Jahreswechsel 1978/79
„Schneeflöckchen, Weißröckchen…“
„Chef, hörst du die Sehnsucht in den Kinderstimmen? Soll ich mal so richtiges Chaos verbreiten?“
„Ist dir langweilig oder was?“
„Wenn ich ehrlich bin, ja!“
„Leg mir erst das Konzept vor, danach entscheide ich.“
„Och Menno!“
„Nichts da! Ich weiß, was du anrichten kannst.“
„Ja, Schlittenfahrten, strahlende Kinderaugen, Schneemänner, verzauberte Landschaften…!“
„Das meine ich nicht und das weißt du auch! Ich sehe zusammenbrechenden Verkehr, überfüllte Krankenhäuser, erfrierende Menschen.“
„Ja, wenn die immer unterwegs sein müssen, sich nicht beherrschen können und einfach mal zuhause blieben, runterkämen.“
„Hast du denn schon mit Celsius gesprochen?“
„Der langweilt sich auch.“
„Okay, ich frag mal den Big Boss.Vielleicht brauchen die Menschen auch in Deutschland ja mal einen Dämpfer, damit sie kapieren, wie unwichtig sie im Grunde sind.“
„Geht klar, Petrus.“, strahle ich, denn jetzt hab ich ihn schon halb in der Tasche und warte ungeduldig auf die Entscheidung von ganz oben. Ich geselle mich wieder zu Celsius.
„Na, wie viel Grad sind es denn jetzt am Silvesternachmittag in Köln?“, frage ich ihn.
„Viel zu warm für einen Jahreswechsel, wenn du mich fragst. Der Regengott hat das schon mitbekommen und schickt riesige Schauer hinunter. Dann wird es kaum Feuerwerk geben. Und das sieht von hier oben doch so schön aus.“
„Ja, also, wie viel Grad sind es denn?“
„Plus 10°.“
„Dann wäre Schnee und Eis doch als Alternative ganz schön?“, zwinkere ich ihm zu und kitzele ihn mit einer Flocke an der Nase.
„Da sagst du was!“ In Celsius Stimme klingt Sehnsucht mit: „Durch hohen Schnee stapfende Familien, Jugendliche, die Schneeballschlachten machen. Kleinkinder, die Engel in den Schnee drücken. Schlitten, deren Kufen mit Speck wieder gängig gemacht, Schlittschuhe vom letzten Jahr, die anprobiert werden, um zu sehen, ob sie noch passen… Skibekleidung, die aus dem Keller geholt wird. Handschuhe, die paarweise gesucht und zurechtgelegt werden, die kratzenden Schals von Oma…“
„Du guckst zu oft in den Häusern der Menschen nach dem Rechten.“, frotzele ich und ein wenig Eifersucht schwingt mit. Ich muss ja immer draußen bleiben.
„Schnee und Eis, kommt ihr mal bitte wieder zu mir.“, höre ich Petrus Stimme.
„Ja, ich eile!“
„Also, Gott langweilt sich auch und er möchte gern nochmal überprüfen, ob die HeldInnen vom letzten Unwetter immer noch unverzagt alle Spuren beseitigen, Straßen wieder gängig machen, Schienen und Oberleitungen vom Eis befreien, Leben retten. Wer sich besonnen verhält, seine helfende Hand ausstreckt.“
„Prima, dann soll Celsius mal die Temperatur fallen lassen, ich gehe in Startposition!“, freue ich mich und der gefrorene Boden wird spiegelglatt. Die Feuchtigkeit in den Wolken wird zu Kristallen, fällt zunächst langsam, dann durch heftigen Wind angetrieben, immer schneller zu Boden.
Derweil in Köln:
„Sieh mal, wie es draußen schneit.“
„Ja, Wahnsinn, eben war es noch richtig warm und jetzt fallen nach den Regenschauern dicke Flocken vom Himmel!“
„Hoffentlich ist es nicht allzu glatt draußen; geschippt hat jedenfalls noch niemand draußen.“
„Hat ja auch wenig Zweck, es ist doch direkt wieder alles weiß.“
„Da hast du auch wieder Recht. Auf jeden Fall sollten wir einen Schirm mitnehmen, sonst sind wir klatschnass, bis wir bei meinem Bruder ankommen.“
„Den Nachtisch und den Sekt hast du schon eingepackt?“
„Ja.“
„Dann los.“
Das Paar kämpft sich durch das Schneetreiben bis zur Straßenbahn und versucht, nicht auszurutschen.
„Hoffentlich kommt die Bahn gleich. Mir ist schon richtig kalt. Der Wind ist aber auch fies.“
„Ich glaube, es kommt keine Bahn. Wir stehen hier schon 20 Minuten und sie hätte laut Fahrplan schon längst hier sein müssen.“
„Wir können ja bis zur nächsten Haltestelle laufen, dann werden unsere Füße wenigstens nicht zu kalt.“
„Ja, du hast Recht.“
So gehen sie Haltestelle um Haltestelle über den rutschigen Boden. Sie befragen andere Wartende, ob jemand etwas weiß. Ein Taxifahrer kommt schlingernd zum Stehen und verkündet, dass keine Straßenbahnen mehr fahren, weil die Oberleitungen durch das Blitzeis eingefroren, die Schienen mittlerweile unter dem Schnee begraben sind und er das Auto jetzt auch stehen lässt.
„Dann lass uns in der nächsten Telefonzelle meinen Bruder anrufen und wieder nach Hause gehen. Es hat ja offensichtlich keinen Sinn, wenn selbst die Taxifahrer ihren Dienst einstellen.“
So treten sie, die Mütze tief im Gesicht, ihren beschwerlichen Heimweg an, auf jeden Schritt achtend, sich von Laterne zu Laterne hangelnd, die Schirme längst zerlegt vom Wind. Sie halten sich aneinander fest, helfen anderen Ausgerutschten ironisch lachend mit einem „Guten Rutsch ins neue Jahr!“ wieder auf die Beine und kommen selbst irgendwie wieder zu Hause an.
Eine dicke Schneeflocke schaut vergnügt durch das Fenster der Haustüre und sieht ihnen beim Ablegen der vollgeschneiten Mäntel, Mützen und Schuhen zu, betrachtet die Pfützen, die sofort vor der Wohnungstür entstehen und sie nickt begeistert. „Genau so hab ich mir das vorgestellt.“
Das Pärchen reibt sich die kalten Hände, gießt sich einen Schnaps ein und packt anschließend die gut gekühlte Sektflasche wieder aus. Es wünscht einander ein frohes neues Jahr, denn Mitternacht ist überschritten. Gemeinsam schaut es aus dem warmen Zimmer nach draußen, doch kein Feuerwerk ist zu sehen, so dicht ist das Schneetreiben. Nachdenklich überlegt es:
„Was morgen wohl die Zeitungen für Schlagzeilen haben werden.“
„Köln
Ein dramatischer Temperatursturz auf minus 10 Grad, klirrende Kälte, Blitzeis und Schneefall stürzen Köln Neujahr 1979 in ein Chaos. Auf den Straßen geht nichts mehr, Flughafen und Zoo bleiben gesperrt, es gibt reihenweise Glatteis-Unfälle.“
„Brauhäuser und Kneipen bleiben wegen rutschiger Gehwege leer.“
„Das Streusalz bleibt bei Temperaturen unter -6° wirkungslos. Die Bevölkerung wird gebeten, die Gehwege selbst von Schnee und Eis zu befreien, die Berge aber sollen in Gärten geschippt werden und sich nicht am Straßenrand auftürmen.“
„Rettungskräfte sind pausenlos bei Unfällen, Frostschäden, Eiszapfen im Einsatz.“
„Die Polizei verfolgt am Friesenplatz nachts einen Nackten im Schnee. Es ist ein Taxifahrer, der aus dem Bett gesprungen ist, um einen Autodieb zu jagen.“
„65 „Entstörer“ der Gaswerke sind im Heizung-Dauereinsatz. Viele Kölner greifen wegen der Eiseskälte parallel zu elektrischen Geräten. Folge: Stromleitungen knallen durch. Der Nachschub mit Lebensmitteln stockt…“
„Der 1.FC-Köln sagt die Rückrunden-Partie gegen Braunschweig ab. Das Müngersdorfer Stadion ist unbespielbar: 15 Zentimeter Neuschnee.“
„Im Radio kommen auch auf türkisch und spanisch Durchsagen, ebenso an Haltestellen. Die Weihnachtsferien werden aufgrund mangelnder Transportmöglichkeiten kurzerhand um eine knappe Woche verlängert.“
„Die Mediziner gipsen Verletzte ein:„Eine neue Art von Eisbein“, wird geschmunzelt.“
Und amüsiert intonieren Celsius und Schnee und Eis: „Komm, setz dich ans Fenster, du lieblicher Stern, malst Blumen und Blätter, wir haben dich gern.“
Schlagzeilen zitiert nach Philipp Meckert in: Express 14. Januar 2019. Quelle: Express vom 9. Januar 1979