Witterung
Es war eine perfekte Nacht. Viel Feuchtigkeit, kaum Wind. Ich spürte sekündlich , wie ich wuchs, mich verdichtete, bis ich kaum noch von Licht durchdrungen wurde und eine stattliche Größe angenommen hatte. Nachdem dies vollbracht war, dehnte ich mich in alle Richtungen, stieg behände die Treppen empor, kroch über das regennasse Pflaster und schmiegte mich an die Knöchel und Kleider der Passanten, deren Säume ich mit kalten Fingern berührte. Viele der Röcke und Rockschöße waren aus dichtem Stoff gewebt und es bereitete mir einige Mühe, meine Feuchtigkeit in sie einsinken zu lassen, aber schließlich gelang es mir doch. Das Erschauern der Frauen und das leise Wimmern der Kinder, die ihre unterkühlten Händchen in den Stoff des Kleides ihrer Mütter krallten, entzückte mich außerordentlich. Zufrieden kroch ich weiter. Während ich mich wabernd durch die Straßen schob, bemerkte ich zu meiner Überraschung, dass der Wind zugenommen hatte, doch zu meinem Glück, die Kälte auch. Was sollte ich befürchten? Mein von feuchtem Dunst erfülltes Selbst war schon zu sehr angewachsen und verdichtet, als dass ein kleines Lüftchen mich zerreißen und mich um meinen Spaß bringen konnte. In der Tat begünstigte der Wind sogar mein weiteres Wachstum, füllte mich mit Luft, ließ mich ins gigantische Anschwellen.
Eine Weile ließ ich mich von ihm durch die nächtliche Stadt tragen, umspielte die Stämme der Bäume im Park und segelte über den schwarzen Fluten des Flusses, bis ich schließlich losließ und in einer engen, feuchten Gasse herabsank. Ob es Zufall war oder eine dunkle Vorahnung mich hier hergeführt hatte, kann ich im Nachhinein nicht sagen, aber für mich hatte die darauffolgende Begegnung etwas durchaus Schicksalhaftes. Kaum nämlich, dass ich dort angelangt war, kam ein Mann des Wegs. Er war groß und hager und führte einen kleinen Koffer bei sich, den er in seinen weiß behandschuhten Fingern hielt. Mit weit ausgreifenden, tänzelnden Schritten, ein kleine Liedchen pfeifend, tauchte er in mich ein. Ich war groß in dieser Nacht und abenteuerlustig und da mir seine raumgreifende Präsenz gefiel, umschmeichelte ich ihn mit aller Kühle, die ich aufzubieten hatte.
Seinen hageren Leib kroch ich hinauf, betastete seinen Kutschermantel und berührte sogar das glänzend Band seines Zylinders. Ich spürte, wir beide teilten die Aura des besonderen. Nie hatte ich mich mächtiger gefühlt, als in seiner Gegenwart. Plötzlich legte er den Kopf schief und lauschte. Auch ich bewegte mich nicht. Durch die Dichte meines dunstigen Selbst vernahm ich das Trippeln kleiner Füße. Kurz darauf hörte ich ein Knacksen auf dem Kopfsteinpflaster gefolgt von dem Ausruf einer weiblichen Stimme. Sie fluchte erst über den abgebrochenen Absatz ihres Schuhs und dann über mich, was mich noch immer in großen Stolz versetzt. Der hagere Mann mit dem Zylinder, bot ihr, ganz Gentleman, seine Hilfe an, so dachte ich, und die junge Frau in dem billigen Kleid mit dem Übermaß an Schminke im Gesicht, dachte das auch – bis der galante Gentleman sein schwarzes Köfferchen öffnete und ihm, unter meiner schützenden Decke, einen Gegenstand entnahm.
Das Licht ist mein Freund, hatte ich das schon erwähnt? Es durchdringt meine schwebende Gestalt und hebt Dinge hervor, die mir sonst verborgen blieben, so auch in diesem Moment. Ich blickte durch das vom Licht berührte Weiß und sah etwas Längliches in der Hand des Mannes aufblitzen.
Als ich danach tastete, fühlte ich die Kälte von Metall. Das Gesicht des Mannes unter dem Zylinder veränderte sich. Seine Augen, deren Glanz mein dichter Mantel nicht verbarg, zeigten ein aufgeregtes Glitzern, sein Mund lächelte hart. Mit der Geschmeidigkeit eines Violinspielers der den Bogen ansetzt, führte er die schmale Klinge seines Messers an die Kehle der jungen Frau und zog sie ihren Hals entlang. Nicht übertrieben schnell, aber gründlich. Eine nadelfeine Spur zeichnete sich auf dem Hals des Opfers ab. Dabei pfiff er sein kleines Lied, was meine Gestalt erbeben ließ.
Der Schrei der jungen Frau wurde zu einem Gurgeln, Blut lief ihr über die überschminkten Lippen und über das Dekolletee ihres weit ausgeschnittenen Kleides. Ihr mit Rosen geschmückter Hut rutschte von ihrem Kopf und zerstob in meinen Schlieren, gefolgt von ihrem fallenden Leib. Ich machte mich weich und durchlässig und empfing sie sanft in meinem Bett aus feuchter Kühle. Der Mann verstaute sein Messer in dem kleinen Köfferchen und beugte sich zu ihr und mir hinab. Er zupfte eine Rose aus dem Hut der Frau und steckte sie in das Revers seines Anzugs. Ich umwaberte ihn , umspielte seine Brust und Beine, ballte mich, um ihm zu zeigen, wie beeindruckt ich von der kalten Präzision war. mit der er seine Bluttat verübt hatte. Ich wusste, ich hatte ihm die Bühne für diesen Mord bereitet und somit Anteil an seiner gelungenen Darbietung. Und dann spürte ich, spürte bis in die tiefste Faser meines feuchtigkeiterfüllten Wesens, hier bahnte sich etwas Bedeutsames an, etwas Großes, etwas Einzigartiges.
Plötzlich zuckte mein Gentleman-Mörder zusammen. Er hatte etwas gehört, was ihn, wie ein gejagtes Tier, zusammenzucken ließ: Ein schrilles, durch mich hindurch dringendes Pfeifen. Polizei! Hastig nahm er seinen Koffer auf und lief mit klappernden Sohlen davon. Während er lief, kühlte ich seine schweißnasse Stirn. Er hatte so schwer gearbeitet und brauchte jetzt einen Moment der Ruhe. Sprechen konnte ich zu ihm nicht, aber ich konnte auf meine Weise zu ihm durchdringen.
„Beruhige dich mein Freund, mein Gentleman-Mörder, beruhige dich. Sie werden dich nicht finden. Ich verberge dich. Ich bin bei dir, jetzt und jede Nacht, du und ich, Meister und Komplize, Berühmtheit und Notwendigkeit, so lange bis mich die Winde von dir forttragen. Aber selbst dann werde ich wieder kommen. Ich komme immer wieder. Vielleicht schon Morgen. Und sie werden über uns schreiben, dich und mich, und die London Times und der Observer und all die anderen Zeitungen, werden ihre Auflagen erhöhen, dank dir und mir. Ich sehe die Schlagzeilen schon vor mir: „Brutaler Mord in Soho. Der Gentleman-Mörder hat wieder zugeschlagen. Nur der bleiche Mond war Zeuge und der Londoner Nebel.“