Seitenwind Woche 5: Verlassene Orte

Das vermisste Kind

Die Tür wurde von der Polizei aufgebrochen. Nackte Wände, mit abgeblätterten Putz blinzelten dem einwerfendem Lichtkegel entgegen. Abgebrochene Fingernägel, mit blutigen Schlieren, zierte eine Wandstelle. Aber sonst war der Raum kalt und leer.

Kloster Eldena

Der Himmel schaut von oben hinein.
Das ist so passend. Schließlich wurde hier täglich zum Himmel gebetet, besser gesagt zu Gott, den man im Himmel verortet.
Refektorium, Dormatorium. Viel ist nicht mehr da von unserem alten Zisterzienserkloster. Zur Zeit der Reformation wurden viele Klöster aufgegeben. Auch in Kriegen wurde einiges zerstört. Die Backsteine konnte man an anderen Orten gut gebrauchen, um Häuser und Ställe zu bauen.
So ist das eben. Es gibt immer Sieger und Verlierer.
Trotzdem sind diese Mauern ein Anziehungspunkt für Geschichtsinteressierte, Erholungsuchende, Urlauber und Konzertliebhaber. In dieser romantischen Kulisse finden jedes Jahr die Jazz-Evenings statt. Auch das Theater nutzt für Freiluftaufführungen das alte Gemäuer. Dann ist es nicht mehr einsam hier. Wo früher Mönche ernsthaft ins Gebet vertieft waren, wird jetzt gespielt, gefeiert, musiziert. Alles hat seine Zeit. Alles verändert sich, immer wieder, an jedem Ort.

11.11.2022
© Katrin Streeck

Wiedersehen in Eldena

In der kleinen Straße in Eldena, in der Lisa ihr Häuschen hatte, schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Wie von selbst bot sich mir ein Bild, das im Nu die alte DDR wieder aufleben ließ.
Magda allerdings war mit dem vor ihr liegenden Wiedersehen beschäftigt. Sie registrierte nichts von dem, was ich bei dem Anblick dieser grauen Idylle wahrnahm. Links und rechts der Straße standen Einfamilienhäuser, die nicht über ein gewisses Quantum an Trostlosigkeit hinwegtäuschen konnten. Selbst dann nicht, wenn jedes Häuschen im Besitz eines Vorgartens war.
Das Grau der Fassaden war mal mehr, mal weniger von Blässe und Rissen gezeichnet. Die Sicht ins Innere der farblosen Klötze durch schwere Gardinen versperrt, hier und da durch eine Orchidee, Begonie oder Alpenveilchen geschmückt. Ich mutmaßte, dass es sich um den kläglichen Versuch, alltäglicher Tristesse zu entkommen, handeln könne. Oder offenbarten sich hier Überbleibsel aus längst vergangenen DDR-Zeiten? Restbestände, um dem Denunziantentum unliebsamer Nachbarschaft, und den daraus resultierenden Stasi-Bespitzelungen zu entfliehen?, fragte ich mich. Ein Anflug von Depression drohte von mir Besitz zu ergreifen und ich bemerkte, wie ein leichtes Schauern meinen Körper durchzog. Ob diese Wahrnehmung meinen düsteren Erinnerungen entsprungen war? Die damals, in der Bundesrepublik vorherrschende politische Propaganda verkaufte ihren Bürgern, der Westen sei das Paradies. Im Osten hingegen würden die Menschen ein eher armseliges Dasein fristen. Und wir glaubten das. Ich glaubte das! Jeder zweite hatte doch irgendwo in der Zone Tante, Onkel, oder andere popelige Verwandtschaft. Und wir Wessis rühmten uns mit unserem Zugang zum Intershop. Mit Paketen, die pünktlich zu Weihnachten nach Drüben geschickt wurden, gespickt mit Westschokolade und echten Levis Jeans, nicht die blöden Nachgemachten. Ganz schön überheblich, dachte ich. Egal. Vielleicht lag meine gedrückte Stimmung auch nur an den noch recht kahlen Vorgärten, obwohl einige Narzissen und Tulpen mutig ihre Köpfe in die Höhe streckten, die geschmiedeten Einzäunungen still vor sich hin rosteten und kein Mensch weit und breit zu sehen war, zumindest nicht körperlich. Ich wusste es nicht.

Nr. 5, Nr. 7, 9…, da ist es ja schon<<, sagte ich, während ich mein Auto im Schritttempo über das Holperpflaster lenkte.
Ich parkte, ohne darauf achtzugeben, ob irgendwer dem Sandweg mühevoll mit einer Harke ein Muster beigebracht hatte und meine Westreifen nun alles platt walzten.
Magda stieg langsam aus, rückte ihre Brille zurecht, zottelte an ihrer Jacke herum und vergaß, die Autotür zu schließen, was ein Lächeln auf meine Mundwinkel zaubern ließ.
Ohne sich nach mir, oder der offenstehenden Tür umzudrehen, schritt sie langsam auf die kleine Gartenpforte zu. Ich schnappte mir Blumen und Pralinenkasten und folgte ihr. Jetzt war ich ebenso aufgeregt wie meine Mutter.
Auf dem schmalen Gartenweg, der zum Haus führte, kam ich nicht umhin, zu registrieren, dass bereits an vielen Stellen des Mauerwerks der Mörtel abgeblättert war. In diesem Augenblick öffnete sich die Haustür:
Magda!! Mein Magdachen!!<<.
Lisl!! Mein Liselchen!!<<
Es war herzzerreißend. Die beiden, hoch betagten Damen lagen sich in den Armen und weinten vor Freude.
Meine Mutter, klein und schmal, verschwand beinahe hinter der großen und recht übergewichtigen Lisa Sperling, die sie herzlich in ihre Arme schloss. Ich blieb derweil auf der Treppe stehen und beobachtete das Szenario. Ich war gerührt.
Wir schoben uns durch einen engen Flur, in eine riesige Wohnstube, von der aus man einen großartigen Blick in den gigantischen Garten hatte, der hinter dem Haus lag. (Vergessen war der trostlose Vorgarten).
Die beiden Freundinnen setzten sich auf das alte Sofa, das schon deutlich in die Jahre gekommen war. Die gehäkelten Spitzendeckchen waren verrutscht, sodass die abgewetzten Armlehnen sich ihren Weg ins Freie suchten. Ich setzte mich in den Ohrensessel und hatte das Gefühl, dass sich einzelne Sprungfedern in meinen Po bohrten.
Mein Blick wanderte durch den, mit allerlei Nippes, gespickten Raum. Ein Wackeldackel nickte mir freundlich zu, der nebst Klopapierpuppenprinzessin und Porzellanvögeln aus der Vitrine hervorlugte. Das kitschige Bild einer dunkelhäutigen Amazone, mit aus der Bluse hervorquellenden üppigen Brüsten, hing über dem, mit Papieren übersäten Schreibtisch und starrte auf mich herunter.
Ich musste grinsen bei der Vorstellung, dass es sich hierbei wahrscheinlich um ein Geschenk popeliger Verwandtschaft aus dem goldenen Westen gehandelt hatte. Irgendein billiges Mitbringsel eines Italienurlaubs. Die einstigen Käufer waren sicher froh gewesen, sich dieser Geschmacklosigkeit entledigt zu haben.
Und ab dann existierte ich nicht mehr für die Damen und ich genoss es.

Ich habe viele Geschichten über Geister und Vampire und dergleichen gelesen und dachte, ich wäre furchtlos, aber als ich den Fuß in das verlassene Haus setzte, wurde ich eines besseren belehrt. Mir stellten sich die Nackenhaare auf, als zerbrochenes Glas unter meinen Sohlen laut knirschte und ich nichts mehr hörte, als meinen hektischen Atem. Ich versuchte konzentriert langsam ein und aus zu atmen, doch atmete dabei nur den Staub ein, der träge im Schein der Taschenlampe tanzte. Ich nieste herzhaft und presste mir anschließend erschrocken die Hand auf Mund und Nase. Was wenn mich jemand gehört hatte?
Wer sollte dich hier hören, Dummerchen? Du bist allein. Und du ganz allein hast dich auf diese Mutprobe eingelassen ins Haus des alten Schneiders einzusteigen.
Ich ließ das Licht der Taschenlampe durch die Eingangshalle wandern. Zu meiner linken und rechten Seite gingen Türen ab. Kurz vor der rechten Tür befand sich eine Treppe ins Obergeschoss, aber ich beschloss, erstmal unten zu bleiben, hatte ich doch schon Geschichten gehört über Menschen, die im morschen Boden eingebrochen waren und festsaßen. Außerdem - sollte es hier wirklich Geister geben, befanden die sich doch wohl eher im Keller oder Dachboden, eben da, wo die Erinnerungen aufbewahrt wurden.
Ich ging zu der Tür auf meiner rechten Seite. In dem Raum schien sich die Küche befunden zu haben. Ein altmodische Teekessel stand verloren auf einem vollgestaubten Tisch auf dem sich sonst nur noch ein Jagdmesser befand. Ich stellte mir vor, wie der alte Mann hier jeden Morgen seinen Tag begonnen haben musste. Mit Zeitung und Tee. Ich versuchte mir vorzustellen, mit was für Sorgen, die Menschen damals konfrontiert gewesen sein mussten. Heutzutage hatten wir keine Sorgen mehr, denn alles was damals prophezeit worden war, war bereits eingetreten. Niemand hatte wirklich etwas gegen den Klimawandel unternommen und die Welt war den Bach runtergegangen. Wir kämpften nur noch ums Überleben. Als dieser Mann hier gelebt hatte, da hatten die Menschen bestimmt noch Träume gehabt und diese verfolgt. Träume waren in dieser neuen Zeit unbezahlbarer Luxus. Ich ließ den Kegel der Taschenlampe schweifen und erschrak. Ein wildes Tier starrte mich mit gebleckten Zähnen an. Auge in Auge standen wir dort und ich versuchte mich daran zu erinnern, was zu tun war. Eine Hand tastete währenddessen schon fast automatisch nach dem Messer in meiner Tasche. Doch seltsamerweise rührte sich das Tier nicht weiter. Ungewöhnlich. Ich trat näher, nur um festzustellen, das es sich hier um eine Trophäe handelte. Eine Wildkatze, ausgestopft und auf einem Regal an der Wand ausgestellt, neben weiteren eingestaubten Trophäen. Ein Adler starrte mich aus wilden Augen herausfordernd an so wie ein gigantischer Eber. Daneben zahlreiche Hirschgeweihe. Diese Hirsche kannte ich nur aus Büchern. Früher haben die Menschen Nahrung aus Hirschen zubereitet, hatte ich gelesen. Bis irgendwann der letzte seiner Art gefallen war und nach ihm irgendwann die Damen seiner Art.
Irgendwann werde ich auch fallen, dachte ich, wenn ich nicht aufhörte, so sehr an Jens zu hängen. Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich die blöden Gedanken an Jens so abschütteln und setzte meinen Weg fort. Mir fiel ein Luftzug auf. Eines der Fenster war eingeschlagen. Ich hätte die Tür also gar nicht aufbrechen müssen. War der alte Mann überfallen worden? Das zerbrochene Glas und die anderen Spuren von Zerstörung könnten alles bedeuten von Kampf bis hin zu natürlichem Verfall. Ich ließ den Blick über den rostigen Teekessel schweifen und den löchrigen alten Teppich mit dem orientalischen Muster. Der dunkle Holztisch wies viele dunkle Flecken auf, von denen ich gar nicht wissen wollte, woher sie stammten. Manche sahen aus, als wäre hier Blut geflossen, auch wenn ich nicht den vertrauten Geruch nach Eisen der üblicherweise von Blut ausging wahrnehmen konnte. Meine Nase schien verstopft vom Staubgeruch. Der Geruch vergessenen Lebens.
Und irgendwann wirst auch du so enden, flüsterte mein Verstand mir zu.
Ich musste hier raus. Dringend.
Als ich stolpernd meinen Weg in Richtung Haustür suchte, stieß ich eine Vase um. Vertrocknete Blumen rieselten zu Boden nebst einem Geruch nach fauligem Blumenwasser. Immerhin - Sinn für Romantik oder Dekoration hatte der Alte gehabt. Dem Blick auf verstaubte Porzellan-Hirsche nach, die trotz Staubschicht definitiv ansprechender waren als die Jagdtrophäen, die strengen Glasauges den Verfall des Hauses zu überwachen schienen.
Ich war froh, als ich endlich den gruseligen Türknauf zwischen meinen Fingern spürte. Wollten die Jungs etwas Essbares finden, würden sie selbst dieses Haus auf den Kopf stellen müssen. Ich könnte es nicht. Ich musste hier raus. Einfach nur raus. Die fremden Erinnerungen schienen mich erdrücken zu wollen.

Das Haus

Zwei verrostete, schräg emporragende Pfosten erinnerten daran, wo einst das Eingangstor gewesen war.
Unkraut überwucherte die verbliebenen Metallstreben des Zauns.
Auch der Boden war weitgehend mit Grün bedeckt, nur gelegentlich ließen sich einstige Kacheln des Gehwegs noch erahnen.

Eine Seite des Hauses wurde von den unzähligen Blättern der Sträuche und Bäume verdeckt, die sich über viele Jahrzehnte immer weiter ausgebreitet hatten. Die andere Seite war nur deshalb nicht zugewuchert, da ein Blitz offensichtlich in einen Baum eingeschlagen war und einen Teil der Vegetation verbrannt hatte. Auch am Haus zeigten sich noch Brandspuren. Ansonsten wirkte die Farbe grau. Blätterte ab.
Ein trister Anblick.

Erst, wenn man um das Haus herumging und den rückliegenden Garten sah, ließ sich erahnen, dass dies einst ein heimeliger Ort gewesen war:

Eine Terrasse mit Springbrunnen, eine Hollywoodschaukel, gußeiserne Gartenmöbel.

Verfallen, doch noch erkennbar, regten die Fantasie an.

Dieses eine Haus hatte Glück gehabt, es war nicht zerstört, nur verlassen worden. Von der Existenz des Nachbarhauses zeugten lediglich überwucherte Steinhaufen und Schutt, denn es war im Krieg von einer Bombe getroffen worden.

Schirmlampengespenster

Ich schluckte unbehaglich und blickte auf die grüne Tür vor meiner Nase. Ein Nagel steckte in ihr und von ihm baumelte ein Deko Frosch, der mir freundlich in die Seele blickte. Was machte ich eigentlich hier? Was erhoffte ich mir davon gerade jetzt diese Wohnung zu besuchen, wo ich doch jahrelang dazu Gelegenheit hatte? Meine Augen huschten wie von selbst nach links und tatsächlich fanden sie, was sie erwarteten. Ein grünangemaltes Tonschild auf dem verschnörkelt unser Nachname stand. Mein Blick blieb einige Sekunden daran hängen, denn ich hatte damals bei der Anfertigung geholfen. Nun war ich aber nun mal hier und wenn ich mein Vorhaben durchführen wollte, brachte es nichts, Zeit zu schinden.

Ich kramte meinen Schlüsselbund aus meiner Jackentasche hervor und begann nachdem richtigen Schlüssel zu suchen. Es war ein Zweitschlüssel, den mir meine Oma geschenkt hatte, um auch in die Wohnung zu kommen, wenn sie gerade nicht da war. Und das war sie nicht. Es fiel mir nicht sonderlich schwer, besagten Schlüssel zu finden, da er mir durch grünen Nagellack erkenntlich gemacht wurde. Stirnrunzelnd sah ich meiner zitternden Hand dabei zu, wie sie sich auf das Schlüsselloch zu bewegte. Es klickte. Erleichterung machte sich in mir breit, als ich lächelnd feststellte, dass sie das Schloss nicht gewechselt hatte.

Die Tür öffnete sich nach innen, was dazu führte, dass der Deko Frosch an seinem Nagel hin und her schwang, als würde er mich in die Wohnung winken. Mich sammelnd, blickte ich hinab auf die grüne Fußmatte vor mir. »You’re welcome« stand darauf. Ob Oma auch so von mir sprechen würde, wenn sie wüsste, dass ich heimlich in ihrer Wohnung rumschnüffelte? Jetzt war es sowieso zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Ich trat nach vorne, der Deko Frosch sauste an mir vorbei, die Tür fiel hinter mir zu und ich war in der Wohnung.

Das Erste, was einem Fremden auffallen mochte, wenn er die Wohnung betrat, war, dass sie außerordentlich grün war. Exzentrisch hatten meine Eltern abwertend gesagt, interessant hatten ihre Nachbarn kommentiert. Aber da ich im Grunde kein Fremder war, stellte ich lediglich fest, dass sich nichts geändert hatte. Das dachte ich jedenfalls.

Ich stand im Flur und zog aus Gewohnheit meine Schuhe aus. Dann stellte ich sie in den Schuhschrank, der hinter der Tür gewesen war. Oma hatte ihn billig erstanden und später eigens bemalt. Das war vor meiner Geburt gewesen. Damals als Oma noch mit Opa und Vater in einem Haus auf dem Land gewohnt hatte. Er musste einmal schwarz gewesen sein, wie man an den Griffen erkennen konnte, wo die grüne Farbe allmählich abblätterte. Vater hatte mal erwähnt, wie schlecht der bemalte Schrank zum Rest des Hauses gepasst hatte, aber hier fügte er sich nahtlos ein. Ich hatte das Landhaus nie gesehen, aber konnte mir meine Oma auch gar nicht in einer Umgebung vorstellen, die nicht einheitlich grün war. Meiner Meinung nach vermittelte der Schrank ein gutes Bild über Omas Person. Sie hatte eine Waldlandschaft auf ihn gemalt und in der Mitte des Schrankes war ein roter Fliegenpilz abgebildet, auf dem ein fröhlich grinsender Frosch hockte. Wenn man die Schranktür öffnete, teilte sich der Pilz in der Mitte und man fand einen Fliegenpilz in der linken Schrankinnentür und einen zwinkernden Frosch auf der rechten. Der Schrank musste ihr recht wichtig sein, denn er war einer der wenigen Dinge, die sie nach Opas Tod mit in ihre Wohnung genommen hatte.

Ich schloss die Schranktür und drehte mich dem Raum zu. Ich stand auf einem hellgrünen Teppich, der sich weich unter meinen Füßen anfühlte. Links von mir befand sich der Schuhschrank und rechts hing ein großer Wandspiegel, daneben stand ein Jackenständer. Sonst war im Flur nicht viel. Ich ging langsam durch die Räume. In der Küche standen umgedrehte Marmeladengläser, zum Auskühlen. Anscheinend hatte sie gestern noch Marmelade gemacht. Damals tat sie das häufiger und hatte mich das ein oder andere Mal zum Helfen engagiert. In der Spüle stand dreckiges Geschirr. Sie hatte es nicht mehr weggeräumt. Ich ging ins Wohnzimmer. Von hier hatte man eine gute Aussicht auf ihren kleinen Garten. Ein Gewächshaus und ein Hochbeet ließen sich von hier erkennen. An den Wohnzimmerfenstern hingen grasgrüne Vorhänge und auf den Fensterbänken standen Pflanzen, die einen gesunden Eindruck machten. Vielleicht hatte Oma sie gestern Morgen noch gegossen.

Ich hielt inne, als mein Blick den Ledersessel neben dem Fenster streifte. Er war nicht grün, sondern braun und hatte mal meinem Opa gehört. Als Kind hatte ich mich oft zusammen mit Oma hineingesetzt, und in den Garten geblickt, während sie mir etwas vorlas. Einmal, als es abends schon früh dunkel wurde und ich nicht schlafen konnte, weil es gewitterte, hatten Oma und ich zusammen aus Papier lauter Gespenster geschnitten und diese auf den Schirm einer Stehlampe geklebt. Wenn man dann das Licht anmachte, flogen an der Decke lauter Geister, was mich wunderbar vom Gewitter abgelenkt hatte, bis ich schließlich in Opas Sessel neben Oma eingeschlafen war. Seitdem war der Lampenschirm mit den Gespenstern immer da gewesen, doch jetzt hing an der Lampe ein gewöhnlicher Schirm. Wahrscheinlich war es unpraktisch den Gespensterschirm zu verwenden, der weniger Licht spendete, doch ein Teil von mir fühlte sich enttäuscht.

Nach und nach fielen mir mehr Dinge auf, die fehlten. Ein Foto, von uns, dass immer auf ihrem Nachttisch gestanden hatte, Bilder die ich als Kind für sie gemalt hatte und die früher stolz an den Wänden hingen. Selbst die grünen Topflappen, die ich mit viel Mühe und Not für sie gehäkelt hatte, waren nicht mehr aufzufinden.

Nun stand ich wieder im Flur und blickte nachdenklich auf den Teppich, während ich mir schmerzhaft vor Augen führte wie viel Zeit vergangen war, seit ich mit meinen Eltern weggezogen war. Ich hatte noch ein paar Mal mit ihr telefoniert, doch auch das wurde zunehmend weniger als mein neues Leben mehr und mehr meiner Aufmerksamkeit verlangte. Und was hatte ich auch erwartet? Dass die Zeit einfriert, als wäre ich nie fort und wir säßen immer noch bei Gewitter unter der Gespensterdecke? Schnaufend rieb ich meine Nasenwurzel und legte mich mit dem Rücken auf den Teppich. Nein, ich konnte meine Oma gut verstehen. Wahrscheinlich hatte sie all die Sachen längst weggeschmissen und wer könnte es ihr verübeln. Natürlich war in gewisser Weise vieles gleich geblieben, wie das Tonschild an der Tür, das Schloss, der Sessel, der Schuhschrank und der Farbe Grün, doch in den kleinen Dingen spürte man die Distanz und das war allein meine Schuld.

Plötzlich vibrierte es in meiner Jackentasche. Erschrocken nahm ich den Anruf an, in dem eine Sekretärin des Krankenhauses mich darüber informierte, dass meine Oma nun aufgewacht sei. Tiefe Dankbarkeit überkam mich. Jetzt würde ich doch noch die Gelegenheit haben, meiner Oma wieder näher zu kommen. Ich riss den Schuhschrank auf und griff nach meinen Schuhen. Innerlich war ich schon wieder auf dem Rückweg zum Krankenhaus, weswegen meine Bewegungen unbedacht waren und eine smaragdgrüne Box aus dem Schrank fiel, die ich vorher gar nicht wahrgenommen hatte, aber wohl neben meinen Schuhen gestanden hatte.

Ich war vor Überraschung in der Bewegung erstarrt, aber jetzt überkam mich die Neugierde. Ich öffnete die Box und das Erste, was mir ins Auge fiele, war der Schirm mit den aufgeklebten Gespenstern. Vor Unglauben fing ich an zu lachen und als ich nach und nach all die anderen Dinge entdeckte, die ich zuvor in der Wohnung vermisst hatte, konnte ich mein Glück kaum fassen. Ich nahm den Lampenschirm in die Hand und ließ den Moment einige Sekunden auf mich wirken. Dann zog ich meine Schuhe an, räumte die anderen Dinge wieder in die Box und die Box in den Schuhschrank. Kurz darauf eilte ich aus der Wohnung mit dem Lampenschirm und der vagen Idee diesen über die Lampe in Omas Krankenhauszimmer zu stülpen. Der Deko Frosch winkte mir fröhlich hinterher.

Das Schlafzimmer

Er stieß die Tür mit seinem Handrücken ein Stück auf, aber nur so weit, dass sie nicht an den großen Schrank stieß - so wie sie es unweigerlich tat, wenn man sie in Wut oder kindlicher Unvorsichtigkeit bewegt hatte. Schließlich war das Möbelmonster ein paar Zentimeter zu breit, um einen vollständige Öffnung der Tür zuzulassen. Wer sich damals vermessen hatte, blieb ungeklärt. Er glaubte, dass es der Vater war, der es aber nie hatte zugeben können. Wie so oft, wenn er nicht recht gehabt hatte.

Der Vater hatte die beiden Schrammen von damals offensichtlich mit einigem Aufwand ausgebessert, denn Tür und Möbeloberfläche wirkten wie neu. Dass das so war, war ihm zuvor nie aufgefallen.

Die Schrankwand auf der rechten Seite des Zimmers stand in ihrer ganzen Wucht da wie immer. Doch er war nicht mehr das kleine Kind, das ihm heimlich und mit pochendem Herzen gegenüberstand. Denn dieses Zimmer war immer tabu gewesen. Es war das „Geht-dich-nichts-an-Zimmer“. Betreten hatte er es aber dennoch, wenn auch selten. Und wenn, dann nur wenn die Eltern nicht da waren. Wohlgefühlt hatte er sich darin nie. Die Neugier war nur manchmal größer als die Furcht vor Ärger mit den Eltern.

Bett. Nachttische. Schrankwand, es war alles aufeinander abgestimmt, gehalten in dieser rotbraunen Cremefarbe, die Holz vortäuscht und doch nur gelackte Geschmacklosigkeit war. Eben das, was auch heute noch in vielen 08/15-Hotels verbaut wurde. Nicht, dass es edel aussah, oder besonders hübsch. Keine Handwerkerarbeit. Möbelfabrikware. Aber sie war zweckmäßig. Und abwischbar. Das war bei der Auswahl wichtig gewesen.

Sein Blick fiel in den Spiegel, der sich über zwei der vier Schiebetüren des Schranks erstreckte. Darin sah er den Rest des Zimmers, mit Ausnahme dessen, was er mit seinem Körper verdeckte. Und mit Ausnahme des wuchtigen geschnitzten Holzkreuzes, dessen Umrisse sich noch auf der Tapete abzeichneten. Der Vater musste es abgehängt haben.
Das Bett zur Türseite war gemacht, die Decke makellos glattgezogen, so wie es die Mutter immer getan hatte.

Er drehte sich um. Die andere Seite des Bettes war benutzt, aber nicht unordentlich. Die Schlafdecke war zurückgeschlagen und hing etwa zu einem Drittel über dem Fußteil des Bettes. Das Kissen war am Kopfende aufrecht gestellt. Wahrscheinlich hatte das jemand vom Bestattungsinsittut gemacht, als man den Vater mitgenommen hatte.

Ob der Vater gern in dem Schlafzimmer weitergelebt hatte, nachdem die Mutter nicht mehr war? Er hatte ihn nie gefragt. Er hatte sich das auch vorher nie gefragt, wenn er ehrlich war.
Die Möbel hatte die Mutter damals ausgesucht. Das hatte der Vater damals ihr überlassen, wie alles andere im Haushalt. Außer staubsaugen, das war ihm wichtig, und darin war er unübertroffen gründlich.

In der Ecke neben dem Fenster stand jetzt einer dieser unbequemen Holzstühle, die früher zum Esstisch gehört hatten, irgendwann ausrangiert, aber dann nie weggeben worden waren. Sie wanderten auf den Dachboden, zusammen mit all dem anderen Kram, von dem man ja nie wusste, ob man sie nochmal brauchen werden würde.

Der Stuhl war ein Fremdkörper in diesem Zimmer, in dem jedes Teil zum anderen passte, sogar der Einband der Bibel, die akkurat vor dem Nachtischlämpchen der Mutter lag und seit ihrem Tod nicht einen Zentimeter von dort bewegt worden war, war in diesem Farbton gehalten.

Auf dem ehemaligen Küchenstuhl hatte der Vater zuletzt abends seine Tageskleidung abgelegt. Die Mutter hätte das nie geduldet. Jetzt war es egal. Denn auch Hemd, Hose und Strickjacke lagen längst nicht mehr über der Lehne. Er hatte den Bestattern gesagt, dass sie sie dem Vater anziehen sollten. Es seien seine Lieblingsstücke gewesen. In Wirklichkeit hatte er nicht gewusst, ob das stimmte. Aber das war ja jetzt auch seine kleinste Sorge.

Der Dämon sitzt mit dem Rücken zur Wand gleich neben der Standuhr. Ein altes Modell – die Standuhr –, das Holz sorgsam poliert, funkelnd im Dämmerlicht, die Zeiger sogar im Takt von Stunde und Minute gehend, aber mit aufgestemmtem Glasschrank.
Ein Dieb ists gewesen: beim Anblick des schimmernden Goldes gierig geworden, doch zuletzt vom schieren Gewicht abgehalten? Leiser Sohlen ist er gekommen, hat die Tür zum Zimmer sogar offen vorgefunden und ist wieder gegangen – unverrichteter Dinge abgezogen.
Wäre das Zimmer nicht blitzblank geputzt, die Spuren – solche von Schuhgröße 39 – wären noch im Staub zu sehen.
Vielleicht aber ist unser Dieb auch vorm Dämon zurückgeschreckt, jenem auf Hochglanz polierten Götzen, dessen Maske zum Zähnefletschen gereizt ist und dessen glutrote Knopfaugen im Dunkeln leuchten, als brenne ein kaltes Feuer in ihnen. Der jeden Interessenten gleich abschätzig lächelnd begrüßt. Des übergangenen Goldes wegen mögen wir den Dieb schelten und ihn sogar fragen, ob er sich seiner Profession vielleicht schämt, nicht wenigstens einmal am Pendel gezerrt zu haben, aber, dass er jenen hässlichen Teufel hat sitzen lassen, das wollen wir ihm doch als guten Geschmack anrechnen. Und dass er das Zimmer auch sonst hat unberührt gelassen, zeugt wohl von einem glücklichen Händchen.
Was auch stehlen?
Die vielen Masken, die nur das Überbleibsel eines traurigen Theatersortimentes sind – nachdem sich alle Schausteller ihre Lieblingsstücke herausgenommen hatten und also dem Hausmeister vergönnt gewesen war, einen Platz für die Reste zu finden? (Denn das Maximus Hilarius hat ja leider, leider dichtgemacht – nach dem Unglück, ja.) Die Masken also, die jetzt an den Wänden hängen, kreuz und quer, krumm und schief, manche gar überkopf – allesamt lieblos befestigt an rostigen Nägeln?
Oder die um runden Draht herum vielfarbig gestrickten Schnüre? Wohl solchen scheußlichen Traumfängern nachempfunden, die selbst erst jene Träume gebären, die sich dann im beißenden Farbspiel hoffentlich verfangen.
Die um einen Bettpfosten geschlungenen wertlosen religiösen Kinkerlitzchen vielleicht: Kreuz-Kette, Kreuz-Armband, Magischer-Stein-Schmuck?
Das altbackene Bett selbst? – ein kleiner Scherz. Entschuldigung.
Den kleinen Beistelltisch? – offenbar unmittelbar aus Sperrholz gefertigt und im Laufe vieler unbarmherziger Jahre bereits grauer geworden als so mancher gescheiterter Zirkusclown. (Nein, wirklich es tut mir leid ums Hilarius. Schreckliche Sache.) Die alten, zerfledderten Zeitungen obenauf? (Müssen wirklich furchtbar interessant gewesen sein, so zerlesen sie sind.)
Den Schreibtisch? – nicht einmal mit genügend Selbstvertrauen ausgestattet, um im Zimmer zu stehen, nein, gegen die Wand geduckt, scheinbar erdrückt vom Gewicht des riesigen Spiegels auf dem Buckel! Den Spiegel – wirklich? So angelaufen der ist, macht er noch jeden Betrachter zum gehörnten Dämon!
Vielleicht aber den Kronleuchter? – groß und schwer, vierarmig, gedreht und gedrechselt, von mattem Glanz mit auffallenden Ziselierungen, aber leider alle Halterungen von Wachs verklebt. Außerdem: Unser Dieb hätte schon ein Hüne sein müssen, um den Kronleuchter zu erreichen – und Schuhgröße 39 macht keine Hünen.
Nein, der Dieb verließ das Zimmer aus gutem Grund unverrichteter Dinge – dem Dämon ist noch keiner zu nahe gekommen!
Was denn? Was in den Schubladen des Schreibtischs ist, wollt ihr wissen? – Guckt doch selbst nach, ha! Unser Dieb jedenfalls hat sie zugelassen und ich weiß, er tat gut daran!
Und jetzt still! – da sind Interessenten an der Wohnungstür und ich will sehen, ob sie dem Dämon an sein Geheimnis gehen!

Die Hütte

Dicht umschließt Efeu, morsches Holz. Der Duft von feuchtem Wald verbindet sich mit Modergeruch, der von der im Verfall begriffenen Hütte ausgeht. Neben der Eingangstür hat sich ein Fensterrahmen aus der Wand gelöst. Er ragt schräg, von einer verrosteten Schraube und den grünen Efeuranken gehalten, halb aus der Fassade. Spinnennetze und Staub bedecken das Glas, wo es noch vorhanden ist. Hinter den Scherben breitet sich der Raum aus, in dem ich mich als Kind so beschützt gefühlt hatte.
Vor drei Wochen hat mich der Brief vom Anwalt meiner Eltern darüber informiert, dass ich Eigentümer, der Hütte bin. Ich wusste nicht, dass wir die Hütte noch besitzen. Innerlich war ich davon ausgegangen, dass sie, wie fast alles, was meine Eltern besaßen, genauso ihrer Alkoholsucht, die ihnen auch das Leben kostete, zum Opfer gefallen war. Aber diese Hütte, in der ich die glücklichsten Zeiten meiner Kindheit verbracht habe, haben sie behalten. Vielleicht hatten sie einfach vergessen, dass sie das Grundstück gekauft und die Hütte mit, damals noch vorhandenen Freunden, selbst gebaut hatten. Vielleicht war es aber auch zu anstrengend gewesen, sich um einen Verkauf zu kümmern.
Ein Kranich schneidet mit seinem schrillen Schrei, der vom nahen Seeufer herüberschallt, meine Gedanken ab. Ich löse den linken Riemen meines Rucksackes, schlinge meinen Arm aus dem Träger und schwinge den Packsack vor meine Brust. Das Geräusch des Reißverschlusses lässt eine Spatzenfamilie, wütend schimpfend, aufsteigen, die meine Anwesenheit bisher geduldet hatte. Die Zähne des Innenreißverschlusses schaben über den Rücken meiner Hand, als ich nach dem Schlüssel suche. Nachdem der Rucksack wieder auf meinem Rücken gezurrt ist, betrachte ich kurz das kalte Metall, in meiner Hand und das Schloss, dass angesichts des modernden Holzes und der teilweise zerstörten Fenster, überflüssig wirkt. Natürlich wäre es ohne weiteres möglich das Haus ohne aufzuschließen zu betreten und es wundert mich ein wenig, dass es in all den Jahren anscheinend niemand gemacht hat. Vielleicht hatte der verwitterte, von der Natur schon fast voll eingenommene Zaun Respekt vor dem Eigentum anderer aufkommen lassen. Vielleicht herrschte hier in der Einsamkeit der Natur noch ein Respekt, der in Städten verloren gegangen zu sein scheint. Ich schüttele den Kopf, um mich von den überflüssigen Gedanken zu befreien, die mein Gehirn mir eingibt, schiebe eine Efeuranke beiseite und stecke den Schlüssel in das Schloss. Widerstand ist das Einzige, was ich erwarte, doch der Schlüssel dreht sich erstaunlich leicht. Das Schnarren des alten Metalls überträgt sich auf das morsche Holz. Ein dumpfes, kaum hörbares Konzert, alter, in Schwingung geratener, Holzfasern tönt von der Tür. Mit einem klacken, durch das der Einlass in Schwingen versetzt wird und einige Staubkörner von sich abwirft, gibt der Riegel die Tür frei. Ich lege meine Hand an den Rahmen und drücke sie auf. Überall glitzern Staubpartikel im Mittagslicht, das gebrochen durch die Fenster fällt. Strahlen und Lichtbalken durchströmen den Raum. Vor mir liegt die Fußmatte, die wir damals von einem Urlaubsfoto haben machen lassen. Es zeigte einmal eine Bucht, an dessen Horizont Segelboote über das Meer glitten. Nun zeigte es nur ein uneinheitliches Grau, das mit erdigem Braun bedeckt war. Unter meinen Füßen stöhnt eine Holzbohle. Es war ein anderes Knarren, heller und schnarrender als zu meiner Kindheit. Oft habe ich mich nachts noch einmal in den Wohnraum geschlichen. Ich kannte jede Knarrende Stelle, verfluchte sie, wenn ich nachts auf sie trat und daraufhin Geräusche aus dem Schlafzimmer meiner Eltern kamen, aber eigentlich mochte ich das Geräusch, es gab mir Sicherheit, die Sicherheit in einem realen Raum zu sein, die Sicherheit, wirklich zu existieren. Mein Wissen über die leisen und die lauten Stellen, stärkte mein Selbstbewusstsein. Das Prinzip der Selbstwirksamkeit, habe ich häufig bei Klienten, die wegen Ängsten in meine psychologische Praxis kommen angewendet. Auch durch kleine Dinge, kleine Versicherungen unseres Gedächtnisses, können wir uns, unser Selbst vergewissern.

Wenn ich bei meinen nächtlichen Spaziergängen nicht auf dem Weg zum Kühlschrank war, suchte ich meistens das kleine Bücherregal neben dem Kamin auf. Seine einst penibel horizontalen Bretter waren zu Schrägen geworden waren, auf denen Mäuse sich mit Rutschen vergnügen konnten. Auf der einen Seite hängen sie noch an ihrem Seitenteil. Die rechte Seite musste irgendwann nachgegeben haben. Vielleicht hatte sich auch nur das erste Brett gelöst, mit seinen, von Büchern beschwerten Gewicht, dann die anderen mit sich gerissen, bis das unterste von der, schon damals, alten Couch gestoppt wurde. Mit, unter mir knartschenden Bohlen, gehe ich zur rechten Wand, kniee mich in den Staub und streiche mit meiner Hand über das Sofa, deren Farben kaum zu erkennen sind, die großen Sonnenblumen, jedoch noch ihre Kontur zeigen. Ich hebe das Buch, das direkt vor mir liegt hoch. Beim Anheben teilt es sich in zwei Hälften, ein Packen Seiten fällt mit einem ploppenden Geräusch, als öffnet man eine Brauseflasche unter einem dicken Handtuch, auf das Sofa zurück. Staubwolken explodieren aus dem Sofa, wo die Seiten aufkommen. Ich betrachte die Staubpilze, während sie sich ausbreiten, auseinanderdriften, verteilen. Die obere Hälfte des einen Pilzes wird von einem Luftzug erfasst und Richtung Fenster gerissen, um sich dort weiter zu verteilen, bis keine Struktur mehr erkennbar ist. Der Luftzug kam aus dem alten Kamin, an dem wir fast jeden Abend gesessen hatten. Manchmal nur auf den alten Teppich zusammengeknäult, wie ein Haufen Spaghetti, Ma, mein Vater und ich, ineinander verschlungen, so dass von außen die Grenzen zwischen den einzelnen Körpern verschwommen sein mussten. Damals als Vater noch Schrieb und weniger trank als Mutter, noch Mutter war. Mein Blick fällt auf die alte Standuhr. Das schwere Pendel hatte sich irgendwann, in den Jahren des Verfalls gelöst, war auf den Boden der Uhr geknallt, dann nach vorne kippt und hat dabei die Scheibe zerbrochen, durch die ich ihr magisches hin- und herschwingen stundenlang beobachtet hatte. Nun Stach es wie ein Speer aus dem Kasten heraus, der sein erhabenes Aussehen aufgegeben hatte, von Rissen durchzogen, an vielen Stellen fehlte Holz, der als Staub auf den Boden gerieselt war. Auch Holzwürmer hatten ihren Weg in die alte Hütte gefunden, ihre einstigen Besitzer abgelöst.
Die Tür zur Küche war geschlossen. Mit knarrenden Schritten gehe ich durch den Raum, drücke die Türklinke nach unten, die unnatürlich weich nachgibt, das Schloss im morschen Holz nach oben hebelt. Beim Ziehen fühlt es sich an als würde ich das ganze Schloss aus der Tür ziehen aber die Tür gibt vorher nach, öffnet sich mit einem Knarren, als sie sich aus der Zarge löst. Kurz fürchte ich das sie mir entgegen fällt, aber dann schabt sie auf dem Boden und gibt den Blick in eine Voliere frei. Tauben hatten wohl den Weg durch die zerbrochenen Fenster gefunden. Überall liegen Kot und Federn. Ich schließe kurz meine Augen, auf denen die Bilder noch gebrannt sind und dann verschwindet der Schmutz, Federn, Kot, Staub, strömen aus dem Fenstern. Glasscherben fliegen wie an Fäden gezogen an ihren Ursprünglichen Platz. Risse in den Fenstern verschwinden. Holzfasern richten sich knatschend auf. Risse verschwinden und glatte Oberflächen machen den abstrakten Mustern Platz. Ich rieche den Kamin, der vom Vorabend noch warm ist. Ich sehe meine Mutter, wie sie den Wasserkessel auf den Herd stellt, Holzscheite, durch die kleine Klappe unter dem Kochfeld anzündet. Von draußen klingen die dumpfen Schläge in mein Ohr. Jedes Scheit das Vater zerteilt, wird sorgfältig auf den Holzstumpf gestellt, bevor die Axt auf ihn niedersaust. Klong, Klong. Ich sauge die Bilder, die Gerüche und Töne in mich ein, bevor ich die Augen öffne, mich umdrehe, die Küchentür vorsichtig wieder verschließe.
Bevor ich das Haus verlasse, werfe ich noch einen Blick auf die Treppe, die zu meinem Zimmer und dem Schlafraum der Eltern führt. Kurz denke ich darüber nach, die morschen Stufen zu betreten. Wahrscheinlich trägt sie mich eh nicht mehr. Ich wende mich zur Tür, nehme den Schlüssel wieder aus der Jackentasche, sehe ihn einen Augenblick an und stecke ich ihn dann tief in Tasche meiner Hose, in der die Erinnerungen, die an ihm kleben, sich mit meinem Körper verbinden. Vorsichtig schließe ich die Tür und schaue noch einmal auf die Balken, Bretter, Lack und Glas und ganz kurz, den Bruchteil eines Augenschlages steht alles wieder so stolz und prächtig da, wie ich es in Erinnerung habe. Dann drehe ich mich um und gehe in gerader Linie Richtung Norden, meinen Schatten vor mir hertragend. Nach einer Viertelstunde lichtet sich der Wald und vor mir liegt die Schneise, die sich immer weiter in ihn hineinfrisst. Bagger und Rodungsmaschinen stehen verlassen vor den schon gelegten Schienen, die sich bis zum Horizont zu ziehen scheinen. Nun ist es in Ordnung, nun können sie ihre Arbeit auch an dem Haus verrichten, alles, was ich aus ihm brauche, habe ich mitgenommen.

Nachhall
Er lehnt den Kopf gegen das rote Samtpolster eines der vorderen Parkettplätze. Allein in Reihe 4. Ein guter Platz, um nachzudenken und um zu begreifen, was geschah. Die Techniker haben Scheinwerfer um Scheinwerfer auslöscht, geräuschlos, und haben sich schweigend davongeschlichen. Nur die Bühne ist noch schwach beleuchtet, der Vorhang halb geöffnet. Der Zuschauerraum hinter ihm dehnt sich in bedrückender Düsternis. Er erschauert. Eben schlugen die letzten Türen im 2. Rang zu. In die dumpfe Stille hinein dringen abgerissene Klangfetzen aus dem fernen Foyer, Schwatzen, Lachen, Rufen. Die Geräusche verebben, versiegen schließlich ganz. Die Sitzreihen neben ihm zeichnen sich im abgedämmten Licht der Bühne fahl ab. Staub hängt in der Luft und verursacht Hustenreiz. Er atmet schwer, wischt sich mit dem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht. Durch den Spalt im Vorhang ist das Durcheinander der Szenendekoration erkennbar, verstreute Requisiten, ein fluchtartig zurückgelassenes Chaos. Entsetzt waren die Schauspieler in ihre Garderoben gerannt. Er presst die Hände gegen die Ohren, aber das Brausen im Kopf schwillt an wie ein böser Sturm. Beinahe körperlich spürt er den Nachhall der Buhrufe und gellenden Pfiffe.

Ich fühle mich wie eine Zielscheibe oder eine entführte Prinzessin, die darauf wartet, dass ein kühner Held sich durch die Trümmer dieses verlassenen Dorfes kämpft und mich errettet.
Es gefällt mir nicht und macht mir Angst auf die zu Kleinholz verarbeiteten Häuser, aus denen tote Rauchschwaden aufsteigen, zu schauen. Die meisten Bäume sind in der Mitte gespalten, als hätte jemand sein Schwert oder Klaue durch sie gerissen, um sie zu schärfen. Die aus den Angeln gerissenen Gatter und die dazugehörigen Zäune sind zersplittert. Was auch immer hier wie ein übermächtiges Tier gewütet hat, wird das Leben hinter der Umzäunung nicht verschont haben. An manchen Stellen ist die Erde schwarz. Ich kann nicht sagen und will auch nicht wissen, ob es verbrannte Erde oder getrocknetes Blut ist.
Wenn ich an die Menschen denke, so glaube ich, dass diese sanften Windböen, Luftzüge sind, die die Schreie in sich aufnahmen und sie von hier fortgetragen haben, damit nur noch das Klagelied des Windes, die einzige wahre Erinnerung an die Tat, hier durchzieht, um die Toten in Ehre zu halten.
Hier gibt es nichts mehr zu retten und niemand würde es wagen, nach Überlebenden zu suchen. Ein Ort wie dieser wurde nicht nur dem Tode gleich gemacht, er schreit ihn aus sich raus, hält alles Leben von sich ab. Außer mich.

Es ist nur ein Stein, ein quadratischer Poller, kniehoch, der den Marktplatz von der Straße abgrenzt. An der Seite hat sich Moos angesiedelt, weiße Kleckse auf der Oberseite weisen den grob gehauenen Granitblock als Ausguck der allgegenwärtigen Krähen aus. Ich hatte ihn längst vergessen.

Jetzt sehe ich vor meinem inneren Auge Oleg auf dem Stein sitzen. Unter einer grauen Wollmütze mit weißer Bommel schaut er aus zusammengekniffenen Augen fröhlich in alle Richtungen und spielt so virtuos das Akkordeon, als wäre das überhaupt keine Kunst. Olegs Gesicht ist immer rot, im Sommer von der Hitze des Kopfsteinpflasters, im Winter vom kalten Wind, der zwischen den Ständen pfeift. Bei fast jedem Wetter sitzt er an Markttagen auf dem Stein. Wenn es kalt ist, legt er vorher sorgfältig ein Kissen darauf, vor Regen schützt ihn ein alter Schirm, dessen Stange er am Koffer seines Instruments befestigt hat. Ich kenne den Mann nur mit dunkler Cordhose und Karohemd.

Ohne Unterlass spielt er Volkslieder, vermutlich russischer Herkunft, in denen stets eine gewisse Traurigkeit mitschwingt. Ich muss an eisige sibirische Abende vor Kaminfeuer und strickende Omis denken, wenn ich sie höre. Als Kinder stehen wir im Halbkreis um Oleg herum und lauschen seinen Liedern. Seinen Namen finde ich mit vier Jahren komisch, und ich nenne ihn Lego, weil ich das zusammen mit dem kantigen Stein, auf dem der Musiker sitzt, so passend finde. Sobald er uns kommen sieht, beendet er sein Spiel und stimmt Kinderlieder an. Sein Repertoire scheint unendlich. Es sind Klassiker wie „Alle Vöglein sind schon da“, „Fuchs du hast die Gans“ gestohlen, aber auch die Lieder von aktuellen Kinderplatten. Später gesellen sich die Titelsongs unserer Lieblingsserien hinzu: „Ein Colt für alle Fälle“, „Die Muppet-Show“, „Doktor Snuggles“. Und in der Adventszeit singen wir mit Oleg Weihnachtslieder. Jedes Mal drückt mir meine Mutter einen Groschen oder fünfzig Pfennig in die Hand, die Münzen darf ich in den offenen Instrumentenkoffer legen, und ich freue mich über Olegs dankbares Lächeln.

Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Im Teenageralter begleitete ich meine Mutter nicht mehr häufig auf den Marktplatz. Bei einem dieser Einkäufe habe ich Oleg vermutlich zum letzten Mal gesehen oder gehört. Da war der alte Mann schon ein Charakter in einem ausgelesenen Buch.

Ein Klopfen reißt mich aus meinen Erinnerungen. Mein Arbeitskollege sieht mich durch die Plexiglasscheibe fragend an. Dass ausgerechnet ich das heute machen muss. Ich schiebe den Hebel nach vorn, und die Baggerschaufel senkt sich. Es ist nicht nur ein Stein.

Begegnung

Die Platten auf dem Gehweg zum Haus standen kreuz und quer, hochgedrückt von den Wurzeln der Bäume im verwucherten Garten. Die Fenster der alten Lagerhalle blind und teilweise zerbrochen, aber an der Tür hing ein stabiles Vorhängeschloss.
»Ich bin im Hof, komm zur unteren Einfahrt!« Diese Stimme kannte ich. Die erste Idee war, einfach zu gehen, als wäre ich nie dagewesen. Ich machte mich auf den Weg in den Hof. Da stand sie, die Arme in die Seiten gestemmt, inmitten eines Haufens von Stühlen. »Du kannst sie alle haben. Fünf Euro das Stück.« Sie stutzte. »Bist du nicht …, ich kenne dich doch. Brünni ohne Gürtel.« Dieses Lachen hatte mich die ganze Schulzeit verfolgt. Ich schüttelte den Kopf.
»Sie verwechseln mich.« Ich sah mir die Stühle an. Die meisten waren in einem schlechten Zustand, aber einige wirkten noch stabil. »Ich nehme diese acht hier, die anderen nicht. Für dreißig Euro.« Sie holte Luft, aber sagte nichts. Schließlich nickte sie. »Was ist hier passiert?« In der Zeitung hatte gestanden, die alte Fabrik würde bald abgerissen, auch die alte Villa und die Halle. Sie sah an mir vorbei.
»Die Zeit verschlafen. China produziert billiger.« Ein bitterer Zug hatte sich um ihren Mund gegraben. Ein Mann in einem Overall stand plötzlich neben ihr. Sie zuckte zusammen.
»Wo bleibst du denn. Zu nichts zu gebrauchen, was verstehst du schon. Verschenkst du schon wieder Möbel, aber egal, die müssen eh weg. Wenn du eine Dumme findest, okay. Und dann komm endlich rein, wir müssen hier fertig werden.« Sein Blick glitt desinteressiert an mir ab. Sie hatte den Kopf eingezogen und stand schweigend da. Wie früher, nur stark, wenn kein Stärkerer zugegen war.

Die verwitterten Fensterläden knarrten leise im Wind, ein überlautes Geräusch in der Stille. Der Hof war jetzt verlassen, keine Menschenseele zu sehen. Ich lud die Stühle in mein Auto und fuhr ohne einen Blick zurück nach Hause.

Villa mit viel Grund
Der Mann war höchstens Anfang dreißig. Er verließ zusammen mit einem 20 Jahre älteren Mann das Haus des Notars. Der Jüngere überreichte dem Älteren einen Umschlag. Sie schüttelten sich die Hand. Ihre Wege trennten sich. Der jüngere Mann, nennen wir ihn S., fand seinen Wagen, ein älteres BMW – Modell, und verließ die kleine Stadt.
Er hatte gerade ein Haus gekauft. „Villa mit viel Grund“ stand in der Anzeige. Der Preis war, selten genug, noch in dem Bereich seiner Möglichkeiten.
Der Besitzer war vor fast zwei Jahren verstorben. Die Kinder, die in den Niederlanden lebten, schlugen das Erbe aus. Ein Nachlassverwalter kümmerte sich um die Auflösung des Besitzes des Toten.
Das Haus befand sich am Rand einer kleinen Ortschaft, längst eingemeindet in die benachbarte Kleinstadt. Die Ortschaft lag in Thüringen, nahe der Grenze zu Bayern. Vor 100 Jahren galt die Villa des ortsansässigen Fabrikanten als die erste Adresse am Platz. Badezimmer und Wassertoilette im Haus, damals noch eine Seltenheit, massiver Stein statt Holzständerbau, ein schmiedeeiserner Gartenzaun zwischen massiven Steinsäulen, ein steinerner Löwe zierte den breiten Treppenaufgang zur wuchtigen Haustüre kennzeichneten ein Herrenhaus.

Heute war davon nicht mehr allzu viel übrig geblieben. Das Dach hatte Löcher, provisorisch gestopft und doch nicht dicht. Die geschmiedeten Zaunfelder waren abgebaut. Eine der massiven Gartenzaunsäulen war von einem dicht daneben wachsenden Ahorn abgebrochen worden. Der Löwe hatte Moos angesetzt und von der massiven Eingangstüre blätterte die Farbe.

Ein Baugerüst, die Bretter bereits morsch, das Gestänge verbogen, hielt sich gerade noch so an der Straßenfront der Villa aufrecht. Der „Holländer“, wie ihn die Nachbarn nannten, wollte Dach und Fassade sanieren und Letztere mit Stuckarbeiten verzieren. Er ist nicht mehr dazu gekommen.
Im Hof rund um das Haus lagen zwei Autowracks. In der verschossenen Garage durfte ein weiteres Fahrzeug vermutet werden. Der Vermögensverwalter hatte keinen Schlüssel gefunden und sich nicht die Mühe gemacht, das Tor aufbrechen zu lassen.
Im Garten hinter dem Haus stand ein älteres Wohnmobil. Mit dem war der „Holländer“ einst zusammen mit seiner russischen Freundin hier angekommen. Ob man das wieder zum Laufen bringen würde?

Wo genau die Grenze des ca. 4000m² großen Grundstückes verlief, wusste der Vermögensverwalter auch nicht. Der Übergang zu den angrenzenden Wiesen wurde nicht durch einen Zaun markiert.

Zum ersten Mal betrat S. sein neues Haus ohne Begleitung durch Vermögensverwalter und Nachbarn. Der „Holländer“ hatte sich viel vorgenommen. Das Innere des Hauses war eine Mischung aus Baustelle, Müllhalde und Wohnung. Die Heizung schien ein Problem gewesen zu sein. Schwere gusseiserne Heizkörper einer alten Schwerkraftheizung waren ohne Funktion, die Rohre verrostet und an manchen Stellen gebrochen. Es standen elektrische Heizkörper überall zwischen dem Gerümpel, provisorisch über Stromkabel über das Treppenhaus mit dem bereits neuen Sicherungskasten im Keller verbunden. Die Wasserzufuhr war abgesperrt. Ein Nachbar hatte nach dem Frostschaden im Winter so Schlimmeres verhindert.
Im Wohnzimmer im ersten Stock stand ein eiserner Kaminofen vor einem zugemauertem, früher offenem Kamin. Ein großer Flachbildfernseher stand vor dem mit drei Fenstern bestückten Erker, ein bequemer Fernsehsessel war neben dem Ofen aufgestellt mit Blickrichtung zum Fernsehapparat. Auf dem antiken Tisch standen eine halb volle Whiskyflasche und eine Schale Erdnüsse. Der Wohnzimmerschrank dürfte einiges Wert sein, dachte S. Im Bücherregal fanden sich Werke in holländischer und russischer Sprache. Meist ging es um Autos und Aktfotos.

In der Küche fand S. eine große Menge energiereicher Sondennahrung. Der gelernte Altenpfleger wusste gleich: Der Holländer war schwer krank gewesen. Die Nachbarn erzählten, dass er das letzte halbe Jahr nicht mehr auf die Straße gegangen war. Was er brauchte, bestellte er sich im Internet und ließ es vor die Türe legen. Über Nacht waren die Pakete dann verschwunden. Der Holländer hatte sie ins Haus geholt. Gestohlen wurde nicht in dem kleinen Dorf, wo jeder jeden kannte.
Die russische Freundin hatte ca. ein dreiviertel Jahr vor dem Tod des Holländers diesen verlassen. Die versprochene Sanierung des Hauses machte nicht die gewünschten Fortschritte, hieß es.

Im Büro des Holländers standen noch Laptop und Drucker. Die Telefonleitung für den Internetanschluss führte außen an der Hausmauer entlang und kam durch ein Loch im Fensterrahmen ins Innere des Büros. Die Decke wies feuchte Stellen auf, von dem Wasser, das durch das undichte Dach gesickert war.
S. nahm die Bilder von der Wand. Sie zeigten den Holländer noch jung, mit seiner Familie. Die Frau im Wochenbett, der stolze Vater den Erstgeborenen auf dem Arm. Drei Kinder hatte das Paar bekommen, wie die Fotos dokumentieren. S. legte sie in eine Kiste und wollte später entscheiden, was damit geschehen sollte. Warum musste er diesen Job machen. Wo waren seine Kinder, die das Erbe ausgeschlagen hatten. Nein, die Frage war doch. Warum haben nicht die Kinder sich um die persönlichen Sachen ihres verstorbenen Vaters gekümmert. Warum musste der Mann schwer krank und einsam sterben?

Oma

Es klappt, an einem Spiegel vorbeizugehen, ohne hineinzusehen, aber Gerüche kann man nicht einfach ausblenden.

Die Wohnung, katapultiert mich in Sternmomente meiner Kinderzeit. Ausgebackene Krapfen noch ohne Geruchsfilter einer modernen Fritteuse, Pfeifentabak mit Kirsche, regennasse Kleidung über Fischerjahrzehnte haben ein Potpourri hinterlassen, das die Wohnung auszuatmen scheint.

Auch wenn sie jetzt leer ist, fühlt sie sich für mich nicht verlassen an. Die Raufasertapete im kurzen Flur habe ich immer als weiß empfunden, bis sich nun die Umrisse der nie verschobenen Möbel weiß von dem gelblichen Rest abheben. Eine Kommode für Mützen und Handschuhe; eine Garderobe mit Hutablage; eine Wandlampe.

Die Küche gleich rechts mit den altmodischen stumpfen Fliesen in schwarz-weißem Karomuster haben inzwischen schwarze Fugen, die Porzellanspüle einige Sprünge und ein kleines Stück ist im Becken abgeplatzt. Die Wände haben die unendlich vielen Mahlzeiten, die hier gekocht wurden und Backnachmittage gespeichert. Noch immer scheint ein Hauch von Fisch und Vanille in der Luft zu liegen. Unter der Ecke, der früher angeschraubten Sitzbank, sind die Fliesen noch frisch und die Wand ohne diese inzwischen fast wasserabweisende Patina vieler Jahrzehnte.

Das Wohnzimmer zeigt wo das Sofa stand, wo die Schrankwand in voller Breite. Ich wusste damals nicht, was „Eiche rustikal“ heißt, nur dass man bei geöffneten Türen an ihr hinaufklettern konnte. Grober Staub knirscht unter meinen Schuhen.

Nur das Schlafzimmer hat keine Erinnerungen mehr für mich. Da wo es nach tausenden Geschichten, Kakao und Tee mit Rum duften sollte, riecht es nach Desinfektion, Inkontinenz und Einsamkeit.

Tschüss Oma.

Das Herrenhaus

An diesem kalten Novembertag war es windstill. Das Bett quietsche schrecklich. Der eiserne Bettrahmen fühlte sich kalt in meiner Hand an. Genau wie die frostige Luft, in der ich meinen Atem sah. Ich schaute mich weiter im Zimmer um. Ebenso spartanisch eingerichtet wie der Rest des alten Herrenhauses. Keine Farbe oder fröhliche Kinderzeichnungen, die ich hier vermutet hätte. Nur kahle, leere Wände. Neben mir stand ein kleines Gitterbett, welches mit den Rollen passgenaue Furchen im Boden hinterließen. Darin befand sich eine dünne Matratze, die vermutlich einmal weiß war. Sie war mit vielen großen undefinierbaren Flecken übersät. Mir stieg ein sehr bekannter Geruch in die Nase. Als ich näher an das kleine Babybett ging, konnte ich den beißenden, ammoniakähnlichen Gestank wahrnehmen. Denselben kannte ich von meiner Katze, wenn sie mal wieder einen anderen Ort als ihr Klo bevorzugte. Ein kleiner Teddybär, mit nur einem Knopfauge, blickt mich traurig aus dem Bettchen an. Die schwarze Naht an seinem Mund hing lose herunter. Ich hätte zu gerne gewusst, wem er gehörte. Etwas war anders an dem Plüschtier, als an dem Rest des Zimmers. Auf ihm war keine dicke Staubschicht zu erkennen. Jedenfalls sah dies so aus. Ich verkniff es mir, ihn mir näher zu betrachten und ließ ihn am Kopfteil des Bettes sitzen. Neben den anderen Betten waren vereinzelt Kleidungsstücke auf dem Boden verteilt. Die Stoffe würde heutzutage keiner mehr tragen, so dachte ich. Dicker Leinenstoff, Ton in Ton mit den alten Holzschränkchen. Ich erschrak, als ich einen riesigen Kruzifix in der Mitte des Raumes über der Tür des Schlafraumes wahrnahm. Wieso ich den nicht vorher sah, war mir ein Rätsel. Ich lief weiter den langen Flur entlang. Der Boden war übersät mit getrockneten, teils verwischtem Blut. Die Scherben knirschten laut unter meinem Schuhsohlen und als ich die Küche erreichte, sah ich die riesigen kupferroten Töpfe auf dem Eichentisch stehen. Der weiße, haarige Schimmel wuchs vermutlich schon über Jahre über den Rand hinaus. Als ich näher heranging, konnte ich den fauligen Geruch wahrnehmen. Ich hielt mir meinen Wollschal über den Mund, und lief weiter in den Raum hinein. Das Würgen konnte ich gerade noch unterdrücken. Neben dem großen Holzofen hängend, erblickte ich ein altes eingerahmtes Foto, welches meine Aufmerksamkeit erlangte. Es waren zehn kleine, dürre Mädchen in auf einer verblassten Schwarz-Weiß Fotografie abgebildet. Ich schätzte sie zwischen drei und zwölf Jahren ein, genau wusste ich das nicht. Sie trugen alle den selben braunen, hässlichen Leinenstoff, den ich im Schlafsaal sah. An den Seiten standen zwei typisch gekleidete Nonnen, welche starr und ohne jegliche Mine vor sich hin blickten. Plötzlich erkannte ich in der Mitte der Reihe den kleinen Teddy auf dem Foto, den ich soeben in seinem kleinen Bettchen fand. Ein kleines Mädchen mit süßen Kringellocken hält in fest in seiner rechten Hand. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Ich wickelte meine dicke Jacke enger um mich und hielt sie fest umschlungen. Ich fror und mir wurde schlagartig übel. Ich beschloss lieber nach draußen zu gehen und lief schnellen Schrittes die drei breiten Stufen hinunter in den verlassenen Garten. Die imposante, sehr alt wirkende Steinmauer war überwuchert von Efeu und Dornenhecken. Ich blickte bis hinunter zum alten Friedhof, bei der das weitläufige Anwesen endete. Als ich mich umdrehte und auf die massive Holztür sah, hörte ich ein Geräusch. Beim näheren Hinhören meinte ich ein zaghaftes Kinderlachen wahrzunehmen. War das Einbildung oder doch real? Mir wurde beim Gedanken an einen Geist ganz schwindelig und ich suchte schnell das Weite. Im Dorf erzählte man viele Gerüchte, aber ich glaubte diesem Unsinn nicht. Während ich zum großen Tor hinauslief, spürte ich einen kräftigen Luftzug in meinem Nacken.

Ein kurzer Blick auf die Uhr, mittlerweile war es Nachmittag, die Dämmerung setzte bereits ein. Im Radio quasselten sie die siebzehnuhr Nachrichten runter. Sie blieb gähnend und ein wenig nachdenklich noch sitzen bevor sie Ausstieg. Sie schrieb ihrer Großmutter Briefe, jeden Samstag telefonierten sie miteinander eine Stunde, aber der Bitte ihrer Grßmutter, sie zu besuchen, kam sie nicht nach. Viel hatten sie miteinander zu bereden, Dinge von großer Wichtigkeit, die nicht am Telefon erklärt waren.
Dreißig Minuten später, von Gewissensbissen und Vorwürfen gequält, stieg sie aus. Die tief stehende Sonne schimmerte durch die Äste, hüllte alles in honigfarbenes Licht. Blätter glitten lautlos zu Boden, wie kunterbuntes Konfetti überall verteilt. Sie öffnete das verrottete quietschende Tor, spazierte im Schlendergang den Schotterweg, eingefasst von Sträuchern, die im Frühjahr gelb erblühten, entlang. Ihre Füße spielten mit dem raschelnden Laub. Versteckt und verschlafen, umgeben von Licht, wie in einem Märchen der Gebrüder Grimm, tauchte Großmutters Hütte am Ende des Weges auf einer Lichtung auf. Rote Ziegel, kleine Fenster, Blumentöpfe ringsherum, eine verwitterte Holzbank neben der Eingangstür. Sie stand mit ihren Schuldgefühlen, ihrem Kummer, mit ihrem Koffer, in der Hand vor dem Haus, zögerte, hatte Angst vor dem, was sie erwartete. Ihr Herz trauerte, gleichwohl ihr Gedächtnis ihr imposante Bilder von Einst zeigte. Das ansteckende Lachen hrer Freundin, hörte sie deutlich. Es war ein warmes herzahftes Lachen, das sie beim Nachspielen, der von Großmutter erzählten Geschichten vernahm. Sie handelten von Feen und Elfen, dabei naschten sie selbstgebackenen Heidelbeerkuchen. Blumen, Pilze, Tiere, Insekten lernten in ihren Fantasien sprechen. Sie flogen auf Waldkäuzen von Baum zu Baum, ritten auf dem Rücken der Waldbewohner durch den von Magie erfüllten Wald. Nachts leuchteten Glühwürmchen den Weg nach Hause und wenn sie am nächsten Morgen erwachten, war alles verschwunden.
Umherschauend zupfte sie den Kragen ihres grauen Wollmantels zurecht, klopfte an die Haustür, wartete kurz ab, um unter einem selbstgetöpferten Blumentopf einem alten verrosteten Schlüssel hervor zu holen. Dieser einzelne Schlüssel passte perfekt in das Türschloss. Zweimal drehte sie ihn nach rechts, es klickte und die Holztür öffnete sich. Sie hatte sich im Laufe der Zeit verzogen, sie klemmte beim Aufmachen. Eine Winzigkeit Staub flog ihr entgegen, das einfallende Licht erleuchtete das Zimmer vor ihr, dunkelgraue Wände zu Eiche rustikal. Aufgeräumt, alles an seinem angestammten Platz, nichts wurde verrückt oder verändert. Ihren Blick ließ sie umherschweifen. Mit den Fingern wischte sie über Bilder, die Ablage eines angeschlagenen Buffets – vor Jahrzehnten spielte sie mit ihrer Grßmutter fangen, stolperte und knallte mit dem Kopf gegen das Buffets. Das gab einen Rums. Dabei brach ein Teil der Verzierung ab, nicht viel, die Stelle stach jedoch jedem sofort ins Auge, der auf einen kurzen Besuch vorbei kam. Mit den Jahren verdunkelte sich dieser Fleck. Ihre Handtasche und die klimpernden Schlüssel, mit denen sie gesamte Zeit in ihrer Hand umspielte, legte sie auf einen dunkelbraunen runden Tisch, den Koffer stellte sie auf dem Dielenboden vor der Treppe ab, schälte sich aus ihrem Wollmantel. Nicht wie sonst schmiss sie ihn einfach über eine Stuhllehne, nein, sie hing ihn an den Haken der Eingangstür.
Die Jacke drückte sie fest an ihr Gesicht. Sie schnupperte die Seife, mit der sie als Kind badete – sie vermisste diesen Rosenduft, sie vermisste alles, den Geruch, das Knacken der Holzdielen, das wärmende Kaminfeuer.

Das Bauernhaus
Es ist gerade mal fünf Wochen her, dass Bauer Schulte zu Grabe getragen wurde. Das alte Bauernhaus, in dem er bis zum Tode gelebt hatte, steht leer und soll verkauft werden. Er hatte bis zum achtundsiebzigsten Lebensjahr gearbeitet und vor zwei Monaten einen Infarkt erlitten, von welchem er sich nicht erholte. Er war Witwer und hatte nur eine Tochter, Hildegard, die allein in der nahen Großstadt lebt und das alte Fachwerkhaus verkaufen will.
Der Hof wurde seit Jahren nicht mehr bewirtschaftet und Stall und Nebengebäude stehen leer. Grünflächen umsäumen das Gehöft. Auf einem Grünstreifen vor dem Tor zum Nebengebäude steht ein Holzpflug.
Hildegard ist auf dem letzten Kontrollgang. Erste Interessenten haben sich angesagt. Sie streicht über das Holz des alten Pfluges. Erinnerungen an eine unbeschwerte Kindheit hier auf dem Hof werden wach. Sie war fünf Jahre alt, als der Vater ein Pferd vor den Pflug spannte und sie auf den Acker mitfahren durfte.
Hildegard öffnet das breite Tor zum Gebäude. Knarrend lassen sich die beiden Flügel öffnen. An der linken Wand hängt das Geschirr für das Pferd. Rechts im Raum stehen weitere Ackergeräte, die meisten aus Holz und uralt. In dem Gebäude riecht es nach Heu.
Hildegard lässt das Tor weit auf und eilt zum Haus. Sie schließt die Tür mit einem großem Schlüssel aus Eisen auf. Vater hielt nichts von modernen Sicherheitssystemen. Im Haus riecht es leicht muffig und Hildegard öffnet die Fenster. Der alte Küchenherd erinnert an leckere Mahlzeiten, als Mutter noch lebte und für alle Familienmitglieder kochte. Vater wollte nie einen Elektroherd. Er liebte diesen Herd. An der umlaufenden Leiste hängt ein Geschirrtuch aus Leinen. Auf dem Regal neben dem Herd stehen Dosen mit Salz und Gewürzen. Darunter hängen Löffel aus Metall. Der Küchenschrank mit seinen Einschüben und Fensterscheiben ist fast leer. Nur wenige Tassen, Teller und Gläser stehen darin. Hildegard öffnet eine der drei Schubladen. Ein silbernes Essbesteck kommt zum Vorschein. Vater hat es regelmäßig geputzt und sonntags benutzt.
In der zweiten Schublade findet Hildegard das Besteck für die Wochentage. Und in der letzten Schublade liegen Kochlöffel und Kellen aus Holz. Hildegard schließt die Schubladen und schlendert ins Schlafzimmer.
Ein antikes Doppelbett mit zwei Nachtkästchen, eine Frisierkommode und ein Kleiderschrank, alles aus den 50er Jahren, stehen hier. An einem Kleiderbügel hängt ein kariertes Arbeitshemd. Auf der Kommode liegt ein Rasiermesser neben der Schale mit Rasierseife. Vater liebte es, auch wenn er schon seit einigen Jahren nicht mehr auf dem Hof arbeitete.
Hildegard schlendert ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch liegt eine Zeitung und im Sessel vor dem Fernseher eine Wolldecke aus Schafwolle. Erinnerungen werden wach und Hildegard eilt aus dem Haus, frische Luft braucht sie jetzt.

Todesbaum

Bethany hatte lange mit sich gehadert, der Bitte des Journalisten zuzustimmen. Nun stand sie mit ihm auf dem kleinen Hügel und sah hinunter zum Wäldchen, zu dem nur ein schmaler, staubiger Weg führte. Zak hängte sich die große Kamera um den Hals, verschloss per Funk seinen Wagen und schritt zielstrebig auf den Pfad zu. Nach ca. zwanzig Fuß drehte er sich zu ihr um.
»Was ist nun? Du wirst mich doch nicht alleine zu dem bösen Baum gehen lassen?« Er rollte kindisch mit den Augen und fing an zu lachen.
Eine Touristenattraktion. Ja genau. Das sollten sie das aus diesem Ort machen.
*Sehen Sie Sich den sagenumwobenen Baum an und der Besuch in Kilspell wird Ihnen immer in Erinnerung bleiben! **
Sollten sie noch denken oder atmen können …

Bethany kniff die Augen zusammen, gab sich einen Ruck und folgte Zak, der strammen Schrittes auf den Wald zulief.

»Das ist der absolute Wahnsinn!«
Bethany war sich nicht sicher, was Zak genau damit meinte. Seit Minuten hielt er seine Kamera vor das Gesicht, verbog sich und schoss ein Foto nach dem anderen, während sie, in gebührendem Abstand, kaum einen Blick auf dieses Naturphänomen verschwendete. Wozu auch? Sie kannte es. Sie kannte diesen Baum nur zu gut.
»Erzähl mir davon.« Nur kurz sah Zak zu ihr, bevor er näher an den riesigen Baumstamm trat, der sich durch unaufhaltsames Wachstum in die Schmalseite des Hauses gebohrt und dieses so fast zum Einsturz gebracht hatte. »Ich habe noch nie einen so verflucht großen Baum gesehen!« Seine Stimme überschlug sich fast.
Bethany spannte sich an. »Du solltest ihn nicht beleidigen«, flüsterte sie, während sie wie hypnotisiert auf die dicke Wurzel sah, die so breit wie sie selbst war und sich an der Front des einst so schönen Gebäudes entlang schob. Ein kurzer Moment der Erleichterung stellte sich ein, als sie sich bewusst wurde, dass Zak ihre Aussage nicht gehört hatte. Das würde nur noch mehr unangenehme Fragen aufwerfen. »Da gibt es nichts zu erzählen. Du hast genug Fotos gemacht. Wir sollten gehen.«
Lachend wandte sich Zak zu ihr und gestikulierte wild mit der freien Hand durch die Luft. »Spinnst du? Jetzt wo ich hier bin? Oh nein.« Zielstrebig hielt er auf die Veranda zu, deren Bodendielen sich durch den Druck der Wurzeln in die Höhe bogen.
»DAS ist keine gute Idee!« Bethany meinte, diese Warnung nicht selbst ausgesprochen zu haben. Sich auf die Unterlippe beißend ließ sie den Blick durch die Zwischenräume der Stämme des Wäldchens gleiten. Sie fühlte sich verfolgt, seit sie aus diesem schicken Sportwagen gestiegen war.
Bereits auf das verwitterte Holz getreten, sah Zak sie mit zusammen gekniffenen Augen an. »Man könnte meinen, du hast eine Scheißangst«, stellte er fest. »In meinem Beruf ist Angst ein schlechter Partner.« Damit drehte er sich um und drückte unter Mühe die Haustür auf, die schief in den Angeln hing.

Es brauchte sehr lange, bis Bethany Zak folgte. 17 Jahre war es her, dass sie das Haus verlassen und nie mehr hier her gekommen war. Nicht einmal in die Nähe des Wäldchens hatte es sie verschlagen. Sie ignorierte es. Alles, was mit diesem Ort zu tun hatte, gelöscht. Jetzt war es wieder da. Sogar der Geruch von Lavendel und Bärlauch, der für sie den Gestank von vermodertem, nassen Holz überdeckte.
Angespannt trat Beth auf den von Motten zerfressenen Teppich, der den gesamten Flur auskleidete und starrte auf Zaks Rücken. Unwohlsein durchdrang jede Faser ihres Körpers, als er sich langsam zu ihr herum drehte und ein gerahmtes Bild in der Hand hielt. Mit der anderen wischte er den Staub von der Glasplatte und sah sie mit offenem Mund an.
»Ich wusste, dass mir der Name Turner was sagt.«
Bethany schluckte sichtbar, wich Zaks Blick aus, indem sie die Treppe hinauf sah, deren Stufen von dünnen Wurzeln überzogen waren und einen recht zerbrechlichen Eindruck machten. Nur mühevoll sah sie zu Zak zurück, als dieser sie erneut ansprach und mit dem Finger auf das Glas des Bildes tippte:»Das bist du, richtig?«
Sie antwortete nicht, verfolgte mit geballten Fäusten in den Hosentaschen, wie er den Bilderrahmen zurück auf den staubfreien Fleck auf der Kommode stellte und im nächsten Zimmer verschwand. Bethany legte die Stirn in tiefe Falten. Etwas sagte ihr, dass sie ihm folgen sollte. Doch sie konnte nicht. In der Küche hatte es begonnen.

Erst kratzten die langen Äste der Eiche bei Wind an den Fenstern, hatten sie und ihren kleinen Bruder so in Panik versetzt. Eines Tages dann, sie kam gerade von der Schule heim, herrschte helle Aufregung. Der Ast hatte das Küchenfenster zerschmettert und war nur durch Absägen zu bändigen gewesen.

Unbewusst schüttelte Bethany den Kopf. Niemals hätte ihr Vater diesen Ast absägen dürfen. Aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war, begann es schon viel früher.
»Man sagt, es hätte hier einige Todesfälle gegeben.«
Zaks Ruf aus der Küche ließ Beth zusammenzucken. Schwerfällig löste sie sich aus ihrer Starre und betrat den Raum, der, wenn man das Chaos ignorierte, noch genauso aussah wie vor zwanzig Jahren. Die Schränke über der Spüle hingen schief. Irgend ein Grünzeug wucherte aus dem Abfluss und die Türen der Anrichte waren halb aus den Angeln gehoben. Auf die weiß lackierten Stühle am Tisch schob sich grünbraunes Moos und vom Teppich war kaum etwas übrig. Als Bethany den Blick an die Decke lenkte, sog sie die Luft hörbar durch die Nase ein. Der Auslöser für den Wasserfleck auf dem Tisch, dessen Sperrholz durch die Feuchtigkeit Wellen schlug, wandte sich ungehalten über ihre Köpfe hinweg: Ein armdicker Ast, der seine Zweige wie Leichenfinger in den Raum streckte.
Erst das Geräusch der Spiegelreflexkamera ließ sie die Aufmerksamkeit wieder auf den Journalisten lenken. Mit zwei Schritten war sie an ihn herangetreten und schlug ihm die Kamera aus der Hand. Wahrscheinlich war es ihr Glück, dass Zak den Trageriemen um den Hals gelegt hatte und das teure Gerät somit nicht auf den Boden flog.
»Wow wow wow! Bleib ruhig«, stieß Zak überrascht aus und sah sie nichtverstehend an.
»Hör auf damit«, knurrte Beth und sah ihn mit einem Blick an, der die Ernsthaftigkeit ihrer Worte noch unterstrich.
Zak lachte dunkel und zog provokativ die Kamera wieder in die Höhe. »Sorry Süße. Aber das hier werde ich mir sicher nicht entgehen lassen.«
Erneut biss sich Beth auf die Lippe und lenkte den Blick hinter Zak, wo sich die hölzerne Wandverkleidung wie abgesprengt in den Raum bog. »Du hast genug Bilder gemacht.«
»Davon kann man nie genug machen.« Breit grinsend riss Zak den Fotoapparat über den Kopf und knipste wild durch die Luft, wobei die Kamera diese typischen Zoomgeräusche von sich gab. Als er sie senkte, schien seine Euphorie verflogen und er wischte sich durch das Gesicht. »Ok ok. Es tut mir leid. Da ist wohl der Journalist mit mir durch gegangen. Du fühlst dich hier nicht wohl, hm?« Er sah Beth musternd an, ließ ihr jedoch keine Zeit zu antworten. »Was ist damals passiert?«

Zak folgte ihr, als sie langsam die mit Zweigen überwucherte Treppe hinaufstieg. Angst, dass das morsche Holz unter ihr nachgeben könnte, überkam sie nicht. Bethany suchte gerade ein ganz anderes Problem heim:
Alle paar Sekunden wechselte das Bild vor ihr. Da erkannte sie sogar den roten Teppich, der alle Stufen ausgekleidete. Sie hörte das Lachen ihres Bruders, als sie ihn ins Obergeschoss jagte. Dann waren da wieder knochige Äste, bevor sie meinte zu hören, wie der Junge die Stiegen hinauf trampelte. Oben angekommen, blieb sie stehen, kniff die Augen zusammen und sah über die Schulter zu Zak, der, balancierend und sich am wackligen Geländer festhaltend, Mühe zu haben schien, ihr zu folgen.
Langsam wandte sie sich einer weiß lackierten Tür zu. Beherzt fasste sie in den Efeu und zog ihn vom Türstock, als würde sie eine Geburtstagsgirlande abreißen, die nicht mehr benötigt wurde. Die Hand auf den metallenen Griff gelegt verharrte Bethany erneut. Es war, als hätte jemand alles um sie herum ausgeschaltet. Kein Geräusch, kein Knarren, kein Pfeifen des Windes drang mehr zu ihr. Einzig ihren Herzschlag, der durch ihre Adern donnerte, hörte sie, der sie antrieb, die Tür zu öffnen. Zak drängte sich im nächsten Augenblick an ihr vorbei und betrat das Zimmer als Erster. Auf dem plüschigen Teppich, der inmitten des Zimmers lag, drehte er sich um sich selbst und scannte jeden Winkel des Raumes mit dem Blick.
Beth sah stur vor sich auf dem Boden. Nur im Augenwinkel meinte sie das wahrzunehmen, was Zak den Mund offen stehen ließ:
Ein Metallbett, weiß lackiert, mit den riesigen Kissen, die aussahen, als hätte man sie eben aufgeschlagen. Die Lichterkette, die um die Stäbe am Kopfende geschlungen war, das kleine Tischchen mit dem runden Spiegel, vor dem ein paar Bücher lagen. Wie frisch gewaschen hingen die zart rosa Vorhänge vor dem Fenster und am Schlüssel des weißen Kleiderschranks hing ein riesiges Lebkuchenherz mit der Aufschrift »My Girl«.
Keinen Ast oder gar einen Fetzen Moos gab es in diesem Zimmer. Kein Wind brachte den Vorhang aufgrund eines zerbrochenen Fensters zum Wehen.

Dieser Raum war als Einziger im Haus unversehrt.

Schwere Zeiten

Erschöpft lies ich mich an der rauen Wand hinab sinken, das Gewehr mit starrem Griff fest an mich gedrückt. Der Atem kam mir stoßweise über die trockenen Lippen. Der Staub der in dem kleinen Raum sichtbar hing, kratzte in meiner brennenden Kehle. Wie sehr wünschte ich mir gerade ein kühles Glas Wasser herbei. Bildlich konnte ich mir vorstellen, wie das Kondenswasser an der glatten Oberfläche entlang lief und leckte mir über die wunden Lippen. Freudlos lachte ich in mich hinein. Wer hätte einst denken können, dass so etwas banales wie frisches Wasser mich einmal mit einer solchen Sehnsucht erfüllen würde.
Schweißperlen rannen an meiner Stirn entlang während ich versuchte, mein tobendes Herz zu beruhigen. Genervt griff ich nach dem schweren Helm und pfefferte ihn in eine Ecke. Die Sonne hing schon tief und kündigte eine dunkle Nacht an. So finster, genau wie mein Leben.
Es war unhewöhnlich still. Das einzige Geräusch war mein Herz, welches mir unbarmherzig in den Ohren pulsierte. Ergeben lehnte ich einen kurzen Moment meinen schweren Kopf gegen das kühle Gemäuer und atmete trotz der Schmerzen tief ein und aus. Ich hasste mein Leben. Unbemerkt bahnte sich eine einzelne Träne ihren Weg über die Wange.
Alles war gut und dann, völlig aus dem Nichts, brach dieser Krieg aus. Angewidert legte ich die Waffe ab und gönnte mir einen Moment der Ruhe. Wer wusste schon, wie viele ich davon noch haben würde?
So ein verdammter Mist. Ich wollte nicht hier sein, doch wo war diese hier überhaupt? Langsam lies ich meinen Blick umher schweifen. Das Mauerwerk des Gebäudes war stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Teilweise fehlten ganze Stücke aus den Wänden und ließen die letzten Sonnenstrahlen ungehindert hindurch. Die Verwüstung in dieser Ruine war genauso verehrend, wie in der ganzen Stadt. Ein einzelnes Bett stand in der Mitte des Raumes. Mit viel Fantasie konnte man unter dem ganzen Schutt eine fliederfarbene Bettwäsche erahnen. Eine lose Lichterkette hing an einem Trümmerteil herab. Auf der gegenüberliegenden Seite stand mal ein Regal, welches völlig zerstört war. Zierten einst Bücher, oder gar eine Stereoanlage die massiven Holzpanelen? Meiner Fantasie war keine Grenzen gesetzt, als ich das Zimmer wieder in ein ganzes verwandelte. Ich sah es klar vor mir, wie die Wände wieder ganz wurden, wie sich die Bücher regenerierten und zurück in Reih und Glied stellten. Wer hier wohl gelebt hatte?
Vorsichtig strich ich mit den Händen über den mit Asche bedeckten Boden und zog etwas farbiges hervor. Ein Foto, welches eine breit grinsende junge Frau offenbarte. Lebte sie hier? Ich stellte mir vor, wie sie durch das Zimmer tanzte, sich auf das bunte Bett warf und aufgeregt mit ihren Freundinnen telefonierte. Ein kleines Lächeln umspielte bei diesen Gedanken meine Lippen. Ob sie in Sicherheit war?
Plötzlich erfüllte ein lauter Knall die schwüle von Ruß geschwängerte Luft und erschütterte den Boden. Dieses Geräusch war so allgegenwertig, dass ich nicht einmal mehr zusammen zuckte. Sanft strich ich über das ausgeblichene Foto und steckte es in meine Brusttasche. Mit schweren Herzen nahm ich das Gewehr und stemmt mich in die Höhe. Ich wollte nicht hier sein, doch ich würde sie dennoch mit meinem Leben beschützen. Denn das war mein Job.