Seitenwind Woche 5: Verlassene Orte

Flackerlicht
Die Tankanzeige näherte sich bedrohlich der Null, dicke Regentropfen prasselten gegen die Scheiben seines Kleinwagens. Der Motor stotterte und endlich nach der letzten Kurve sah er schummeriges Flackerlicht im Lichtkegel der Scheinwerfer. Das leise Geräusch der Scheibenwischer wirkte beruhigend. Ächzend mit den letzten Tropfen Sprit stoppte er den Kleinwagen, zog den Zündschlüssel ab und stieg aus. Dicke Regentropfen und kalter Wind schlugen ihm ins Gesicht. Nur das flackernde grelle grüne Neonlicht des Diners erhellte die Dunkelheit.

„Jimmys Diner & Gas Station“, las er leise die Neonbuchstaben vor, seine Hände tief in die Taschen seiner Lederjacke gegraben und schaute sich um.

Die gläserne Eingangstür mit ihrem halbrunden Messingklinken schnellte unter den starken Windböen immer wieder auf. Zwei große Schaufenster beidseitig der Tür gelegen, waren von einem roten Rahmen umgeben und von einer dicken Staubschicht bedeckt. Nichtsdestotrotz wagte er sich in das Diner und blieb die Arme verschränkt im Türrahmen stehen. Eine Jukebox mit runden Gehäuse stand direkt neben dem Eingang, die er aus einer Laune heraus näher anschaute. Auf einem Drehteller, die er durch das halbtransparente Plastikfenster erblickte, hingen Schallplatten. Unterhalb stand eine lange Liste mit Songs aus den 80er-Jahren in Form von roten Kunststoff-Lettern und daneben beige runde Tasten in der Größe einer 50 Cent Münze.

„Hmmm“, überlegte er und drückte eine Taste, doch außer einem knarzen und knacken blieb die Jukebox völlig stumm.

Enttäuscht schlenderte er dem langen Tresen entlang, dessen Enden geschwungen und jeweils mit hölzernen Schwenktüren versehen waren. Er setzte sich auf einen Barhocker, legte seinen Arm auf den Tresen und schaute auf die Sitzbänke gegenüber. Die fünf Sitzbänke mit jeweils Platz für vier Personen waren halbrundlich, aus weiß-roten Leder und einem weißen Kunststofftisch. In der Mitte der einzelnen Tische stand je ein kleines Rondell mit drei Gewürzen, einer Speisekarte und Getränkekarte eingeklemmt dahinter. Seine Augen wanderten hinter dem Tresen und schaute direkt in die Küche, die von Edelstahl und Holz geprägt war.

Jetzt fiel ihm ein, dass er eigentlich sein Auto auftanken wollte, verließ das Diner und stand vor einer der zwei Zapfsäulen. Er nahm einen Zapfhahn für bleifreies Benzin und steckte ihn nach dem Öffnen des Deckels in den Tank seines Kleinwagens. Nach Betätigung des Hebels vernahm er ein Rauschen, das Benzin floss und endlich konnte er seine Fahrt fortsetzen.

Im Rückspiegel wurde das Flackerlicht immer kleiner als er losfuhr und erleichtert aufatmete, als er die holprige Landstrasse verließ und auf den Highway einbog.

Auf der Couch lagen so viele schwere Phantasien, dass man noch heute sehen kann, an welchen Stellen diese stand. Die Bücherregale scheinen leer, in den Wänden hängen noch zahlreiche Problemwälzer, die weder aus- noch woanders einsortiert werden konnten. Es wäre leichter, einen Beichtstuhl zur Sauna umzubauen, als der Praxis meiner Tante den Geist auszuhauchen.
Die Fensterscheibe ist vom stieren Blick der Klient*innen, die diesen Ort regelmäßig mit ihrem Inneren verwechselten, an markanter Stelle eingeschmolzen. In der Luft hängt Restfeuchtigkeit von Tränenwasser.

Meine Tante bat mich, ihr den Gefallen zu tun, auf dem Rückweg noch einmal zu schauen, ob sie die Kerze in ihrer nun geschlossenen Praxis auch wirklich ausgepustet hatte.
Dass da schon lange kein Feuer mehr brannte, wussten wir beiden, doch so blieb mir die Chance, ein letztes Mal festzustellen, dass es die bessere Wahl ist, mit meinem Steuerbüro andere Räum zu beziehen.
Ich puste die Kerze aus, die seit mindestens 40 Jahre brannte und schloss die Tür für meine Tante ein allerletztes Mal fest hinter mir zu.

Ich wische mir die Hand an meiner Hose ab und gehe weiter, obwohl es sich nicht richtig anfühlt, tiefer in diesen Ort einzutreten. Das Gefühl nicht hierherzugehören, obwohl ich hier den schlimmsten Teil ihres Lebens erlebt habe, überwältigt mich. Aus der Ferne ist das Geplätscher einer Wasserquelle zu hören und an einer ebeneren Stelle, einige Schritte von mir entfernt, ist eine Fläche mit mehreren Schichten geflochtenen Farns und zwei aufwendig verzierten Kissen ausgelegt. Zögerlich trete ich näher heran und knie mich zu Boden, darauf bedacht, ihren gemeinsamen Schlafplatz nicht zu betreten, damit er genau so erhalten bleibt.
Meine Finger streichen über den kühlen Boden. Ich bilde mir ein, das eingefangene Liebesgeflüster in den Steinen durch mich hindurchkribbeln zu spüren, ein Lachen zu hören, das übergeht in ein leises Kichern, welches mit Küssen gestillt wird. Es weckt in mir die Vorstellung, mich hier mit jemanden treffen zu wollen, wir legen uns hin, lauschen unseren Stimmen, unseren Herzschlägen und fühlen uns verbunden. Wie konnte dieser Ort der Zuflucht und Liebe zu einer Mordstätte werden?

Warten

„Die Tür ist nicht abgeschlossen. Das muss nicht jeder wissen. Tue so, als ob du sie aufschließt.“

Die Sonne und der Wind hatten ein leichtes Spiel, der Regen und die nächtliche Feuchte gaben der billigen aufgeplatzten, vergilbten Farbe, den Rest. Ein paar Farbplättchen fielen ab, als die Tür nachgab, so weich wie ein Messer in ein Stück Schweizer Emmentaler gleitet. Keine Spinnweben. In dem winzigen Windfang hing der Geruch nach geräucherten getrockneten Schinken und am geschickt gebogenen, in die Deckenbalken eingeschlagenen, langen Nägeln hingen zwei leere Metzgerhacken. Es lag keine Zeitung auf dem Holzregal. Ein Paar handgestrickte Füßlinge und ein Paar abgetragene Holzschuhe. Kein Meer von Schuhen, die, verteilt auf dem Boden, zum Stolpern dienten.

Die Betonschwelle von Erdgeschosszimmer ist noch höher als die von der Eingangstür. Aus Gewohnheit stellte ich mich auf die Zehenspitzen, um die Klinke zu erreichen.

Das große Wandtuch mit dem Bild eine Hirschfamilie im Wald hing immer noch da. Die Plastikblumen im Plastiktopf standen nicht mehr auf dem Nachttisch neben dem Bett, sondern sichtbar durch das Schlüsselloch.

Das kalte Eisen der Klinke bewegte sich leicht, gut geschmiert. Die Feder streckte sich geräuschlos, die hellgrüne Tür ging auf. Breite, hell gebleichten Holzbretter mit feinen Furchen vom festen Reiben der harten Bürste - immer in Richtung der Holz-Maserung den Boden schrubben!

Der Plastiktopf mit Plastikblumen stand jetzt auf der hellgrünen Truhe gegenüber der Zimmertür. Ich hob schnell meine Tasche wieder auf und zog das gehäkelte weiße Ziertuch von der Truhe runter. Vorsichtig zusammengefaltet, legte ich es über der Stuhllehne und dem burgunderroten Kissen ab.

Auf dem Nachttisch steht endlich eine Lampe. Eine mit goldenem, flachen Fuß und von innen goldenem Schirm. Goldene Linien und drei mattschwarze ovale Punkte auf der beigefarbenen Außenseite des Schirmes. Eine Lampe vom Ende der Fünfziger oder aus den frühen Sechzigern. Ich knipste sie an und bekam kein Stromschlag. Schön!

Aus drei großen festen Federkissen in weißen, mit Blumen bestickten Bezügen, stieg der Geruch der gestrigen Augustsonne. Über der dicken Federdecke lag zusammengelegt ein schimmernder gold-rosa-grüner Überwurf. Es wird mir nicht kalt in der Nacht.

Der Deckel knarzte, gab aber auf. Ich hob ihn über meinen Kopf von links hoch und schob ihn vorsichtig weiter nach oben, zur rechte Seite, ohne ihn gegen die Wand zu knallen. Jede Stufe ächzte unter meinen Füßen eine eigene Geschichte. Neun, zehn, elf Stufen einer schrägen Leiter mit breiten hell geriebenen Holzbrettern. Die Bretter hatten schon, seit ich mich erinnern kann, auf der linken Hälfte abgelaufene Kanten. Viele Füße rannten hier oft hoch und runter. Erlaubt und unerlaubt.

Säcke mit getrockneten Maiskörnern, Hafer und Weizen ordentlich zugeschnürt, unordentlich aufgereiht die Nordwand entlang. Die beige Tür des Schlafzimmers im Obergeschoss stand offen. Dass das Dorf dem Haus zu Fuße liegt, wie sie es zu sagen pflegten, war eine Tatsache. Ich begradigte eine Seite des gleichen dunkelgrünen Tuchs, das, wie im Erdgeschosszimmer vorm Fenster hing und die Sonne und die Hitze draußen hielt. Die Sonnenstrahlen fanden den Weg zwischen dem Tuch und dem Fensterrahmen und brannten einen breiten hellen Streifen auf den hochglanzpolierten Kleiderschrank.

Der gebröckelter Putz lag im dünnen Wasserfilm auf der transparenten Folie auf dem gemachten Ehebett, das mit einem schönen golden-roten schimmernden Überwurf zugedeckt war. Auf dem rechten Nachttisch fehlte die Lampe.

„Seit dem Erdbeben regnet es durch. Der Handwerker hat mir versprochen, im September vorbeizukommen. Hoffentlich schafft er alles zu reparieren, bevor mein Bruder mit seiner Familie aus Amerika zurückkommt. Fremde, das ist nichts für ihn.“

Außer diesen Wörtern, die in meinem Kopf hallten und dem stumpf blauen Himmel, der durch die Deckenbretter und die milchige Folie an Stelle der fehlenden Dachsteine, auf mich schaute, war niemand da.

Nachruf

Fensterlose Wände, schräg über den Kopf nach unten verlaufend die Rolltreppe, darunter eine kleine rote Couch. Gedacht, um Reisenden ein paar Minuten Entspannung zu gewähren. Daneben ein Flughafentrolley mit wenigen Habseligkeiten. Ob sonst noch Decken oder Kleidung verstreut liegen, ist nicht zu erkennen, weil alles mit weißen Laken bedeckt und verhüllt ist.
Nach achtzehn Jahren auf dem Flughafen Charles de Gaulle verstarb der Sechsundsiebzigjährige „Terminal Man“ wie er sich selbst in seiner Autobiografie nannte. Mehran Karimi Nasseri hatte Steven Spielberg zu dessen Film „The Terminal“ von 2004 inspiriert und wenn der Film auch suggeriert, dass er am Flughafen eingesperrt sei, so stand es dem echten Mann jederzeit frei zu gehen. Doch er lehnte ein Visum ab, lebte nur kurz in einem Heim und auch ein Hotelzimmer, dass er sich von dem Geld aus Spielbergs Film leistete, gab er wieder auf. Das Flughafenpersonal berichtet, dass das jahrelange Leben in diesen fensterlosen Räumen den geistigen Zustand von „Lord Alfred“, wie sie ihn nannten, beeinträchtigt hat. Der Flughafenarzt machte sich in den 1990er Jahren Sorgen um seine körperliche und geistige Gesundheit und beschrieb ihn als „hier versteinert“. Ein befreundeter Schalterbeamter verglich ihn mit einem Gefangenen, der nicht in der Lage sei, „draußen zu leben“. Er habe zuletzt kaum noch gesprochen und in die Leere gestarrt.
Am Samstag, den 12.11.2022 starb die „Ikone“ des Flughafens, im Terminal 2F, an einem Herzinfarkt. Hoffen wir, dass seine Seele nun Frieden und Freiheit findet.

In der Tiefe

Vorsichtig bewegt er sich vom Einstieg weg, die Füße versinken im feuchten Boden und werden ab und zu vom Restwasser überströmt. Einige Felsen liegen rechts von ihm, dazwischen loses Geröll und die unansehnlich auf dem Boden klebenden Blätter von Wasserpflanzen. Einige Meter weiter ragt die gebogene Außenwand der Kuppel auf, die unter der tonnenschweren Last des kalten Ozeans ächzt.

Sein Fuß stößt an einen Gegenstand, der nur ein wenig aus dem Boden ragt, und sich nach vorsichtigem Graben als der Kopf einer Steinfigur herausstellt. Die Proportionen des Kopfes sind grotesk verzerrt, die Augen blicken fast bösartig und der Mund scheint zu einem Grinsen verzogen zu sein – zum Glück ist die Hälfte des Kopfes abgebrochen.

Er verstaut das Relikt in seiner Umhängetasche und geht langsam weiter. Während er seinen Blick schweifen lässt, sieht er weitere Bruchstücke von Statuen in der näheren Umgebung. Er wendet sich nach links, wird aber aufgehalten. Als er die Hand der Expeditionsleiterin auf seiner Schulter spürt, dreht er sich um und blickt in ihr vorwurfsvolles Gesicht. Ihr Kopf bewegt sich hektisch in ihrem Helm hin und her. Natürlich, das Programm ist klar und ein Abweichen nicht vorgesehen, vielleicht sogar gefährlich.

Zu zweit gehen sie den abgesteckten Pfad entlang. Dicht hinter ihnen folgen der Geologe und die Linguistin. Nach einer weiteren Biegung stehen sie vor dem schmalen Eingang, der von zwei länglichen Felsen versteckt wird.

Obwohl ihn ein leichtes Zittern erfasst, kann er der Versuchung nicht widerstehen, die Felsen zu berühren. Sie sind warm und scheinen zu pulsieren. Natürlich ist das eine Illusion, der ganze Komplex liegt seit Jahrhunderten oder vielleicht sogar noch länger verlassen im kalten Wasser. Und doch wird er das Gefühl nicht los, als würde der Fels vibrieren, während seine Finger die schwachen Rillen in seiner Oberfläche abtasten.

„Okay, wir gehen rein.“

Die Stimme der Expeditionsleiterin klingt etwas unsicher, aber niemand zögert. Er schaltet seine Helmlampe ein und folgt ihr zu den Stufen, die in die Finsternis hinabführen. Die Stufen sind breit und hoch, das Gehen ist schwierig. Für wen hat man solche Stufen gebaut? Der Stein ist zum Teil bewachsen und rutschig, die Wände sind glatt behauen und die Treppe windet sich so eng hinab, dass er immer nur wenige Stufen vorausschauen kann.

Dann erreichen sie das Ende der Treppe und treten durch eine fast fünf Meter hohe Öffnung in die große Kammer. Ihre Lampen können die Finsternis kaum durchdringen, die Decke und das Ende der Kammer sind nicht auszumachen. Lediglich die Seitenwände, die in einem spitzen Winkel nach rechts und links vom Durchgang abzweigen, reflektieren einen Teil des Lichts.

Was sie darauf erkennen, lässt ihnen das Blut in den Adern gefrieren: Riesige Kreaturen, die sich in unnatürlich verrenkten Posen als Reliefs aus dem Stein erheben. Krallenbewehrte Hände an überdimensionierten Extremitäten umklammern Gegenstände, die an verunstaltete Tierkörper erinnern oder an noch Schlimmeres. Und auch wenn es nur Abbildungen in totem Fels sind, scheinen sie sich zu bewegen und nach ihm zu greifen.

Vorsichtig tritt er in den Durchgang zurück, versucht etwas Abstand zwischen sich und die grässlichen Reliefs zu bringen, und stößt mit dem Geologen zusammen, der ebenfalls verzweifelt versucht, die Kammer zu verlassen.

Und dann sieht er sie – lange runzlige Tentakel, die sich peitschend vorwärts bewegen und hinter denen etwas Riesiges und Furchterregendes aus der Dunkelheit hervorkriecht.

Mord verjährt nie - Revival

Fast hätte ich das Haus nicht wiedergefunden, das mich über Jahrzehnte nachts in vielen quälenden Träumen heimsuchte, doch jetzt stand ich davor. In meiner Erinnerung hatte es einen Stichweg gegeben, der von der Straße am Hang abging und bis hinauf an den Rand des Waldes reichte. Wenige Meter vor seinem Ende, lag das Haus. Einsam und allein, ohne Nachbarschaft. Früher munkelte man im Dorf, dass dort einmal der Waldbesitzer lebte, ein merkwürdiger Zeitgenosse, wie es hieß. Mit anderen Leuten kam er nicht zurecht, da er gerne Streit suchte. Weil ihn seine Frau verlies und sie den Sohn mitnahm, so die Überlieferung, erhängte er sich im Schuppen neben dem Haus. Das war aber alles lange vor meiner Zeit.

Die Natur hatte ganze Arbeit geleistet und sich das Terrain, das einst ein Weg war, wieder einverleibt. Allerlei Büsche und Gräser hatten den Platz für sich genutzt und gediehen prächtig. Dass ich das Haus trotzdem wiederfand, war allein dem Umstand zu verdanken, dass der Bewuchs auf der ehemaligen Auffahrt weniger üppig war, wie seitlich davon. Dort hatte schon früher Gestrüpp gestanden. Was einst Büsche waren, ist mit den Jahren zu Bäumen herangewachsen.

Meinen Wagen hatte ich an dem gegenüberliegenden Rand der Straße geparkt. Der Aufstieg zu Fuß war mühsam. Für die knapp dreihundert Meter durch Buschwerk und Unterholz brauchte ich eine halbe Stunde.

Neunundvierzig Jahre hatte es gedauert, um mich an diesen Ort zurück zu trauen. Mit Dreizehn war ich zuletzt hier. Als Kinder hatten wir oft in dem alten Gemäuer unser Unwesen getrieben. Jetzt stand ich vor dem, was von dem Haus aus meinen Albträumen übrig war, einer Ruine. Das Dach war noch drauf, aber ich brauchte kein Experte sein um zu erkennen, dass es nicht mehr lange hin sein würde, bis es zusammenbricht.

Da, wo einst Fenster an der Frontseite waren, verschlossen angefaulte und vermooste Holzplatten die Öffnungen in den rissigen Mauern. Nur eine Haustür gab es noch. Ich war mir nicht sicher, aber sie sah so aus, wie die alte Tür, die sich damals mit einem kurzen Ruck öffnen ließ. Solange ich sie kannte, war sie alt und verzogen gewesen.

Wir, das waren neben mir meine Freunde Bodo und Jürgen. Ich war der Jüngste, Bodo Fünfzehn und Jürgen lag irgendwo dazwischen. Wie alt er genau war, wusste ich nicht mehr. Wir waren so etwas wie eine Gang. Fernseher gab es bei keinem zuhause. Nach der Schule spielte sich das Leben zumeist draußen ab. Unsere Abenteuer suchten wir gerne im Wald und hin und wieder, wenn sich die Gelegenheit bot, in alten Häusern, in denen wir nichts zu suchen hatten. Wie in dem leerstehenden Haus des toten Waldbesitzers, am Rande seines Waldes.

Nachdem ich zuletzt in dem Gebäude war, gab es für mich keine Kindheit mehr.

Ich stellte mir die Frage, ob ich es wirklich wagen sollte, dieses Haus noch einmal zu betreten?

In meinem Leben hatte ich vielfach bewiesen, dass ich kein Angsthase war, aber jetzt zitterten mir die Knie. Was, wenn ich fand, wonach ich suchte? Würde ich den Anblick ertragen oder würde ich unter meinen Schuldgefühlen zerbrechen? Oder noch schlimmer, was, wenn ich es nicht fand, weil es nicht mehr da wäre? Was, wenn andere es gefunden hatten und nur darauf warteten, dass ich an diesen Ort zurückkehrte?

Ich war unentschlossen und nahe daran, den Rückzug anzutreten.

„Vielleicht ist es besser, ich suche das Weite und haue unverrichteter Dinge wieder ab.“

Dazu kam mir die Ausrede in den Sinn, dass ich neunundvierzig Jahre lang verschwunden war, warum also nicht noch ein paar Jahre länger? Wenn man mich so lange nicht gefunden hatte, falls man nach mir gesucht hat, was ich nicht wusste, würde man mich auch in Zukunft nicht finden. Ich würde schließlich nicht ewig leben. Da wäre der Knast keine Option für mich.

„Vielleicht war es doch eine Schnapsidee von mir, mich auf diese Weise meinem Trauma zu stellen.“

Doch dann dachte ich an die Kosten und an den ganzen Aufwand, den ich betrieben hatte. Ich war unter einem Vorwand von Argentinien nach Deutschland geflogen, hatte meine Frau und meine Kinder belogen und Geld ausgegeben, das wir gut an anderer Stelle hätten brauchen können. Da durfte ich doch nicht ernsthaft über einen Rückzug in letzter Sekunde nachdenken.

Ich überwand meine Zweifel, ging zu der maroden Eingangstür, ruckte daran und war erstaunt, dass sie genau so leicht aufsprang, wie früher.

Mir stand nichts mehr im Weg. Der Weg ins Grauen war frei.

Aus dem inneren des Gebäudes schlug mir ein fauler, muffiger Gestank entgegen. Soweit ich in den Hausflur hinein sah, lag überall Unrat und Dreck herum. Von den Möbeln, die früher dort drin waren, sah ich nichts. Mein Blick fiel unter die Decke. Sie sah intakt aus. Schließlich war es nicht meine Absicht, gleich von herabstürzenden Trümmern erschlagen zu werden, würde ich mich wirklich ins Innere des Hauses vorwagen. Was ich dann tat.

Im Haus war es relativ hell, woraus ich schloss, dass es Fenster oder andere Öffnungen gab, durch die Licht in das Gebäude gelangte. Ohne dieses Licht wäre es auch schlecht für mich gewesen, weil ich meine Taschenlampe im Auto vergessen hatte.

Ich wagte die ersten Schritte in den Flur hinein. Es knarrte und knirschte unter meinen Füßen. Das Knirschen kam wohl von dem sandigen Dreck und was das Knarren anging, so erinnerte ich mich, dass der Boden früher im ganzen Bau aus Holzdielen bestand. Ich hoffte, dass sie meinem Gewicht stand hielten und ich nicht einsacken und womöglich feststecken würde. Im vorderen Teil des Hauses gab es keine Unterkellerung, daran erinnerte ich mich, weil wir damals gerne die Keller aufsuchten. Demnach würde ich nicht gleich abstürzen, falls doch mal eine Diele nachgab. Ich wagte mich weiter in das Gebäude vor.

Unbeschadet gelangte ich bis ans Ende des kurzen Flures, wo er in den Raum mündete, in dem es über die Treppe ins Dachgeschoss hochging. Sie sah nicht mehr so aus, wie in meinen Träumen, aber bei ihrem Anblick, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.

Doch wie es so oft ist, kommt ein Schauer selten allein.

Ohne, dass ich es erahnt hätte, und ohne jede Vorwarnung, setzte ein wildes Spektakel ein.

Ich duckte mich, riss die Arme hoch und legte die Hände schützend über meinen Kopf. In diesem Moment erwartete ich, dass mich die Horde schwarzer Vögel angreift, doch dann stellte ich fest, dass sie auf der Flucht war. Was für ein Glück für mich, atmete ich tief durch. Im hinteren Teil des Daches, schräg über mir, klaffte ein großes Loch, durch dass sie alle gleichzeitig nach draußen drängten. Für einen Moment, bis die letzten Vögel draußen waren, wurde es im Haus dunkel. Es waren wohl an die zehn große Raben, vielleicht sogar mehr. Ich war so geschockt, dass ich nicht wirklich hinsah.

Federn segelten von oben herab und landeten auf den verdreckten Boden. Dann war es wieder so hell wie vorher. Das Licht fiel demnach ausschließlich durch diese Öffnung im Dach in das Haus und nicht durch etwa noch intakte Fenster.

Ich brauchte eine Weile, bis ich den Schreck verdaut hatte und mich weiter umsah.

Von der Treppe standen nur noch die Wangen. Stufen hatte sie keine mehr. Schon vor neunundvierzig Jahren waren im oberen Teil zwei Stufen so marode, dass man sie lieber nicht mehr betrat.

Wir hatten uns damals darauf verständigt, dass es diese beiden Stufen sind, die für das Unglück verantwortlich waren, nicht wir. Nur wusste ich zu gut, dass das nicht stimmte.

Vor meinem geistigen Auge spielte sich ab, was damals geschah, was mich in meinen Träumen quälte und was mich über all die Jahre nicht aus seinen Fängen ließ.

Hexentag

Es war einige Jahre her, doch meine Hand fand wie von selbst den Griff der schweren Eingangstür und zog wie einst mit einiger Kraft daran, um sie zu öffnen, was sie mit einem vertrauten Klicken tat. Ich betrat den Flur. Stille empfing mich.

Ein Windhauch betrat mit mir den stillen Flur, wehte an mir vorbei, zog ein paar meiner Haarsträhnen mit, brachte die ruhenden Staubflusen auf dem Boden in Bewegung, strich über die Blätter an der inzwischen arbeitslosen Magnettafel und ließ ein paar Blätter mit einem Rascheln auf dem gefliesten Boden landen. Ein Blatt rutschte dabei bis vor meine Füße. Ich bückte mich, hob es auf und betrachtete das ausgeblichene Blatt, dessen Inhalt einen Hauch Wehmut durch meine Brust ziehen ließ: Wir laden euch ein zu unserem Hexentag. Wir wollen gemeinsam mit euch zaubern und feiern. Wenn ihr mögt, kommt gerne verkleidet. Ich erinnerte mich an diesen Tag und ein leichtes Lächeln erhellte mein Gesicht, begleitet von einem Gefühl der Schwere. Ich pinnte den Zettel zurück an die Magnettafel, wissend, dass ihn niemand mehr lesen würde.
Mein Blick schweifte über weitere Zettel, die Termine und den Essensplan ankündigten, ihren Dienst aber längst getan hatten und nicht mehr gebraucht wurden. Wobei sie auch zu ihren Dienstzeiten manchmal nicht beachtet wurden. Ich sah mich im Flur um, dabei streifte mein Blick zwei heruntergefallene Kürbisse aus Tonpapier, eine leere Pinnwand an der einst die Bilder aller Mitarbeitenden hingen, die verschlossenen Türen zum Waschmaschinenraum und zum Vorratsraum. Ich öffnete keine dieser Türen, sondern ging auf die Tür mit eingelassener Glasscheibe zu, hinter der sich ein großer Flur befand. Die Stille, die mich hier empfing, besaß etwas Verlassenes.

Das, was früher immer geschah, sobald ich diese Tür öffnete, blieb nun aus. Und obwohl ich es gewusst hatte, versetzte es mir einen Stich. Es gab niemanden, der in diesem Moment auf mich zu rannte, der verzückt aufschrie, der allen verkündete, dass ich da war, der mich mit einem Lächeln begrüßte, der aufgeregt im Türrahmen wartete. Es empfingen mich keine Stimmen, kein Lachen, kein Rufen, kein Schreien, kein Weinen, kein Poltern, kein Rascheln, keine Berührung, kein Leben. Stattdessen empfingen mich weitere Staubflusen und Kälte.
Auf dem Boden vor mir entdeckte ich ein paar Sandkörner. Danach erfassten meine Augen den braunen Gummistiefeligel, inzwischen auch ohne Aufgabe, mit leeren Stacheln. Nur ein einzelner Gummistiefel lag vergessen davor, noch etwas Erde an der Sohle, mit einem kleinen Dinosaurier an der Seite und abblätterndem Gummi. Ich bückte mich und steckte ihn auf eine der Igelstacheln, so fühlte es sich an, als wären Igel und Gummistiefel weniger verloren.
Ich blieb noch einen Moment in der Hocke, eine vertraute Körperhaltung an diesem Ort. Von hier aus blickte ich durch den Flur, sah auf die kleinen Bänke, Schuhhalter, Jackenhaken und Fächer. Aus dieser Perspektive entdeckte ich noch mehr vergessene Gegenstände: einen Puschen, eine Mütze, einen leeren grünen Beutel, ein Stofftier, das eingeklemmt unter der Schuhablage lag. Ich erhob mich aus einem Impuls heraus, bis ich bei der Bank angekommen war, unter dessen Schuhablage das flauschige Stofftier lag. Dort kniete ich mich hin, beugte mich tief herunter, ließ meine Hand unter die Ablage gleiten und zog an dem Stoff, bis ich schließlich einen kleinen weichen Elefanten in der Hand hielt. Ich entstaubte ihn. Es berührte mich, dieses Stofftier hier so verlassen gefunden zu haben, denn ich wusste, wem dieser flauschige blaue Elefant gehörte, der mich nun aus seinen großen schwarzen Augen anschaute, die großen Ohren abstehend, bereit, Geheimnissen, Geschichten und Gedanken zuzuhören und aufzubewahren. Anders als die Gummistiefel konnte ich den Elefanten nicht hier zurücklassen, sondern musste ihn auf meinem Arm behalten. Denn ich wusste, dass dieses Stofftier eine Seele besaß, für das Kind, dessen Begleiter und Vertrauter es gewesen war.
Erinnernd strichen meine Finger sacht über das glatte Holz der Garderobe, deren Ablage mir bis zur Schulter reichte, deren Bank noch nicht einmal kniehoch war. Ich erinnerte mich an die Zeit, als es hier lebendig, wild, laut, wuselig, inspirierend, fordernd, lustig und einfach schön war. Vor mir sah ich die vielen Gegenstände, die hier früher ihren Platz hatten: Schuhe, Puschen, Jacken, Mützen, Schals, Bilder, Stofftiere, Taschen, Autos und so vieles mehr. Ich hörte die Stimmen in meinem Kopf, die den Flur jeden Tag lebendig gemacht hatten. Ich schloss die Augen und sah alles vor mir. Als ich meine Augen öffnete, lag der Flur leer, dunkel und verlassen vor mir, unbewegt, ungenutzt, still.
Ich betrachtete den großen Spielteppich, der ordentlich in der Raumecke lag, der einladend aussah, um sich darauf niederzulassen, darauf zu liegen, zu bauen, zu leben. Am Fenster dahinter klebten gebastelte Kürbisse, wie ich sie schon im Eingangsflur auf dem Boden liegend entdeckt hatte, aber auch Hexen, Besen und Blätter. Der Zusammenhang zu dem Zettel, den ich gelesen hatte, war zu erkennen. Ich lächelte, aber nur kurz, denn wieder überkam mich Wehmut.

Dann führten mich meine Füße, den Elefanten in der Hand, zur Tür des nächsten Raumes, in dessen Türrahmen ich stehenblieb. Eine Welle der Traurigkeit durchfuhr mich, und ich musste kurz anhalten, um ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen. Der Raum, der vor mir lag, war auf eine andere Art als der Flur von Leben gefüllt gewesen, denn hier war unser Gruppenraum gewesen, unser sicherer Ort.
Als ich mich wieder gefasster fühlte, erlaubte ich meinen Augen und meiner Seele, den Raum bewusst wahrzunehmen. Ich sah Tische, die mir bis zum Knie reichten, darauf kleine Stühle gestapelt, manche mit Armlehnen, manche ohne. Ich sah eine kleine Küche, auf dessen Spielherd wohl noch eine Suppe kochte, oder Spaghetti, oder Kuchen oder was auch immer dort in der Fantasie eines Kindes kochen konnte.
Mein Blick erfasste einen Teppich, auf dem Vergessen ein kleines Auto stand. Im Regal daneben standen leere Kisten, einst gefüllt mit bunten Bausteinen, mit Autos, mit Tieren, mit Stöckern, mit Bällen, mit Kleidung, mit dem, was gerade gebraucht wurde und wichtig war, mit dem, was die Ideen der Kinder unterstützte, aufgriff, weiterführte. Jetzt standen dort leere Kisten, was mich traurig stimmte. Aber, kam mir ein Gedanke, selbst damit wären Kinder glücklich. Denn sie fanden stets das Glück in den kleinsten Dingen.
Mein Blick wanderte weiter zu einem größeren Tisch, an den ich näher herantrat und ihn betrachtete. Dabei sah ich Reste von Farbe am Tischbein und auf der Tischplatte sowie auf den Stühlen, die auf ihm ruhten. Ich ließ meine Finger vorsichtig über die Farbreste gleiten, die sich fest und rau anfühlten. Durch meine Berührung rieselten kleine Farbkörnchen auf den Boden. An der Wand sah ich Stangen, an denen leere Behälter hingen, daneben ein Schrank mit leeren Fächern. Fast leer, wie ich feststellte, denn ich entdeckte eine Schere, einen Wachsmalstift, Reste angespitzter Stifte und Papierreste. Über dem Tisch und an der gegenüberliegenden Wand hingen dicke Äste, mit Fäden aufgehängt, an denen Wäscheklammern geduldig auf Kunstwerke warteten, die sie festhalten und präsentieren durften. Ich fuhr mit meinen Fingern daran entlang, spürte die unebene Oberfläche des Holzes, öffnete eine Klammer, musste ihr aber Luft statt Papier hinterlassen. Wieder hing ich meinen Erinnerungen nach…
… ich sah Scheren, Papier, Stifte, Klebestifte, Perlen und Glitzer auf dem mit einer Tischdecke abgedeckten Tisch, aber ebenso auf dem Boden. Ich sah geschäftige Kinderhände, konzentrierte Blicke, leuchtende stolze Augen, stolzes Lächeln, Streit, Lob, Teilen und Wegnehmen, Kreativität, Kunstwerke die entstanden. Ich hörte Schimpfen, Lachen, Rufe, Reißen, Klopfen, Knistern.
Ein tiefer Atemzug holte mich zurück in den nun stillen und leeren Raum. Als ich mich weiter umsah, sah ich auch hier am Fenster noch ein paar gebastelte Werke anlässlich des Hexentages. Eine Hexe hatten ihren Platz am Fenster verlassen und lag platt auf dem Boden. Ich ließ die Hexe an ihrem Ort und wandte meinen Blick der Zimmerdecke zu. Dort sah ich eine Schallschutzdämmung, an der viele Haken befestigt waren. Nun hatten auch diese Haken keine Aufgabe mehr und trugen lediglich ein paar Spinnweben. Früher hingen hier Lichterketten, Laternen, Luftballons, Luftschlangen, Krepppapier oder was auch immer für uns wichtig war. Ohne diese Dinge fehlte hier etwas. Wie überhaupt in diesem Raum.
Zum ersten Mal, seit ich den Raum betreten hatte, nahm ich ihn als Ganzes wahr. Der große Schrank, stets für Kinder verschlossen, beinhaltete schon lange keine vertraulichen Dokumente mehr und der hohe Tisch daneben diente schon lange niemandem mehr als Ablage. Der offene hohe Schrank verwahrte längst nicht mehr die Portfolios der Kinder, die gefüllt waren mit Entwicklungsschritten und Interessen der Kinder in Form sorgfältig ausgewählter Fotos und formulierter Texte. Die eingeschobenen Fächer aus Kunststoff hatten nicht mehr die Aufgabe, die Werke der Kinder aufzubewahren, bis sie diese mit nach Hause nehmen oder daran weiterarbeiten wollten.
Gerade, als ich einen Blick in die Nebenräume werfen wollte, erfasste mein Blick doch etwas, das von einem der Fächer gewissenhaft aufbewahrt wurde. Ich trat näher an den Schrank, bückte mich und zog das Fach heraus. Darin lag ein Bild. Was genau darauf war? Ohne das Kind fragen zu können, war es für mich unmöglich festzustellen, und ich konnte mir kaum anmaßen zu wissen, was das Kind darstellen wollte, wenn es überhaupt etwas Konkretes gemalt hatte. Vielleicht hatte es sich auch an der Bewegung des Malens, an den Farben oder am Erschaffen erfreut. Ebenso wie den Elefanten nahm ich auch das Bild an mich. Dann erhob ich mich und ging auf den Nebenraum zu.

Obwohl der Raum längst nicht mehr so gemütlich war wie früher, da ihm Decken, Kissen, Vorhänge, Lichterketten, Stofftiere und Bücher fehlten, konnte ich die Ruhe und Gemütlichkeit noch in mir spüren, die mich und die Kinder immer erfasst hatten, sobald wir den Raum betreten hatten. Der große graue Teppich lag noch an seinem Ort vor dem Fenster und, abgetrennt durch einen niedrigen Holzaufsteller, standen in einer Ecke fünf kleine Betten, die nicht höher waren als meine Wade. Ich drehte mich überprüfend zur Tür um. Dort hing, anders als von mir erwartet, doch noch unser mit den Kindern gestaltetes Schild. Es hing inzwischen schief, doch gab seine Aufgabe noch nicht auf. Darauf war ein ruhendes Kind zu sehen, umgeben von Wolken und Sternen.
Wie oft ich hier Kindern Bücher vorgelesen hatte, die sie schon zehnmal gehört hatten oder zum ersten Mal entdeckten. Wie oft ich hier im dunklen Raum gesessen hatte, um Kinder beim Einschlafen zu begleiten, durch Streicheln, beruhigende Worte oder einfach durch meine Anwesenheit.
Ich ging, ein letztes Mal, zum bodentiefen Fenster und hockte mich davor. Ich ließ meine Finger gedankenverloren über den weichen Teppich unter mir gleiten. Dann sah ich hinaus. Sah die Straße, die Bäume und Büsche, die Wiese, die vorbeifahrenden Autos, die Menschen. Viele Kinder hatten diesen Ausblick, dieses Beobachten genossen. Den gemeinsamen Austausch. Das begeisterte Zeigen und Benennen dessen, was sie entdeckt hatten: einen Hund, einen Bus, einen Krankenwagen, einen Menschen, Blätter, Regen, Schnee, Sonnenschein, die nasse Straße, Äste die sich im Wind bewegten. Lächelnd und traurig stand ich auf, drehte ich mich um und verließ den Raum.

Wieder stand ich im großen Gruppenraum. Wieder musste ich tief atmen, um nicht doch noch zu weinen. Dieser Raum, dieser Ort, sollte nicht so still sein. Nicht so leer. Nicht so unlebendig. Er sollte erfüllt sein von Stimmen, von Lachen, von Gesprächen, von Rufen, von Flüstern. Erfüllt von Glitzer, von Farbe, von Kreativität, von Ideen, von Fragen, von Antworten, von Lernen. Erfüllt von Gefühlen, von Lachen, von Löwen, von Dinosauriern, von Brüllen, von Knurren, von Gesang, von Bewegung. Erfüllt von Kindern.

Mit dem Bild und dem Elefanten in der Hand verließ ich auch diesen Raum. Kurz sah ich den Flur herunter, überlegte, ob ich den Waschraum besuchen wollte mit den kleinen Toiletten, den kleinen Waschbecken, dem Wickeltisch. Ich entschied, dass ich das nicht mehr brauchte, verließ den Flur und ging auf die Tür zu, die nach draußen führte. Doch bevor ich die letzte Tür öffnete, um sie für immer hinter mir zu schließen, hielt ich inne und löste den Hexentag-Zettel von der Magnettafel.

Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel und meine Hand ihren kühlen Griff losließ, glitt mein Blick noch einmal über die weiße Fassade des Hauses und über das große Schild, das dort nicht hängen sollte: ZU VERKAUFEN.

Es gibt kein Entkommen

Es war nicht gerade lustig. Naja, Orte an denen Menschen gelebt haben, sind von Natur aus nicht unbedingt so lustig. Hätten doch wenigsten ein paar Tiere hier gehaust, würde man sich doch etwas wohler fühlen, doch weiss man heutzutage doch nicht ganz so genau ob da Menschen im Spiel waren, die die Tiere natürlich besonders gut behandeln.

Hauptsache etwas Stress oder den einen oder anderen Geist und möglichst ein paar Ahnen die über ihr hart erbeutetes Eigentum, auch nach Ihrem Tod noch Ihre energetischen Krallen über ihr Anwesen legen und womöglich den einen oder anderen krank machen, vielleicht auch einen töten; wer weiss denn das so genau.

Naja, das könnte ich sein, der das weiss und sich überlegen muss, ob er überhaupt einen Fuss auf dieses verlassene Land legen möchte. Darf ich Ihnen vorstellen: die Erbschaft meiner Vorfahren.

Die Erbschaft angenommen und es tobt. So etwas wie Schlaf kannte ich damals noch, bevor ich die Eingemauerten entmauerte. Leben will hier keiner. Kaufen will auch keiner. Die Geister und Ahnen wissen was sie wollen…

Die Story beruht auf einer wahren Geschichte. :grin:

Die Hütte am Waldrand

Von weitem fällt eine Hütte auf, in deren Fenster sich die Sonne zu einer bestimmten Jahreszeit spiegelt. Am Dach fehlen einige Ziegeln und die Sonne scheint um die Mittagszeit durch die Lücken in den Raum der kleinen Hütte am Waldrand. An den Wänden hängen Jagdtrophäen und Bilder aus früherer Zeit.
Am Kamin ist Holz bereitgelegt, als wenn der Besitzer irgendwann wieder kommt.
Der Fensterladen wird durch den Wind sachte bewegt. Die Scheiben sind durch eine Staubschicht bedeckt.

An der Wand neben dem Schreibtisch hängt eine mit Kreide beschriebene Tafel. Der Wind hat den Kreidestaub teilweise von der Tafel in den Raum geweht. Die schweren Gegenstände stehen noch an ihrem ursprünglichen Platz im Raum. Die Papiere und andere leichte Gegenstände liegen am Boden verstreut.
Nur die mit Zeichengeräten beschwerten Papiere sind am Tisch geblieben. Darauf sind auf dem vergilbten Papier Skizzen von technischen Geräten zu erkennen.
Die Sonne scheint durch ein Glasprisma am Tisch und an der Wand sind Regenbogenfarben zu sehen, die über die gerahmten Bilder verlaufen. Es sind Bilder auf denen Gruppen und einzelne Personen zu sehen sind. Neben den wenigen Farb-Bildern sind überwiegend Schwarz-Weiss-Bilder in Holzrahmen zu erkennen.
An einigen Stellen auf der Wand sind ausgeschnittene Zeitungsartikel mit Berichten über technischen Neuerungen zu sehen.

In den offenen Büchern am Tisch blättert seit längerer Zeit nur noch der Wind. Die in die Bücher eingelegten Lesezeichen mit handschriftlichen Notizen sind auf dem Tisch und am Boden im Raum verteilt.

In einer Kochnische steht ein kleiner Ofen aus Gusseisen mit einem Wasserkessel auf der Kochplatte. Daneben ein Waschbecken und darüber ein Küchenschrank. Durch die leicht geöffnete Tür des Küchenschrankes sind neben Teller und Tassen auch Dosen von Tee und Kaffee zu erkennen. Die Farben und die Gestaltung der Packungen lassen auf ältere Produkte schließen.

Wind und Wetter haben das verlassene Haus übernommen und hinterlassen ihre Spuren. Die Natur ordnet die Dinge neu bis ein neuer Besitzer das Haus übernimmt.

Das Verfallene Haus

Also machte ich mich allein auf den Weg, was meiner Laune allerdings einen gewaltigen Abbruch tat. Allein war es immer schwerer, gut gelaunt zu sein. Wieder kam ich an diesem Tag an dem alten Haus vorbei. Das würde auch nicht mehr schöner werden, dachte ich. Es war komplett verfallen und glich einer Ruine. Das Dach hatte lauter Löcher und eine der Wände war halb verschwunden. Die meisten Balken in den Wänden waren schon halb durch gefault und es machte nicht den Eindruck, dass es von innen besser aussah. Allerdings schien es heute eine magische Anziehungskraft auf mich auszuüben. Ich konnte einfach nicht wegsehen, und als ich unmittelbar in seiner Nähe war, musste ich sogar stehen bleiben. Sehr seltsam. Als ich das Haus so betrachtete, bemerkte ich, dass dort drinnen sich etwas bewegte. Ich konnte von der Straße aus nicht erkennen, was es war, aber es schien ein Mensch zu sein oder ein Tier. Vielleicht ein entlaufener Hund oder eine Katze. Ich wollte schon weiter gehen, als ich es wieder sah und jetzt hörte ich auch ein seltsames Geräusch. Es klang wie jemand, der sich verletzt hatte. Sehr seltsam. Es war doch wohl niemand in das Haus gegangen, oder? Das Geräusch riss nicht ab und so langsam begann ich mir echt Sorgen zu machen. Also entschied ich mich für das einzig Richtige. Ich ging auf das Haus zu und näherte mich der Eingangstür. Als ich direkt vor der Tür stand, zögerte ich einen Moment. Was, wenn das Haus über mir zusammenstürzte? Ich wollte schon umkehren, als ich erneut dieses Geräusch vernahm. Diesmal hörte es sich eindeutig nach einem Hilferuf an. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und drückte die Tür auf. Es würde schon nichts passieren. Immerhin sah das Haus nicht erst seit heute so aus. Es stand schon seit Jahren so verkommen da rum und nie war es jemandem auf den Kopf gefallen. Als ich die Tür aufdrückte, kam mir nichts als Dunkelheit entgegen. Aus einigen Löchern kam ein bisschen Licht, aber ansonsten war es sehr dunkel in dem Haus. Die noch vorhandenen Fenster waren entweder abgehangen oder aber so dunkel vor Dreck, dass kaum ein Lichtstrahl zu mir hindurchdrang. Langsam und äußerst beschwerlich gewöhnten sich meine Augen an das Dämmerlicht. Ich sah mich um. Das Haus war größtenteils leer geräumt und ziemlich heruntergekommen. Einige der Balken wiesen Schimmelbefall auf, der Boden war stark zu gestaubt und an einigen Stellen schien er ziemlich brüchig zu sein. An vereinzelten Flecken konnte man erahnen, wo hier mal die Möbel gestanden hatten. Auch an den noch vorhandenen Wänden zeugten solche davon, dass hier mal Bilder gehangen haben mussten. Wobei die meisten Wände mittlerweile fehlten. Sie waren in sich zusammengefallen, sodass man durch das gesamte Erdgeschoss sehen konnte. Wenn man den Blick allerdings nach oben richtete, konnte man durch die Löcher im Dach das wenige Licht fallen sehen. Die Decke, die gleichzeitig den Boden des Obergeschosses gebildet hatte, war fast vollkommen verschwunden und fand sich zu meinen Füßen wieder. Sie musste mit den Jahren vollkommen verrottet und auseinandergebrochen sein. Langsam machte ich einen Schritt in den Raum rein.
„Hallo?“, rief ich vorsichtig und mich leicht ängstlicher Stimme. Ich hörte nichts. Also wandte ich mich nach rechts und ging langsam durch den Raum. Viel war hier wirklich nichts mehr übrig, aber das Haus musste einmal sehr schön ausgesehen haben. Als ich bis zum Ende gekommen war, sah ich tatsächlich noch etwas an der Wand hängen. Ich konnte nur nicht erkennen, was da es durch ein Tuch abgedeckt war. Vorsichtig streckte ich die Hand danach aus, aber kaum, dass meine Finger das Tuch streiften, fiel es auch schon auseinander. Das Tuch musste seit Jahrzehnten darauf gelegen und als Schutz für etwas gedient haben. Hier drunter befand sich ein Bild. Es musste sehr alt sein, denn es sah aus, als wäre es von einem Künstler von Hand gemalt worden. Es zeigte eine Frau in einem wunderschönen Kleid. Unter dem Bild stand Marie Pemberton, Neunzehhundert … Den Rest konnte man nicht mehr entziffern. Wahrscheinlich wird sie hier gewohnt haben. Und da ihr Bild hier noch hängt, werden ihre Verwandten es abgehangen haben, als sie das Haus verließen. Vermutlich kehrten sie nie wieder zurück und das Haus wurde zu dem, was es heute ist. Einer Ruine, dachte ich. Aber sie wird wohl kaum der Jemand gewesen sein, der hier um Hilfe gerufen hat. Also musste hier in dem Haus noch wer anders sein, aber wo? Ich ging wieder zurück in die Raummitte und schaute mir die Treppe an. Die konnte ich unmöglich nach oben gehen. Ich glaubte nicht, dass die mich halten würde und zudem gab es ja auch kaum noch etwas, wo sie mich hinführen würde. Ich sah mich weiter um. Links von der Eingangstür aus war die Wand zwar auch nicht mehr ganz und man konnte problemlos hindurchgehen, aber immerhin war auf beiden Seiten von dem Loch noch etwas übrig. Ich entschloss mich, zuerst da nachzusehen. Ich ging in den Raum rein und stellte fest, dass er noch viel dunkler war als der Rest des Hauses. Und dann wurde mir auch klar, wieso. In diesem Teil des Gebäudes gab es noch eine Mitteldecke, die den Raum vom Dach trennte. Das bedeutete, dass es da oben auch noch Zimmer geben musste. Ich ging zurück zu der Treppe, wenn ich Glück hatte, ging sie nicht gerade nach oben, sondern beschrieb einen Bogen und ich kam mit ihr bis zu dem Teil, an dem es noch Decke, äh Boden gab. Vorsichtig setze ich einen Fuß auf die unterste Stufe. Sie machte ein Geräusch, dass mich fast dazu brachte wieder umzukehren, aber sie hielt. Ich stellte den zweiten Fuß ebenfalls auf die Stufe und sah nach oben. Ich konnte nichts sehen, dass wie eine lebendige Person aussah.
„Hallo?“, rief ich erneut in die Düsternis. Diesmal etwas lauter. Wieder bekam ich keine Antwort, aber ich hörte wieder dieses seltsame Geräusch. Es klang so, als würde jemand versuchen, irgendetwas zu bewegen. Mutig setze ich einen Fuß auf die nächste Stufe und arbeitete mich voran. Mit jeder Stufe wurde ich mutiger und zuversichtlicher, dass die Treppe mich halten würde.

Ukraine, Tschuhujiw 2022

An den Wänden klebt eine ausgeblichene Disney-Tapete. Dschungelbuch. Balu und Mogli. Kuschelnd und tobend miteinander. Das satte Grün des Dschungels ist dem Ton schmutziger Limetten gewichen. Auf eine Wand hat jemand direkt gemalt. Ein blauer, kleiner, verschüchtert und traurig dreinblickender Elefant im Zentrum des Bildes.

Folgt man seinem Blick, landet man auf einem unordentlichen Haufen bunt bezogener Schaumstoffblöcke in kräftigen Grundfarben und verschiedenen Formen. Wie dahin gewürfelt. Der Ständer neben dem Wandbild ist hingegen aufgeräumt. Rote Stäbe, teilweise mit Pompons an einem Ende, und Gymnastikreifen, in groß und klein und den selben Farben wie die Spielblöcke, stehen in Reih und Glied. Bereit jederzeit benutzt zu werden.

Strickleitern, ein Netz und Kletterseile führen hoch zu massiven Konstruktionen, fast schon in der Kopfhöhe von Erwachsenen. Schaukeln und Ringe sind an den Balken befestigt, werden bei Nichtbenutzung aber hinter die Träger geklemmt, damit sie die Kinder nicht stören. Die zwei halboffenen Schränke in der Ecke sind viel zu klein, um alle Fußbälle zu halten. Einige liegen nur davor. Einer hat das Aussehen einer Wassermelone. Kleinere Spielsachen liegen nicht herum. Dafür gibt es an der gegenüberliegenden Wand eine große, gelbe Stofftonne. Wenn man nicht weiß wohin sonst.

Zwei große Fenster, damit die Sonne Einzug halten kann. Das Glas hat gehalten. Es liegen keine Splitter auf dem Boden. Nur Mauersteine und Geröll. In der Wand über den beiden Regalen klafft ein Loch, das etwa den Durchmesser der größeren Hula-Hoop-Reifen hat. Die Außenwand besteht, inzwischen gut erkennbar, aus vier gemauerten Reihen. Der meiste Schutt liegt direkt unter dem Einschlagpunkt der Granate. Ein kleines Siegerpodest wurde davon begraben. Man erkennt nur noch den 1. Platz. Wo der zweite und der dritte Sieger stehen, ist nicht mehr zu sagen. Hier gibt es nur Verlierer.

Ein letzter Blick

Die Türklingel spielt ein klassisches Musikstück. Ich habe sie gedrückt, obwohl ich weiß, dass mir niemand öffnen wird.

Ich lausche den Tönen, blicke auf das trübe Glas der Eingangstür, hinter der sich kein Schatten bewegt. Dann drehe ich den Schlüssel im Schloss.

Drinnen ist es kalt, eisig sogar. Die Heizung muss ausgefallen sein.

Dem Nebel meines Atems folgend gehe ich umher, angezogen von einem der Ölgemälde an den Wänden. Selbstgemalt wie alle anderen trägt dieses eine besondere Erinnerung, eine besondere Schwere in sich. Das Portrait einer schon längst verblichenen Liebe. Die Pinselstriche sind sorgsam angebracht, der Holzrahmen ist verspielt und komplex.

Ich gehe weiter.

Auf dem Küchentisch liegt ein stumpfes Messer, im Wohnzimmer eine Schale voll alter Bonbons. Für einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, eines zu nehmen, obwohl ich Bonbons nicht mag.

Früher saß ich hier oft in einem Sessel, leichtherzig und jung, die Finger klebrig von süßem Gebäck. Jetzt sind die Sitzmöbel mit großen Handtüchern bedeckt, um sie vor Abnutzung zu schützen. Ich lasse meine Hand über den rauen Stoff gleiten. Schon seit Monaten hat niemand ihn mehr berührt.

Im Arbeitszimmer stehen Bücher. Manche über 200 Jahre alt. Ich blättere darin, und Staub liegt schwer in der Luft. Ob er all diese Bücher gelesen hat? Oder nur gesammelt?

Eines lege ich auf dem Schreibtisch ab. Neben der Computertastatur. Alt und neu. Um Generationen getrennt.

Ich gehe nicht in den zweiten Stock. Gehe nicht die kalte Steintreppe hinauf, lasse nicht meine Hand über das gusseiserne Geländer gleiten.

Gehe nicht in das Zimmer mit der antiken Tapete und dem inzwischen viel zu kleinen Bett, das eigens für mich gebaut wurde.

Gehe nicht an der Holztruhe vorbei, in der Fotoalbum um Fotoalbum zu finden ist. Eine Ansammlung von Erinnerungen und Gesichtern. Gesichter, die ich kenne, solche, von denen ich gehört habe und wieder andere, deren Namen mir niemand mehr wird nennen können. Schwarz-weiße Einblicke in die Vergangenheit.

Ich gehe auch nicht in das andere Zimmer. Jenes, in dem man ihn gefunden hat.

Noch nicht.

Im Keller werde ich die elektronische Orgel finden und hinter Klappen in der Wand den Dudelsack und einige Flöten. Und in dem Raum, der als Werkstatt diente, warten unzählige Vorrichtungen, Maschinen, Werkzeuge und Bauteile. Bruchstücke, Überreste und Fragmente. Ein Chaos, in dem ich mich kaum zurechtfinde. Und zugleich eine Fülle von Erinnerungen an reparierte Spielsachen und neu gebaute. An Schmuck und elektronische Spielereien. An geschickte Hände und einen wachen, neugierigen Geist.

Während ich noch im Wohnzimmer stehe, durchbricht die Musik der Türklingel die Stille. Es wird die Nachbarin sein, die meine Ankunft schon erwartet hat. Ich lausche der Musik und bleibe stehen.

Anmerkung:
Da ich diesen Text praktisch im letzten Moment geschrieben habe, bleibt kaum Zeit für Korrekturen. Bitte entschuldigt mögliche Fehler :wink:

Von Mensch und Maus

„Warte doch bitte mal einen Moment hier, Schatz“. Ich hielt kurz den Atem an, so intensiv hatte der unerwartete Anblick des alten Baums ein paar Meter neben uns am Seeufer auf mich gewirkt. Und zugleich stach mir mit voller Wucht eine längst vergessene Episode in die Erinnerung, die sich jetzt wie ein nur sekundenlanger Videoclip vor meinem inneren Auge abspielte: Ich als kleiner Junge, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, der dicht an jenem Baum kniete und die verzweigte Wurzel des alten Gehölzes als „Zeitkapsel“ nutzte.

„Ich muss da gerade mal was nachgucken. Einen Moment noch, bitte!“

Ich glaube, es war der berühmte Fernseh-Professor Hans Haber, der damals in den 1960ern in seiner beliebten Jugendsendung einmal über „Zeitkapseln“ berichtet hatte. Über Menschen, die in einem widerstandsfähigen Behälter etwas Zeittypisches (oder Persönliches) einbunkerten, um es in Grundsteinen oder Ähnlichem - oder eben in einer rein persönlichen Form - der Nachwelt (oder halt sich selbst in der Zukunft) zu überlassen.

Klar, das wollte ich dann natürlich damals auch machen. Also spähte ich bei einem sonnigen sonntäglichen Spaziergang mit meiner Mutter am Stadtrand-See aus den Augenwinkeln heraus einen geeigneten Platz für mein Versteck aus, um darin (schon aus den Augen meiner gemächlich weitergehenden Mama und außerhalb der Sichtweite anderer Spaziergänger) zwar keine „Zeitkapsel“ an sich, aber doch wenigstens etwas Schönes, Kindliches, Erinnungswertes im Wurzelwerk des schon bald ausgewählten mächtigen Baumes tief und sicher zu vergraben. „Irgendwann“ wollte ich das Objekt natürlich auch mal wieder ausbuddeln. Dann wollte ich mich wohlig an meine ferne Vergangenheit erinnern und dass ich da an diesem Ort einmal als kleiner Steppke etwas Besonderes für mich selbst hinterlassen hatte. Das jedenfalls war damals mein kindlicher Plan.

Natürlich vergaß ich das ganze kleine Abenteuer irgenwann. Am Anfang, wenn wir an den folgenden Sonntagsspaziergängen an der bewussten Stelle vorbeikamen, schielte ich noch etliche Male vergnügt und verstohlen zu „meinem“ Baum hinüber, immer in der Sorge, dass vielleicht jemand das Objekt unter seinem Stamm zufällig gefunden haben könnte. Aber das Leben ging weiter, hatte Vieles zu bieten gehabt, Schönes, Schlimmes, nachdenklich und nicht zuletzt vergessen Machendes. Es brachte mich weit über die Stadtgrenzen unseres kleinen Ortes mit dem See und dem Baum weg und hinein in andere Gegenden der Welt, aus denen ich seither nie wieder in meine alte Heimat zurückgekommen war. Die Erinnerung an den Baum und sein nur mir bekanntem Geheimnis wurde immer mehr überlagert von allen möglichen Dingen des Erwachsenenlebens, verblasste allmählich, war irgendwann ganz weg. Bis jetzt…

Meine Frau schaute mich zuerst überrascht von der Seite her an und blickte mir dann etwas irritiert hinterher. Ich hatte mich von ihr abgewandt und war auf den alten, knorrigen Baum am Seeufer zugegangen, der sich ein paar Meter neben dem baumbestandenen Rundweg direkt am Ufer des kleinen Sees in den Himmel reckte. Ich schaute ihn ganz aus der Nähe an, blickte schließlich an ihm hinunter zum mittlerweile mächtig gewordenen und breit verzweigten Wurzelwerk. Ja, er war es, kein Zweifel. Ich kniete mich hin. „Wie zu einem Gebet“, dachte ich. Und irgendwie war es das ja auch - eine tiefe innere Zuneigung war hier spürbar, eine Art Gespräch mit einer höheren, starken Ebene - der eigenen Vergangenheit - fand statt. Ich wandte den Kopf und schaute kurz zu meiner Frau die kleine Böschung hinauf. Ich musste lächeln. Sie aber schaute verständnislos.

Claudia und ich, seit über drei Jahrzehnten verheiratet, wussten eigentlich alles voneinander. Von diesem kleinen Kinder-Geheimnis hier habe ich ihr allerdings nie erzählt. Wie auch. Ich hatte es ja selbst völlig vergessen.

Kein Wunder, dass sie in diesem Augenblick die Situation nicht verstand. Wir waren gerade am Seeufer spazieren gegangen und in ein ziemlich angeregtes Gespräch vertieft gewesen. Wie immer in letzter Zeit ging es darum, wie es mit uns beiden und mit unserem Leben weitergehen soll, wenn ich in vier Monaten „in Rente“ sein würde. Nach einem langen, anstrengenden Arbeitsleben - Claudia war schon seit drei Jahren im Ruhestand - und allenfalls ein paar Kurzurlauben innerhalb Deutschlands in all der Zeit spielten wir nun mit dem Gedanken, unser Rentner-Dasein für längere Zeit im Ausland zu genießen (oder vielleicht auch für immer, da war noch nichts entschieden). Ein Auswandererleben im Fernen Osten wurde diskutiert, auch eine mögliche Existenz in den USA bei meiner älteren Schwester. Vielleicht blieben wir aber auch ganz einfach hier in meiner alten Heimat, wo ich seit über einem halben Jahrhundert nicht mehr gewesen war. Auch das war letztlich noch eine Option, auch das war noch nicht entschieden. Genau deshalb waren wir jetzt ja auch hier: Wir wollten ausloten, was nach dem Tod meiner Eltern, den letzten Ankerhaken zu diesem Ort, nach über 50 Jahren hier noch an Vertrautem und Wichtigem übrig war. Gab es hier noch etwas, was mich zum Zurückkehren und dann vielleicht zum Bleiben bewegen konnte?

Unser erster Ausflug in die Kleinstadt, in der ich meine ganze Kindheit verbracht hatte, hatte uns prompt an den See, seinen Uferweg und an jenen alten Baum geführt, der mir jetzt so unerwartet ins Blickfeld und in die Erinnerung gekommen war.

Ich drückte die Knie tiefer in den festen Humusboden direkt am Baum, scharrte vorsichtig mit beiden Händen die Erde von den Wurzeln. Nach ein paar Zentimetern lockerte sich das Geröll dahinter und gab den Blick frei auf einen kleinen Hohlraum. Tatsächlich. Er war noch da, und noch immer so, wie ich ihn vor einer gefühlten Ewigkeit hinterlassen hatte. Niemand und nichts hatte ihn in all den Jahren angetastet, kein zufälliger Spaziergänger, kein neugieriges Eichhörnchen, kein Regenwasser. Kleine, helle Wurzeln rankten sich dicht in ihm, ein paar verdorrte Eicheln - wie kamen die nur hier herein? - lagen halb versteckt dahinter in einer der Ecken des kaum schuhkartongroßen Hohlraums. Ein paar verirrte, wohl ebenfalls von irgendwoher draußen hereingedrückte Blätter flogen träge auf, als sie zum ersten Mal seit langem einen frischen Luftzug zu spüren bekamen. Und ein heller, rötlicher Lichtstrahl der schon im Untergang begriffenen Herbstsonne fand seinen Weg in den ansonsten dunklen Wurzel-Innenraum. Er lenkte meinen Blick auf die jetzt wie von einem Scheinwerfer angestrahlte kleine Mickey Maus-Figur aus Plastik.

Vorsichtig nahm ich sie hoch, säuberte sie notdürftig mit einem Taschentuch. Mickey war der Held meiner Kindheit gewesen. Ich hatte, sobald ich es konnte, schier alle seine Comichefte gelesen, ihn als Poster an der Wand meines Kinderzimmers gehabt, ihn sogar in dieser Miniatur-Form oft und gerne bei mir in der Hosentasche herumgetragen. Bis ich die Figur an jenem Sonntagnachmittag als Objekt für mein persönliches Zeit-Experiment ausgewählt hatte. Und jetzt war er also wieder bei mir, nach all diesen Jahren. Ein merkwürdiges, zugleich erhebendes, aufwühlendes Gefühl. Ich musste einmal kurz schlucken.

Fast ein wenig triumphierend hielt ich das Figürchen auf dem Weg zurück zu Claudia vor mich und sagte dann, bei ihr angekommen: „Schön, dass du gewartet hast“. Sie war sichtlich noch immer irritiert, musste aber wohl wegen Mickey Maus in meiner Hand und meinem vermutlich entrückten Gesichtsausdruck lächeln. Bevor sie etwas sagen konnte, umarmte ich sie zärtlich, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und zeigte ihr die inzwischen gänzlich gesäuberte Plastikmaus aus nächster Nähe: „Mickey hat mir gerade etwas zugeflüstert". Und mit einem Blick in ihre jetzt erst recht fragenden Augen: "Ich glaube, ich weiß jetzt, wo wir die nächsten Jahre am besten verbringen können…“.

(nach einer wahren Begebenheit)

Schneller als ich erwartet habe, erreiche ich die Stelle. Von dem Chinesen ist keine Spur zu sehen. Gut. Als ich die Klinke berühre, fängt das Blut in meinen Ohren an zu rauschen. Bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass sie nicht verschlossen ist. Sie ist nicht verschlossen.

Ich schleiche über die Schwelle. Die Tür schließt sich hinter mir geräuschlos. Wie ein Sargdeckel. Schwärze hüllt mich ein. Eine hysterische Stimme aus meinem Inneren schreit mich an, wegzulaufen. Ich ignoriere sie und schalte die Taschenlampe meines Handys an. Da, ein Treppengeländer. Ausgetretene Stufen führen steil in die Tiefe.

Der Weg hinab erscheint mir ewig. Wie tief bin ich? Ich drehe mich um? Der Strahl meines Lichts reicht nicht bis zum Anfang hinauf. Ich schlucke und arbeite mich auf wackeligen Beinen weiter hinunter. Dann, endlich, bin ich am Ende.

Völlig unvermittelt stehe ich in einem riesigen Raum. Vermute ich zumindest. Das Echo meiner Schritte kommt mir überlaut vor. Ich mache drei Schritte in den Raum hinein. Ein elektrisches Summen ertönt und mit einem lauten Klack schaltet sich die automatische Beleuchtung an. Ich hole tief Luft.

Unter flackernden Neonröhren bietet sich mir ein unglaubliches Bild. Hunderte Metallbetten stehen eng an eng nebeneinander. Lediglich getrennt von einem einfachen Nachttischschränkchen. Ich schreite die Reihen entlang. Die Betten sind in Plastik eingehüllt. Was ich durch die Folie erkennen kann: Die Matratze ist maximal zwei Centimeter hoch. Und da sollen kranke Menschen liegen? Unfassbar.

Nicht unweit von mir befindet sich ein durch einen löchrigen Vorhang abgegrenzter Bereich. Löchrig ist noch positiv formuliert. Eigentlich hängt das Ding in Fetzen. Ich bin mir ziemlich sicher, was ich dahinter finden werde. Tatsächlich. Fünf Toiletten und zwei Duschen. Bei den Toiletten handelt es sich eigentlich nur um Löcher im Boden. Das ist in China üblich, damit habe ich schon mehrmals Bekanntschaft gemacht. Seitlichen Sichtschutz bieten halbhohe Bretter. Wie nett, denke ich sarkastisch. Türen gibt es nämlich nicht. Weder vor den Toiletten, noch vor den Duschen.

Obwohl der Raum schon seit Jahren nicht mehr benutzt wurde, hängt noch immer der typische Gestank von Urin und Fäkalien in der Luft. Ich rümpfe die Nase und versuche durch den Mund zu atmen. Um die Toiletten hat sich der Granitboden unappetitlich gelb-braun verfärbt. Kein Wunder, wenn mindestens fünfhundert Menschen gezwungen waren, ihre Notdurft hier zu verrichten. Ich schieße einige Fotos. Es fällt mir schwer, das Handy mit ruhiger Hand zu halten.

Ich gehe zurück in den Schlafraum. Einige der flackernden Neonröhren geben vollends ihren Geist auf. Verdammt. Fehlt nur noch, dass ich hier im Dunkeln stehe. Ich mache ein paar weitere Fotos und beschließe, lieber zurückzugehen. Wahrscheinlich fragen die anderen schon, wo ich geblieben bin. Mit einem Klacken, das durch den Raum hallt, erstirbt das Licht.

Unser Vater

Die schwere Limousine der oberen Mittelklasse aus den achtziger Jahren rollte über den zugeschneiten Schotterparkplatz. Nirgends Reifenspuren. Das Fahrzeugdisplay erhellte nur spärlich das Armaturenbrett und das braune Lederlenkrad. Eisige Kälte, Schneetreiben, ein schreiendes Käuzchen.
Meinem Bruder und mir schnürte es die Kehle zu, aber die Polizeibeamtin hatte nur noch diesen einen späten Termin für uns.
Die Pupillen meines Bruders, der sich das Mantelrevers zuzog, verengten sich im Lichtkegel der Scheinwerfer.
Die Polizeikommissarin angelte den Schlüsselbund für den Seiteneingang der verfallenen psychiatrischen Klinik aus ihrer Umhängetasche. Dann streifte sie sich ihre Lederhandschuhe über.
Es folgte ein hastiger Blick über die Wegstrecke, eigentlich eher ein Prüfen, ob sich noch jemand an dem Backsteingebäude herum trieb.
Der Seitenflügel des Gebäudes bestand aus einer architektonisch ansprechenden Fassade aus hohen Fensterreihen. Das imposante Bauwerk, welches vor der Jahrhundertwende errichtet worden war, diente lange Zeit als Militärhospital für die britischen Streitkräfte. Es lag in einem großen, parkähnlichen Anwesen mit einigen neuzeitlichen Anbauten, die ebenfalls seit Jahren unbenutzt waren.
Nur wenig medizinisches Personal war damals bereit, Dienst in der fachfremden und sehr isoliert liegenden Klinik zu absolvieren. Tätigkeiten im Militärhospital wurden gesondert vergütet.
Im Flur angekommen, knöpfte sich die Polizistin den Mantel auf und schüttelte die Wassertropfen ab. Sie achtete darauf, dass ihre Dienstkleidung darunter mit dem Namensschild sichtbar war.
Der graue Steinboden war uneben, und nur an den grünen Latexwänden spiegelten sich die Scheinwerfer der Taschenlampen.
Uns kroch der typisch modrige-faule Geruch entgegen, der die feuchte, ungesunde Luft noch unerträglicher machte.
„Da bitte“, deutete sie an.
Die Polizistin hielt sich ihren Mantelärmel vor Mund und Nase, während sie mit der anderen Hand die schwere Tür aufschloss. Mein Bruder ging ihr zur Hand, da das Metall am Boden klemmte.
Wahrscheinlich hatte er es besonders eilig, den Raum, in dem unser Vater alleine dahindämmerte, zu inspizieren.
Ein Raum, vier mal vier Meter, ein Bett, drei Holzfenster, Waschbecken und Tisch mit Stuhl, das hatte unseren Vater umgeben, bevor er ohne Identität verstarb.
Wir standen vor dem Kopfteil und erschauderten beim Anblick des alten Bettes. Der beigefarbene Lack war abgeblättert und das Metall rostete an den Griffstellen. Die messingfarbene Leselampe reflektierte unsere Scheinwerfer. Er war die letzten Jahre mit einem Bauchgurt fixiert, um an das Licht zu kommen, war das schäbige Nachtschränkchen, aus dem die Schublade herausgefallen war, viel zu weit entfernt.
Wir beleuchteten den Raum, indem fast überall der ehemals weiße Putz abgefallen war.
Wir hatten allerdings nur so viel Licht, um uns im Raum zurechtzufinden.
Genauso wie das Bett nicht mehr in diese Zeit gehörte, so sollte auch unser Vater nicht mehr dieser Welt angehören. Er hatte im herbstlichen Morgengrauen die Welt hinter sich gelassen und dämmerte zuvor viele Jahre einsam in seinem Bett.
Der scharfe Wind fegte um das Gebäude. Wir schauten zum Fenster. Vom Glas rannen ein paar Regentropfen. Wie oft hatte er wohl dem Wind gelauscht und sich erträumt, dass er die Tür aufstieß und seine Kinder zu ihm geweht wurden?
Es war kurz vor 18.30 Uhr. Die Polizistin senkte den Blick, verschloss die Tür und meinte, dass es ganz miese Recherche gewesen war.
Ja, er hatte nur einen Schlaganfall, und weil er vor dem Anleger der schwedischen Baltic-Line so blond und so groß gelegen hatte, hielten ihn die britischen Militärs für einen Schweden.

Verlorene Liebe

Es ist heiß. Selbst jetzt am Nachmittag noch. Normal für einen Monat wie den August. Trotzdem fröstelt es mich leicht, als ich das lange und schmale Grundstück durch das schief in den Angeln hängende, ewig offene eiserne Gartentor betrete. Automatisch streiche ich mir über die aufgestellten Härchen an meinen Unterarmen, lasse die Hände dann schnell wieder sinken. Es ist schließlich Hochsommer. Ich sollte schwitzen.
Der altvertraute Klinkerbau ein paar Meter vor mir, wirkt nach all den Jahren meiner Abwesenheit wie ein klobiger Eindringling in diesem Garten. Mit seinen kleinen dunkelbraunen Holzfenstern und dem, nun moosbesetzten roten Walmdach, scheint er sich unwohl zu fühlen in dieser, sich um ihn herum und auf ihm, ungebremst ausbreitenden Wildnis. Fast angewidert scheinen seine kleinen Äuglein die Welt um ihn herum, nur durch minimal geöffnete Schlitze in den Rollläden, zu betrachten. Alles Abweichende mit Argwohn ablehnend, wie deine Eltern.
Ganz im Gegensatz zu mir.
Beeindruckt betrachte ich die ehemals so akkurat gepflegten Beete deiner Mutter. Jetzt sind sie einem undurchdringlichem Dickicht aus läusebesetzten, verwilderten Rosenstöcken, halbkahlen, meterhohen Lavendelbüschen, vertrockneten Staudengespenstern, blühenden Gräsern und Un- und Beikräutern aller Art gewichen. Der Golfrasen links vom Haus, früher der ganze Stolz deines Vaters, hat sich scheinbar schon vor Jahren mit Klee Löwenzahn, Vogelmiere, Ehrenpreis, Gundermann und anderen vermehrungswütigen Pflanzen zusammengetan. Ein Angebot, über welches sich Wildbienen, Erdhummeln und Schmetterlinge mit Begeisterung hermachen. Wir haben früher von so einem wilden Paradies geträumt. Du und ich. Nun stehe ich mittendrin. Überall summt und brummt es in diesem, scheinbar schon ewig sich selbst überlassenen Flecken Erde. Der früher artig in Zaum gehaltene Flieder hat das Regiment auf der gesamten rechten Seite des Grundstückes übernommen.
Wann bist du zurückgekommen? Warum? Warum hast du dir diesen Ort zum Sterben ausgesucht und warum sollte ich noch einmal hierher kommen? Jetzt, da du nicht mehr bist. Seltsam, wenn ich früher alles für möglich gehalten hätte, genau das, was jetzt ist, das du Tod bist und ich wieder hier, hätte ich für unmöglich gehalten.
Damals. Wie dumm ich doch war! Ich dachte wirklich, wir hätten etwas ganz besonderes miteinander. Etwas Einmaliges. Ganz großes. Eine Liebe auf immer und ewig. Eine gemeinsame Zukunft.
Aufsteigende alte Erinnerungen und Gefühle füllen meinen Brustkorb, lassen ihn eng werden. Ich atme tief ein, nehme den Geruch von Gräsern, Lavendel und trockener Erde in mich auf, um mich abzulenken. Es gelingt mir nicht. Wieder ist da dieser Stich im Herzen, das leise Bedauern, das mich wohl nie loslassen wird. Denn ich habe dich wirklich geliebt. Immer geliebt. Aber das war nicht genug. Schade, dass der Flieder schon verblüht ist. Ich erinnere mich noch gut an seinen betörend süßlichen Geruch von Mai bis Juni. Wie liebte ich diesen Geruch! Genauso wie dich. Deine weichen Augen, die Locke, die dir immer ungezähmt in die Stirn hing, deine schlanken Finger, die sich warm und trocken mit meinen verwoben. Unsere Abende im Schatten des Flieders. Ich werde sie nie vergessen. Nicht das Blätterrauschen, wenn wir uns auf der Picknickdecke unter dem Sternenhimmel liebten, während deine Eltern mit Freunden übers Wochenende verreisten. Nicht das Gefühl, das du mir gabst. In diesen Momenten schienst du mir die Welt zu Füßen zu legen, mit all ihren unmöglichen Möglichkeiten. Und ich liebte dich dafür mit jeder Faser meines Körpers, jedem Gedanken, jedem Atemzug, jedem Herzschlag.
Genauso wie ich deinen silbernen VW Golf liebte, der mich schon die ganze Zeit verstohlen von ganz hinten, dem letzten Eck eures Grundstückes, anschaut.
" Na, alter Freund, wie geht es dir?", frage ich ihn, als ich den gepflasterten Weg verlasse und über die Wiese auf ihn zu gehe.
„Wie lang ist es her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben? Dreißig Jahre? Länger? Ich will gar nicht nachrechnen. Danke, dass du uns immer sicher zum Schlossberg gebracht hast und nie ein Sterbenswörtchen sagtest, wenn wir Nachts wild knutschend die Zeit vergaßen? - Was sagst du? Wir sind beide alt geworden? - Ja, das stimmt. Aber ich hoffe, du hattest noch einige gute Jahre mit ihm.“ Meine Finger streichen sanft über seine von der Sonne aufgeheizte Motorhaube. Trotz des Lichtes bleibt sein Funkeln nur noch eine Erinnerung.
„Ist er mit dir gemeinsam grau geworden? Oder war er zuletzt weißhaarig, wie sein Großvater?“, frage ich, bekomme aber keine Antwort.
„Stimmt, geht mich nichts an. Deine Felgen und Bremsen sind ganz schön rostig geworden, alter Freund. Wie lange stehst du hier schon rum und trägst keine Nummernschilder mehr? Nicht, dass du es mir verraten musst. Aber es tut mir leid, mein Freund. Weißt du noch? Damals, hat er immer gesagt, in dir würden einmal unsere Kinder spielen. Ich habe es mir so sehr gewünscht. Tut mir leid, dass es nicht so gekommen ist. Vielleicht bekommen wir noch eine Chance, in einem anderen Leben.“ Ich streiche ein letztes Mal mit den Fingern über die Karosserie, bevor ich mich mit einem Knoten in der Brust von ihm abwende. Vögel zwitschern und necken sich in dem riesigen Apfelbaum, der, so lange ich denken kann, die kleine Terrasse an dieser Seite des Hauses, beschattet. Erst jetzt bemerke ich die junge Frau, die dort mit einer Wasserflasche und zwei Gläsern an dem kleinen runden Holztisch sitzt und mich beobachtet. Sofort fühlt sich mein Mund trocken an. Wie lange hat sie mich, die Fremde in ihrem Garten beobachtet? Ich werde rot, als wäre ich immer noch das unerwünschte, schüchterne Mädchen von damals.
„Ent-schuldigen Sie, … dass ich … einfach so… ihr Grundstück betreten habe, … aber…“, beginne ich hastig, dann ist mein Kopf leer. Stottern. Fang nur nicht an zu stottern! Nicht hier. Nicht jetzt.
„Sie müssen sich nicht entschuldigen, Maja. Er hat es so gewollt.“

The Mountain - Der Riese

(…) Ich folgte zuerst unserem Weg von außerhalb der Mauer auf der Innenseite und fand das verschlossene Tor. Es gab lediglich ein Balken, der quer über die Fläche zur Versperrung diente, kein weiteres Schloss. Von innen also problemlos zu öffnen. Ich machte diese Stelle zu meinem Ausgangspunkt und kartographierte in meinem Notizbuch jede Mauer und Abzweigung, an der ich entlang ging.
Gleich hinter dem Tor befand sich der Innenhof. Er war durch drei verschiedene Gebäude eingerahmt. In jedes führte eine Tür, keine davon verschlossen und jedes besaß drei Stockwerke, wie ich von außen an den Fenstern erkennen konnte. Ich betrachtete meine Notizen. Die Zeichnung auf dem Papier zeigte etwas grob eine Raute. Die stumpfen Winkel müssten gemäß meinen Berechnungen die Stellen berühren, an denen wir außen nicht weitergekommen waren: Die beiden Abhänge. In einem der spitzen Winkel war das verschlossene Tor eingelassen, an dem wir vorbeigekommen waren. Der gegenüberliegende Winkel musste folglich das Ausgangstor beherbergen, welches von meinem Standort im Hof nicht sichtbar, aber höchstwahrscheinlich durch eines der Gebäude zu erreichen war. Als ich von meinen Notizen aufsah, konnte ich sehen, wie Sabi aus einem der Gebäude auf mich zustürzte. Wo nahm er nur diese Energie her? Ich war bereit für eine ausgedehnte Pause und der Mann rannte.
„Sayid! Sayid! Dort oben ist jemand!“ Er kam bei mir an, wiederholte den Satz immer wieder und gestikulierte dabei aufgeregt. Seine Fassung so zu verlieren war gar nicht seine Art.
Ich wunderte mich zwar auch, dass wir nicht alleine waren, aber schließlich befanden wir uns auch hier. Andere Besucher waren somit keine Unmöglichkeit.
„Sabi, beruhige dich. Wo sind denn diese Menschen?“ Mein Blick folgte seinem ausgestreckten Arm zum Haus, aus dem er gekommen war. Dann machte mein Assistent etwas, das er zuvor noch nie getan hatte: Er griff mich an meinen Schultern. In unserer Kultur ist Körperkontakt zwischen Arbeitskollegen sehr untypisch. Ich stutzte etwas, zwang mich jedoch ruhig stehenzubleiben.
Während er mir eindringlich in die Augen sah, sprach er mit angsterfüllter Stimme.
„Sayid, das sind keine Menschen.“
„Was sind es dann, Sabi?“
„Geister.“
Als er das kaum mehr hauchte, als sprach, hätte ich aufgrund seiner überzogenen Dramatik fast losgelacht, allerdings bewahrten mich seine Augen vor dieser Beleidigung. In seinem Blick stand die Angst so klar, wie seine Gestalt vor mir.
„Sabi, mein Guter. Denke daran, warum wir hier sind. Wir sind Vertreter der Wissenschaft, Forscher. Wir wissen beide, dass es so etwas wie Geister nicht gibt.“ Ich versuchte langsam und in einem tiefen, beruhigenden Ton zu sprechen, obwohl er mich immer noch festhielt und unsere Gesichter sich sehr nahe waren.
Sekundenlang sahen wir uns in die Augen, dann wurde sich Sabi der Situation gewahr und ließ mich los. Dabei trat er einen großen Schritt zurück.
„Verzeihen Sie, Sayid.“ Er senkte sein Haupt in Scham. Ich überging die Entschuldigung, denn mir ließ sein emotionaler Ausbruch keine Ruhe. Ich bat ihn, mir im Detail zu schildern, was er gesehen hatte. Er tat mir den Gefallen. „Ich habe die Stufen im Gebäude dort drüben erklommen und mich umsehen wollen, solange das Sonnenlicht günstig war. Während ich mir alles ansah, bemerkte ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Als ich jedoch nachschaute, gab es nichts zu sehen. Das passierte ein paar Male, bis vor meinen Augen die Gestalt eines älteren Mannes von einem Raum in den anderen wechselte. Sein plötzliches Erscheinen direkt vor mir ließ mich zusammenfahren, aber er beachtete mich nicht. Sobald ich mich gefangen hatte, stürzte ich ihm hinterher in einen Raum ohne weiteren Ausgang. Es waren nur alte Möbel darin und kein Ort, an dem er sich hätte verstecken können.“
Während Sabi sprach, suchte meine logische Art nach einer Erklärung, wie zum Beispiel das Vorhandensein einer Geheimtür. Alte Gemäuer hatten gelegentlich solche architektonischen Meisterwerke und diese Ausgänge waren oft gut verborgen. Warum aber sollte sich jemand einen solchen Streich mit dem guten Sabi erlauben? Dieser sah mich fragend an, als er mein Kopfschütteln bemerkte.
„Das hatte nicht dir gegolten. Ich versuche lediglich, eine Erklärung zu finden. Lass uns doch gemeinsam hinaufgehen und diesen eigentümlichen Herren suchen. Was sagst du?“ Die Tageszeit war schnell vorangeschritten und bald würde es dunkel sein. Wir mussten uns nach einem Nachtlager umsehen. Eine Nacht unter freiem Himmel mochte abenteuerlich klingen, allerdings zog ich es vor, keine Bekanntschaft mit den wilden Tieren zu machen, die auf diesem Berg hausten. Ihre Laute hatten wir beim Aufstieg reichlich vernommen. Sabi zögerte, als ich mich erhob. „Komm, wir suchen uns derweil auch eine Stelle zum Übernachten.“
Entweder hatte Sabi seine Geistertheorie verworfen oder er fühlte sich in Gesellschaft besser, zumindest gab er mir keine Widerrede. Ich zündete vorsorglich eine der mitgebrachten Laternen an, denn die Sonne war im Begriff, hinter der hohen Mauer zu versinken. Sabi trug eine Zweite, aber vorerst wollten wir unsere Ressourcen sparen.
Die Stufen waren aus Stein und unregelmäßig abgenutzt. Ich schritt vorsichtig und maß jede Bewegung in der düsteren Umgebung. Das Licht der Laterne flackerte etwas und ich war darauf bedacht sie so zu halten, dass auch Sabi gut sehen konnte. Es wäre ärgerlich, die Reise wegen einem verdrehten Fuß abbrechen zu müssen, waren wir doch so nah am Gipfel.
Es waren unauffällige Räumlichkeiten, allerdings gefüllt mit Mobiliar. Das hatte ich wahrlich nicht erwartet. In einem so alten Gemäuer wohnliche Zimmer zu finden, war äußerst ungewöhnlich. Es war alles da: Schlafzimmer, Wohn- und Essbereich und diverse andere kleine Gemächer. Mir fiel zu Sabis Leidwesen leider nichts weiter auf. Er verlor kein weiteres Wort darüber, hielt allerdings auch nicht inne, sich immerwährend umzusehen.
Wir suchten uns ein bequemes Plätzchen und bereiteten unser Abendessen und Nachtlager. Kurz, nachdem die Sonne unterging, wurden mir bereits die Lider schwer und ich sank schnell in eine andere Form des Bewusstseins. Die Träume, an die ich mich beim Aufwachen erinnern konnte, handelten ausschließlich von wilden Tieren, die uns durch das Dickicht jagten. Kein sehr erquickender Schlaf. Ironischerweise war auch mein Weckruf ein lautes Jaulen von draußen. Unser Zimmerfenster hatte kein Glas und das langgezogene Heulen hatte uns beide in Sekunden aufrecht. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber die Dämmerung war recht nahe, denn ich konnte die Umrisse des Fensterbogens erkennen. Das Heulen aus dem Dickicht verstummte, gleichsam in meinem Traum wie in der Wirklichkeit.

Erkenntnis

Wenn er die Wohnungstür öffnet, fällt sein Blick auf die Uhr. Und dann weiß er, um wieviel später als vereinbart er kommt. Und dann spürt er ihn wieder, seinen unangenehmen Freund, den pochenden Druck hinter dem Brustbein.

Wieso kommst du erst jetzt? ruft sie aus dem Wohnzimmer.

Ja, warum? Ich habe mich einfach nicht beeilt, denkt er und öffnet den Mund zu antworten.

Ich sitze hier herum und warte. hört er sie wieder. Wie hast du dir das denn vorgestellt?

Wir haben doch nichts vor, oder? denkt er zunächst und sagt es dann laut.

Dann sag nicht morgens, dass du um sechse wieder da bist.

Was soll ich jetzt sagen? dachte er. Es war Arbeitsschluss, und dann habe ich mich auf den Nachhauseweg gemacht. Da war nichts. Wie soll ich nichts sagen?

Kommt von dir noch etwas?

Er wurde entsetzlich müde. Und dann, er überraschte sich selber. Ich bin nicht Dein Sohn, du bist nicht meine Mutter.

Erdbodengleich

Ratlos stand sie an der Abgrenzung. Das bunte Absperrband flatterte im Wind, spannte sich von der Querstraße bis zum Parkhaus, dazwischen nichts. Einfach nichts! Als wäre nie etwas gewesen, als wäre alles, woran sie sich erinnerte, ein Irrtum, bestenfalls ein lebhafter Traum. Sie zog ihren Schlüsselbund heraus und lehnte sich an die Harley, von der sie eben abgestiegen war. Ihr geliebtes Motorrad, vor fünf Jahren vom Großvater geerbt, der seine Wohnung drei Häuser weiter gehabt hatte. Unmittelbar danach war sie in die Hauptstadt gezogen, wo ihr neues Leben damals begann. Neuer Job, neuer Freundeskreis, neue Interessen, der Stress. Sie konnte sich noch gut an die Nächte erinnern, die sie aufgekratzt und schlaflos in ihrer neuen Wohnung verbrachte. Keine Zeit, an die kleine Stadt zu denken, aus der sie kam, kein Interesse, die Kontakte aufrecht zu erhalten. Mit den Eltern hatte sie sich verkracht, deshalb war sie ja ursprünglich weggezogen. Fünf Jahre Funkstille und plötzlich wuchs die Sehnsucht in ihr. Sie wollte erzählen, wollte teilen, der Schmerz des Streites war verheilt, sie verstand inzwischen einiges besser, sie gestand sich einiges ein.

Zeit, zurückzukehren, die alten Fäden wieder aufzunehmen, neue Muster zu knüpfen und ihr Privatleben in Angriff zu nehmen. Der Schlüsselbund lag schwer in Floras Hand, sie umklammerte ihn so fest, dass ihre Knöchel weiß leuchteten. Er war der Beweis der Realität vor dem irrealen Nichts hinter diesem Absperrband. Sie begann die Schlüssel einzeln herunterzuzählen. Motorradschlüssel, natürlich, ihre Harley stand ja hinter ihr. Der Schlüssel für die Garage, der Wohnungsschlüssel, der Schlüssel für die Dienststelle, der Postkastenschlüssel. Ihr ganzes Leben in Schlüsseln codiert, als Beweis für die Realität. Als letzter hing noch ein Schlüssel mit blauer Kunststoffkappe am Ring. Nachdenklich drehte sie ihn zwischen den Fingern.

„Verlier ihn ja nicht!“, klang plötzlich die strenge Stimme des Vaters in ihrem Kopf. „Es gibt keinen Ersatzschlüssel mehr.“

Ein Ruck ging durch ihren Körper, der Schlüssel mit der blauen Kappe bohrte sich in ihre Handfläche. Triumphierend blickte sie auf die Schotterplatte hinter der Absperrung. Es war doch kein Traum, der Schlüssel bewies es, der Schlüssel zur elterlichen Wohnung.

„Mein Gott, ist das wahr? Du bist doch die Flora! Diese Haare kenne ich doch!“

Unbemerkt war eine alte Frau nähergekommen und starrte Floras flammend roten Strubelkopf an. Jetzt erkannte auch sie die frühere Nachbarin. Sie sah in das faltige Gesicht mit den wachen Augen und nickte.

„Schaust dir an, was draus geworden ist, nicht wahr? Alle vier Wohnblöcke abgerissen, und der schöne Park in der Mitte, dort wo ihr Kinder immer herumgetobt habt, verwüstet.“

Sie schüttelte traurig den Kopf und klopfte mit ihrem Gehstock auf den Asphalt.

„Alles, alles dem Erdboden gleich gemacht. Man tut sich direkt schwer, sich vorzustellen, wie die Häuser gestanden sind. Deine Eltern, die konnten das ja auch nicht mit ansehen. Die sind gleich, nachdem sie die Ablösezahlung bekommen haben, los. Aber das weißt ja selbst. Eine Karte haben sie mir aus Spanien geschickt. Sie schreiben, es geht ihnen gut, ich weiß nicht, so weit weg von zu Hause!“

Flora starrte auf das Schotterfeld, wo schon ein paar vorwitzige Unkräuter ihr Grün durch das Grau schoben. Ihr früheres Leben, ihre ganze Kindheit lag da begraben. Dem Erdboden gleichgemacht. So endgültig hatte sie sich den Abschied vor fünf Jahren nicht vorgestellt. Ob sie die alte Frau um die Adresse in Spanien fragen sollte?