Hexentag
Es war einige Jahre her, doch meine Hand fand wie von selbst den Griff der schweren Eingangstür und zog wie einst mit einiger Kraft daran, um sie zu öffnen, was sie mit einem vertrauten Klicken tat. Ich betrat den Flur. Stille empfing mich.
Ein Windhauch betrat mit mir den stillen Flur, wehte an mir vorbei, zog ein paar meiner Haarsträhnen mit, brachte die ruhenden Staubflusen auf dem Boden in Bewegung, strich über die Blätter an der inzwischen arbeitslosen Magnettafel und ließ ein paar Blätter mit einem Rascheln auf dem gefliesten Boden landen. Ein Blatt rutschte dabei bis vor meine Füße. Ich bückte mich, hob es auf und betrachtete das ausgeblichene Blatt, dessen Inhalt einen Hauch Wehmut durch meine Brust ziehen ließ: Wir laden euch ein zu unserem Hexentag. Wir wollen gemeinsam mit euch zaubern und feiern. Wenn ihr mögt, kommt gerne verkleidet. Ich erinnerte mich an diesen Tag und ein leichtes Lächeln erhellte mein Gesicht, begleitet von einem Gefühl der Schwere. Ich pinnte den Zettel zurück an die Magnettafel, wissend, dass ihn niemand mehr lesen würde.
Mein Blick schweifte über weitere Zettel, die Termine und den Essensplan ankündigten, ihren Dienst aber längst getan hatten und nicht mehr gebraucht wurden. Wobei sie auch zu ihren Dienstzeiten manchmal nicht beachtet wurden. Ich sah mich im Flur um, dabei streifte mein Blick zwei heruntergefallene Kürbisse aus Tonpapier, eine leere Pinnwand an der einst die Bilder aller Mitarbeitenden hingen, die verschlossenen Türen zum Waschmaschinenraum und zum Vorratsraum. Ich öffnete keine dieser Türen, sondern ging auf die Tür mit eingelassener Glasscheibe zu, hinter der sich ein großer Flur befand. Die Stille, die mich hier empfing, besaß etwas Verlassenes.
Das, was früher immer geschah, sobald ich diese Tür öffnete, blieb nun aus. Und obwohl ich es gewusst hatte, versetzte es mir einen Stich. Es gab niemanden, der in diesem Moment auf mich zu rannte, der verzückt aufschrie, der allen verkündete, dass ich da war, der mich mit einem Lächeln begrüßte, der aufgeregt im Türrahmen wartete. Es empfingen mich keine Stimmen, kein Lachen, kein Rufen, kein Schreien, kein Weinen, kein Poltern, kein Rascheln, keine Berührung, kein Leben. Stattdessen empfingen mich weitere Staubflusen und Kälte.
Auf dem Boden vor mir entdeckte ich ein paar Sandkörner. Danach erfassten meine Augen den braunen Gummistiefeligel, inzwischen auch ohne Aufgabe, mit leeren Stacheln. Nur ein einzelner Gummistiefel lag vergessen davor, noch etwas Erde an der Sohle, mit einem kleinen Dinosaurier an der Seite und abblätterndem Gummi. Ich bückte mich und steckte ihn auf eine der Igelstacheln, so fühlte es sich an, als wären Igel und Gummistiefel weniger verloren.
Ich blieb noch einen Moment in der Hocke, eine vertraute Körperhaltung an diesem Ort. Von hier aus blickte ich durch den Flur, sah auf die kleinen Bänke, Schuhhalter, Jackenhaken und Fächer. Aus dieser Perspektive entdeckte ich noch mehr vergessene Gegenstände: einen Puschen, eine Mütze, einen leeren grünen Beutel, ein Stofftier, das eingeklemmt unter der Schuhablage lag. Ich erhob mich aus einem Impuls heraus, bis ich bei der Bank angekommen war, unter dessen Schuhablage das flauschige Stofftier lag. Dort kniete ich mich hin, beugte mich tief herunter, ließ meine Hand unter die Ablage gleiten und zog an dem Stoff, bis ich schließlich einen kleinen weichen Elefanten in der Hand hielt. Ich entstaubte ihn. Es berührte mich, dieses Stofftier hier so verlassen gefunden zu haben, denn ich wusste, wem dieser flauschige blaue Elefant gehörte, der mich nun aus seinen großen schwarzen Augen anschaute, die großen Ohren abstehend, bereit, Geheimnissen, Geschichten und Gedanken zuzuhören und aufzubewahren. Anders als die Gummistiefel konnte ich den Elefanten nicht hier zurücklassen, sondern musste ihn auf meinem Arm behalten. Denn ich wusste, dass dieses Stofftier eine Seele besaß, für das Kind, dessen Begleiter und Vertrauter es gewesen war.
Erinnernd strichen meine Finger sacht über das glatte Holz der Garderobe, deren Ablage mir bis zur Schulter reichte, deren Bank noch nicht einmal kniehoch war. Ich erinnerte mich an die Zeit, als es hier lebendig, wild, laut, wuselig, inspirierend, fordernd, lustig und einfach schön war. Vor mir sah ich die vielen Gegenstände, die hier früher ihren Platz hatten: Schuhe, Puschen, Jacken, Mützen, Schals, Bilder, Stofftiere, Taschen, Autos und so vieles mehr. Ich hörte die Stimmen in meinem Kopf, die den Flur jeden Tag lebendig gemacht hatten. Ich schloss die Augen und sah alles vor mir. Als ich meine Augen öffnete, lag der Flur leer, dunkel und verlassen vor mir, unbewegt, ungenutzt, still.
Ich betrachtete den großen Spielteppich, der ordentlich in der Raumecke lag, der einladend aussah, um sich darauf niederzulassen, darauf zu liegen, zu bauen, zu leben. Am Fenster dahinter klebten gebastelte Kürbisse, wie ich sie schon im Eingangsflur auf dem Boden liegend entdeckt hatte, aber auch Hexen, Besen und Blätter. Der Zusammenhang zu dem Zettel, den ich gelesen hatte, war zu erkennen. Ich lächelte, aber nur kurz, denn wieder überkam mich Wehmut.
Dann führten mich meine Füße, den Elefanten in der Hand, zur Tür des nächsten Raumes, in dessen Türrahmen ich stehenblieb. Eine Welle der Traurigkeit durchfuhr mich, und ich musste kurz anhalten, um ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen. Der Raum, der vor mir lag, war auf eine andere Art als der Flur von Leben gefüllt gewesen, denn hier war unser Gruppenraum gewesen, unser sicherer Ort.
Als ich mich wieder gefasster fühlte, erlaubte ich meinen Augen und meiner Seele, den Raum bewusst wahrzunehmen. Ich sah Tische, die mir bis zum Knie reichten, darauf kleine Stühle gestapelt, manche mit Armlehnen, manche ohne. Ich sah eine kleine Küche, auf dessen Spielherd wohl noch eine Suppe kochte, oder Spaghetti, oder Kuchen oder was auch immer dort in der Fantasie eines Kindes kochen konnte.
Mein Blick erfasste einen Teppich, auf dem Vergessen ein kleines Auto stand. Im Regal daneben standen leere Kisten, einst gefüllt mit bunten Bausteinen, mit Autos, mit Tieren, mit Stöckern, mit Bällen, mit Kleidung, mit dem, was gerade gebraucht wurde und wichtig war, mit dem, was die Ideen der Kinder unterstützte, aufgriff, weiterführte. Jetzt standen dort leere Kisten, was mich traurig stimmte. Aber, kam mir ein Gedanke, selbst damit wären Kinder glücklich. Denn sie fanden stets das Glück in den kleinsten Dingen.
Mein Blick wanderte weiter zu einem größeren Tisch, an den ich näher herantrat und ihn betrachtete. Dabei sah ich Reste von Farbe am Tischbein und auf der Tischplatte sowie auf den Stühlen, die auf ihm ruhten. Ich ließ meine Finger vorsichtig über die Farbreste gleiten, die sich fest und rau anfühlten. Durch meine Berührung rieselten kleine Farbkörnchen auf den Boden. An der Wand sah ich Stangen, an denen leere Behälter hingen, daneben ein Schrank mit leeren Fächern. Fast leer, wie ich feststellte, denn ich entdeckte eine Schere, einen Wachsmalstift, Reste angespitzter Stifte und Papierreste. Über dem Tisch und an der gegenüberliegenden Wand hingen dicke Äste, mit Fäden aufgehängt, an denen Wäscheklammern geduldig auf Kunstwerke warteten, die sie festhalten und präsentieren durften. Ich fuhr mit meinen Fingern daran entlang, spürte die unebene Oberfläche des Holzes, öffnete eine Klammer, musste ihr aber Luft statt Papier hinterlassen. Wieder hing ich meinen Erinnerungen nach…
… ich sah Scheren, Papier, Stifte, Klebestifte, Perlen und Glitzer auf dem mit einer Tischdecke abgedeckten Tisch, aber ebenso auf dem Boden. Ich sah geschäftige Kinderhände, konzentrierte Blicke, leuchtende stolze Augen, stolzes Lächeln, Streit, Lob, Teilen und Wegnehmen, Kreativität, Kunstwerke die entstanden. Ich hörte Schimpfen, Lachen, Rufe, Reißen, Klopfen, Knistern.
Ein tiefer Atemzug holte mich zurück in den nun stillen und leeren Raum. Als ich mich weiter umsah, sah ich auch hier am Fenster noch ein paar gebastelte Werke anlässlich des Hexentages. Eine Hexe hatten ihren Platz am Fenster verlassen und lag platt auf dem Boden. Ich ließ die Hexe an ihrem Ort und wandte meinen Blick der Zimmerdecke zu. Dort sah ich eine Schallschutzdämmung, an der viele Haken befestigt waren. Nun hatten auch diese Haken keine Aufgabe mehr und trugen lediglich ein paar Spinnweben. Früher hingen hier Lichterketten, Laternen, Luftballons, Luftschlangen, Krepppapier oder was auch immer für uns wichtig war. Ohne diese Dinge fehlte hier etwas. Wie überhaupt in diesem Raum.
Zum ersten Mal, seit ich den Raum betreten hatte, nahm ich ihn als Ganzes wahr. Der große Schrank, stets für Kinder verschlossen, beinhaltete schon lange keine vertraulichen Dokumente mehr und der hohe Tisch daneben diente schon lange niemandem mehr als Ablage. Der offene hohe Schrank verwahrte längst nicht mehr die Portfolios der Kinder, die gefüllt waren mit Entwicklungsschritten und Interessen der Kinder in Form sorgfältig ausgewählter Fotos und formulierter Texte. Die eingeschobenen Fächer aus Kunststoff hatten nicht mehr die Aufgabe, die Werke der Kinder aufzubewahren, bis sie diese mit nach Hause nehmen oder daran weiterarbeiten wollten.
Gerade, als ich einen Blick in die Nebenräume werfen wollte, erfasste mein Blick doch etwas, das von einem der Fächer gewissenhaft aufbewahrt wurde. Ich trat näher an den Schrank, bückte mich und zog das Fach heraus. Darin lag ein Bild. Was genau darauf war? Ohne das Kind fragen zu können, war es für mich unmöglich festzustellen, und ich konnte mir kaum anmaßen zu wissen, was das Kind darstellen wollte, wenn es überhaupt etwas Konkretes gemalt hatte. Vielleicht hatte es sich auch an der Bewegung des Malens, an den Farben oder am Erschaffen erfreut. Ebenso wie den Elefanten nahm ich auch das Bild an mich. Dann erhob ich mich und ging auf den Nebenraum zu.
Obwohl der Raum längst nicht mehr so gemütlich war wie früher, da ihm Decken, Kissen, Vorhänge, Lichterketten, Stofftiere und Bücher fehlten, konnte ich die Ruhe und Gemütlichkeit noch in mir spüren, die mich und die Kinder immer erfasst hatten, sobald wir den Raum betreten hatten. Der große graue Teppich lag noch an seinem Ort vor dem Fenster und, abgetrennt durch einen niedrigen Holzaufsteller, standen in einer Ecke fünf kleine Betten, die nicht höher waren als meine Wade. Ich drehte mich überprüfend zur Tür um. Dort hing, anders als von mir erwartet, doch noch unser mit den Kindern gestaltetes Schild. Es hing inzwischen schief, doch gab seine Aufgabe noch nicht auf. Darauf war ein ruhendes Kind zu sehen, umgeben von Wolken und Sternen.
Wie oft ich hier Kindern Bücher vorgelesen hatte, die sie schon zehnmal gehört hatten oder zum ersten Mal entdeckten. Wie oft ich hier im dunklen Raum gesessen hatte, um Kinder beim Einschlafen zu begleiten, durch Streicheln, beruhigende Worte oder einfach durch meine Anwesenheit.
Ich ging, ein letztes Mal, zum bodentiefen Fenster und hockte mich davor. Ich ließ meine Finger gedankenverloren über den weichen Teppich unter mir gleiten. Dann sah ich hinaus. Sah die Straße, die Bäume und Büsche, die Wiese, die vorbeifahrenden Autos, die Menschen. Viele Kinder hatten diesen Ausblick, dieses Beobachten genossen. Den gemeinsamen Austausch. Das begeisterte Zeigen und Benennen dessen, was sie entdeckt hatten: einen Hund, einen Bus, einen Krankenwagen, einen Menschen, Blätter, Regen, Schnee, Sonnenschein, die nasse Straße, Äste die sich im Wind bewegten. Lächelnd und traurig stand ich auf, drehte ich mich um und verließ den Raum.
Wieder stand ich im großen Gruppenraum. Wieder musste ich tief atmen, um nicht doch noch zu weinen. Dieser Raum, dieser Ort, sollte nicht so still sein. Nicht so leer. Nicht so unlebendig. Er sollte erfüllt sein von Stimmen, von Lachen, von Gesprächen, von Rufen, von Flüstern. Erfüllt von Glitzer, von Farbe, von Kreativität, von Ideen, von Fragen, von Antworten, von Lernen. Erfüllt von Gefühlen, von Lachen, von Löwen, von Dinosauriern, von Brüllen, von Knurren, von Gesang, von Bewegung. Erfüllt von Kindern.
Mit dem Bild und dem Elefanten in der Hand verließ ich auch diesen Raum. Kurz sah ich den Flur herunter, überlegte, ob ich den Waschraum besuchen wollte mit den kleinen Toiletten, den kleinen Waschbecken, dem Wickeltisch. Ich entschied, dass ich das nicht mehr brauchte, verließ den Flur und ging auf die Tür zu, die nach draußen führte. Doch bevor ich die letzte Tür öffnete, um sie für immer hinter mir zu schließen, hielt ich inne und löste den Hexentag-Zettel von der Magnettafel.
Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel und meine Hand ihren kühlen Griff losließ, glitt mein Blick noch einmal über die weiße Fassade des Hauses und über das große Schild, das dort nicht hängen sollte: ZU VERKAUFEN.