Die Hütte
Dicht umschließt Efeu, morsches Holz. Der Duft von feuchtem Wald verbindet sich mit Modergeruch, der von der im Verfall begriffenen Hütte ausgeht. Neben der Eingangstür hat sich ein Fensterrahmen aus der Wand gelöst. Er ragt schräg, von einer verrosteten Schraube und den grünen Efeuranken gehalten, halb aus der Fassade. Spinnennetze und Staub bedecken das Glas, wo es noch vorhanden ist. Hinter den Scherben breitet sich der Raum aus, in dem ich mich als Kind so beschützt gefühlt hatte.
Vor drei Wochen hat mich der Brief vom Anwalt meiner Eltern darüber informiert, dass ich Eigentümer, der Hütte bin. Ich wusste nicht, dass wir die Hütte noch besitzen. Innerlich war ich davon ausgegangen, dass sie, wie fast alles, was meine Eltern besaßen, genauso ihrer Alkoholsucht, die ihnen auch das Leben kostete, zum Opfer gefallen war. Aber diese Hütte, in der ich die glücklichsten Zeiten meiner Kindheit verbracht habe, haben sie behalten. Vielleicht hatten sie einfach vergessen, dass sie das Grundstück gekauft und die Hütte mit, damals noch vorhandenen Freunden, selbst gebaut hatten. Vielleicht war es aber auch zu anstrengend gewesen, sich um einen Verkauf zu kümmern.
Ein Kranich schneidet mit seinem schrillen Schrei, der vom nahen Seeufer herüberschallt, meine Gedanken ab. Ich löse den linken Riemen meines Rucksackes, schlinge meinen Arm aus dem Träger und schwinge den Packsack vor meine Brust. Das Geräusch des Reißverschlusses lässt eine Spatzenfamilie, wütend schimpfend, aufsteigen, die meine Anwesenheit bisher geduldet hatte. Die Zähne des Innenreißverschlusses schaben über den Rücken meiner Hand, als ich nach dem Schlüssel suche. Nachdem der Rucksack wieder auf meinem Rücken gezurrt ist, betrachte ich kurz das kalte Metall, in meiner Hand und das Schloss, dass angesichts des modernden Holzes und der teilweise zerstörten Fenster, überflüssig wirkt. Natürlich wäre es ohne weiteres möglich das Haus ohne aufzuschließen zu betreten und es wundert mich ein wenig, dass es in all den Jahren anscheinend niemand gemacht hat. Vielleicht hatte der verwitterte, von der Natur schon fast voll eingenommene Zaun Respekt vor dem Eigentum anderer aufkommen lassen. Vielleicht herrschte hier in der Einsamkeit der Natur noch ein Respekt, der in Städten verloren gegangen zu sein scheint. Ich schüttele den Kopf, um mich von den überflüssigen Gedanken zu befreien, die mein Gehirn mir eingibt, schiebe eine Efeuranke beiseite und stecke den Schlüssel in das Schloss. Widerstand ist das Einzige, was ich erwarte, doch der Schlüssel dreht sich erstaunlich leicht. Das Schnarren des alten Metalls überträgt sich auf das morsche Holz. Ein dumpfes, kaum hörbares Konzert, alter, in Schwingung geratener, Holzfasern tönt von der Tür. Mit einem klacken, durch das der Einlass in Schwingen versetzt wird und einige Staubkörner von sich abwirft, gibt der Riegel die Tür frei. Ich lege meine Hand an den Rahmen und drücke sie auf. Überall glitzern Staubpartikel im Mittagslicht, das gebrochen durch die Fenster fällt. Strahlen und Lichtbalken durchströmen den Raum. Vor mir liegt die Fußmatte, die wir damals von einem Urlaubsfoto haben machen lassen. Es zeigte einmal eine Bucht, an dessen Horizont Segelboote über das Meer glitten. Nun zeigte es nur ein uneinheitliches Grau, das mit erdigem Braun bedeckt war. Unter meinen Füßen stöhnt eine Holzbohle. Es war ein anderes Knarren, heller und schnarrender als zu meiner Kindheit. Oft habe ich mich nachts noch einmal in den Wohnraum geschlichen. Ich kannte jede Knarrende Stelle, verfluchte sie, wenn ich nachts auf sie trat und daraufhin Geräusche aus dem Schlafzimmer meiner Eltern kamen, aber eigentlich mochte ich das Geräusch, es gab mir Sicherheit, die Sicherheit in einem realen Raum zu sein, die Sicherheit, wirklich zu existieren. Mein Wissen über die leisen und die lauten Stellen, stärkte mein Selbstbewusstsein. Das Prinzip der Selbstwirksamkeit, habe ich häufig bei Klienten, die wegen Ängsten in meine psychologische Praxis kommen angewendet. Auch durch kleine Dinge, kleine Versicherungen unseres Gedächtnisses, können wir uns, unser Selbst vergewissern.
Wenn ich bei meinen nächtlichen Spaziergängen nicht auf dem Weg zum Kühlschrank war, suchte ich meistens das kleine Bücherregal neben dem Kamin auf. Seine einst penibel horizontalen Bretter waren zu Schrägen geworden waren, auf denen Mäuse sich mit Rutschen vergnügen konnten. Auf der einen Seite hängen sie noch an ihrem Seitenteil. Die rechte Seite musste irgendwann nachgegeben haben. Vielleicht hatte sich auch nur das erste Brett gelöst, mit seinen, von Büchern beschwerten Gewicht, dann die anderen mit sich gerissen, bis das unterste von der, schon damals, alten Couch gestoppt wurde. Mit, unter mir knartschenden Bohlen, gehe ich zur rechten Wand, kniee mich in den Staub und streiche mit meiner Hand über das Sofa, deren Farben kaum zu erkennen sind, die großen Sonnenblumen, jedoch noch ihre Kontur zeigen. Ich hebe das Buch, das direkt vor mir liegt hoch. Beim Anheben teilt es sich in zwei Hälften, ein Packen Seiten fällt mit einem ploppenden Geräusch, als öffnet man eine Brauseflasche unter einem dicken Handtuch, auf das Sofa zurück. Staubwolken explodieren aus dem Sofa, wo die Seiten aufkommen. Ich betrachte die Staubpilze, während sie sich ausbreiten, auseinanderdriften, verteilen. Die obere Hälfte des einen Pilzes wird von einem Luftzug erfasst und Richtung Fenster gerissen, um sich dort weiter zu verteilen, bis keine Struktur mehr erkennbar ist. Der Luftzug kam aus dem alten Kamin, an dem wir fast jeden Abend gesessen hatten. Manchmal nur auf den alten Teppich zusammengeknäult, wie ein Haufen Spaghetti, Ma, mein Vater und ich, ineinander verschlungen, so dass von außen die Grenzen zwischen den einzelnen Körpern verschwommen sein mussten. Damals als Vater noch Schrieb und weniger trank als Mutter, noch Mutter war. Mein Blick fällt auf die alte Standuhr. Das schwere Pendel hatte sich irgendwann, in den Jahren des Verfalls gelöst, war auf den Boden der Uhr geknallt, dann nach vorne kippt und hat dabei die Scheibe zerbrochen, durch die ich ihr magisches hin- und herschwingen stundenlang beobachtet hatte. Nun Stach es wie ein Speer aus dem Kasten heraus, der sein erhabenes Aussehen aufgegeben hatte, von Rissen durchzogen, an vielen Stellen fehlte Holz, der als Staub auf den Boden gerieselt war. Auch Holzwürmer hatten ihren Weg in die alte Hütte gefunden, ihre einstigen Besitzer abgelöst.
Die Tür zur Küche war geschlossen. Mit knarrenden Schritten gehe ich durch den Raum, drücke die Türklinke nach unten, die unnatürlich weich nachgibt, das Schloss im morschen Holz nach oben hebelt. Beim Ziehen fühlt es sich an als würde ich das ganze Schloss aus der Tür ziehen aber die Tür gibt vorher nach, öffnet sich mit einem Knarren, als sie sich aus der Zarge löst. Kurz fürchte ich das sie mir entgegen fällt, aber dann schabt sie auf dem Boden und gibt den Blick in eine Voliere frei. Tauben hatten wohl den Weg durch die zerbrochenen Fenster gefunden. Überall liegen Kot und Federn. Ich schließe kurz meine Augen, auf denen die Bilder noch gebrannt sind und dann verschwindet der Schmutz, Federn, Kot, Staub, strömen aus dem Fenstern. Glasscherben fliegen wie an Fäden gezogen an ihren Ursprünglichen Platz. Risse in den Fenstern verschwinden. Holzfasern richten sich knatschend auf. Risse verschwinden und glatte Oberflächen machen den abstrakten Mustern Platz. Ich rieche den Kamin, der vom Vorabend noch warm ist. Ich sehe meine Mutter, wie sie den Wasserkessel auf den Herd stellt, Holzscheite, durch die kleine Klappe unter dem Kochfeld anzündet. Von draußen klingen die dumpfen Schläge in mein Ohr. Jedes Scheit das Vater zerteilt, wird sorgfältig auf den Holzstumpf gestellt, bevor die Axt auf ihn niedersaust. Klong, Klong. Ich sauge die Bilder, die Gerüche und Töne in mich ein, bevor ich die Augen öffne, mich umdrehe, die Küchentür vorsichtig wieder verschließe.
Bevor ich das Haus verlasse, werfe ich noch einen Blick auf die Treppe, die zu meinem Zimmer und dem Schlafraum der Eltern führt. Kurz denke ich darüber nach, die morschen Stufen zu betreten. Wahrscheinlich trägt sie mich eh nicht mehr. Ich wende mich zur Tür, nehme den Schlüssel wieder aus der Jackentasche, sehe ihn einen Augenblick an und stecke ich ihn dann tief in Tasche meiner Hose, in der die Erinnerungen, die an ihm kleben, sich mit meinem Körper verbinden. Vorsichtig schließe ich die Tür und schaue noch einmal auf die Balken, Bretter, Lack und Glas und ganz kurz, den Bruchteil eines Augenschlages steht alles wieder so stolz und prächtig da, wie ich es in Erinnerung habe. Dann drehe ich mich um und gehe in gerader Linie Richtung Norden, meinen Schatten vor mir hertragend. Nach einer Viertelstunde lichtet sich der Wald und vor mir liegt die Schneise, die sich immer weiter in ihn hineinfrisst. Bagger und Rodungsmaschinen stehen verlassen vor den schon gelegten Schienen, die sich bis zum Horizont zu ziehen scheinen. Nun ist es in Ordnung, nun können sie ihre Arbeit auch an dem Haus verrichten, alles, was ich aus ihm brauche, habe ich mitgenommen.