Das alte Haus
(Ort: Im Süden Montenegros, im Rumija-Gebirge)
In Gedanken versunken war ich vom Weg abgekommen und suchte eine Abkürzung durch die karstigen Hügel. Ziegen- und Schafkot führten mich zu einem Trampelpfad bergabwärts. Zu meiner Erleichterung mündete der schmutzige Weg eine halbe Stunde später in einen breiten Feldweg. Nach einer Biegung hinter einem Felsen stand ich unvermittelt in einem verlassenen Anwesen mit zwei Ruinen und einem vollständig erhaltenen Steingebäude.
Die Anlage war unzweifelhaft Jahrhunderte alt und mochte ehemals das Zentrum eines größeren wirtschaftlichen Gehöftes gewesen sein. Eng an eine schützende Felswand hingebaut, hatte es über die Zeiten dem Verfall und der Witterung getrotzt. Das gesamte Gut war eindeutig seit Jahrzehnten verlassen. Armdicke Efeuranken hatten Zeit gehabt, baumartigen Strukturen zu bilden und waren mit den Mauern zu einer untrennbaren Einheit verwachsen.
Das Haupthaus besaß zwei Stockwerke, der Grundriss maß circa 15 mal 20 Meter. Das Dach des Gebäudes war mit kleinen roten Tonziegeln gedeckt und von Ranken und Gras völlig überwuchert. Es wies jedoch keine ernsten Schäden auf und hatte das Innere des Gemäuers vor Wetterschäden geschützt. Die gesamte Konstruktion der Anlage war solide wie eine kleine Festung aus hellgrauen Granitblöcken erbaut. Holzstiele von verrosteten Gartengeräten und Harken lehnten an der Hausmauer daneben Reste eines Eselkarrens und von der Sonne grau gebrannte Holzhaufen. Weitläufige Efeuranken hatten im Laufe von Jahrzehnten alles überwuchert und zu einer skurrilen Einheit verbunden. Das verwitterte Holztor war halb offen. Nichts hielt mich davon ab, die alten Gemäuer mit kindlicher Abenteuerlust zu erforschen.
Unmittelbar hinter dem Eingang führte eine schmale Steintreppe in den ersten Stock. Ich stieg vorsichtig hoch. Ich arbeite mich bei solchen Erstbesichtigungen meist von oben nach unten vor. Die Räume des ersten Stockes waren groß und voll mit vermorschten, verwitterten Resten ehemaliger Einrichtungsgegenstände. Im Obergeschoß angelangt, registrierte ich im dunklen Hintergrund des ersten Raumes ein halbes Dutzend übereinandergestapelter Reisekoffer, davor einige offene Holzkisten.
Neben dem Aufgang standen im Licht eines kleinen Fensters zwei Truhen mit Hausrat. Ich erkannte Messingbehälter, Kerzenständer und einen Samowar, in dem eine Wespenkolonie ihr kugeliges Nest gebaut hatte. Ich schätzte die Gegenstände auf Anfang des letzten Jahrhunderts. Interessant für lokale antiquarische Touristenläden aber historisch wertlos. Um die Reste eines Teppichs in der Mitte des Raumes waren einige kleine Möbel und Tischchen gruppiert, dazwischen von Mäusen zerfetzte ehemalige Sitzpolster am Boden. Weitere angenagte Teppiche, gerollt und gefaltet, waren entlang der Wand gestapelt, daneben leere Gestelle. An Wandhaken hingen Reste von Lederzeug.
Ich befand mich in einer Mischung aus bewohntem Dachboden und Abstellkammer. Alles überdeckende Spinnweben manifestierten einen Schleier des Vergessens. Meine Augen hatten sich an das Halbdunkel inzwischen gewöhnt und ich erkannte Beistelltischchen mit Einlegearbeiten, glänzendes Schildpatt und einfache Metallapplikationen. Plötzliche scharrende Geräusche unter den Haufen verrotteten Gewebes ließen mein Herz schneller schlagen. Es gab in dieser Region viele Schlangen und sogar giftige Insekten. Ich beschloss, diesen Bereich morgen genauer zu inspizieren und mich stattdessen im unteren Teil umzusehen. Im Moment ging es mir nur darum, einen Überblick gewinnen.
Zurück im Erdgeschoss fand ich im ersten Raum rechts vom Eingang eine offene Feuerstelle, daneben eine gemauerte Bank und einen klobigen Holztisch. Ein dahinter liegendes Zimmer war mit acht Holzpritschen belegt, vermutlich der ehemalige Gemeinschaftsschlafraum.
Durch diesen Raum gelangte ich in eine kleine Hauskapelle mit Gebets- und Andachtskammer. Ich sah gemauerte Betschemel, ein Wasserbecken mit eingravierten Symbolen und an drei Wänden Nischen für kleine Statuen. Private Kapellen waren in dieser Region typisch für adlige Häuser bis zum 16. Jahrhundert. In einen Gutshof in dieser Einöde passte so ein Ort aber ganz und gar nicht und die Reste von Kerzenwachs in den Gebetsnischen zeugten davon, dass dieser Raum in den letzten Jahrzehnten noch benutzt wurde. Mein ‚sechster Sinn‘ sagte mir, dass es hier etwas zu entdecken gab.
Einen Raum weiter hinten, auf der Ostseite des Hauses, zum Felsen hin gerichtet, betrat ich eine Art Bibliothek. Drei Wände waren mit Bücherregalen vollgestellt. Alle Bücher waren leider von Mäusen und Insekten zernagt worden. Ich identifizierte Überbleibsel von Pergamentrollen, ebenfalls völlig zerfressen oder verschimmelt. Vor der vierten Wand lag ein wirrer Haufen morscher Bretter, Reste von Regalen, dazwischen zersplitterte Glaskolben. Beim Herumstochern fand ich Holzmörser, Rührstempel und rostiges Besteck. Mein antiquarischer Jagdinstinkt erwachte erneut - ich befand mich im Experimentierzimmer eines Menschen, der die Kunst des Lesens in einer Zeit beherrschte, als Rezepte und Tinkturen noch auf Pergament weitergegeben wurden. Ich witterte mögliche Geheimnisse eines Alchemisten oder Kräutermischers.
Hinter einem Bretterhaufen erregte eine niedere massive Holztüre meine Aufmerksamkeit. Ein inzwischen zerfallenes Regal musste diesen Durchgang früher vollständig versteckt haben. Ich schob die Bretterhaufen mit dem Fuß zur Seite und inspizierte die Türe. Sie besaß ein stabiles Metallschloss, was ungewöhnlich für Innenräume in dieser Zeit war. Ich rüttelte mit aller Kraft und trat zwischendurch gegen die Tür. Das Schloss rührte sich keinen Millimeter, aber das Mauerwerk war über die Jahrhunderte weniger stabil geblieben. Der Mörtel rund um die Türzarge begann zu bröckeln, die Türangeln verschoben sich innerhalb der Mauer. Dadurch konnte ich die Türfalle gegen den Widerstand der Schnappfeder hochdrücken und die schwere Türe aufziehen. Sie hing schief in den Angeln, so dass sie durch das eigene Gewicht automatisch zufallen würde. Ich schlüpfte durch den Eingang und sicherte die Türe sorgfältig mit einem Holzkeil. Das Schloss wäre beim Zufallen wieder eingeschnappt und ich hätte mich auf die dümmste Weise der Welt hoffnungslos selbst eingesperrt.
Der niedrige Durchgang führte in eine nach unten versetzte Kammer. Ein winziges Fenster, nicht größer als eine Schießscharte, beleuchtete den Eingangsbereich. Der Raum war kühl, da sich die Nordseite im ständigen Schatten des dahinter aufragenden Felsens befand. Vermutlich diente dies einst als Vorratslager und Speisekammer. Ein Stapel Kisten neben dem Eingang ergoss verfaulte und nicht mehr identifizierbare Inhalte über den Boden. Alle Verwesungsprozesse waren schon vor langer Zeit abgeschlossen, so dass einzig der Geruch von vermorschtem trockenen Holz vorherrschte.
Gebückt stieg ich vorsichtig drei kleine Steinstufen in das Gewölbe hinunter. Das Licht aus dem nun freigewordenen Türrahmen hinter mir reichte aus, um den gesamten Raum ausreichend einsehen zu können.
Er maß etwa vier mal drei Meter. Im Hintergrund erblickte ich ein mannshohes Möbelstück. Fassungslos stand ich davor und konnte nicht glauben, was ich sah.
…