrmachtsbunker finde?

Ich habe einen Bekannten, dessen Nebenberuf ist es, die Wohnungen von Verstorbenen leerzuräumen. Als wir uns darüber unterhielten, merkte man ihn an, dass es schon für ihn normal ist, in den Wohnungen und Zimmer verstorbener auszuräumen. Eine Vorstellung, die bei uns Zuhörern befremdlich war.

Das Gespräch über seine Erfahrungen war teilweise sehr faszinierend, bedrückend oder gar skurril.
So erzählte er uns, die Wohnung halte den Moment des Ablebens der unglücklichen Seele wie eine Zeitkapsel fest. Die Zeit scheint eingefroren.
So käme es manchmal vor, dass das benutzte Geschirr noch auf dem Esstisch stehe, samt verschimmeltem Reste. Die Zeitung liege manchmal in der Wohnung herum, die manchmal das Datum des Ablebens ihres Besitzers bezeuge. Oder wie das Bett als Zeuge diente, die letzten Atemzüge, die letzte Nacht seines Benutzers zu erzählen.

Er beschrieb eine komische, mitunter düstere Stimmung an solch verlassene Orten. Ein Eindruck, der uns Zuhören leichte Gänsehaut bescherte. Er selber aber erzählte dies aber mit einer Leichtigkeit aber dennoch Emotionslosigkeit, denn wie schon erwähnt, machte er es schon länger.
Was aber so richtig uns den Schauer über den Rücken beschert hatte, war, wenn er in eine Wohnung kam, wo der Tote Tage oder wochenlang gelegen hat. Ein Geruch, eine Stimmung, die ich gar nicht zu beschreiben vermag. Alleine die Vorstellung in unseren Köpfen, in der Wohnung monatelang dahin zu verwesen, machte mir und auch anderen Angst. Angst vor der Vereinsamung im Alter und des alleine Sterbens.

Aber wie ist es nun, wenn er die Wohnung ausräumt? Teilweise wie die Geschichte eines ganzen Menschenlebens, wie eine Reise durch die Zeit.
Hier werden Bilder, ganze Fotos- und Familienalben, Erinnerungsstücke gefunden. Möbelstücke sind wegzuräumen, die schon uralt und in der Familie wohl weitervererbt wurde. Alte Briefe, Schriftstücke, auch vielleicht Unterlagen aus der Bildungszeit. All das, konnte er in solchen plötzlich verlassenen Wohnungen vorfinden.

Da er meisten das Klientel bediente, welche keine nahen Verwandten hatten, wanderte das meiste Zeug in den Mülleimer der Geschichte.

Die letzten Verbindungen zu diesen Menschen wurden einfach gekappt. Nur noch der Grabstein, wenn es denn einen geben solle, und die bürokratischen Aufzeichnungen über diesen Menschen erinnern daran, dass dieser jemals existierte.

Aber ich versprach, es wird skurril: Denn manchmal findet er zum Beispiel auch packungsweise Vorräte, wie Toilettenpapier oder andere Hygieneartikel. Natürlich sind auch manchmal viele eingekochte Vorräte dabei, die vergeblich darauf wartenden, konsumiert zu werden.

Oder gar noch verrückter: Es wurden zuweilen, ich nehme an bei jüngeren verstorbenen, erotisches Spielzeug oder diverse DVD’s sowie einiges mehr gefunden, wenn ihr versteht, was ich meine.
Gerade hier kam bei einigen in unsere Runde dieses unwohle Gefühl bei der Vorstellung auf, wie das wohl wäre, wenn jemand unsere eigene Wohnung nach einem spontan ableben leer räumen müsste. Und was da wohl alles zu finden wäre? Die Fantasie spielte in unserem Köpfen verrückt.

Ich bin dankbar, dass der Bekannte uns mitgenommen hat, in die Reise in die Vergangenheit, andere Menschen. Dies erinnert mich daran, dass es gar nicht wichtig ist, was wir das Leben über an materiellen Werten ansammeln, denn mitnehmen können wir es sowieso nicht.

Das Geisterhaus

Die Villa Elsava, deren Mauern man das Alter ansehen konnte, war ein ehemaliges Adelspalais und hebt sich im Dorf von allen anderen Häusern ab. Es erschien mir riesig. Ich wusste, dass es seit einiger Zeit unbewohnt war und wenn ich vorbeiging, beschleunigte ich meine Schritte, denn es erschien mir ein wenig unheimlich und ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufstellten.

Nach der Schule begleitete ich Papa gern zu seinen Baustellen. Es war immer ein spannendes Erlebnis. Gerade kam er aus der Werkstatt und winkte mir mit einem riesengroßen verschnörkelten eisernen Schlüssel. So stellte ich mir den Schlüssel zum Schloss von Dornröschen vor. Ich war sofort elektrisiert. Ohne nachzudenken schlug ich mein Hausaufgabenheft zu und behauptete, längst fertig zu sein.

Papa ging mit seinem Handwerkskasten voraus bis zu einem schweren, hohen, kunstvoll geschmiedeten Eisentor, durch das man in einen großen parkähnlichen Garten schauen konnte. Er stellte seinen Kasten ab und drückte mit beiden Händen, bis sich das Tor endlich laut quietschend öffnen ließ. Vor unseren Augen lag ein großes Rondell mit üppig blühenden roten Begonien, rosa Fuchsien und tiefroten Rosen, umrandet von hellblauem Vergissmeinnicht und gelben Stiefmütterchen, aber überwuchert von Unkraut. Staunend wanderte mein Blick weiter zu einer mächtigen Blutbuche mit einem Stamm, den ich nicht einmal zur Hälfte mit meinen Armen umfassen könnte. Sie muss mehrere hundert Jahre alt sein, ihre Krone ragt weit über mir in den Himmel. Einige Meter weiter führte der Weg über eine kleine steinerne Brücke, unter dem ein in tiefem Grün schimmernder Teich lag, zu einem malerischen Häuschen mit Türmchen aus Buntsandstein und farbigen Glasscheiben mit Blumenmustern in einem Erker, ein Anblick wie aus einem Märchenbuch.

Papa ging zum großen Hauptgebäude und machte sich am alten Schloss der hohen bogenförmigen Eingangstüre zu schaffen. Ich nutzte die Gelegenheit, als Papa nach dem nötigen Werkzeug in seinem Kasten suchte und schlich hinter seinem Rücken hinein. Vorsichtig ging ich über knarrende Stufen der durchgetretenen Holztreppe – über deren Mitte sich, wie ein langes rotes Band, ein verschlissener Teppich schlängelte – nach oben. Andächtig wie durch ein Museum ging ich Schritt für Schritt weiter und sah mich aufmerksam um, bis ich erschrocken zusammenzuckte.

Über mir hing ein riesiger Tierkopf an der Wand. Plötzlich stand Papa neben mir. Immer noch betrachtete ich den Kopf und zog ängstlich die Schultern hoch. „Ach, das ist doch nur ein Büffelkopf, den hat einer der Vorbesitzer von St. Louis mitgebracht“, erklärte er und nahm mich an der Hand. Wir gingen weiter durch eine Glastür mit verziertem Holzrahmen und standen in einem großen düsteren Raum, aus dem einige Türen in weitere Räume führten. Ich hielt die Luft an, als mich auf einem schweren dunklen Tisch ein großer Tiger mit weit aufgerissenem Maul anstierte. Platt wie eine Flunder lag er mit ausgebreiten Beinen und glotzte mich aus seinen großen Glasaugen an, als wolle er mich jeden Augenblick anspringen. Um mich herum sah ich schwere antike Möbel und abgetretene Teppiche, die Dielen knarrten gespenstisch unter meinen Füßen. Genauso stellte ich mir ein Geisterhaus vor. Papa war inzwischen weitergegangen. Aber ich blieb wie gelähmt stehen, schaute mich vorsichtig um und wartete, was als nächstes geschehen würde. Vielleicht geht eine dieser vielen Türen auf und es kommt tatsächlich eine Geistergestalt heraus?

Ich traute meinen Augen nicht, als mich in dem schummrigem Licht aus einer Ecke ein lebensgroßes Skelett – bekleidet mit einem beeindruckenden Indianergewand – mit roten Lichtern aus den Augenhöhlen des Schädels anfunkelte. Ich fühlte mich wie in einem Gruselkabinett. Daneben stand ein verschlissenes rotes Sofa. „Papa!!?“, rief ich voller Panik. Lächelnd stand er im nächsten Augenblick vor mir und erklärte mir, dass der Ahne bei seiner Rückkehr nach Deutschland nicht nur den Büffelkopf und das Indianergewand, sondern auch das Skelett eines Mörders, der zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, mitgebracht hatte. Du lieber Himmel! Mein Herz klopfte wild. Was Papa mir nach und nach enthüllte über dieses Geisterhaus erschien mir wie ein Gruselmärchen, das ich heute zum ersten Mal hörte. Und doch wusste ich, Papa erzählte nie Märchen, er war ein durch und durch realistischer Mensch.

Mich aber gruselte es mehr und mehr. Doch meine Neugier war immer noch stärker. Als meine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte ich hinter dem Sofa ein beeindruckendes Wandgemälde, das von einer Bogenform in Holz umrandet war. Es nahm die gesamte Wand ein, sodass dieses Gemälde mit einem lebensgroßen Löwen, der in einen lapislazulifarbenen Umhang mit Hermelinbesatz auf einen Stock gestützt aufrecht auf seinen Hinterbeinen stand, meinen Blick fesselte. Etwas verdeckt vom Löwen erkannte ich einen Wolf, gegenüber fiel ein auf seinen Hinterbeinen tänzelnder Fuchs mit einem Federhut auf, unter dem listig ein Ohr herausragte. Mit offenem Mund starrte ich die Figuren an. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Zuletzt erkannte ich sogar noch einen Hasen. Papa, dem meine Faszination nicht entging, erklärte mir, dass eine der Vorbesitzerinnen eine akademische Malerin war, und die Schöpferin dieses Kunstwerkes, das eine Szene aus der Fabel Reineke Fuchs darstellt.

Papa verschwand wieder hinter einer der vielen Türen und ich sah auf der anderen Seite eine antike Vitrine, die mich magisch anzog. „Dort stand mehr als zwanzig Jahre lang die Urne mit der Asche der Malerin“, erklärte Papa hinter mir. Ich hatte ihn gar nicht kommen hören. „Ihr Mann konnte sich nicht von ihr trennen und so wurde sie erst nach seinem Tod mit ihm in seinem Sarg beerdigt.“ Mir verschlug‘s die Sprache. Verwirrt fragte ich mich, wie es möglich ist, dass man einen verstorbenen Menschen verbrennen kann, das hatte ich noch nie gehört. Und eine Urne mit der Asche einer Toten in der Wohnung? Ich dachte an den Sarg, der in die Erde gelassen wurde bei Omas Beerdigung. Eine Urne hatte ich noch nie gesehen.

Aufgewühlt rang ich nach Worten, war in einer völlig fremden Welt gefangen und die neuen Eindrücke überschwemmten mich. Gebannt starrte ich stumm auf das große Wandgemälde und abwechselnd auf die Tür daneben. Ich war überzeugt, gleich muss sie sich öffnen und die Malerin steht leibhaftig vor mir.

Ich war nicht anwesend.

Als ich mich umsah, stellte ich fest, dass ich den Raum verlassen hatte. Ich war nicht mehr anwesend. Das Zimmer kannte ich. Es war mein Schlafzimmer. Das Doppelbett. Hier lag ich mit meiner Frau. Als sie noch lebte. Es war ein altes Bett. Ich war ein alter Mann in einem alten Bett. Nichts Ungewöhnliches.
Ich hatte mich vor ein paar Stunden hingelegt. Nun vermisste ich mich in diesem Zimmer. Die Perspektive, aus der ich das Zimmer sah, war merkwürdig fixiert. Es machte den Eindruck, als stünde ich vor dem großen Spiegel mit den schwenkbaren Flügeln. Links neben dem Kleiderschrank. Der Spiegel suggerierte mir durch eine bestimmte Stellung der Flügel, eine unendliche Tiefe im Raum.
Ich hätte die Flügel gerne verdreht, doch hatte ich dazu keine Kraft oder keine Möglichkeit, weil ich nicht anwesend war. Etwas knebelte mich und schien mich an einen Ort zu binden.
Der Raum war spärlich beleuchtet. Außer den Möbeln konnte ich nichts entdecken.
Ich hörte Stimmen. Die kamen aus dem Nebenzimmer. Das Wohnzimmer. Eine Tür war leicht geöffnet. Ich kannte die Stimmen. Doch erkannte ich in dem, was gesagt wurde, keinen Sinn.
Jemand weinte. Gläser klirrten. Das Knallen einer Tür. Schritte die sich dem Zimmer näherten. Die Tür bewegte sich. Jemand murmelte etwas, trat ein und beugte sich über das leere Bett.
Als ich einen erneuten Blick in den Spiegel warf, sah ich mich in einer Ferne, die greifbar erschien. Die Tiefe hatte mich ergriffen und stehen lassen.
Das Weinen wurde hysterischer. Traurigkeit. Gebete und Verfluchen. Vorwürfe und zureden. Beruhigungen.
Es hatte den Anschein, als wäre jemand gestorben. Da war der Spiegel vor mir und das leere Zimmer hinter mir. Alles verschwamm und fügte sich zu einer Einheit. Hinter dem Glas verschwand eine Welt. Ich hatte verstanden. Unfassbar; unverständlich. Das Zimmer war unbelebt. Leer.

Als er den Flur betrat, sprangen die Zeiger der Wanduhr in die falsche Richtung.
Kaum ein Licht schaffte es in die Wohnung. Nur Tinte, die sich dickflüssig durch jeden Zentimeter des Hauses drängte. Mitternachtsöl. Verfluchte, nach Pech stinkende Dunkelheit.
Er musste sich beeilen.
Wenn er zu lange brauchte, klebte die Finsternis an seinen Schuhen wie eine ausgelaufene Batterie.
Ein Schritt. Die Tür fiel lauthals ins Schloss, machte ihr gieriges Holzmaul auf. Sie beschwerte sich.
Unhöflich.
So unfassbar unhöflich.
Die Welt atmete tief ein. Kalter Atem rauschte durch die leere Wohnung. Straßenlaternengeruch mischte sich mit Zement und dem ganz bestimmtem Duft, der immer ein Prickeln auf seiner Zunge hinterließ.
Noch ein Schritt.
Er wusste, dass er beobachtet wurde.
Alles sah ihn an.
Die Bilder an den Wänden. Der Kühlschrank aus der Küche, der mit Plastikaugen jede seiner Bewegungen verfolgte.
Hau ab, wollten sie ihm sagen. Du gehörst nicht hierher.
Der Teppich gab freiwillig unter seinen Schuhen nach.
Als er das leere Sofa sah, malte die Dunkelheit ein Lächeln auf seine Lippen.
In dieser Gegend starben die Menschen immer auf den Sofas. Man musste nicht suchen. Während er die linke Hand hob, vermischte sich das Surren des Kühlschranks mit dem Zerren und Zittern der Stromleitungen hinter den Wänden.
Die Wohnung wollte ihn ausspucken wie ein verfaultes Stück Fleisch.
Sein Blick fiel auf den grauen Stoff.
So gut wie nichts.
Die Luft war ruhig, kaum aufgewühlt, sprang nur hier und da aus ihrer durchsichtigen Reihe.
Wer auch immer hier gestorben war, hatte kaum etwas zurückgelassen.
Keine Erinnerungen. Keine Emotionen.
Das Prickeln auf seiner Zunge wurde stärker.
Schlechte Beute. Verflucht schlechte Beute.
Als er dem Wohnzimmer den Rücken zukehrte, spürte er den Blick der Welt auf seinem Nacken.
Oxymoron wusste, dass er zurückkommen musste.
Er hatte ein Problem. Eine Frage, die ihn mit jedem Schritt verfolgte wie ein Fremder in der Nacht.
Und die Toten waren nicht mehr die Antwort.

Silberhaar

Von meinem Fenster schaue ich über die Straße in den Schrebergarten. 400 qm Wildland. Sortiert, nicht sterilisiert. Ein Meer von Himbeeren, Johannisbeeren und Stachelbeeren. Vereinzelt stehen Pfirsichbäumchen, ein großer Walnuss und direkt am Zaun: die Magnolie. Sein Lieblingsbaum.

„Wehe, du schneidest den“, droht sein Geist in mir mit erhobenem Zeigefinger. „Der ist tabu.“
Ich grinse in mich hinein und sehe noch die Berge an Zweigen, die ich während seines Krankenhausaufenthaltes geschnitten hatte.
„Ich freu mich so, dass du wieder zurück bist. Lass uns die Sonne genießen.“
Wir sitzen auf der Bank vor dem Geräteschuppen, die untergehende Sonne im Gesicht, den Geruch von Erde und Gras in der Nase. Seine gelben Finger drehen eine Zigarette. Sogar der Schnauz ist gelb. Er spricht nicht mehr viel. Im Garten gibt es viel zu hören.

Ich schaue aus dem Fenster und sehe etwas weißes Wehen.
Bist du das?
Mein Blick fängt an zu suchen.
Die Magnolie verliert ein Blatt.
Eins,
und noch eins.

Sein weißer Haarschopf ist verschwunden.

T-Raum

Hohle Schritte hallen, ein Wispern im Gebälk
Blätter draußen fallen, alles schon ganz welk.

Drinnen fehlt Licht, Leitungen gibt es nicht
mehr, alles geraubt, geklaut, ausgebaut
und wartet auf das Jüngste Gericht.

Blatt segelt durch Loch im Dach noch und nöcher
ahnt man die Löcher vor´m Himmel der Nacht
und heiser lacht es aus der alten Esse:
„Kriegst gleich was auf die Fresse“ -
aber nein! halt, hall-t! Es war nur der Hall-tot-al
allein in dieser alten, kalten Fabrik für Fisch in Aspik…

Verdammt! Kann jemand endlich mal
das Echo abschalten, ihr alten Geister der Stadt?
Leider schachmatt.

Erinnerungen

Ein vertrauter Geruch schießt mir in die Nase, als ich die Holztür zu dem kleinen Arbeitszimmer öffne. Ein Geruch, den ich seit mehr als zwei Monate nicht mehr wahrgenommen habe.
Der Rollladen am Fester auf der gegenüberliegenden Seite verdunkelt zum Teil das Zimmer, die Sonne dringt jedoch durch die Schlitze ein. Diese leuchtenden Punkte verteilen sich auf dem Holzboden und auf dem großen Schreibtisch auf der rechten Seite. Er ist zur Wand ausgerichtet, man sitzt mit dem Rücken zur Tür und kann sich ganz auf seine Arbeit konzentrieren. Auf ihm stehen zwei Computer mit zwei Bildschirmen, die Maus und die Tastatur sind bei beiden ordentlich vor dem Monitor hergerichtet. In Bechern befinden sich Stifte, nach Farben sortiert. An der Magnetwand hängen ein kleiner Kalender und Notizzettel.
Vor dem Schreibtisch stehen zwei Bürostühle, ein schwarzer und ein grauer. Ich fasse die Lehne des Grauen an und spüre seinen weichen Stoff. Auf diesem Stuhl saß ich immer. In diesem Raum habe ich die meiste Zeit in diesem Haus verbracht.
Ich setze mich auf den grauen Bürostuhl und starte den Computer. Während er hochfährt, drehe mich im Halbkreis. Mein Blick ist nun auf den Schrank auf der anderen Seite gerichtet.
Er nimmt fast die gesamte Wand ein. Oben sind offene Regale, unten besteht er aus Schubladen. In den Fächern sind viele verschiedene Bücher eingeordnet. Bücher über Geschichte, Physik, Betriebssysteme und Romane. Auf der rechten Seite steht ein großer Globus in einer bräunlich-beigen Farbe. Davor sind selbstgemachte Origami aufgestellt. Das von mir Gefaltete ist dabei; auch wenn der Kranich nicht ganz so gut geworden ist.
Souvenirs von unseren Urlauben stehen eingestaubt da: Schneekugeln, bunte Figuren, Muscheln, verschiedene Postkarten hängen an der Schrankwand und ein kleiner Kompass.
Der Computer hinter mir gibt einen Ton von sich. Ich drehe mich um und logge mich in meinen Account ein. Rechts vom Bildschirm hängen Bilder von uns im Freizeitpark; zwei Bilder in der Achterbahn, ein weiteres, in dem wir alle Anzüge tragen, die wir dort für das Foto ausgeliehen hatten. Auf allen Bilder zeigen wir ein breites Lächeln.
Wenn ich mich an diese Zeit zurückerinnere, fühlt es sich wie ein wunderbarer Traum an.
Es ist heute mehr als zwei Monate her, seitdem er verstorben ist.
Hier in diesem Raum ist in dieser Zeit alles gleich geblieben. Und doch hatte sich alles verändert.

Die rote Schaufel

Viele Jahre zuvor hätte ich noch kurz und unauffällig mit meinem Spiegelbild in den Glasscheiben kokettiert.
Heute genügt ein schneller Blick durch meine dicken Brillengläser um erleichtert festzustellen, dass die zerborstenen und blinden Scheiben mir den eigenen Anblick ersparen.

Langsam beuge ich mich vor Richtung Tür, die - wie seit eh und je - halb offen steht. Mühsam versuche ich sie mit meinen geschwollenen Fingern komplett zu öffnen. Die große Tür quietscht vorwurfsvoll, um im Ergebnis fast völlig weiter in ihrer rostigen Starre zu verharren. Ich spähe hinein in die graue Dämmerung. Eine Maus huscht mir entgegen. Mehrere verwaiste Spinnennetze zittern kaum merklich in ihren Ecken. Eine geräuschlose Stille kräuselt sich mir im Zeitlupentempo entgegen. Lang verdrängte Bildsequenzen und Töne brechen sich ihren Weg an die Oberfläche meines Seins. Gegen meinen Willen, aber nicht unerwartet, höre ich zum wiederholten Male das scheppernde Radio von damals. Leises Gelächter, das Rascheln von Blättern, der Frühjahrs- und Sommerwind dieses jenen wunderbaren Jahres rufen sich heftig in Erinnerung.
Wie viele Male bin ich an diese Tür, an diesen Ort gekommen! Mit dem immer gleichen, erwartungsvollen Glanz in den Augen. Mit der Sehnsucht nach der geliebten Stimme, die den Raum und mein Herz füllte mit Geschichten und Worten, die sich für immer in meine Seele einbrannten.
Fast reglos starre ich einen kleinen braunen Kasten an: das Radio. Der Apparat schwebt noch immer auf einem dünnen Brett an der Wand über einem Tisch mit inzwischen vergammelten Blumentöpfen. Reste von vertrockneten Pflanzen, verschrumpelten Kakteen und ausgebleichten Gräsern stecken mumifiziert in krustigen Erdbrocken. Das wäre dir selbst damals nicht passiert. Und es würde dir heute nicht gefallen.
Ich fröstle und vermisse den wärmende, erdigen Duft, das sommerliche Parfüm aus Geranien, Begonien, Petunien und Goldnelken. Die nebelfeucht beschlagenen Glasfenster, die wassergetränkte Luft wie in einem Palmengarten.
Ich vermisse deinen Anblick, in den viel zu großen Stiefeln und der abgewetzten Schürze. Die entdecke ich unerwartete an einem Haken. Wie leblos und ausgeblichen sie ist. Ich kannte sie nur über deiner dunklen Hose mit den zahlreichen, viel zu vollgestopften Taschen. Dein Lächeln fehlt, dein breitkrempiger Hut über kurzen, roten Haaren, dein stoppeliges Kinn mit dem Grübchen. Dein forscher Blick aus grünen Augen unter buschigen Augenbrauen.
Zwei Gießkannen mit vom Frost zerborsten Böden liegen auf dem großen Tisch, in einander gekeilt wir brunftige Hirsche. Ich bin mir fast sicher deine ledernen Handschuhe daneben zu erkennen, d.h. das, was von ihnen nach all den vielen Jahren noch übrig ist.

Der Geruch von damals ist einem Geruch gewichen, den ich noch nicht einordnen kann. Jedenfalls gefällt er mir nicht. Hängen immer noch Angst und Schrecken unserer letzten Begegnung in der Luft? Ich spüre Deine kräftigen Hände, die mich ungewohnt fest umschlungen halten, höre deine beunruhigend ruhige Stimme, mich trösten wollend. Der Schmerz breitet sich wieder in Wellen in mir aus.
Noch wie damals baumelt das ehemals bunte und nun verblasste Plakat von der Decke. Dieses große Papier von der Gartenschau, auf der Du den ersten Preis für deine überraschenden Gestecke aus Kräutern, Gemüse und Rosen nach Hause getragen hast. Heimlich hatte ich mich in die Gartenschau hinein geschmuggelt und hätte so gerne und voller Stolz an deiner Seite mit dem Preis um die Wette gestrahlt.

Meine Augen suchen nach der kleinen Schaufel, mit der damals alles begonnen hatte. Mit der du immer die von dir liebevoll großgezogenen Stecklinge umgesetzt hattest. Deinen großen Händen hätte man diese feine Arbeit garnicht zugetraut.

Hätte ich dieses rote Gartenutensil nicht ausleihen wollen, wäre es nie zu unserer schicksalhaften Begegnung gekommen.
Mir wäre dieses Gefühl von Verliebtsein verwehrt geblieben. Ein Gefühl, dass in meinem späteren Leben nie wieder auch nur leise an meine Tür klopfte.
Keinen Tag dieses nicht enden wollenden Sommers wollte ich missen.
Jetzt und hier kann ich auf einmal auch wieder die fast unbeholfenen Küsse schmecken.

Mein Atem stockt. Auf dem Boden erkenne ich schemenhaft den großen, dunklen Fleck aus jener Nacht im September, der diese schreckliche Zäsur für uns bedeutete.

Hätte es diese kleine rote Schaufel damals nicht gegeben, ich könnte heute die rostige Tür zum Gewächshaus komplett öffnen, statt mit dem Rollstuhl in der Türöffnung festzustecken.

Das Anwesen Monsieur Moniárds

Ich weiß nicht warum ich jetzt so dämlich grinsen muss, warum ich am liebsten laut loslachen würde, jetzt wo das alles hoffentlich ein Ende gefunden hat. Vermutlich liegt es daran, dass wenn ich nicht grinsen würde, ich lauthals weinen müsste. Es stimmt schon, wenn manch einer meint: ›Unwissenheit kann ein Segen sein.‹ ich für meinen Teil kann bestätigen, dass ich am liebsten alles vergessen würde, was ich den vergangen Stunden dieser klaren Dezembernacht in Erfahrung gebracht habe. In einem Anfall reumütig-melchancholischen Erinnerns, hielt ich es für eine schöne Idee, noch ein letztes Mal vor meinem Fortgehen, den Ort aufzusuchen, den ich in meiner Kindheit so oft zu so ungesunder Stunde besucht habe: Das alte und mittlerweile arg verwahrloste Anwesen vom alten Moniárd.
Selbst jetzt, in diesem Zustand, hatte es, umgeben von seinem schmiedeeisernen Zaun, der nun von wilden Efeu und blassem Unkraut überwuchert ist, immer noch diese ungewöhnliche Aura. Eine Ausstrahlung, die mir und meinen Kindheitsfreunden immer wieder aufs Neue einen eiskalten Schauder den Rücken hinab gesandt hat. Ganz bestimmt ist es auch diese nicht greifbare Wirkung, die dafür gesorgt hat, dass selbst nach dem plötzlichen Verschwinden des Monsieur, niemand mehr dieses Gebäude betreten hatte.
Allzu lebhaft erinnere ich mich an lange vergangene Tage, in denen wir uns des Nachts zwischen den Zaunstreben hindurch pressten, um dem unheimlichen und von den meisten Leuten im Dorf gemiedenen Moniárd, Streiche zu spielen. Offensichtlich hatten wir Angst vor dem alten Mann, aber eine Mutprobe die keine Überwindung verlangt ist auch keine echte Mutprobe. Schon allein seine ungewöhnliche Erscheinung regte unsere jugendliche Vorstellungskraft zu regelrechten Höchstflügen an. Steinalt muss er gewesen sein, dabei ein drahtiger Hüne mit stahlgrauen und tiefliegenden Glutaugen, der ob seines Alters überraschend flink war. Mehr als einmal hätte der Riese mich beinahe erwischt, wenn seine schiere Körpergröße es ihm nicht unmöglich gemacht hätte mir durch die Zaunstreben zu folgen. Damals, in einem Anflug kindlicher Grausamkeit tauften wir ihn: ›Den Blutigen Baron‹. Manchmal besitzen die kindliche Phantasie und Intuition geradezu prophetische Eigenschaften – aber ich greife dem Geschehen vor.
So oder so nahm es seinen Anfang, als ich mich dazu entscheiden habe diesem Ort einen letzten Besuch abzustatten und etwas zu tun, das wir damals um jeden Preis zu vermeiden versuchten, nämlich nach drinnen zu gelangen. Kurz nach Sonnenuntergang machte ich mich auf den Weg, marschierte geradewegs den Pfad entlang und bog zu meiner rechten in die Les Seniéres ab und erspähte schon das Anwesen, dass sich einsam und verlassen im Mondlicht zu baden schien.
Nut zögernd legte ich meine Hand an das große rostige Tor, mit seinen zu Ranken gehämmerten, rostigen Streben. Überraschenderweise war es nicht verschlossen und mit einem kräftigen Ruck ließ es sich weit genug öffnen, damit ich mich hindurchdrücken konnte. Der Weg war frei und der von Unkraut und Gras durchzogenen Kiesweg knirschte unter meinen Stiefeln.
Zunächst fühlte ich mich in die Vergangenheit zurückversetzt, auch wenn alles so verwildert war, konnte ich noch immer die ehemals gepflegten Rasenflächen sehen, über die uns der Alte gescheucht hatte. Erst als ich mit offenen Augen gegen das massive Eichenportal lief, von dem sich flöckchenartig der Lack ablöste, hatte mich die Gegenwart wieder. Mein Innerstes frohlockte, als ich die grün angelaufene Türklinke nach unten drückte und erneut feststellte, dass mir auch diese Tür offenstand. Mit einem mitleiderregenden Knarzen schwang sie auf und offenbarte mir einen großzügigen angelegten Raum der, trotz allen Verfalls und einer Zentimeter dicken Staubschicht, der die Bodendielen verdeckte, noch immer etwas von seinem alten Glanz erahnen ließ. Die hohe Decke, an der sich hie und da dunkle Stellen zeigten, waren mit verblassten und zum Teil abgesplitterten Stuckplatten verziert. Die meisten der hohen Fenster waren noch intakt, aber sehr schmutzig, weswegen ich meine kleine Taschenlampe zückte, bevor ich mich weiter hinein wagte.
Nahezu jeder Zentimeter, der mit wurmstichigen Holzvertäfelungen verzierten Wand, war mit großen und altmodischen und schimmelnden Bücherregalen zugestellt, ergänzt von einigen feuchten und muffigen, aber doch geschmackvollen Sesseln. Von besonderem Interesse war für mich natürlich der Inhalt der Regale, die vollgestopft mit feuchten und schimmligen Büchern, in variierenden Zersetzungsgraden, mit zumeist unleserlichen Buchrücken waren. Besonders eines reizte meine Neugierde, denn ich glaubte in den leicht schimmernden Lettern auf dem Buchrücken Catull entziffert zu haben. Ich sagte bereits, dass Unwissenheit manchmal ein Segen ist. Hinzufügen möchte ich, dass es die Neugierde ist, die oftmals der Auslöser für Ereignisse ist, die einen Menschen und sein Innerstes auf ewig beschädigt zurücklassen können.
Denn kaum sah, oder dachte ich, Catulls Werk im Original zu sehen, bewegten sich meine Füße wie von selbst. Ich muss auf eine der feuchten Stellen getreten sein, die von gemischt mit Staub gefährlich rutschig waren, dass ich ausglitt und mir schmerzhaft das Knie verdrehte. Dabei sank ich mit einem Schmerzensschrei, der unheimlich verzerrt von den morschen und düster dreinblickenden Wänden widerhallte, hart zu Boden. Panisch atmend sog ich gierig Luft und musste würgen, als ich neben Sauerstoff eine Unmenge an Staubflocken mit einatmete. ›Verdammter Catull‹, hustete und würgte ich hervor und kämpfte damit mich nicht zu übergeben, bis meine Aufmerksamkeit durch ein kleines unscheinbares Blitzen in einer kleinen Nische im untersten Fach des Bücherregals, eingefangen wurde.
Fluchend und mit pochendem Knie humpelte ich hustend zum Regal und besah sie mir mithilfe meiner Taschenlampe genauer; und tatsächlich, gut versteckt hinter zerfallenden Büchern und halb verdeckt durch die Seitenwand eines Regals befand sich ein kleiner Hohlraum. Vorsichtig tastete ich darin herum und spürte eine Art kleinen Schalter und natürlich – verdammte Neugierde –, betätigte ich ihn. Nach einem kurzen ruckartigen Klackern irgendwo hinter der holzvertäfelten Wand, der mich zusammenfahren ließ, hörte ich von unten ein Klirren von Ketten und ein Schaben, als würde etwas über einen rauen Boden geschliffen.
Anscheinend hatte der Schalter einen versteckten Mechanismus im Keller in Gang gesetzt und den Geräuschen nach zu urteilen, zu meiner rechten, also dem Ostteil des Anwesens. Ich hatte ›Glück‹, denn schon die erste Tür, die ich vorsichtig öffnete, war die gesuchte, hinter der eine schmale gekachelte Treppe hinab in die leprösen Eingeweide dieses Horts der abartigen Bosheit führte.
Im Keller wiederholte sich das mittlerweile bekannte Bild von modrigen Zerfall, dass sich bereits im Erdgeschoss gezeigt hatte. Ein unangenehm riechender Schimmelfilm überzog die mit Kalk verputzen Wände und im schwachen Licht meiner Taschenlampe sah ich einige verrottete Möbel und Fässer, in denen bestimmt einmal Wein gekeltert wurde. Was der von mir ausgelöste Mechanismus in Bewegung gesetzt hatte, war klar ersichtlich, eine etwa türgroße Öffnung gähnte an einer Stelle der Wand, an der wenige Minuten zuvor noch eine Art Werkzeugschrank stand.
An dieser Stelle, die gähnende Leere anstrahlend, sträubten sich mir bereits die Nackenhaare. Je näher ich dieser Öffnung kam, desto bestialischer wurde der Gestank, der sich in das Kellergewölbe zu ergießen schien. Ein abartiger Grabesodem aus Schimmel, Staub und einem leicht süßlichen Geruch, der mir die Tränen in die Augen trieb. Alles in mir stäubte sich und dennoch leuchtete ich in die Dunkelheit hinein; und mein Schein fiel auf die Rückseite eines Stuhls mit hoher Rückenlehne.
Voller Abscheu erblickte ich das Weiß eines vom Fleisch befreiten Schädels und ich war mir sicher, dass das der Hinterkopf des ›verschwundenen‹ Monsieur Moniárds war. Eine These die ich schon aufgrund der schieren Körpergröße des Kadavers für bestätigt halte. Ein trauriges Ende dachte ich mir noch, bis ich meine Taschenlampe weiter wandern ließ, um zu sehen, was er sich in seinen letzten Momenten wohl angesehen haben mag. Was ich dann entdecken musste, vertrieb jedes Quäntchen Mitleid in mir und erfüllte mich mit solchem Entsetzten und Grauen, dass mich alle Vorsicht fallen ließ, hastig und mein schmerzendes Knie ignorierend aus dem Haus stürmen ließ. Der ›Blutige Baron‹ verdiente seinen Namen.
Es war bekannt, dass in den umliegenden Wäldern von Gévaudan immer mal wieder Reisende verschwanden und nie wieder gesehen wurden. Ich denke ich weiß nun, wo sie geblieben sind. Im sterben muss dieses Ungeheuer sich an seinem Werk ergötzt haben. Thronend den vergitterten Zellen zugewandt. Ich sah nicht viel aber das was ich sah, genügte mir, um mir sicher zu sein, dass ich die anderen Zellen lieber nicht unter Augenschein nehmen wollte. Nur ein bares Skelett, kaum größer als ich in meiner Erinnerung an früher, die Hände wie zum Gebet mit Draht um eine der Zellenstreben gebunden. Unwissenheit ist wirklich ein Segen. Kein Mensch, sondern eine Bestie in Menschengestalt hat hier gehaust, und nur – welcher Gott auch immer–, weiß was sich hier sonst noch für schreckliche Dinge zugetragen haben.
Und nun? Ich stehe hier und schaue diesem Pfuhl der Abartigkeit und Perversion dabei zu, wie es langsam in sich zusammenfällt, wie es zischt und knackt und ein freundlicheres Rot die Nacht erhellt. Feuerwehr höre ich bislang keine, im Dorf scheint es wohl niemanden zu stören, dass dieser Schandfleck, der das Andenken dieses Ortes lange genug vergiftet hat, sich nun endlich und endgültig in Rauch auflöst.
Eine Zigarette rauche ich noch, in bitter-süßen Gedenken und natürlich auch auf die schöne, schöne Unwissenheit der anderen. Braucht keiner zu wissen, dass in Gévaudan mehr als nur eine Bestie gewütet hat.

Jahrestag

die Leere
Deines Zimmers
streicht
längs der Wände

das Fenster
ist
geöffnet

Deine Seele
hat
Dein Zimmer
verlassen

und umfängt mich
nun
überall

Das verlassene Kinderzimmer

Der Mann brauchte keine Gewalt, um sich Zugang in das Haus zu verschaffen. Er drückte einfach die Tür, die nur noch an einem Scharnier hing, beiseite und durchschritt den Flur. Drei Wohnungen gab es früher einmal, aber nachdem die Rakete die oberen beiden Etagen fast vollständig zerstört hatte, musste er nur die unterste nach Überlebenden durchsuchen. Die zersplitterte Wohnungstür stand mehr oder weniger schon offen, so dass er mit nur drei Schritten in den Räumen stand, in denen vor wenigen Stunden noch Menschen gelebt hatten.

Die Wucht der Detonation im Dachstuhl hatte deutliche Spuren hinterlassen. Bilder hingen nicht mehr an den Wänden, sondern lagen mitten in Glassplitterpfützen auf dem Boden. Stühle waren umgefallen und ein Tisch mit einer Steinplatte war sogar entzweigebrochen. Ein Beleg dafür, wie enorm die Erschütterung gewesen sein musste. Den Boden bedeckte eine Staubschicht aus dem Verputz, der noch immer langsam von der Decke rieselte. Der Mann trat zunächst in die Küche. Er konnte auf den ersten Blick den gehobenen Lebensstandard erahnen, den die Familie gehabt haben musste. Mehrere Küchengeräte, viele mit Markennamen westlicher Hersteller, standen, sofern sie nicht heruntergefallen waren, auf einer großen Arbeitsfläche. Dazwischen lagen ein halbes Wurstbrot und zwei Tomaten. In einem Hundenapf schwomm noch etwas Wasser, das meiste lag herausgeschwappt daneben. Der Mann schluckte. Überlebende sah er jedoch nicht und durchsuchte den nächsten Raum. Auch hier herrschte dasselbe Chaos und auf den ersten Blick war klar, dass niemand außer ihm anwesend war. Es blieb am Ende nur noch ein Zimmer übrig, doch als er dieses betrat, erstarrte er.

Er befand sich in einem Kinderzimmer. Der Raum selbst war im Vergleich zu den anderen am glimpflichsten davongekommen und deswegen beschloss der Mann sich genauer umzusehen. Kein Zweifel: Hier lebte vor kurzem noch ein kleines Mädchen, wovon bei der bröckligen pinken Wand auszugehen war. Er trat an ein Bett heran. Auch hier bedeckte eine Staubschicht alles und dämpfte das Hellrot der Decke mit verschiedenen Einhornmotiven. Ein leichter Vanilleduft hing in der Luft. Ein Geruch aus der Vergangenheit, der hier nicht mehr zurückkehren würde. Auf dem Nachtkästchen lag ein Wecker mit dem Motiv eines Delfins. Die Zeiger standen still. „Ob sie gewusst hat, dass es ihre letzte Nacht in dem Bett werden würde, als sie schlafen gegangen ist?“, fragte er sich und hob die Decke an. Sein Puls beschleunigte sich, als ein Arm zum Vorschein kam, doch dieser stellte sich nur als Teil einer übergroßen Stoffpuppe heraus. Der Mann ließ seinen Blick weiter durch den Raum schweifen. Hier und da hingen Poster von Tieren an den Wänden, manche halb herabgefallen, anderen lagen bereits ganz im Staub am Boden.

„Sieben oder acht Jahre alt. Höchstens neun…“, flüsterte der Mann. So jung und doch konnte er schon erahnen, was das Kind vom Leben erwartet hatte. „Ich als Tierärztin“, stand auf in einem gerahmten Bild auf einem Schreibtisch. Die Zeichnung wirkte noch sehr kindlich. Und dennoch: Sie hatte in dem jungen Alter bereits ein Ziel im Leben. Neben dem Bild lag ein Buch. Ein Kinderbuch, das er gut kannte, denn er hatte seiner Tochter Svetlana dasselbe zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt. Es handelte von einem Krieg zwischen Feen und Dämonen und war seit einem Jahr ein Bestseller. Er nahm es in die Hand. Ein Lesezeichen zeigte, dass das Mädchen etwa die Hälfte gelesen hatte. Sein Magen krampfte sich zusammen, als ihm bewusstwurde, wie schnell die Realität die Fiktion einholen kann.

Er trat an eine Kommode. Mehrere großformatige Bücher lagen darin, von denen er das oberste nahm und betrachtete. Es war ein Print-On-Demand Buch. Der Titel lautete schlicht „Ana – Mein Leben“ mit einem Bild eines Babys darauf. Er kannte diese Art von Fotoalben noch aus seiner Zeit, nur das damals die Fotos hineingeklebt und nicht gedruckt wurden. Während er hindurchblätterte, erlebte er im Schnelldurchlauf das Älterwerden des kleinen Mädchens. Er sah, wie sie das erste Mal zur Schule ging und wie sie Weihnachten feierte. Wie sie Fahrrad fuhr und am Strand im Sand spielte. Die letzte Seite hatte kein Bild. Sie war überschrieben mit den Worten: „Hoffnungen und Träume“. Die Eltern hatten hier liebevolle Botschaften hineingeschrieben, doch da sich die Augen des Mannes zunehmend mit Tränen füllten, konnte er sie nicht mehr richtig lesen. „Frieden“, stand dort und auch das Wort „Zukunft“ sah er. Er ließ das Buch kraftlos zu Boden fallen und begann zu weinen.

Nach einer Weile zwang er sich zur Fassung. Sein Griff festige sich um die AK-47 und insgeheim wünschte er Ana, dass sie nicht tot war, sondern irgendwie vor dem Angriff hatte fliehen können. Mit einem Gefühl von Schuld, einer aufgedrückten Schuld, durch einen Mann, der das hier niemals persönlich sehen würde, trat der Soldat über die toten Träume hinweg wieder nach draußen und sagte auf Russisch zu seinem General: „Melde: Dieses Haus ist verlassen.“

Neujahr

Die Tür ließ sich nur mit einem kräftigen Ruck öffnen. Der Geruch war wie eine Wand, die sich nur schwer durchbrechen ließ. Eine Mischung aus kaltem Zigarettenqualm, abgestandenem Bier, verkohlter Bratwurst und etwas, dass sich jemand nochmal durch den Kopf hat gehen lassen. Jeder Schritt verursachte ein Geräusch, als würde der Boden dagegen protestieren, dass die Schuhe wieder hergegeben werden sollten.

Das grelle Licht warf einen ungeschönten Blick auf die Szenerie im Sporthäuschen. Die Silofolie, mit der die Wände und Fenster abgehängt war, hing in Fetzen herunter. Zerplatzte und lasch gewordene Luftballon baumelten träge von der Decke. Luftschlangen klebten auf dem Boden und schwammen in einer undefinierbaren, kalten Brühe der Spüle hinter dem Tresen. Überall standen kaum angetrunkene Mixigläser und Karaffen, an deren Oberflächen zahlreiche Zigarettenkippen trieben. Schüsseln mit eingetrockneten Kartoffel- und Nudelsalatresten, schmutziges Geschirr und verklebte Ketchup- und Senfflaschen, angebissene Toastscheiben und aufgerissene Chips- und Erdnussflipstüten wohin das Auge blickte.

Herumliegende Besen und Gummiflitschen als stumme Zeugen des Luftgitarren-Kontests zu AC/DC, Iron Maiden und Motörhaed. Ich glaube Lemmy, im echten Leben ein seriöser Verischerungsvertreter, der seinen Spitznamen mit Würde trägt, hat gewonnen.

Plötzlich erklangen die ersten Töne von ‚Whiskey in the Jaw‘ von Metallica in respektabler Lautstärke. Eine Box schrappte verdächtig. „Hey, kann mal einer das Licht anmachen?“ klang eine dumpfe Stimme unter dem umgekippten Sofa hervor. Lemmy, der offensichtlich hier übernachtet hatte. Irgendein Witzbold hatte seine Brillengläser mit Edding schwarzgemalt.

„Ankunft ohne Rückkehr“

Ich stemme mich gegen den Gepäckwagen, er eiert nach links, ich muss nach rechts. Plötzlich ein heftiger Schlag, ich zucke zusammen, bleibe wie angewurzelt stehen, das Blut rauscht in meinen Ohren. Bilder schieben sich vor mein inneres Auge, ein langgezogener Schrei: „Maaamaaa!“, Blech, das sich so leicht und in Zeitlupe zusammenrollt wie die Butter unter dem Messer der Rama-Werbung, zerborstenes Glas. Verzögert realisiere ich, dass es nur der Ball eines Kindes war, der mit der Wucht eines Vorschlaghammers meinen Rucksack getroffen und zu Boden geschleudert hat. „Ach Tim“, höre ich wie durch Watte den lachenden Vater seinem Jungen zurufen und – zu mir gewandt – besänftigend hinzufügen: „Verzeihen Sie! Kinder! Was soll man machen?“ Ich verzeihe nicht! Meine Miene bleibt starr. Nein, ich verzeihe nicht! Eine Ladung Adrenalin wallt durch meinen Körper, ich spüre meinen Herzschlag und die pulsierenden Wellen in meinem Kopf. Er registriert sofort, schiebt irritiert meinen Rucksack zurück an seinen Platz, sammelt Ball und Kind in Windeseile ein und murmelt ihm hörbar zu: „Die Frau hat schlechte Laune, mach dir nichts draus!“ Wohl eher zu sich, als zu ihm, denn der Junge macht sich nichts draus!

Die Tür öffnet sich und kalter Wind, vermischt mit Rauchschwaden der Süchtigen weht mir ins Gesicht, raubt mir die frische Luft, nach der ich lechze. Da stehe ich, warte. Beobachte Fahrzeuge, die halten, sich leeren und füllen. Arme, die ausgestreckt werden, um sich aneinander festzuhalten, den Abschied auszudehnen oder die willkommen heißen. Geschäftlicher geht es zu am Taxistand, wo ein Begleiter den Rollator der gebrechlichen Frau zusammenklappt und die Fahrer kommentarlos Taschen verstauen oder ausladen. Ich lasse allen den Vortritt. Einem Banker, der hastig sein Handy zückt und einen Termin verschiebt. Die Maschine hatte Verspätung, behauptet er. Einem verliebten Pärchen, braungebrannt, die Finger nicht voneinander lassend – das schmerzt am meisten – einem Gentleman, der mir die Tür aufhält und mir anbietet, behilflich zu sein. Ich gebe vor, abgeholt zu werden. Ich habe Zeit, sonst gar nichts. Mit der Dämmerung im Außen begreife ich auch innerlich. Hier kann ich nicht bleiben. Die Hektik löst sich langsam auf, es wird zunehmend ruhiger. Drei Taxifahrer stehen mit Kippen vor ihren Wagen, unterhalten sich, der Dicke lacht kurz auf. Ich warte, bis nur noch einer übrig ist, die Hürde ist sonst zu groß. Als der Letzte meinen Blick auffängt, bevor er ins Auto steigen will, hebe ich mühsam die Hand. „Ist ihre Familie noch drin?“, fragt er ohne mich anzusehen, deutet mit dem Kopf Richtung Ankunftshalle und verstaut die Koffer – erst die Großen, dann die Kleinen – im Laderaum. Ich verneine wortlos und wende mich ab, ehe ich auf seine emporschnellenden Brauen und die über den Brillenrand lugenden Augen eingehen muss, die ein Fragezeichen in sein Antlitz malen. Ich nehme auf dem Beifahrersitz Platz, in der Hoffnung, dort geschützter vor möglichen Interpretationen zu sein, die ich im Rückspiegel hinter seiner Stirn erahnen würde. Ich sehe ihn schon vor mir, wie er in ein paar Stunden seiner Frau erzählt, dass ein Fahrgast mit zwei riesigen Koffern und zwei Trolleys gereist ist. Nein, wird er sagen, nicht das übliche Handgepäck – Kinderkoffer waren das. Ein Gelber mit Biene Maja und ein violetter mit Harry Potter oder so, wird er berichtigen. Solche, wie Nuray und Ali sie früher hatten, weißt du noch?, wird er ergänzen, ihr liebevoll über den Rücken streichen, an ihrer Schulter vorbei in den Kochtopf blinzeln und ihr dankbar einen Kuss auf die Wange drücken. Mir wird speiübel. Der Wagen schwingt nach, als die letzten Sachen noch mit Kraft reingepresst werden, ich höre ihn ächzen, bevor der Kofferraum zuknallt. Er lässt sich neben mir in das weiche Leder fallen, seine Hose knarzt, während er sich in Position bringt. „Elfenallee 14“, raune ich und muss mich räuspern, meine Stimme ist belegt.

Ich bin erleichtert, als sein Telefon klingelt und neue Aufträge verkündet. Ich lasse meinen Blick ziellos schweifen, erste Regentropfen legen sich sanft auf die Scheibe, verflüchtigen sich jedoch schnell wieder. Aus der Ferne höre ich Simon: „Dahinten wird’s schon wieder hell, keine Sorge, Honey, es wird ein schöner Tag! Nicht wahr, Jungs“, ruft er noch nach hinten auf die Rückbank und ich spüre förmlich seine warme Hand auf meinem Oberschenkel. Unwillkürlich erschaudere ich. „Ist alles in Ordnung?“,erklingt nun die Stimme neben mir, doch sie wirkt weiter weg, als Simon gerade eben. Ich nicke stumm, eine Träne löst sich dadurch aus meinem Augenwinkel. Verstohlen drehe ich mich zur Seite und trockne mit meinem Ärmel unauffällig die Wange. Meine Kehle schnürt sich zu, mein Gesicht brennt, mein Herz schlägt bis zum Hals, ich schiebe meine feuchten Hände unter meine Beine. Krampfhaft subtrahiere ich von 1000 in 13-er-Schritten, wie es mir der Therapeut im Krankenhaus beigebracht hat, um die aufwallende Panik zu unterdrücken. Gedanken durchbrechen meine Rechenversuche. Wo ist der Hausschlüssel? Hat Simon etwa…? Wer hat die Tür damals abgeschlossen? Ich zwinge mich, die letzten Minuten im Haus Revue passieren zu lassen. Wie Simon die beiden schlafenden Jungs nacheinander ins Auto trägt, der Kleine mit dem Daumen im Mund, sein verschwitztes Köpfchen in Papas Halsbeuge versteckt. Danach der Große mit seinem plattgeliebten Löwen im Arm. Mir dreht sich der Magen um, Galle steigt auf, ich ertrage diese Bilder nicht. Hektisch wühle ich in meiner Handtasche. So viel Kram, unnützes Zeug! Feuchttücher, Schnuller, Lippenstift – für wen? – mag ich schreien! Kein Kind wird sich mehr bekleckern, keines gierig am Schnuller saugen, den anderen schon in der Hand, falls der Erste zur Beruhigung nicht reicht. Es wird keine vorsichtigen Lippenstiftküsse mehr geben, kein Fragen, ob er verschmiert, ich werde Simons Hände nie mehr fordernd auf meinen Hüften spüren. Ich schluchze, meine Wangen sind mittlerweile klatschnass, der Rotz läuft mir aus der Nase, ich kann ihn gerade noch rechtzeitig mit dem Taschentuch auffangen, aber mich selbst zurückhalten gelingt längst nicht mehr. Wir sind da, der Wagen steht, der Fahrer schaut mich an. Ruhig, abwartend. Ich zittere am ganzen Körper, mir ist furchtbar kalt. Ich habe mich noch nie so elend, so hilflos gefühlt. Noch nie so allein, ausgeliefert, verzweifelt. In der ganzen Zeit nicht. In den ganzen Monaten nicht, seitdem Simon die Jungs ins Auto getragen und ich die Tür hinter mir zugezogen habe. Nicht, als ich aus dem Koma erwachte, nicht, als mir der Seelsorger mitteilte, dass es einen schlimmen Unfall gegeben habe und ich jetzt tapfer sein müsse, nicht, als mir die gepackten Koffer meiner Kinder und meines Mannes vom Hotel nachgeliefert wurden. Nicht, als mir die Beileidsbekundungen der fremden Ärzte in unverständlichem Englisch entgegengebracht wurden und die Krankenschwestern betreten auf den Boden schauten. Und nicht, als ich den zerknautschten Löwen an mich drückte und lauthals ins Kissen schrie.
Erst jetzt, erst hier überrollt mich die Flutwelle von innen und nimmt mir die Luft zum Atmen.

Ich kann unmöglich dieses stille, verlassene, dieses leere Haus betreten! Wie soll ich hier leben? In dem sämtliche Erinnerungen kleben, in dem ich das Juchzen meiner Babys vernehme, das Klappern von Legosteinen, das Streiten, das Weinen, das Lachen, das Trappeln von nackten Kinderfüßen auf Parkett und das Summen von Simon in der Küche.

Der Regen klatscht aufs Autodach, ganze Bäche ergießen sich auf der Windschutzscheibe als würden sie im Wettstreit mit meinen Tränen stehen, und verzerren die Lichter der Straßenlaternen.

„Das ist nur eine kleine Husche“, höre ich Simon sagen. „Nein, Simon“, antworte ich im Stillen. „Dahinten wird es nie mehr hell!“

Eva - Klagelied eines Sommerhauses

Ich werde beatmet.

Gleich auf der Düne am Strand in Poberow, Westpommern. Rund um die Uhr durchströmt die brackige Ostseebrise jeden Winkel meines Körpers. Fein salzig sinkt sie auf staubige Oberflächen, kriecht in jede Holzpore, jeden Backstein, jede Fliese und bereitet mir endloses Siechtum. Wenn ich schon lange erschöpft auf meine Grundmauern gesunken bin, gibt es den kühlen Lufthauch, der mich beatmet, immer noch. Er wird mich sicher überleben, denn mich umsorgt niemand mehr. Einzig die dürren Kiefern, streichen dann und wann mal zärtlich mit den langen Nadeln über mein moosgrünes Dach und im Herbst breiten sie ihre Decke über mich aus.

Ich lebe noch, obwohl meine hohlen Augen mit Brettern vernagelt sind und die Fliesen ausgetreten zu einem Lückengebiss. Niemals mehr werde ich das Seegras auf den Dünen im Winterwind zittern sehen. Niemals mehr tanzen gewienerte Schuhe vor dem prasselnden Kamin. Mein Herz ist zu einer hohlen Hülle zerfallen und seit vielen Jahrzehnten brennt kein Feuer mehr in mir.

Du belebst mich, weil Du mich heute besuchst. Du lehnst dein weißes Rad an meine Backsteinwand. Es wirkt fehl am Platz, wie eine weiße Krone in einem Rauchergebiss. Du zwängst dich durch die schmale Lücke in der vernagelten Tür. Mit Seegesang heiße dich in meinem düsteren Inneren willkommen.

Willst du dich bloß an meiner Geschichte oder an meinem traurigen Zustand ergötzen? Oder stellst du dir genau wie ich vor, was hätte sein können? Wenn sich das lange Herbstlicht durch die Ritzen der Bretter kämpft und der Staub goldglitzernd von der Decke rieselt. In diesen Augenblicken kann ich mir vorstellen, in welchem Glanz ich heute strahlen könnte. Und Du siehst es auch, trotz meiner Vergangenheit. Du und ich. Aber es wird niemals ein wir geben, denn für mich ist die Zeit mit Eva Braun stehen geblieben.

Das Haustürschloss klemmt ein wenig und ist ziemlich abgenutzt. Steile
aber liebevoll gepflegte Bauernhaustreppen führen nach oben direkt in die Küche. Eine völlig aus der Mode gekommene alte Küche mit selbstgehäckelten Topflappen in verschiedenen Farben.Einfache Stoffläppchen hängen an der Spüle als Putzlappen ,dazu ein blauer verblichener Eimer mit Priliblumen drauf und gelbem Henkel. Direkt im Anschluss das Esszimmer. Eine sehr schwere Holzeckbank dunkelgrüner Stoff ,geblühmt.
Auf dem riesigen Kachelofen stehen kleine Figürchen. Hühner,Tänzerrinnen,kleine Väschen und unmengen von bunten Kunstblumen im ganzen Haus verteilt. Im Schlafzimmer steht ein Ehebett das schon seid langer Zeit nur noch auf einer Seite benützt wurde. Alles im Haus ist irgendwie bemalt.Fensterbretter,Balken,Türen. Mit einem Pinsel ,das sieht man ,an den Strichen im Lack.So viele Dinge sind irgendwie sehr unliebsam zusammengeschoben oder in Kartons verpackt . Auf meine Frage hin was den hier passiert is Antwortete mir der Makler das die Frau gestorben ist nachdem ihr Mann starb.Sie hat eine Polin gepflegt die nur noch das nötigste im Haus tat.Ich habe nie ein gemütlicheres Haus bewohnt und habe heute noch "Oma Gekerlers "Aussteuer am Start.Ihre Kristallkuchenplatten sind an jedem Geburtstag dabei.Den Kauf dieses Hauses hab ich nie bereut.-Danke ,Oma Geckeler!