Im Auge des Betrachters
Zwei Verriegelungen am Boden. Sozusagen meine Bodyguards, meine Türsteher, die unbefugten Zutritt abwehren und über die kostbaren Erinnerungen in mir wachen. Nur versierten Benutzern gestatte ich einen Blick in mein mattschwarzes Innenleben.
In mir spulte sich einst das pralle Leben ab. Ob Familientreffen zu Weihnachten oder Urlaube am Meer oder in den Bergen. Ich habe Generationen von der Geburt bis ins Greisenalter begleitet. Ich hielt für sie Erinnerungen fest und dauerhaft wach.
Eine volle Spule rechts, die leere links und in der Mitte, ach, fließt ein Bach. Ach nein, ein Fenster ist es, über das sich ein zartes Rollo spannte. Ich hatte ein gepflegtes Äußeres, suggerierte gediegenen Wohlstand, war in Aktion stets sportlich und geschmeidig und doch vor jedem Einsatz entsetzlich aufgeregt. Was würde geschehen, wohin würde es diesmal gehen? Ich wurde mit einer neuen Celluloid-Spule geladen, aus der ein Zipfel einer wahrhaft genialen Erfindung hervorlugte. Man musste daran ziehen … ziehen, über Transporträdchen und das Fenster hinweg ziehen … weiter ziehen bis die leere Spule erreicht war. Dort wurde der Zipfel hingefriemelt und meine schwarze Seele sofort wieder in absolute Dunkelheit getaucht.
Bis hierhin konnte man meinen, ich sei ein schlichtes Gemüt. Doch Obacht, meine hohe feinmechanische Qualität, meine optische Genauigkeit offenbarte sich nur dem Kenner (alle anderen sollten tunlichst ihre Pfötchen von mir lassen!). Meine eigentliche Arbeit entzog sich dem Auge des Betrachters, sie geschah im Verborgenen. Aber hören konnte man sie. Meine Benutzer und ich mussten einander hundertprozentig vertrauen, ansonsten war all die Mühe vergebens. Belegbare Erinnerungen unwiederbringlich verloren, Aufträge geplatzt und statt Freudentränen gab es Tränen der Enttäuschungen, wenn einer von uns patzte.
Der Ablauf war aufwändig. Die Lichtstärke musste gemessen werden, die Entfernung geschätzt, die Pupillenweite meines einzigen, dafür hervorragend funktionierenden Auges bestimmt werden, genauso wie die notwendige Zeit, die ich mein Auge geöffnet halten sollte, um die spezielle Beschichtung des im Dunkeln harrenden Celluloids zu aktivieren. Dazu wurde der Auslöser betätigt, das satte „Klack“ feinster Mechanik bestätigte den Vorgang, und das Rollo gab das Fenster in meinem Inneren für einen Nu frei. Das konnte ich anschließend noch, je nach Länge des Filmstreifens bis zu 36 Male wiederholen. Währenddessen hatte sich das Celluloid auf den Weg von der rechten in die linke Spule gemacht, die nun, großes Seelentor auf, entnommen werden konnte. Um an die Erinnerungen zu gelangen, musste dieser belichtete Film in absoluter Dunkelheit aus der Spule entfernt werden und in einer Dose mit Entwickler baden gehen. Tatsächlich müssen auch Erinnerungen sich erst entwickeln und nicht selten gingen sie mit baden.
Heute wecke ich höchstens albenweise Melancholie über verwehte Ereignisse. Ich wurde überholt von digitaler Technik, die jeder bei sich trägt, allzeit bereit, weil sie klein und leicht ist. Der wohl größte Unterschied besteht in der Qualität der festgehaltenen Momente. Als ich vor einem Menschenalter als Sucherkamera mein erstes Licht erblickte, überlegte man noch, welches Bild der künftigen Vergangenheit würdig genug wäre, in einem Bilderrahmen oder in einem Album präsentiert zu werden. Heute ist die Auswahl beliebig, zuweilen belanglos, mitteilungssüchtig und bemisst sich als Memory in Byte, nicht in mentalen Erinnerungen.
Nicht was wir erleben, prägt uns, sondern das, was wir dabei empfinden.