Seitenwind Woche 5: Verlassene Orte

Das verlassene Haus

Als Rentner habe ich mir ein außergewöhnliches Hobby zugelegt. Ich begebe mich an Orten, wo es spukt. Zumeist durchforste ich die Soziale Medien nach themenspezifische Geistersuche. In meiner Samtgemeinde spukt es auf einem vergessenen Friedhof. Das fand ich interessant. Aber dann fiel mir ein Bericht vor die Augen, wo ein verlassenes Haus an einer stark frequentierten Kreisstraße sei. Die Bewohner waren spurlos verschwunden. Was mir den Anlass gabt, diesen Ort aus zu wählen.

Die Beschädigungen am Gebäude, obwohl es seit zirka zehn Jahren leer steht, waren der Verwitterung geschuldet. Normalerweise sind bei so einem Haus die Scheiben eingeschmissen oder etliche Sprayer hätten ihre Graffiti hinterlassen.

Ich schwang mich auf meine Maschine und ab ging der Peter.

Es war stark bedeckt, als ich meinen Shopper vor dem Haus anhielt. Das Blubbern des 1200cc Evo ließ, im Strahl des Scheinwerfers, die Schatten des verwilderten Gewächses an der Häuserfront tanzen.

Ich saß noch eine Weile im Sattel, ließ mich durchrütteln und rauchte. Ein sanftes Kribbeln wanderte die Wirbelsäule hinauf und meine Nackenhaare sträubten sich. Ein untrügliches Zeichen, dass ich hier richtig war.

Das Haus bestand aus zwei Gebäuden. Das Rechte war sicher das Wohnhaus, es hatte eine zweite Etage, wirkte aber durch das tiefherabgezogene Dach kleiner, als das im rechten Winkel anschließende Haus. Es waren zwei Fenster in der Schleppgaube, die auf mich herabblickten.

Zunächst durchschritt ich das hölzerne Rosentor zum Eingang. Die Tür im Landhausstil weiß, mit einem eloxierten Türknauf aus Messing. Im oberen Drittel war, unter den Wiener Sprossen, das Glas satiniert.

Auf beiden Seiten hatte es große Fenster, aber wegen des Gestrüpps konnte ich nicht dorthin, um durch sie ins Haus sehen.

Ich beschloss links vorbei, am Nebengebäude einmal um das Ganze zu schreiten. Dort war die Fassade schmutzig und es sah heruntergekommen aus. Ein Schaufenster und ein Eingang aus Glas sagten mir, dass hier ein Geschäft betrieben worden war. Doch länger, dann ungenutzt dem Zahn der Zeit ausgesetzt gewesen sei.

Das Kopfsteinpflaster der Einfahrt hatte Furchen und war verunkrautet. Eine rostige Treppe führte hoch zum Dachboden, welcher von einem niedrigen Holzverschlag verschlossen war. Neben dem fensterartigen Glasbaustein gab es eine Metalltür. Sie war verschlossen.

Ich ging weiter und betrat eine ungepflegte Wiese, um einem riesigen Lorbeerbusch herum. Die Rückseite des Nebengebäudes hatte gleichfalls Glasbausteinfenster. Das verwahrloste Grundstück wurde durch eine gekalkte Mauer begrenzt, die auch bessere Zeiten gesehen hatte. Davor ein Wald aus Tannen, die mindestens fünfzehn Meter hochstanden. Nur unterbrochen von einem Gastank. Ich kam auf eine Art Terrasse und das Haupthaus hatte am Ende wieder die beliebten Glasbausteine der sechziger Jahre. Aber es gab auch zwei Fenster. Das kleinere der beiden sicher zum Bad und WC. Ich schaute durch das größere und erahnte ein Esszimmer in dunklem Holz. Als ich einen schuppenartigen Überbau durchschritt, der beide Häuser verband, stand ich auf den Stufen vor einem Nebeneingang zum Hauptgebäude. Es war verschlossen. Aber das primitive Schloss getraute ich mir zu entriegeln.

Mein Dittrich öffnete mir den Zugang und ich trat ein. Tastete nach einem Lichtschalter, es klickte und blieb dunkel. Also Taschenlampe hervorgezogen und es war die Küche. Abgesehen von den Spinnenweben, die meine Exkursion begleitete, sahen die Schränke, Spüle und das Ceranfeld mit der Dunstabzugshaube edel aus. Ich trat auf helle Holzdielen vorbei am Küchenanbau mit Backofen auf halber Höhe und dem Kühlschrank ins Esszimmer.

Die dunklen Möbel im Kolonialstil riss der Lichtfinger aus seinem Dornröschenschlaf. Man sollte meinen, dass Polizei und Offizielle, oder andere Personen wenigstens den Tisch abgeräumt hätten. Aber ein Kaffeegedeck für Zwei samt Kuchen, na ja, dass was einmal es gewesen sein mochte, waren noch an Ort und Stelle. Ich spürte eine Atmosphäre der Verlassenheit beinahe körperlich. Eine Gänsehaut kroch mir den Körper empor.

Die nächste Tür führte mich in dem L-förmigen Flur. Linkerhand war eine Nische. Dort stand ein hoher Gefrierschrank. Plötzlich bemerkte ich eine Bewegung, erschrocken richtete ich den Lichtstrahl in die Richtung, und war geblendet. Ich sah die Gestalt vis-à-vis, als ich die Taschenlampe zu Boden richtete. Mein Gott, was hatte ich einen Schrecken bekommen. Es war ein mannshoher Spiegel, und die Gestalt war ich.

Eine Tür neben dem Gefrierschrank führte sicherlich in den Keller. Darüber eine Treppe in die obere Etage. Der längere Teil des Flurs endete an der Eingangstür. Ich drehte mich und sah zwei weitere Türen. Eine musste ins Bad und WC gehen, die andere zum Wohnzimmer, das ich betrat. Hier mussten ältere Menschen gelebt haben, mit jungenhaften Geschmack für Einrichtung. Ich sah einen großen Flachbildschirm auf einem roten TV-Schrank, begleitet von gewachsten Schränken beiderseits. Vor dem roten Ledersofa stand der passende Holztisch. Verwelkte Blumen darauf. Ebenso auf Schrank und Fensterbank. Darüber ein sechsarmiger Kronleuchter, das Gegenstück stand auf einen rotem Beistelltischen. Es gab, eine weitere, Strukturellen verglaste Tür.

Dort im Zimmer war die andere Seite von den Glasbausteinen. Des Weiteren ein brauner Kleiderschrank links und rechts, wo die vordere Terrasse lag. Alles Staubige und voll Spinnennetze. Wieder auf dem Flur bewegte ich mich zur Treppe, und schon wieder eine Tür. Das war wohl das Haus der tausend Türen. Ich öffnete sie und sah hinein. Schlafzimmer, das hab ich hier unter nicht erwartet. Die Stufen knarrten. Oben angekommen. Türen, was sonst? Vier an der Zahl. Ich öffnete die direkt vor mir, Kartons Gerümpel. Die Zweite führte zum Raum mit der Gaube. Hier war Renovierung nötig. Hinter der Dritten fand ich ein teilsrenoviertes Zimmer vor. Ich wendete mich der letzten Tür zu. Ein vollgestopftes Arbeitszimmer empfang mich. Bücher in Regalen an jeder Wand. Ein mächtiger Schreibtisch mit Computer und Zeitschriften, Hefte und Bücher. Was für Leute haben hier gelebt?

Ich folgte mit dem Finger die Bucheinbände: Clive Baker „Bücher des Blutes“, H.P. Lovecraft, Steven King, Anne Rice usw. Literatur von Hexen, Dämonen und Teufeln. Das hatte ich nicht erwartet. Nirgends sah ich etwas Satanisches. Keine Pentagramme oder schwarze Kerzen. Ketzerisch Zeichen. Derjenige, der in dem Raum sich beschäftigt haben mag, hatte ein großes Interesse an dunkler Literatur.

Als ich wieder unten angekommen bin, hörte ich ein leises Rauschen. Lief irgendwo Wasser? Eine kaputte Leitung? Ich ging darauf zu. Die Tür zum Keller stand auf. Mir wurde mulmig. „Wer da?“, sagte ich, und erschrak vor meiner eigenen Stimme. Keine Antwort.

Ich blieb stehen und hörte mein Herz laut Pochen. Ich leuchtete um die Ecke hinein in den Keller. Nur eine alte Treppe nach unten, und schmutzige weißgetünchte Wände. Der Boden festgestampfter Lehm. Spinnenweben. Ich schloss die Tür und sah eine Bewegung. Ja, der Spiegel. Doch es war irgendwie anders. Ich näherte mich der Spiegelfläche, betrachtete mich darin. Da sah ich den Schatten, der aus mir heraus zu dampfen schien. Ungeschickt trat ich vorwärts und fiel in das Glas. Das Letzte was ich merkte - da war kein Widerstand.

Ich stellte den Motor meiner Shovelhead aus. Stieg von der Harley und blickte in den bedeckten Himmel. Es wird Regen geben. Trat in die verwilderte Einfahrt, um einmal um das Gebäude zu laufen …

Eigene Spuren, längst verloschen

Ein schwarzgähnendes, gruseliges Loch klafft in Deiner Brust. So kann es also aussehen, wenn das Herz herausgerissen wird…
Deine schönen Augen rabiat ausgestanzt – blind gemacht.

Was Dich ausmachte, wurde grobschlächtig rausgebrochen, niedergemäht und weggeworfen. Nichts ist übrig von Deinem Charme. Alles ist grausam verzerrt und entstellt.
Ich kann nicht mehr, schwanke, plumpse auf einen der zahllosen Baumstümpfe - umgemachte schöne alte Eichen - und heule mir die Seele aus dem Leib; alles in mir brennt …

Über 400 Jahre hattest Du damals bereits auf dem Buckel. Robust überdauert in einer grandiosen Landschaft. Alleingestellt, in sich abgeschlossen wie in einer magischen Glaskugel, auf dieser kleinen Waldwiese.
Ein viertel Jahrhundert ist es mittlerweile her, dass wir für eine Handvoll Jahre bei Dir unterschlüpften und Dich dann so unglücklich wieder verlassen mussten.

Ich reiße mich zusammen. Damals hieß das rustikale Grubenhaus uns und unsere Besucher herzlich willkommen. Nun schlüpfe ich wehmütig durch diese monströse Öffnung, die vom Ausschlagen der uralten, massiven Holzzarge mitsamt der schweren Kassettentür und dem antiken Eisenriegel übrig geblieben ist.
Wie ein verlorengegangenes Puzzleteil, das gerade seinen angestammten Platz finden will, um die letzte Lücke zu füllen, dringe ich ein. Erwarte etwas. Was Diffuses. Ersehne mir ein altes Echo, dessen Rufen endlich aufgefangen werden will. Aber hier erwacht nichts mehr. Hier ist es wie in einer toten, leeren Hülle.
Schnell gewöhne ich mich an das staubig glitzernde Schummerlicht, das durch die Löcher der derbe rausgewuchteten alten Sprossenfenster einströmt.

Der knifflige, mühsam von uns aufgebrachte, heitergelbe Lehmputz ist vergraut und großflächig abgeschlagen. Am Ende des Flures ist unsere sorgfältig selbst gebaute, aparte und an die Wand gezimmerte Garderobe aus mühevoll zusammengesammelten alten Weinkisten nicht mehr da. Lediglich ein unförmiger, fieser Nagel lugt aus den Putzresten heraus. Daran hängt ein alter Parka, der aussieht, als plage ihn die Staupe.

Unsere liebevolle Küche mit dem sentimentalen Küchenbuffet, dem weiß schimmernden Gasofen mit den Bakelitschaltern, der überbreiten Eckbank mit den fetten Kissen, die jedem sofort zuraunte: „Komm zu mir…“ – alles ist weg. Selbst der schöne, breite Dielenfußboden, der sicher noch ein weiteres Jahrhundert überstanden hätte, ist rausgerissen. Überall im Erdgeschoss sind unsere warmen Böden fort. Nackte Erde glänzt, als wäre sie feucht.
Weiter hinten, im ehemals integrierten Stall, ist der wertvolle alte Brunnen verschwunden. Zugeschüttet. Auf den krümeligen Erdschollen wurden lediglich ein paar rohe Planken zum Laufen verteilt.
In dem von uns ausgebauten Badezimmer strotz ein überdimensionales Loch im Boden, so tief und dunkel, als hätte jemand versucht, dort das Raum-Zeit-Kontinuum zu versenken. Sicher, die Fliesen wären heute nicht mehr die modernsten, vor allem, da wir keine sogenannte „zeitlose“ Keramik ausgewählt hatten. Zu unpersönlich und kalt. Unwillkürlich muss ich ganz hässlich lachen. Jetzt sind die Wände bis aufs Mauerwerk entkernt. So wüst, dass ein Gefühl in mich hineinkriecht, als müssten die Steine jeden Moment anfangen zu bluten, weil ihnen gar nichts anderes übrig bleibt.

Die alte bäuerliche Treppe nach oben ist unsinnigerweise rausgerissen, ohne jeglichen provisorischen Zugang. Es gibt es keine Möglichkeit zu unserem ehemaligen geborgenen kleinen Nest hoch zu gelangen. Die kleine Schlafstube, die durch die hellen Kiefer Paneelen eigentlich immer eher ein wenig wie eine gemütliche Schweden-Sauna aussah. Und dem großen, luftigen Wohnzimmer mit der riesigen Fensterfront und dem Holzbalkon. Mit seinem spektakulären Ausblick auf die kleine Lichtung… Unser Ort des Friedens. Unser altes, längst vergangenes Glück. Ich kann nur erkennen, dass die Öfen auf einen Haufen geworfen wurden, die Wohnzimmerwand, die mit einem Hauch lindgrün eingefärbten Lehmputz fast samtig wirkte, eingeschlagen wurde. Ich muss hier raus…
Draußen fällt mir erst jetzt auf, dass der kleine Balkon ebenfalls abgebrochen wurde, nur der Verlauf der spröden Mauersteine dahinter lassen seine alten Linien noch erahnen.

Nirgends gibt es Schubkarren oder liegt Werkzeug. Auch keine Paletten, Verpackungsmaterial, Bierkästen oder Müll. Hier hat schon lange niemand mehr gearbeitet. Gott, was ist nur passiert? Klar, du gehörst zu anderen und jeder kann mit seinem Eigentum machen, was er will - hier wurde nur erst zusammengerissen und dann aufgegeben… Dir Perle in diesem seltenen Schatz der Natur, Dir ist deine einzigartige Schönheit genommen; und selbst die kleinsten unserer eigenen Spuren sind für immer und ewig entfernt…

Hausverkauf

„Und wenn Sie das Überholen beenden wollen fahren Sie einfach wieder nach rechts rüber. Zügig und rasch. Nicht zu knapp, halten Sie ein wenig Abstand zu dem Schleicher. Und hören Sie auf, den Blinker rechts zu setzen. Was soll das?“

Ich bemerkte, wie ich ungläubig meinen Kopf schüttelte. Unglaublich. Hat man früher wirklich so gedacht? Anscheinend schon. Denn immerhin halte ich ein vergilbtes Exemplar des Magazins „Fahrprüfung in Deutschland“ aus dem Jahr 1954 in den Händen.

Mein rechtes Knie beginnt sich bemerkbar zu machen.

Ich setze mich auf die Seite, stütze mich mit der linken Hand ab, merke aber schnell, dass ich dann in der alten Vitrine nicht mehr mit beiden Händen stöbern kann.

Also wechsele ich in eine Art Schneidersitz, was auch nicht gerade bequem ist.

Mehrere Romane der Reihe „Der Landser“ fallen mir in die Hände.

„Gebirgsjäger im Kaukasus“. „Und morgen gibt es Hitlerwetter“. „Panzer vorwärts! Aber mit Verstand!“

Vergilbt, dir Ränder zerbröselt, wie von Mäusen angefressen.

Ich merke, wie ich tiefer und tiefer in eine andere Welt abtauche, von der ich nichts verstehe. Nichts verstehen will!

Es war keine Abscheu, aber deutlich eine Art Widerstreben das ich empfand, als ich „Den Bunker“ betrat - einen als Hobbyraum und Werkstatt umgebauten Raum in der alten Scheune, welcher früher als Stall diente. Ich nehme einfach mal an, dass es ein Stall war, weil man am Rand der Wände steinerne Tröge erkennen konnte. Aber egal.

Muffig, alt, feucht - nichts, was mich anspricht. Und doch hänge ich hier und stöbere in den alten Sachen rum. Es ist ja nicht so, dass ich diesen Raum nicht kenne, schließlich habe ich jahrelang im angrenzenden Haus selber gewohnt, bis ich 18 war. Und auch später, als ich meine Eltern besuchte, war ich oft hier drinnen um mir Werkzeug auszuleihen. Aber irgendwie war das damals was anderes gewesen.

Niemand kommt mehr um zu fragen ob ich ein paar eingemachte Bohnen mitnehmen möchte. Oder ein paar frische Erdbeeren.

Die Gefriertruhe mit den restlichen eingelegten Beuteln hatte ich vorgestern entsorgt.

Heute geht es weiter mit Sachen, die ich gar nicht kenne, die mich aber jahrelang umgeben haben.

Ich stehe auf weil mir inzwischen beide Knie schmerzen und blicke auf die mit einem alten Tarnnetz bespannte Wand, an der mehrere unterschiedliche Stahlhelme und Bajonette in einem Halbkreis drapiert waren.

Daneben hängt ein altes Foto von mir in meiner Bundeswehruniform. In Gedanken höre ich meinen Vater sagen: „Hey, komm mal mit, habe dir schon meine neuen Obstbäume gezeigt?“

Der Vorhang

Er öffnet den Vorhang. Da drüben hat sie gewohnt, die letzten Wochen. Direkt seinem Zimmer gegenüber. Vor kurzem ist dort Mr. Tu Wan Too eingezogen, so nennt er ihn. Das Gebäude hat eine U-Form, so war es ihm möglich, unmittelbar in ihr Zimmer zu schauen, wenn morgens die Pflegerinnen die Vorhänge öffneten. Jetzt ist sie weg. Und er ist allein. Davor war´s schöner, allein zu sein, denkt er sich, ohne den Song zu kennen. Oft hat er sich seine Ruhe gewünscht, wenn sie die gleiche Frage immer und immer wieder von Neuem stellte. Oder mitten in der Nacht in seinem Zimmer erschien, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war. Einmal hat er sie auf der anderen Seite des Gebäudes besucht und etwas unter ihrem Tisch gefunden. Es sah wie ein Stein aus. Aber bei genauem Betrachten erkannte er die Exkremente. Wie hat sie das gemacht? Das muss schwierig gewesen sein, sich so tief runter zu ducken, dachte er. Mehr als zwei Drittel des Lebens mit dieser Frau. Egal, wie sehr ihn die vergangenen Monate zermürbt haben, jetzt fehlt etwas. Er will nicht auf die letzten traurigen Tage zurückblicken, sondern auf die vielen erfüllten Jahre mit ihr. Er will nicht irgendwann der neue Mr. Two One Two werden. Also schließt er den Vorhang und verlässt das Zimmer.

nur ein Spaltbreit

Es fühlt sich an wie ein Donnerwetter, als ich die Schwelle überschreite, die alles verändert. Und doch höre ich nichts als Atemluft.

Ich spüre, dass es ein verlassener Ort ist, den ich so behutsam wie möglich betrete. Und doch fürchte ich mich vor Begegnung.

Ein warmer Luftzug umgibt mich. Und doch schlottern mir die Knie, als würde ich frieren.

Wer hat diese Leere hinterlassen? Diese Risse in der Wand, die aussehen, als könnten sie niemals heilen? Wer hat hier gewütet, um sich geschlagen, mehr als nur die Oberfläche zerstört? Nur um dann einfach zu verschwinden? Werde ich je wissen, was hier geschehen ist? Ich atme ein – so langsam und so tief, wie ich es nur vermag. Ich rieche Angstschweiß, obwohl hier schon viel zu lange niemand mehr gewesen ist. Wie weit darf ich mich vorwagen in diesen Raum, der auf Neugestaltung wartet? Jetzt ist nicht die Zeit zu überlegen, wie viel Anstrengung es kosten wird. Ich sauge den Augenblick auf. Spüre, dass jede Liebe zum Abschied verdammt ist.

Meine Lippen zittern noch stärker als meine Stimme, als ich meine Umarmung etwas löse und ihr sanft über das Haar streiche: »Danke, dass du mir die Tür zu deinem Herzen einen Spaltbreit geöffnet hast. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als für immer darin wohnen zu dürfen.«

Strom

Komisch! Die Wohnung roch immer noch ein bisschen nach Stippgrütze und Bratapfelstrudel. Wahrscheinlich spielte mir die Erinnerung einen Streich. Und nach Muff. Sechs Monate ungelüftet, was sollte man da erwarten?
O ja, ein ganzes halbes Jahr war es jetzt her, dass ich sie zu mir genommen hatte. Das war ich ihr schuldig, hatte ich den Nachbarn erklärt. Und das stimmte hundertprozentig.
Probehalber knipste ich den Lichtschalter an. Na bitte, wenigstens funktionierte der Strom!
Ich blickte mich um. Und direkt in die Vergangenheit. Gut verstaut unter einer Staubschicht. Staub auf dem verschlissenen, kotzgelbgrünen Sofa. Das war bestimmt schon achtzig Jahre alt. Nie hatte sie sich etwas Neues gegönnt. Ich schlug mit der Hand auf eines der genau in der Mitte eingeknickten Häkelkissen und musste niesen. Staub auf dem rustikalen Wohnzimmerschrank, auf den Bilderrahmen und Hummelfiguren. Auf dem gestickten Stillleben an der Wand, dass dort schon hing, als meine Mutter noch ein kleines Mädchen war. Auf den fadenscheinigen, handgewebten Teppichen, und Staub auch in der Küche. Auf der Anrichte, dem Regal mit den Tellern aus Meißen, auf der Kaffeemaschine. Ich grinste. Kaffee würde ich hier sicher nicht mehr kochen. Trotzdem war ich froh, dass der Strom funktionierte.
Auch im Schlafzimmer sah es nicht anders aus. Staub auf dem Nachttischchen und dem zum Bersten vollgestopften Kleiderschrank. Das Bett mit dem erhöhten Kopfteil war sorgfältig gemacht, die Laken, Decken, Kissen glattgestrichen, ohne eine einzige Delle. Die Vorhänge vor die Spitzengardinen gezogen.
Staub und Muff auch im Bad. Auf dem Spülkasten der Toilette eine Ersatzklopaperrolle diskret versteckt unter dem gehäkelten Rock eines Barbiepuppenoberteils.
Ein Morgenmantel mit hellblauer Borde hing noch am Haken neben der vorsintflutlichen Waschmaschine, deren Schalter gelb flackerte. Ja, Gott – oder wem auch immer - sei Dank, der Strom funktionierte. Sie hatte nicht einmal eine integrierten Trockner, die Waschmaschine. Dafür gab es einen zusammenklappbaren Wäscheständer mit Klammerbeutel und Klammern mit runden Holzköpfen. »Ja, Holzkopf!«, hörte ich ihre schrille Stimme. »Holzkopf, wie dein Vater!«
Der Flur war dunkel. Auch hier, alles Eiche rustikal. Der schäbige Schuhschrank, die Garderobe mit den goldenen Knöpfen. Einzig die nagelneue, schneeweiße Tiefkühltruhe wirkte beinahe futuristisch. Hochmodern, klimaneutral und völlig geräuschfrei, hatte mir der Verkäufer versichert. Nicht einmal ein Summen würde sie verursachen.
Einen Meter zwanzig, aber sie würde genügen. Und eiskalt. Zum Glück funktionierte der Strom.

Das vergessene Gutshaus

Abseits gelegen und hinter hohen Mauern verborgen steht das über hundert Jahre alte Gutshaus, nur das eiserne Eingangstor gewährt einen kleinen Einblick auf das Grundstück. Es ist ein trauriger Anblick, der sich dem Betrachter, durch das kunstvoll verzierte Eisentor bietet. Vergessen, grau und ein verwilderter Vorhof. Und doch strahlt das heruntergekommene Gebäude eine magnetische Anziehungskraft aus. Da kommt es wie gerufen, dass das Tor einladend ein spaltweit offensteht. Rasch hindurchgeschlüpft, gelangt man über eine schmale, kurze Auffahrt zum Gutshaus. Aus unmittelbarer Nähe sieht man das ganze Ausmaß der Vernachlässigung. Die Holzfensterrahmen der bodenlangen und bogenförmigen Sprossenfenster im Erdgeschoss sind rissig und die einst weiße Farbe ist abgesplittert, die Fensterscheiben weisen teilweise Glasbruchspuren auf, während die kastenförmigen Fenster in den beiden oberen Stockwerken unversehrt aussehen, zudem liegen Schindel vom Dach hier und da verstreut auf der Erde. Ebenso ist die eingeritzte Inschrift im Holzrahmen der großen bogenförmigen Doppeleingangstür nicht mehr lesbar.

Interessiert wird das alte teilweise aus Bruchsteinen erbaute Gebäude umrundet. An der Westseite rankt meterhoch ein Geißblatt, angelehnt wie ein Schutzmantel, an der Hauswand empor und verströmt besonders in den Morgen- und Abendstunden ihren intensiven, betörenden Duft. Auf der hinteren sonnenreichen Südseite ist die Terrasse noch vage erkennbar. Die auf dem Boden verlegten Platten teilweise brüchig und größtenteils zugewuchert vom Unkraut. Der Blick verliert sich im weitläufigen Gelände. Bäume und Sträucher wachsen und wuchern unkontrolliert. Das Gras steht kniehoch. Einst muss dies einmal ein wunderschöner parkähnlich angelegter Garten mit solitär stehenden Bäumen, gestutzten Sträuchern und Blumen gewesen sein. Wieder dem Gutshaus zugewandt erregt eine aufgebrochene Terrassentür die Aufmerksamkeit der eingedrungenen Gäste. Die Neugierde ist größer als die Angst und das schlechte Gewissen in ein fremdes Haus einzudringen. Unter den Schuhen knirschen Scherben der zerbrochenen Scheibe der Terrassentür.

Im Innern riecht es muffig, die Zimmer sind lichtdurchflutet und großzügig geschnitten mit hohen, stuckverzierten Decken. Ideal für große Feiern. Die unteren Drittel der Wände wurden mit einer Holzvertäfelung versehen und die oberen zwei Drittel mit Tapeten überzogen. An einigen Stellen lösen sich allerdings die verblasten Tapeten von den Wänden, hängen schlaff herunter. Stellenweise wird in einigen Räumen das Parkett von abgewetzten und verblassten Teppichen bedeckt. Die wenigen noch vorhandenen Möbelstücke sind von einer grauweißen Staubschicht überzogen und stehen mit geöffneten, zum Teil aus den Angeln gerissenen, Schranktüren und rausgezogenen Schubladen herum. Überall auf dem Boden verstreut liegen Gerümpel der letzten Bewohner, wie einzelne Schuhe, Spielsachen oder zerbrochenes Porzellan. Eine breite Treppe führt in die oberen Stockwerke. Die Treppenstufen knarzen gefährlich beim Betreten, sind ebenso morsch wie das Holzgeländer. Mussten die Bewohner überstürzt und unerwartet das Haus verlassen oder wurden sie vertrieben? Niemand weiß es. Vergessen, wie das Haus selbst. Welche Geschichten wüssten die Wände zu erzählen, wenn sie könnten? Geschichten von herzerwärmenden Liebesbezeugungen und Freude, von verbotenen Affären und Verrat oder von Schmerz und Intrigen. Auch das werden wir nie nicht erfahren.
2022-11-09T23:00:00Z
Bei aller Erbärmlichkeit mit Vorstellungkraft, handwerklichem Können, Geld und Liebe kann dieses Gutshaus aus seinem langen Dornröschenschlaf wieder erweckt werden und im neuen Glanz erstrahlen. Zu einem Haus werden voller Menschen, die Lachen, Tanzen und sich am Leben erfreuen.

Eine kurze Pause

Er steht in der Tür und späht vorsichtig in den Raum, dann tritt er leise ein und schießt die Tür hinter sich. Das Zimmer wird von einem großen Kamin gewärmt, in dem ein Feuer kräftig lodert. Die Luft ist stickig und etwas rauchig, aber er traut sich nicht eigenmächtig das Fenster zu öffnen. Die kalte Herbstsonne scheint durch ein Fenster auf der linken Seite des Zimmers und die Staubflocken tanzen in den Sonnenstrahlen. Der Raum strahlt Ruhe und Geborgenheit aus, aber er hat dennoch das Gefühl durch seine Anwesenheit zu stören, was kein Wunder ist, da er sich ungefragt in einem fremden Haus befindet. Die Holzdielen quietschen unter seinen Füßen und er zuckt bei dem Geräusch zusammen. Neben dem großen Fenster steht ein Holztisch, dessen Maserung dunkelbraun glänzt. Die sechs Stühle um den Tisch sind aus dem selben Holz gemacht und er denkt, dass das teuer gewesen sein muss. Seine Hand gleitet über das Holz und er beäugt den Obstkorb, der mitten auf dem Tisch, auf einer runden, weißen Stickdecke, thront. Ob sie wohl merken würden, wenn eine Banane fehlt? Kurz entschlossen greift er sich sich die Banane und steckt sie in die Manteltasche. Dann noch einen Apfel. Nach kurzer Überlegung stopft er ihn sich direkt in den Mund und seufzt erleichter auf, endlich ist der bohrende Hunger kurzfristig verebbt.

Er nimmt einen der Stühle und zieht ihn vor den Kamin. Nachdem er umständlich seinen Mantel ausgezogen und über den Stuhl gehängt hat, setzt er sich, lehnt sich der Wärme entgegen und reibt sich die Hände. Ein zufriedener Seufzer entwischt seinem Mund, als die Wärme die Kälte vertreibt. Der ungewaschene Geruch seines Körpers steigt ihm in die Nase. Das kann er nun nicht ändern. Neben dem Kamin liegen, sorgfältig gestapelt, ein paar Holzscheite und er überlegt, wer wohl hinter dem Haus auf dem Hof gestanden haben mochte und dieses Holz gehackt hat. Er nimmt an, dass das Holz aus dem nahegelegenen Wald kommen müsse. Genau aus diesem Wald ist er gekommen.

Nachdem er aufgehört hat vor Kälte zu zittern, sieht er sich erneut in dem großen Raum um. Eine Sofalandschaft schmiegt sich in hinteren Teil des Zimmer, weit genug weg von dem Feuer, um die Glut poppende Holzscheite zu vermeiden. Daneben befindet sich eine Wand voller Bücherregale und er geht hinüber, um die Buchrücken zu betrachten. Es ist eine Mischung aus alten Werken, Krimis und Romanen. Auch Kinderbücher befinden sich auf Hüfthöhe. Dann lebt hier also auch mindestens ein Kind, denkt er. Er sieht sich erneut um, kann aber keine weiteren Dinge sehen, die auf ein Kind hindeuten würden. Trotz dem Staubes ist der Raum aufgeräumt, fast schon wie ein Museum, er kann sich kein lärmendes Kind hier vorstellen.

Sein Blick bleibt sehnsüchtig auf der gemütlichen Couch hängen. Der Drang sich dort einfach fünf Minuten hinzulegen wird übermächtig. Wie in Trance schlendert er auf die Couch zu, er ist so unsäglich müde. Die Hitze tut das Übrige und er schläft schon ein bevor sein Kopf überhaupt auf das Sofakissen gesunken ist.

Eine lange Zeit später, weckt ihn ein gellender Schrei.

Der gefundene Brief

Lieber Leser,

wenn Du diese Zeilen liest, hauchst du dem alten, unserem alten Haus wahrscheinlich neues Leben ein. Es wird Veränderungen mit sich bringen und neue Geschichten werden entstehen. Wenn Du nun denkst, Häuser erzählen keine Geschichten, dann solltest Du den Brief weglegen und mit dem weiter machen, womit du gerade beschäftigt warst. Bist Du dem gegenüber aber offen, dann mach es Dir bequem und nimm Dir die Zeit, um eine Geschichte zu hören.

Damals, als wir das Haus erwarben, waren wir jung und enthusiastisch. Wir waren frisch verheiratet und dank meiner Großtante, welche mir eine kleine Erbschaft hinterließ, konnten wir uns den Traum vom Eigenheim erfüllen. Das Haus, wie du es heute kennst, hat seither viele Wandlungen durchlaufen und hat mit dem Gebäude von damals nicht mehr viel gemein.

Das Gemäuer war stabil, wenn auch an einigen Stellen renovierungsbedürftig.
Das Dach musste erneuert werden, der Schornstein war in sich gesackt und der Garten war ein Urwald. Mein Mann war gelernter Zimmermann, wodurch wir viele Arbeiten selbst erledigen konnten. Mein Vater half uns mit seiner Erfahrung bei den Dingen, die uns unbekannt waren.

Ich hoffe, auch Du hast helfende Hände, denn so ein Haus zu renovieren ist leichter gesagt als getan.

Da das Haus recht klein war, wir aber bald mit der Familienplanung beginnen wollten, dass Dach sowieso gemacht werden musste und noch etwas Geld übrig war, entschieden wir uns, das Dachgeschoss auf die gesamte Hausgröße auszubauen. Und so wurde aus einem Wohnzimmer, einem Schlafzimmer, einer Wohn- und einer Waschküche das für uns schönste Haus mit zwei weiteren Schlafzimmern und einer Toilette, die direkt in das Haus integriert war.

Wenn Du noch sehr jung bist, kannst Du es Dir vielleicht schlecht vorstellen, aber damals waren integrierte Bäder und Toiletten noch nicht die Norm.

Eine Renovierung bedarf viel Zeit und nicht immer waren wir einer Meinung. In unserer noch sehr jungen Ehe kam es immer wieder zu Streitereien über, im Nachhinein, belanglose Dinge. Wir hatten in unserem Ehe-Gelübde geschworen, auch in schweren Zeiten zueinanderzuhalten. Aus heutiger Sicht waren die Arbeiten am Haus zwar eine anstrengende Zeit, schwer jedoch nicht. Meinungsverschiedenheiten gehören zum Leben dazu. Wir sind gestärkt aus diesem Abschnitt unseres Lebens gegangen.
Man wird im Leben immer mit Hindernissen konfrontiert sein und zwischendurch denkt man auch an Trennung. Das frisch verliebt sein hält leider nicht ewig. Jedoch wächst daraus Vertrauen, Verbundenheit, Zugehörigkeit und Verlässlichkeit.

Wenn auch Du irgendwann an den Punkt kommst, über eine Trennung nachzudenken, besinne Dich daran, was Ihr bisher durchgestanden habt. Auch mit einem anderen Partner wird nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen sein.

Doch zurück zu unserer Geschichte.

Noch während wir das Haus umgebaut haben, erfuhren wir, dass wir Nachwuchs bekommen. Die Bau-Prioritäten lagen dann also beim Kamin, dem Schlafzimmer und dem Bad. Neun Monate klingt nach sehr viel Zeit, doch am Ende kommt es dir vor wie ein Wimpernschlag. Die Schwangerschaft hat mir sehr viel abverlangt, weshalb ich nicht mehr beim Umbau helfen konnte.

Die Monate vergingen und am 21. November 1963 erblickte unser Sohn Richard das Licht der Welt. Auch wenn unser Haus noch einige Baustellen aufwies, war es das schönste Gefühl, es mit Leben zu füllen. Anfangs schlief er im Beibettchen, später in seinem eigenen Zimmer. Alles lief, wie es laufen sollte. Bis zu dem Moment, als ich morgens in Richards Zimmer kam und mein kleiner Schatz das irdische Leben hinter sich gelassen hatte.

Vielleicht warst Du schon im Garten hinter dem Haus und fandest einen kleinen Stein mit seinem Namen darauf.

Viele Jahre habe ich mir die Schuld daran gegeben. Habe ich ihn zu früh in sein eigenes Bettchen gelegt? Habe ich seine Schreie nicht gehört? Habe ich irgendetwas falsch gemacht um dieses Schicksal zu verdienen? Auch heute schmerzen die Gedanken daran noch sehr, doch das Leben hat mir gezeigt, dass wir nicht alles kontrollieren können.

Der Verlust war eine der schweren Krisen, von denen ich sprach. Mein Mann trauerte anders. Ich war in meiner Trauer so gefangen, dass ich nur den starken Mann sah, der weiterhin am Haus baute und zur Arbeit ging. Der mit Freunden sprach und Sport trieb. Ich warf ihm vor, er würde unseren Sohn vergessen, seinen Tod als selbstverständlich hinnehmen. Ein anderer Mann hätte vielleicht bei meinen Launen die Flucht ergriffen, doch er blieb und half mir durch die Stabilität aus meinem Tief heraus. Er trauerte auch, nur anders.

Das Kinderzimmer, sein Zimmer, blieb sehr lange unbewohnt. Da es für mich nicht mehr in Frage kam, jemals ein Kind darin schlafen zu lassen wurde es später zu einer Terrasse umgebaut. Zwei Jahre später kam unsere Tochter Manuela zur Welt. Mit ihr durchlief unsere Ehe die nächste Krise. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, mein Kind nicht bei mir zu haben. Also schlief sie immer bei uns, erst im Babybett, anschließend mit in unserem Bett.

Du kannst Dir sicher vorstellen, dass das einer Partnerschaft nicht guttut.

Mein Mann nutze viele Gelegenheiten, eine gesunde Distanz zwischen mich und meine Tochter zu bringen. Mit 3 Jahren, 4 Monaten und 12 Tagen schlief sie das erste Mal in Ihrem eigenen Kinderzimmer. Da er meine Ängste ernst nahm, schliefen wir anfangs abwechselnd in Ihrem Zimmer. Eine große Hilfe war ebenfalls, dass ich mich mit anderen Müttern austauschte und feststellte, dass das Schicksal auch andere teilten.

Ich gebe Dir den Rat, dass Ihr immer miteinander kommunizieren solltet. Nehmt die Ängste und Sorgen des Partners ernst und steht Euch bei. Sucht Lösungen, habt Geduld und scheut Euch nicht, Hilfe von anderen anzunehmen.

Ein weiteres Jahr verging und erneut wurde ich schwanger. Am 10. Februar 1969 kamen unsere Zwillinge zur Welt. Zwei Jungen, Frank und Manfred. Da wir aufgrund der Terrasse nur noch ein Kinderzimmer hatten, mussten wir erneut anbauen. Wir dachten, ein großes Zimmer für beide wäre ausreichend, denn man sagte auch damals schon Zwillinge seien untrennbar. Später wurden wir eines Besseren belehrt. Auch wenn unsere beiden Jungs sich sehr ähnlich waren, waren sie einzelne Individuen. Das Geld saß nun, bei 3 Kindern, nicht mehr so locker. Ein erneuter Anbau war also nicht realisierbar.

Da Frank und Manfred die Welt als Spielplatz nutzten, war es nicht schlimm, dass wir das Zimmer in zwei aufteilten. Frank war der Sportliche, Manfred der Forscher. Beides Interessen, die sich nicht in 9m² abspielten. Außerdem kamen wir dadurch oft im Wohnbereich zusammen, was die Familie noch mehr zusammen brachte.

Sorge dafür, dass Ihr einen Platz habt, indem alle gleichberechtigt sind. Ein neutraler Ort für alle, die ihn gerade nutzen möchten. Achte aber auch darauf, dass jeder einen Rückzugsort hat und dieser auch respektiert wird. Auch Ihr braucht solche Räumlichkeiten.

Die Kinder wurden größer und ich konnte neben der Erziehung meiner Leidenschaft, dem Nähen, nachgehen und so etwas zum Verdienst beitragen. Im Laufe der Jahre bauten wir unseren Keller aus, errichteten eine Garage, und führten kleinere Renovierungen durch.

Das Haus durchlebte viele Geburtstage, Weihnachtsfeste, Abende mit Freunden und Partys. Es bekam viel Drama mit, aber auch viel Liebe und Freundschaft. Es ließ sich immer wieder an die jeweilige Lebenslage anpassen und war stets unser Mittelpunkt.

Wir haben das Haus damals gebaut, um unseren Kindern später einen Ort zu hinterlassen, in dem sie Ihre eigenen Geschichten schreiben können. Vielleicht fragst Du Dich, weshalb dann nicht unsere Kinder hier leben, sondern Du der neue Eigentümer bist. Das mein Freund, ist das Leben. Die Welt steht Euch offen und sicher werden auch Eure Kinder irgendwann das Nest verlassen. Das ist in Ordnung. Wichtig ist nicht der Ort, sondern das Gefühl dass Ihr mit dem Haus habt entstehen lassen.

Unsere Kinder hat es in die Welt gezogen und wir sind ihnen gefolgt. Unsere Geschichte in diesem Haus endet hier und Ihr habt die Aufgabe, das Buch fortzusetzen. Dabei wünschen wir Euch alles erdenklich Gute.

In Liebe

Verloren und dennoch da.

Ich stehe mit meiner Mutter vor dem Haus der Familie. Heute dürfen wir noch rein, ab morgen beginnt der große Umbau. Ich kenne es von aussen und, von einem Besuch im Vorschulalter, auch das Treppenhaus.
Natürlich haben wir die Onkel und Tanten getroffen. Aber die sind dann zu unserem Ferienquartier bei meiner Oma gekommen.
Hundert Jahre lang haben hier Familienmitglieder gewohnt.

Angefangen hat es gleich nach der großen Ostseesturmflut. In der Nacht vom 12. auf den 13. November 1872. Da hat die Familie Ackerland verloren und musste den alten Hof aufgeben.
Mein Ururopa hat für sich und seine Familie ein kleines Haus gebaut. Zweieinhalb Zimmer groß.
Diesen Teil wollen wir uns zuerst ansehen.
Später wurde das Haus aufgestockt und angebaut, je größer die Familie wurde.

Wir betreten das Treppenhaus. Licht fällt nur durch die Glasscheibe in der Haustür. Ein alter verblichener Kokosläufer liegt auf den dunklen Holzdielen.

„Hier rechts stand ein runder Tisch.“ Sagt meine Mutter. „Dort legte der Postbote die Briefe ab. Da war immer eine Tischdecke und eine Vase mit Blumen drauf. Das mussten immer fünf oder noch besser sieben verschiedene Blumen sein. Und das Telefon stand da.“
„Wie? Ihr hattet Telefon?“
„Ja, wie hätten uns denn sonst die Urlauber erreichen oder die Kunden den Fisch bei Opa bestellen können? Strom hatten wir keinen, Wasser nur aus der Pumpe im Hof, das Plumpsklo im Garten. Aber Telefon, das hatten wir.“

Wir betreten die kleine Wohnung.
„Hier rechts stand Omas Herd,“ erzählt sie weiter, „eine Kochhexe. Das war achtzig Jahre lang die einzige Kochstelle im ganzen Haus. Hier wurde für die Familie und die Gäste gekocht.“
Ich sehe mich um. Die Decke ist niedrig. An einigen Stellen haben die Handwerker schon den Putz entfernt. Ich trau meinen Augen kaum. Schilfrohrhalme und Seegras sind zu sehen.
Wir kommen zu dem halben Zimmer. „Hier hat Uropa gewohnt“.

Ich wusste schon, dass die Altenteiler zu ihren Kindern zogen.

„Vor diesem Fenster hatte Oma im Vorgarten zwei Tonkrüge vergraben. Da hatte sie immer ihre eingelegten Gurken drin.“
Wir verlassen die Wohnung und gehen die Treppe hoch. Das Holzgeländer von den vielen Händen ganz glatt und eben. Samtzart fühlt es sich an.
„Hier hatte mein Vater und seine Geschwister ihre Zimmer. Und vom Mai bis September waren dann die Urlauber hier untergebracht.“

„Und wo haben dann die Geschwister geschlafen?“
„Oben auf dem Boden. Dort hinten in der Ecke ist die Stiege.“

Wir gehen hinauf und ich bin sprachlos. Auf Bodenhöhe sind ringsherum kleine Fenster, durch die ein wenig Licht fällt. Die Kammern für die Kinder sind nur notdürftig mit Holzwänden unterteilt. So schmal, dass gerade zwei schmale Pritschen reinpassen. Kein Schrank, keine Truhe, nichts.

„Da hinten ist doch noch mehr Platz“, sage ich, als ich wieder Worte finde.
„Da wurde im Winter die Wäsche getrocknet und Opa hatte seine Netze da“.

Wir verlassen den Teil des Hauses und gehen zum nächsten Eingang.
„In diesem Raum hat Oma den Mittagstisch für die Urlauber angeboten. Als dann Hitler an die Macht kam und wir hier die Ingenieure zur Miete hatten, da wurde dann ein Ladengeschäft daraus. Mal Obsthandel, mal Schlachter und zuletzt das Schuhgeschäft.“
„Und die Mieter, die bekamen nichts zu essen?“
„Nein, die wurden in der Kaserne versorgt, die haben ja alle auf Wustrow gearbeitet.“

Wir gehen in den letzten Anbau. Wieder eine Treppe hoch.
„Hier oben bin ich geboren“, sagt meine Mutter. „Es war eine schöne Kindheit“.
Und noch eine weitere Stiege. Auf dem Flur steht eine sehr, sehr kleine Kochstelle, kaum größer als ein Kinderspielherd, direkt unter einer Dachschräge.
„Das ist aber wirklich winzig,“ entfährt es mir.
„Ja, da war es wohl ganz gut, dass Tante Frieda so klein war,“ schmunzelte Mutti.
Ein Blick in die Wohnung machte mir auch sofort klar, hier war kein Platz für einen Herd, egal wie klein dieser war.

Schade, dass ich dies nicht mehr meinen Enkelkindern zeigen kann.

Das vermisste Kind

Die Tür wurde von der Polizei aufgebrochen. Nackte Wände, mit abgeblätterten Putz blinzelten dem einwerfendem Lichtkegel entgegen. Abgebrochene Fingernägel, mit blutigen Schlieren, zierte eine Wandstelle. Aber sonst war der Raum kalt und leer.

Kloster Eldena

Der Himmel schaut von oben hinein.
Das ist so passend. Schließlich wurde hier täglich zum Himmel gebetet, besser gesagt zu Gott, den man im Himmel verortet.
Refektorium, Dormatorium. Viel ist nicht mehr da von unserem alten Zisterzienserkloster. Zur Zeit der Reformation wurden viele Klöster aufgegeben. Auch in Kriegen wurde einiges zerstört. Die Backsteine konnte man an anderen Orten gut gebrauchen, um Häuser und Ställe zu bauen.
So ist das eben. Es gibt immer Sieger und Verlierer.
Trotzdem sind diese Mauern ein Anziehungspunkt für Geschichtsinteressierte, Erholungsuchende, Urlauber und Konzertliebhaber. In dieser romantischen Kulisse finden jedes Jahr die Jazz-Evenings statt. Auch das Theater nutzt für Freiluftaufführungen das alte Gemäuer. Dann ist es nicht mehr einsam hier. Wo früher Mönche ernsthaft ins Gebet vertieft waren, wird jetzt gespielt, gefeiert, musiziert. Alles hat seine Zeit. Alles verändert sich, immer wieder, an jedem Ort.

11.11.2022
© Katrin Streeck

Wiedersehen in Eldena

In der kleinen Straße in Eldena, in der Lisa ihr Häuschen hatte, schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Wie von selbst bot sich mir ein Bild, das im Nu die alte DDR wieder aufleben ließ.
Magda allerdings war mit dem vor ihr liegenden Wiedersehen beschäftigt. Sie registrierte nichts von dem, was ich bei dem Anblick dieser grauen Idylle wahrnahm. Links und rechts der Straße standen Einfamilienhäuser, die nicht über ein gewisses Quantum an Trostlosigkeit hinwegtäuschen konnten. Selbst dann nicht, wenn jedes Häuschen im Besitz eines Vorgartens war.
Das Grau der Fassaden war mal mehr, mal weniger von Blässe und Rissen gezeichnet. Die Sicht ins Innere der farblosen Klötze durch schwere Gardinen versperrt, hier und da durch eine Orchidee, Begonie oder Alpenveilchen geschmückt. Ich mutmaßte, dass es sich um den kläglichen Versuch, alltäglicher Tristesse zu entkommen, handeln könne. Oder offenbarten sich hier Überbleibsel aus längst vergangenen DDR-Zeiten? Restbestände, um dem Denunziantentum unliebsamer Nachbarschaft, und den daraus resultierenden Stasi-Bespitzelungen zu entfliehen?, fragte ich mich. Ein Anflug von Depression drohte von mir Besitz zu ergreifen und ich bemerkte, wie ein leichtes Schauern meinen Körper durchzog. Ob diese Wahrnehmung meinen düsteren Erinnerungen entsprungen war? Die damals, in der Bundesrepublik vorherrschende politische Propaganda verkaufte ihren Bürgern, der Westen sei das Paradies. Im Osten hingegen würden die Menschen ein eher armseliges Dasein fristen. Und wir glaubten das. Ich glaubte das! Jeder zweite hatte doch irgendwo in der Zone Tante, Onkel, oder andere popelige Verwandtschaft. Und wir Wessis rühmten uns mit unserem Zugang zum Intershop. Mit Paketen, die pünktlich zu Weihnachten nach Drüben geschickt wurden, gespickt mit Westschokolade und echten Levis Jeans, nicht die blöden Nachgemachten. Ganz schön überheblich, dachte ich. Egal. Vielleicht lag meine gedrückte Stimmung auch nur an den noch recht kahlen Vorgärten, obwohl einige Narzissen und Tulpen mutig ihre Köpfe in die Höhe streckten, die geschmiedeten Einzäunungen still vor sich hin rosteten und kein Mensch weit und breit zu sehen war, zumindest nicht körperlich. Ich wusste es nicht.

Nr. 5, Nr. 7, 9…, da ist es ja schon<<, sagte ich, während ich mein Auto im Schritttempo über das Holperpflaster lenkte.
Ich parkte, ohne darauf achtzugeben, ob irgendwer dem Sandweg mühevoll mit einer Harke ein Muster beigebracht hatte und meine Westreifen nun alles platt walzten.
Magda stieg langsam aus, rückte ihre Brille zurecht, zottelte an ihrer Jacke herum und vergaß, die Autotür zu schließen, was ein Lächeln auf meine Mundwinkel zaubern ließ.
Ohne sich nach mir, oder der offenstehenden Tür umzudrehen, schritt sie langsam auf die kleine Gartenpforte zu. Ich schnappte mir Blumen und Pralinenkasten und folgte ihr. Jetzt war ich ebenso aufgeregt wie meine Mutter.
Auf dem schmalen Gartenweg, der zum Haus führte, kam ich nicht umhin, zu registrieren, dass bereits an vielen Stellen des Mauerwerks der Mörtel abgeblättert war. In diesem Augenblick öffnete sich die Haustür:
Magda!! Mein Magdachen!!<<.
Lisl!! Mein Liselchen!!<<
Es war herzzerreißend. Die beiden, hoch betagten Damen lagen sich in den Armen und weinten vor Freude.
Meine Mutter, klein und schmal, verschwand beinahe hinter der großen und recht übergewichtigen Lisa Sperling, die sie herzlich in ihre Arme schloss. Ich blieb derweil auf der Treppe stehen und beobachtete das Szenario. Ich war gerührt.
Wir schoben uns durch einen engen Flur, in eine riesige Wohnstube, von der aus man einen großartigen Blick in den gigantischen Garten hatte, der hinter dem Haus lag. (Vergessen war der trostlose Vorgarten).
Die beiden Freundinnen setzten sich auf das alte Sofa, das schon deutlich in die Jahre gekommen war. Die gehäkelten Spitzendeckchen waren verrutscht, sodass die abgewetzten Armlehnen sich ihren Weg ins Freie suchten. Ich setzte mich in den Ohrensessel und hatte das Gefühl, dass sich einzelne Sprungfedern in meinen Po bohrten.
Mein Blick wanderte durch den, mit allerlei Nippes, gespickten Raum. Ein Wackeldackel nickte mir freundlich zu, der nebst Klopapierpuppenprinzessin und Porzellanvögeln aus der Vitrine hervorlugte. Das kitschige Bild einer dunkelhäutigen Amazone, mit aus der Bluse hervorquellenden üppigen Brüsten, hing über dem, mit Papieren übersäten Schreibtisch und starrte auf mich herunter.
Ich musste grinsen bei der Vorstellung, dass es sich hierbei wahrscheinlich um ein Geschenk popeliger Verwandtschaft aus dem goldenen Westen gehandelt hatte. Irgendein billiges Mitbringsel eines Italienurlaubs. Die einstigen Käufer waren sicher froh gewesen, sich dieser Geschmacklosigkeit entledigt zu haben.
Und ab dann existierte ich nicht mehr für die Damen und ich genoss es.

Ich habe viele Geschichten über Geister und Vampire und dergleichen gelesen und dachte, ich wäre furchtlos, aber als ich den Fuß in das verlassene Haus setzte, wurde ich eines besseren belehrt. Mir stellten sich die Nackenhaare auf, als zerbrochenes Glas unter meinen Sohlen laut knirschte und ich nichts mehr hörte, als meinen hektischen Atem. Ich versuchte konzentriert langsam ein und aus zu atmen, doch atmete dabei nur den Staub ein, der träge im Schein der Taschenlampe tanzte. Ich nieste herzhaft und presste mir anschließend erschrocken die Hand auf Mund und Nase. Was wenn mich jemand gehört hatte?
Wer sollte dich hier hören, Dummerchen? Du bist allein. Und du ganz allein hast dich auf diese Mutprobe eingelassen ins Haus des alten Schneiders einzusteigen.
Ich ließ das Licht der Taschenlampe durch die Eingangshalle wandern. Zu meiner linken und rechten Seite gingen Türen ab. Kurz vor der rechten Tür befand sich eine Treppe ins Obergeschoss, aber ich beschloss, erstmal unten zu bleiben, hatte ich doch schon Geschichten gehört über Menschen, die im morschen Boden eingebrochen waren und festsaßen. Außerdem - sollte es hier wirklich Geister geben, befanden die sich doch wohl eher im Keller oder Dachboden, eben da, wo die Erinnerungen aufbewahrt wurden.
Ich ging zu der Tür auf meiner rechten Seite. In dem Raum schien sich die Küche befunden zu haben. Ein altmodische Teekessel stand verloren auf einem vollgestaubten Tisch auf dem sich sonst nur noch ein Jagdmesser befand. Ich stellte mir vor, wie der alte Mann hier jeden Morgen seinen Tag begonnen haben musste. Mit Zeitung und Tee. Ich versuchte mir vorzustellen, mit was für Sorgen, die Menschen damals konfrontiert gewesen sein mussten. Heutzutage hatten wir keine Sorgen mehr, denn alles was damals prophezeit worden war, war bereits eingetreten. Niemand hatte wirklich etwas gegen den Klimawandel unternommen und die Welt war den Bach runtergegangen. Wir kämpften nur noch ums Überleben. Als dieser Mann hier gelebt hatte, da hatten die Menschen bestimmt noch Träume gehabt und diese verfolgt. Träume waren in dieser neuen Zeit unbezahlbarer Luxus. Ich ließ den Kegel der Taschenlampe schweifen und erschrak. Ein wildes Tier starrte mich mit gebleckten Zähnen an. Auge in Auge standen wir dort und ich versuchte mich daran zu erinnern, was zu tun war. Eine Hand tastete währenddessen schon fast automatisch nach dem Messer in meiner Tasche. Doch seltsamerweise rührte sich das Tier nicht weiter. Ungewöhnlich. Ich trat näher, nur um festzustellen, das es sich hier um eine Trophäe handelte. Eine Wildkatze, ausgestopft und auf einem Regal an der Wand ausgestellt, neben weiteren eingestaubten Trophäen. Ein Adler starrte mich aus wilden Augen herausfordernd an so wie ein gigantischer Eber. Daneben zahlreiche Hirschgeweihe. Diese Hirsche kannte ich nur aus Büchern. Früher haben die Menschen Nahrung aus Hirschen zubereitet, hatte ich gelesen. Bis irgendwann der letzte seiner Art gefallen war und nach ihm irgendwann die Damen seiner Art.
Irgendwann werde ich auch fallen, dachte ich, wenn ich nicht aufhörte, so sehr an Jens zu hängen. Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich die blöden Gedanken an Jens so abschütteln und setzte meinen Weg fort. Mir fiel ein Luftzug auf. Eines der Fenster war eingeschlagen. Ich hätte die Tür also gar nicht aufbrechen müssen. War der alte Mann überfallen worden? Das zerbrochene Glas und die anderen Spuren von Zerstörung könnten alles bedeuten von Kampf bis hin zu natürlichem Verfall. Ich ließ den Blick über den rostigen Teekessel schweifen und den löchrigen alten Teppich mit dem orientalischen Muster. Der dunkle Holztisch wies viele dunkle Flecken auf, von denen ich gar nicht wissen wollte, woher sie stammten. Manche sahen aus, als wäre hier Blut geflossen, auch wenn ich nicht den vertrauten Geruch nach Eisen der üblicherweise von Blut ausging wahrnehmen konnte. Meine Nase schien verstopft vom Staubgeruch. Der Geruch vergessenen Lebens.
Und irgendwann wirst auch du so enden, flüsterte mein Verstand mir zu.
Ich musste hier raus. Dringend.
Als ich stolpernd meinen Weg in Richtung Haustür suchte, stieß ich eine Vase um. Vertrocknete Blumen rieselten zu Boden nebst einem Geruch nach fauligem Blumenwasser. Immerhin - Sinn für Romantik oder Dekoration hatte der Alte gehabt. Dem Blick auf verstaubte Porzellan-Hirsche nach, die trotz Staubschicht definitiv ansprechender waren als die Jagdtrophäen, die strengen Glasauges den Verfall des Hauses zu überwachen schienen.
Ich war froh, als ich endlich den gruseligen Türknauf zwischen meinen Fingern spürte. Wollten die Jungs etwas Essbares finden, würden sie selbst dieses Haus auf den Kopf stellen müssen. Ich könnte es nicht. Ich musste hier raus. Einfach nur raus. Die fremden Erinnerungen schienen mich erdrücken zu wollen.

Das Haus

Zwei verrostete, schräg emporragende Pfosten erinnerten daran, wo einst das Eingangstor gewesen war.
Unkraut überwucherte die verbliebenen Metallstreben des Zauns.
Auch der Boden war weitgehend mit Grün bedeckt, nur gelegentlich ließen sich einstige Kacheln des Gehwegs noch erahnen.

Eine Seite des Hauses wurde von den unzähligen Blättern der Sträuche und Bäume verdeckt, die sich über viele Jahrzehnte immer weiter ausgebreitet hatten. Die andere Seite war nur deshalb nicht zugewuchert, da ein Blitz offensichtlich in einen Baum eingeschlagen war und einen Teil der Vegetation verbrannt hatte. Auch am Haus zeigten sich noch Brandspuren. Ansonsten wirkte die Farbe grau. Blätterte ab.
Ein trister Anblick.

Erst, wenn man um das Haus herumging und den rückliegenden Garten sah, ließ sich erahnen, dass dies einst ein heimeliger Ort gewesen war:

Eine Terrasse mit Springbrunnen, eine Hollywoodschaukel, gußeiserne Gartenmöbel.

Verfallen, doch noch erkennbar, regten die Fantasie an.

Dieses eine Haus hatte Glück gehabt, es war nicht zerstört, nur verlassen worden. Von der Existenz des Nachbarhauses zeugten lediglich überwucherte Steinhaufen und Schutt, denn es war im Krieg von einer Bombe getroffen worden.

Schirmlampengespenster

Ich schluckte unbehaglich und blickte auf die grüne Tür vor meiner Nase. Ein Nagel steckte in ihr und von ihm baumelte ein Deko Frosch, der mir freundlich in die Seele blickte. Was machte ich eigentlich hier? Was erhoffte ich mir davon gerade jetzt diese Wohnung zu besuchen, wo ich doch jahrelang dazu Gelegenheit hatte? Meine Augen huschten wie von selbst nach links und tatsächlich fanden sie, was sie erwarteten. Ein grünangemaltes Tonschild auf dem verschnörkelt unser Nachname stand. Mein Blick blieb einige Sekunden daran hängen, denn ich hatte damals bei der Anfertigung geholfen. Nun war ich aber nun mal hier und wenn ich mein Vorhaben durchführen wollte, brachte es nichts, Zeit zu schinden.

Ich kramte meinen Schlüsselbund aus meiner Jackentasche hervor und begann nachdem richtigen Schlüssel zu suchen. Es war ein Zweitschlüssel, den mir meine Oma geschenkt hatte, um auch in die Wohnung zu kommen, wenn sie gerade nicht da war. Und das war sie nicht. Es fiel mir nicht sonderlich schwer, besagten Schlüssel zu finden, da er mir durch grünen Nagellack erkenntlich gemacht wurde. Stirnrunzelnd sah ich meiner zitternden Hand dabei zu, wie sie sich auf das Schlüsselloch zu bewegte. Es klickte. Erleichterung machte sich in mir breit, als ich lächelnd feststellte, dass sie das Schloss nicht gewechselt hatte.

Die Tür öffnete sich nach innen, was dazu führte, dass der Deko Frosch an seinem Nagel hin und her schwang, als würde er mich in die Wohnung winken. Mich sammelnd, blickte ich hinab auf die grüne Fußmatte vor mir. »You’re welcome« stand darauf. Ob Oma auch so von mir sprechen würde, wenn sie wüsste, dass ich heimlich in ihrer Wohnung rumschnüffelte? Jetzt war es sowieso zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Ich trat nach vorne, der Deko Frosch sauste an mir vorbei, die Tür fiel hinter mir zu und ich war in der Wohnung.

Das Erste, was einem Fremden auffallen mochte, wenn er die Wohnung betrat, war, dass sie außerordentlich grün war. Exzentrisch hatten meine Eltern abwertend gesagt, interessant hatten ihre Nachbarn kommentiert. Aber da ich im Grunde kein Fremder war, stellte ich lediglich fest, dass sich nichts geändert hatte. Das dachte ich jedenfalls.

Ich stand im Flur und zog aus Gewohnheit meine Schuhe aus. Dann stellte ich sie in den Schuhschrank, der hinter der Tür gewesen war. Oma hatte ihn billig erstanden und später eigens bemalt. Das war vor meiner Geburt gewesen. Damals als Oma noch mit Opa und Vater in einem Haus auf dem Land gewohnt hatte. Er musste einmal schwarz gewesen sein, wie man an den Griffen erkennen konnte, wo die grüne Farbe allmählich abblätterte. Vater hatte mal erwähnt, wie schlecht der bemalte Schrank zum Rest des Hauses gepasst hatte, aber hier fügte er sich nahtlos ein. Ich hatte das Landhaus nie gesehen, aber konnte mir meine Oma auch gar nicht in einer Umgebung vorstellen, die nicht einheitlich grün war. Meiner Meinung nach vermittelte der Schrank ein gutes Bild über Omas Person. Sie hatte eine Waldlandschaft auf ihn gemalt und in der Mitte des Schrankes war ein roter Fliegenpilz abgebildet, auf dem ein fröhlich grinsender Frosch hockte. Wenn man die Schranktür öffnete, teilte sich der Pilz in der Mitte und man fand einen Fliegenpilz in der linken Schrankinnentür und einen zwinkernden Frosch auf der rechten. Der Schrank musste ihr recht wichtig sein, denn er war einer der wenigen Dinge, die sie nach Opas Tod mit in ihre Wohnung genommen hatte.

Ich schloss die Schranktür und drehte mich dem Raum zu. Ich stand auf einem hellgrünen Teppich, der sich weich unter meinen Füßen anfühlte. Links von mir befand sich der Schuhschrank und rechts hing ein großer Wandspiegel, daneben stand ein Jackenständer. Sonst war im Flur nicht viel. Ich ging langsam durch die Räume. In der Küche standen umgedrehte Marmeladengläser, zum Auskühlen. Anscheinend hatte sie gestern noch Marmelade gemacht. Damals tat sie das häufiger und hatte mich das ein oder andere Mal zum Helfen engagiert. In der Spüle stand dreckiges Geschirr. Sie hatte es nicht mehr weggeräumt. Ich ging ins Wohnzimmer. Von hier hatte man eine gute Aussicht auf ihren kleinen Garten. Ein Gewächshaus und ein Hochbeet ließen sich von hier erkennen. An den Wohnzimmerfenstern hingen grasgrüne Vorhänge und auf den Fensterbänken standen Pflanzen, die einen gesunden Eindruck machten. Vielleicht hatte Oma sie gestern Morgen noch gegossen.

Ich hielt inne, als mein Blick den Ledersessel neben dem Fenster streifte. Er war nicht grün, sondern braun und hatte mal meinem Opa gehört. Als Kind hatte ich mich oft zusammen mit Oma hineingesetzt, und in den Garten geblickt, während sie mir etwas vorlas. Einmal, als es abends schon früh dunkel wurde und ich nicht schlafen konnte, weil es gewitterte, hatten Oma und ich zusammen aus Papier lauter Gespenster geschnitten und diese auf den Schirm einer Stehlampe geklebt. Wenn man dann das Licht anmachte, flogen an der Decke lauter Geister, was mich wunderbar vom Gewitter abgelenkt hatte, bis ich schließlich in Opas Sessel neben Oma eingeschlafen war. Seitdem war der Lampenschirm mit den Gespenstern immer da gewesen, doch jetzt hing an der Lampe ein gewöhnlicher Schirm. Wahrscheinlich war es unpraktisch den Gespensterschirm zu verwenden, der weniger Licht spendete, doch ein Teil von mir fühlte sich enttäuscht.

Nach und nach fielen mir mehr Dinge auf, die fehlten. Ein Foto, von uns, dass immer auf ihrem Nachttisch gestanden hatte, Bilder die ich als Kind für sie gemalt hatte und die früher stolz an den Wänden hingen. Selbst die grünen Topflappen, die ich mit viel Mühe und Not für sie gehäkelt hatte, waren nicht mehr aufzufinden.

Nun stand ich wieder im Flur und blickte nachdenklich auf den Teppich, während ich mir schmerzhaft vor Augen führte wie viel Zeit vergangen war, seit ich mit meinen Eltern weggezogen war. Ich hatte noch ein paar Mal mit ihr telefoniert, doch auch das wurde zunehmend weniger als mein neues Leben mehr und mehr meiner Aufmerksamkeit verlangte. Und was hatte ich auch erwartet? Dass die Zeit einfriert, als wäre ich nie fort und wir säßen immer noch bei Gewitter unter der Gespensterdecke? Schnaufend rieb ich meine Nasenwurzel und legte mich mit dem Rücken auf den Teppich. Nein, ich konnte meine Oma gut verstehen. Wahrscheinlich hatte sie all die Sachen längst weggeschmissen und wer könnte es ihr verübeln. Natürlich war in gewisser Weise vieles gleich geblieben, wie das Tonschild an der Tür, das Schloss, der Sessel, der Schuhschrank und der Farbe Grün, doch in den kleinen Dingen spürte man die Distanz und das war allein meine Schuld.

Plötzlich vibrierte es in meiner Jackentasche. Erschrocken nahm ich den Anruf an, in dem eine Sekretärin des Krankenhauses mich darüber informierte, dass meine Oma nun aufgewacht sei. Tiefe Dankbarkeit überkam mich. Jetzt würde ich doch noch die Gelegenheit haben, meiner Oma wieder näher zu kommen. Ich riss den Schuhschrank auf und griff nach meinen Schuhen. Innerlich war ich schon wieder auf dem Rückweg zum Krankenhaus, weswegen meine Bewegungen unbedacht waren und eine smaragdgrüne Box aus dem Schrank fiel, die ich vorher gar nicht wahrgenommen hatte, aber wohl neben meinen Schuhen gestanden hatte.

Ich war vor Überraschung in der Bewegung erstarrt, aber jetzt überkam mich die Neugierde. Ich öffnete die Box und das Erste, was mir ins Auge fiele, war der Schirm mit den aufgeklebten Gespenstern. Vor Unglauben fing ich an zu lachen und als ich nach und nach all die anderen Dinge entdeckte, die ich zuvor in der Wohnung vermisst hatte, konnte ich mein Glück kaum fassen. Ich nahm den Lampenschirm in die Hand und ließ den Moment einige Sekunden auf mich wirken. Dann zog ich meine Schuhe an, räumte die anderen Dinge wieder in die Box und die Box in den Schuhschrank. Kurz darauf eilte ich aus der Wohnung mit dem Lampenschirm und der vagen Idee diesen über die Lampe in Omas Krankenhauszimmer zu stülpen. Der Deko Frosch winkte mir fröhlich hinterher.

Das Schlafzimmer

Er stieß die Tür mit seinem Handrücken ein Stück auf, aber nur so weit, dass sie nicht an den großen Schrank stieß - so wie sie es unweigerlich tat, wenn man sie in Wut oder kindlicher Unvorsichtigkeit bewegt hatte. Schließlich war das Möbelmonster ein paar Zentimeter zu breit, um einen vollständige Öffnung der Tür zuzulassen. Wer sich damals vermessen hatte, blieb ungeklärt. Er glaubte, dass es der Vater war, der es aber nie hatte zugeben können. Wie so oft, wenn er nicht recht gehabt hatte.

Der Vater hatte die beiden Schrammen von damals offensichtlich mit einigem Aufwand ausgebessert, denn Tür und Möbeloberfläche wirkten wie neu. Dass das so war, war ihm zuvor nie aufgefallen.

Die Schrankwand auf der rechten Seite des Zimmers stand in ihrer ganzen Wucht da wie immer. Doch er war nicht mehr das kleine Kind, das ihm heimlich und mit pochendem Herzen gegenüberstand. Denn dieses Zimmer war immer tabu gewesen. Es war das „Geht-dich-nichts-an-Zimmer“. Betreten hatte er es aber dennoch, wenn auch selten. Und wenn, dann nur wenn die Eltern nicht da waren. Wohlgefühlt hatte er sich darin nie. Die Neugier war nur manchmal größer als die Furcht vor Ärger mit den Eltern.

Bett. Nachttische. Schrankwand, es war alles aufeinander abgestimmt, gehalten in dieser rotbraunen Cremefarbe, die Holz vortäuscht und doch nur gelackte Geschmacklosigkeit war. Eben das, was auch heute noch in vielen 08/15-Hotels verbaut wurde. Nicht, dass es edel aussah, oder besonders hübsch. Keine Handwerkerarbeit. Möbelfabrikware. Aber sie war zweckmäßig. Und abwischbar. Das war bei der Auswahl wichtig gewesen.

Sein Blick fiel in den Spiegel, der sich über zwei der vier Schiebetüren des Schranks erstreckte. Darin sah er den Rest des Zimmers, mit Ausnahme dessen, was er mit seinem Körper verdeckte. Und mit Ausnahme des wuchtigen geschnitzten Holzkreuzes, dessen Umrisse sich noch auf der Tapete abzeichneten. Der Vater musste es abgehängt haben.
Das Bett zur Türseite war gemacht, die Decke makellos glattgezogen, so wie es die Mutter immer getan hatte.

Er drehte sich um. Die andere Seite des Bettes war benutzt, aber nicht unordentlich. Die Schlafdecke war zurückgeschlagen und hing etwa zu einem Drittel über dem Fußteil des Bettes. Das Kissen war am Kopfende aufrecht gestellt. Wahrscheinlich hatte das jemand vom Bestattungsinsittut gemacht, als man den Vater mitgenommen hatte.

Ob der Vater gern in dem Schlafzimmer weitergelebt hatte, nachdem die Mutter nicht mehr war? Er hatte ihn nie gefragt. Er hatte sich das auch vorher nie gefragt, wenn er ehrlich war.
Die Möbel hatte die Mutter damals ausgesucht. Das hatte der Vater damals ihr überlassen, wie alles andere im Haushalt. Außer staubsaugen, das war ihm wichtig, und darin war er unübertroffen gründlich.

In der Ecke neben dem Fenster stand jetzt einer dieser unbequemen Holzstühle, die früher zum Esstisch gehört hatten, irgendwann ausrangiert, aber dann nie weggeben worden waren. Sie wanderten auf den Dachboden, zusammen mit all dem anderen Kram, von dem man ja nie wusste, ob man sie nochmal brauchen werden würde.

Der Stuhl war ein Fremdkörper in diesem Zimmer, in dem jedes Teil zum anderen passte, sogar der Einband der Bibel, die akkurat vor dem Nachtischlämpchen der Mutter lag und seit ihrem Tod nicht einen Zentimeter von dort bewegt worden war, war in diesem Farbton gehalten.

Auf dem ehemaligen Küchenstuhl hatte der Vater zuletzt abends seine Tageskleidung abgelegt. Die Mutter hätte das nie geduldet. Jetzt war es egal. Denn auch Hemd, Hose und Strickjacke lagen längst nicht mehr über der Lehne. Er hatte den Bestattern gesagt, dass sie sie dem Vater anziehen sollten. Es seien seine Lieblingsstücke gewesen. In Wirklichkeit hatte er nicht gewusst, ob das stimmte. Aber das war ja jetzt auch seine kleinste Sorge.

Der Dämon sitzt mit dem Rücken zur Wand gleich neben der Standuhr. Ein altes Modell – die Standuhr –, das Holz sorgsam poliert, funkelnd im Dämmerlicht, die Zeiger sogar im Takt von Stunde und Minute gehend, aber mit aufgestemmtem Glasschrank.
Ein Dieb ists gewesen: beim Anblick des schimmernden Goldes gierig geworden, doch zuletzt vom schieren Gewicht abgehalten? Leiser Sohlen ist er gekommen, hat die Tür zum Zimmer sogar offen vorgefunden und ist wieder gegangen – unverrichteter Dinge abgezogen.
Wäre das Zimmer nicht blitzblank geputzt, die Spuren – solche von Schuhgröße 39 – wären noch im Staub zu sehen.
Vielleicht aber ist unser Dieb auch vorm Dämon zurückgeschreckt, jenem auf Hochglanz polierten Götzen, dessen Maske zum Zähnefletschen gereizt ist und dessen glutrote Knopfaugen im Dunkeln leuchten, als brenne ein kaltes Feuer in ihnen. Der jeden Interessenten gleich abschätzig lächelnd begrüßt. Des übergangenen Goldes wegen mögen wir den Dieb schelten und ihn sogar fragen, ob er sich seiner Profession vielleicht schämt, nicht wenigstens einmal am Pendel gezerrt zu haben, aber, dass er jenen hässlichen Teufel hat sitzen lassen, das wollen wir ihm doch als guten Geschmack anrechnen. Und dass er das Zimmer auch sonst hat unberührt gelassen, zeugt wohl von einem glücklichen Händchen.
Was auch stehlen?
Die vielen Masken, die nur das Überbleibsel eines traurigen Theatersortimentes sind – nachdem sich alle Schausteller ihre Lieblingsstücke herausgenommen hatten und also dem Hausmeister vergönnt gewesen war, einen Platz für die Reste zu finden? (Denn das Maximus Hilarius hat ja leider, leider dichtgemacht – nach dem Unglück, ja.) Die Masken also, die jetzt an den Wänden hängen, kreuz und quer, krumm und schief, manche gar überkopf – allesamt lieblos befestigt an rostigen Nägeln?
Oder die um runden Draht herum vielfarbig gestrickten Schnüre? Wohl solchen scheußlichen Traumfängern nachempfunden, die selbst erst jene Träume gebären, die sich dann im beißenden Farbspiel hoffentlich verfangen.
Die um einen Bettpfosten geschlungenen wertlosen religiösen Kinkerlitzchen vielleicht: Kreuz-Kette, Kreuz-Armband, Magischer-Stein-Schmuck?
Das altbackene Bett selbst? – ein kleiner Scherz. Entschuldigung.
Den kleinen Beistelltisch? – offenbar unmittelbar aus Sperrholz gefertigt und im Laufe vieler unbarmherziger Jahre bereits grauer geworden als so mancher gescheiterter Zirkusclown. (Nein, wirklich es tut mir leid ums Hilarius. Schreckliche Sache.) Die alten, zerfledderten Zeitungen obenauf? (Müssen wirklich furchtbar interessant gewesen sein, so zerlesen sie sind.)
Den Schreibtisch? – nicht einmal mit genügend Selbstvertrauen ausgestattet, um im Zimmer zu stehen, nein, gegen die Wand geduckt, scheinbar erdrückt vom Gewicht des riesigen Spiegels auf dem Buckel! Den Spiegel – wirklich? So angelaufen der ist, macht er noch jeden Betrachter zum gehörnten Dämon!
Vielleicht aber den Kronleuchter? – groß und schwer, vierarmig, gedreht und gedrechselt, von mattem Glanz mit auffallenden Ziselierungen, aber leider alle Halterungen von Wachs verklebt. Außerdem: Unser Dieb hätte schon ein Hüne sein müssen, um den Kronleuchter zu erreichen – und Schuhgröße 39 macht keine Hünen.
Nein, der Dieb verließ das Zimmer aus gutem Grund unverrichteter Dinge – dem Dämon ist noch keiner zu nahe gekommen!
Was denn? Was in den Schubladen des Schreibtischs ist, wollt ihr wissen? – Guckt doch selbst nach, ha! Unser Dieb jedenfalls hat sie zugelassen und ich weiß, er tat gut daran!
Und jetzt still! – da sind Interessenten an der Wohnungstür und ich will sehen, ob sie dem Dämon an sein Geheimnis gehen!

Die Hütte

Dicht umschließt Efeu, morsches Holz. Der Duft von feuchtem Wald verbindet sich mit Modergeruch, der von der im Verfall begriffenen Hütte ausgeht. Neben der Eingangstür hat sich ein Fensterrahmen aus der Wand gelöst. Er ragt schräg, von einer verrosteten Schraube und den grünen Efeuranken gehalten, halb aus der Fassade. Spinnennetze und Staub bedecken das Glas, wo es noch vorhanden ist. Hinter den Scherben breitet sich der Raum aus, in dem ich mich als Kind so beschützt gefühlt hatte.
Vor drei Wochen hat mich der Brief vom Anwalt meiner Eltern darüber informiert, dass ich Eigentümer, der Hütte bin. Ich wusste nicht, dass wir die Hütte noch besitzen. Innerlich war ich davon ausgegangen, dass sie, wie fast alles, was meine Eltern besaßen, genauso ihrer Alkoholsucht, die ihnen auch das Leben kostete, zum Opfer gefallen war. Aber diese Hütte, in der ich die glücklichsten Zeiten meiner Kindheit verbracht habe, haben sie behalten. Vielleicht hatten sie einfach vergessen, dass sie das Grundstück gekauft und die Hütte mit, damals noch vorhandenen Freunden, selbst gebaut hatten. Vielleicht war es aber auch zu anstrengend gewesen, sich um einen Verkauf zu kümmern.
Ein Kranich schneidet mit seinem schrillen Schrei, der vom nahen Seeufer herüberschallt, meine Gedanken ab. Ich löse den linken Riemen meines Rucksackes, schlinge meinen Arm aus dem Träger und schwinge den Packsack vor meine Brust. Das Geräusch des Reißverschlusses lässt eine Spatzenfamilie, wütend schimpfend, aufsteigen, die meine Anwesenheit bisher geduldet hatte. Die Zähne des Innenreißverschlusses schaben über den Rücken meiner Hand, als ich nach dem Schlüssel suche. Nachdem der Rucksack wieder auf meinem Rücken gezurrt ist, betrachte ich kurz das kalte Metall, in meiner Hand und das Schloss, dass angesichts des modernden Holzes und der teilweise zerstörten Fenster, überflüssig wirkt. Natürlich wäre es ohne weiteres möglich das Haus ohne aufzuschließen zu betreten und es wundert mich ein wenig, dass es in all den Jahren anscheinend niemand gemacht hat. Vielleicht hatte der verwitterte, von der Natur schon fast voll eingenommene Zaun Respekt vor dem Eigentum anderer aufkommen lassen. Vielleicht herrschte hier in der Einsamkeit der Natur noch ein Respekt, der in Städten verloren gegangen zu sein scheint. Ich schüttele den Kopf, um mich von den überflüssigen Gedanken zu befreien, die mein Gehirn mir eingibt, schiebe eine Efeuranke beiseite und stecke den Schlüssel in das Schloss. Widerstand ist das Einzige, was ich erwarte, doch der Schlüssel dreht sich erstaunlich leicht. Das Schnarren des alten Metalls überträgt sich auf das morsche Holz. Ein dumpfes, kaum hörbares Konzert, alter, in Schwingung geratener, Holzfasern tönt von der Tür. Mit einem klacken, durch das der Einlass in Schwingen versetzt wird und einige Staubkörner von sich abwirft, gibt der Riegel die Tür frei. Ich lege meine Hand an den Rahmen und drücke sie auf. Überall glitzern Staubpartikel im Mittagslicht, das gebrochen durch die Fenster fällt. Strahlen und Lichtbalken durchströmen den Raum. Vor mir liegt die Fußmatte, die wir damals von einem Urlaubsfoto haben machen lassen. Es zeigte einmal eine Bucht, an dessen Horizont Segelboote über das Meer glitten. Nun zeigte es nur ein uneinheitliches Grau, das mit erdigem Braun bedeckt war. Unter meinen Füßen stöhnt eine Holzbohle. Es war ein anderes Knarren, heller und schnarrender als zu meiner Kindheit. Oft habe ich mich nachts noch einmal in den Wohnraum geschlichen. Ich kannte jede Knarrende Stelle, verfluchte sie, wenn ich nachts auf sie trat und daraufhin Geräusche aus dem Schlafzimmer meiner Eltern kamen, aber eigentlich mochte ich das Geräusch, es gab mir Sicherheit, die Sicherheit in einem realen Raum zu sein, die Sicherheit, wirklich zu existieren. Mein Wissen über die leisen und die lauten Stellen, stärkte mein Selbstbewusstsein. Das Prinzip der Selbstwirksamkeit, habe ich häufig bei Klienten, die wegen Ängsten in meine psychologische Praxis kommen angewendet. Auch durch kleine Dinge, kleine Versicherungen unseres Gedächtnisses, können wir uns, unser Selbst vergewissern.

Wenn ich bei meinen nächtlichen Spaziergängen nicht auf dem Weg zum Kühlschrank war, suchte ich meistens das kleine Bücherregal neben dem Kamin auf. Seine einst penibel horizontalen Bretter waren zu Schrägen geworden waren, auf denen Mäuse sich mit Rutschen vergnügen konnten. Auf der einen Seite hängen sie noch an ihrem Seitenteil. Die rechte Seite musste irgendwann nachgegeben haben. Vielleicht hatte sich auch nur das erste Brett gelöst, mit seinen, von Büchern beschwerten Gewicht, dann die anderen mit sich gerissen, bis das unterste von der, schon damals, alten Couch gestoppt wurde. Mit, unter mir knartschenden Bohlen, gehe ich zur rechten Wand, kniee mich in den Staub und streiche mit meiner Hand über das Sofa, deren Farben kaum zu erkennen sind, die großen Sonnenblumen, jedoch noch ihre Kontur zeigen. Ich hebe das Buch, das direkt vor mir liegt hoch. Beim Anheben teilt es sich in zwei Hälften, ein Packen Seiten fällt mit einem ploppenden Geräusch, als öffnet man eine Brauseflasche unter einem dicken Handtuch, auf das Sofa zurück. Staubwolken explodieren aus dem Sofa, wo die Seiten aufkommen. Ich betrachte die Staubpilze, während sie sich ausbreiten, auseinanderdriften, verteilen. Die obere Hälfte des einen Pilzes wird von einem Luftzug erfasst und Richtung Fenster gerissen, um sich dort weiter zu verteilen, bis keine Struktur mehr erkennbar ist. Der Luftzug kam aus dem alten Kamin, an dem wir fast jeden Abend gesessen hatten. Manchmal nur auf den alten Teppich zusammengeknäult, wie ein Haufen Spaghetti, Ma, mein Vater und ich, ineinander verschlungen, so dass von außen die Grenzen zwischen den einzelnen Körpern verschwommen sein mussten. Damals als Vater noch Schrieb und weniger trank als Mutter, noch Mutter war. Mein Blick fällt auf die alte Standuhr. Das schwere Pendel hatte sich irgendwann, in den Jahren des Verfalls gelöst, war auf den Boden der Uhr geknallt, dann nach vorne kippt und hat dabei die Scheibe zerbrochen, durch die ich ihr magisches hin- und herschwingen stundenlang beobachtet hatte. Nun Stach es wie ein Speer aus dem Kasten heraus, der sein erhabenes Aussehen aufgegeben hatte, von Rissen durchzogen, an vielen Stellen fehlte Holz, der als Staub auf den Boden gerieselt war. Auch Holzwürmer hatten ihren Weg in die alte Hütte gefunden, ihre einstigen Besitzer abgelöst.
Die Tür zur Küche war geschlossen. Mit knarrenden Schritten gehe ich durch den Raum, drücke die Türklinke nach unten, die unnatürlich weich nachgibt, das Schloss im morschen Holz nach oben hebelt. Beim Ziehen fühlt es sich an als würde ich das ganze Schloss aus der Tür ziehen aber die Tür gibt vorher nach, öffnet sich mit einem Knarren, als sie sich aus der Zarge löst. Kurz fürchte ich das sie mir entgegen fällt, aber dann schabt sie auf dem Boden und gibt den Blick in eine Voliere frei. Tauben hatten wohl den Weg durch die zerbrochenen Fenster gefunden. Überall liegen Kot und Federn. Ich schließe kurz meine Augen, auf denen die Bilder noch gebrannt sind und dann verschwindet der Schmutz, Federn, Kot, Staub, strömen aus dem Fenstern. Glasscherben fliegen wie an Fäden gezogen an ihren Ursprünglichen Platz. Risse in den Fenstern verschwinden. Holzfasern richten sich knatschend auf. Risse verschwinden und glatte Oberflächen machen den abstrakten Mustern Platz. Ich rieche den Kamin, der vom Vorabend noch warm ist. Ich sehe meine Mutter, wie sie den Wasserkessel auf den Herd stellt, Holzscheite, durch die kleine Klappe unter dem Kochfeld anzündet. Von draußen klingen die dumpfen Schläge in mein Ohr. Jedes Scheit das Vater zerteilt, wird sorgfältig auf den Holzstumpf gestellt, bevor die Axt auf ihn niedersaust. Klong, Klong. Ich sauge die Bilder, die Gerüche und Töne in mich ein, bevor ich die Augen öffne, mich umdrehe, die Küchentür vorsichtig wieder verschließe.
Bevor ich das Haus verlasse, werfe ich noch einen Blick auf die Treppe, die zu meinem Zimmer und dem Schlafraum der Eltern führt. Kurz denke ich darüber nach, die morschen Stufen zu betreten. Wahrscheinlich trägt sie mich eh nicht mehr. Ich wende mich zur Tür, nehme den Schlüssel wieder aus der Jackentasche, sehe ihn einen Augenblick an und stecke ich ihn dann tief in Tasche meiner Hose, in der die Erinnerungen, die an ihm kleben, sich mit meinem Körper verbinden. Vorsichtig schließe ich die Tür und schaue noch einmal auf die Balken, Bretter, Lack und Glas und ganz kurz, den Bruchteil eines Augenschlages steht alles wieder so stolz und prächtig da, wie ich es in Erinnerung habe. Dann drehe ich mich um und gehe in gerader Linie Richtung Norden, meinen Schatten vor mir hertragend. Nach einer Viertelstunde lichtet sich der Wald und vor mir liegt die Schneise, die sich immer weiter in ihn hineinfrisst. Bagger und Rodungsmaschinen stehen verlassen vor den schon gelegten Schienen, die sich bis zum Horizont zu ziehen scheinen. Nun ist es in Ordnung, nun können sie ihre Arbeit auch an dem Haus verrichten, alles, was ich aus ihm brauche, habe ich mitgenommen.

Nachhall
Er lehnt den Kopf gegen das rote Samtpolster eines der vorderen Parkettplätze. Allein in Reihe 4. Ein guter Platz, um nachzudenken und um zu begreifen, was geschah. Die Techniker haben Scheinwerfer um Scheinwerfer auslöscht, geräuschlos, und haben sich schweigend davongeschlichen. Nur die Bühne ist noch schwach beleuchtet, der Vorhang halb geöffnet. Der Zuschauerraum hinter ihm dehnt sich in bedrückender Düsternis. Er erschauert. Eben schlugen die letzten Türen im 2. Rang zu. In die dumpfe Stille hinein dringen abgerissene Klangfetzen aus dem fernen Foyer, Schwatzen, Lachen, Rufen. Die Geräusche verebben, versiegen schließlich ganz. Die Sitzreihen neben ihm zeichnen sich im abgedämmten Licht der Bühne fahl ab. Staub hängt in der Luft und verursacht Hustenreiz. Er atmet schwer, wischt sich mit dem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht. Durch den Spalt im Vorhang ist das Durcheinander der Szenendekoration erkennbar, verstreute Requisiten, ein fluchtartig zurückgelassenes Chaos. Entsetzt waren die Schauspieler in ihre Garderoben gerannt. Er presst die Hände gegen die Ohren, aber das Brausen im Kopf schwillt an wie ein böser Sturm. Beinahe körperlich spürt er den Nachhall der Buhrufe und gellenden Pfiffe.