Der Duft in der Küche
Als ich den Mann sah, der sich vorsichtig und unsicher dem Haus näherte, überschlugen sich meine Empfindungen. Ich war mir sofort sicher, jetzt kommt der Richtige.
Trotz der vielen Jahre, in denen sich niemand um das Haus kümmerte, waren die Scheiben in den Fenstern nicht blind. Meine Sicht war gut genug, dass ich nicht fürchten musste, mich zu täuschen. Aber ich wollte mich auch nicht täuschen. Ich wollte vom ersten Augenblick, in dem ich ihn sah, dass es wahr ist.
Sein Gesicht, die Form seines Kopfes und die Art, wie er sich bewegte, genau wie er. Da gab es keinen Zweifel.
Mehr als siebzig Jahre habe ich auf diesen Augenblick gewartet. So viele Jahre, in denen ich hoffte, dass sie doch noch zurückkommen würden. Aber sie kamen nicht.
Es kamen lediglich hin und wieder ein paar Leute, die ich nicht kannte. Meistens kamen sie nur einmal. Sie stahlen sich ein paar Gegenstände aus den vielen Zimmern, die das Haus hat, und verschwanden wieder. Zu mir in die Küche war aber nie jemand gekommen. Hoffentlich wird sich das gleich ändern.
Die Scheune gegenüber wird seit vielen Jahren von einem Bauern genutzt, der seinen Hof wohl in der Nähe hat. So gibt es ab und zu etwas Abwechslung für mich und den Rußgeruch, wenn das Heu eingefahren oder etwas davon abgeholt wird. Zum Glück war wenigstens er mir immer treu geblieben, der Rußgeruch. Er drang aus dem alten Herd und war mir über all die Jahre ein vertrauter und angenehmer Freund.
Die Gerüche der Kräuter waren anfangs so intensiv, dass nur der Ruß mit ihnen gleichziehen konnte. Mich nahm man dagegen kaum wahr. Doch schon bald nahm die Kraft der Kräuter ab und ihr Duft wurde weniger, bis er ganz verschwand. Dabei hätten der Ruß und ich sie doch so gerne behalten. Wenn man in einem Raum eingeschlossen ist, wenn niemand kommt, niemand den Raum mit Leben füllt, dann wird die Einsamkeit, für die, die bleiben, größer, mit jemand der geht.
Lange Zeit hegte ich die Befürchtung, dass mich auch der Geruch des Rußes verlassen könnte, weil er ebenfalls viel an Kraft verlor, aber dann stellte sich ein Zustand ein, in dem er verharrte. Zum Glück, denn ganz allein, hätte ich die Hoffnung auf einen Tag wie heute vielleicht längst verloren.
Ich schüttelte mich und versuchte, meine Gedanken in den Griff zu bekommen. Ich wollte nicht abschweifen, mich nicht verzetteln in Dingen, die jetzt nicht wichtig waren. Ich wollte ihn ansehen, seinen Anblick genießen. Doch seine Ähnlichkeit mit Reinhold führten meine Gedanken zurück in die Vergangenheit.
Ich sehe sie noch, wie sie am Tisch in meiner Küche standen und das Essen in die schon prallen Rucksäcke stopften. Die Mädchen hatten sich ihre wärmsten Sachen angezogen, in mehreren Lagen, sodass sie mollig aussahen, obwohl sie alle gertenschlank waren.
Reinhold war der Letzte, der die Küche verließ und draußen auf den Pferdewagen stieg. Vorher hatte er noch im Herd nachgeschaut, ob die Glut wirklich erloschen war, hatte die Fenster geschlossen und die Klappe des Brotfachs im Schrank zugedrückt. Als er die schwere Küchentür von außen zuzog, schloss er sie ordentlich ab. Als wolle er den Raum, in dem sich über Jahrzehnte das Leben der Familie abspielte, vor dem bewahren, was kommen würde.
Dann sah ich sie nur noch von hinten, wie sie, auf dem Fuhrwerk sitzend den Hof verließen. Alle sechs. Ihre Rucksäcke hielten sie fest umklammert. Das war jetzt alles, was sie noch hatten. Reinhold hatte schützend einen Arm um die Kleinste gelegt, während er mit dem anderen das Gefährt lenkte. Dann verschwanden sie aus meinem Blick.
Wenn ich es könnte, ich würde die Fenster aufreißen, nur, um ihn noch besser sehen zu können. Er ist jetzt schon nahe am Haus und wie es aussieht, hat er die Haustür ausgespäht, die irgendwann einmal aufgebrochen wurde. Ich sehe, wie er sie aufzieht, abwartet und sich dann doch hineintraut.
Ich warte und hoffe. Wird er den Weg zu mir finden? Wenn ich richtig damit liege, wer er ist, und ich bin mir sicher, dann wird er wissen, wie er die Tür zur Küche aufbekommt. Schließlich ist er ein Teil von Reinhold, meinem geliebten Reinhold.
Dann höre ich Geräusche vor der Tür, ein Schlüssel, der ins Schloss gesteckt und umgedreht wird. Er hat das Versteck des Schlüssels also tatsächlich gefunden. Und so schnell. Wahrscheinlich ist die Diele über die Jahre morsch geworden, sodass er es leicht hatte ihn zu finden.
Ich zittere vor Aufregung.
Dann schwingt die Tür langsam auf und er steht im Türrahmen. Direkt vor mir. Spätestens ist jeder Zweifel ausgeschlossen. Ich sehe ihn an. Und ich rieche ihn.
„Reinhold “, denke ich, „Du hast mich nicht vergessen.“
Ich bin glücklich.
Er betritt jetzt die Küche, schaut sich um, orientiert sich. Sein Blick bleibt auf dem alten verrosteten Herd hängen. Er geht zu ihm hinüber, berührt ihn mit den Fingerspitzen, vorsichtig, als fürchte er, ihm wehtun zu können. Genauso macht er es bei dem Schrank aus grobem Holz, der sich in den vielen Jahren eine ansehnliche Staubschicht zugelegt hat. Er zieht die Klappe des Brotfachs auf, schaut kurz hinein und drückt sie dann wieder zu.
Dann geht er zu dem großen Esstisch, wisch in einem kleinen Bereich die Platte frei und zieht den massiven Stuhl davor etwas in den Raum hinein. Die Sitzfläche säubert er gründlicher, bevor er sich darauf niederlässt. Der Staub oben auf der Rückenlehne scheint ihn nicht zu stören.
Er sitzt mit geradem Rücken da und hat seine Hände auf die Tischplatte gelegt. So, wie Reinhold immer dort gesessen hat. Auf demselben Stuhl.
Er schließt die Augen, atmet flach, so, als wolle er die Luft nicht verwirbeln. Vielleicht lauscht er, aber es ist still im Raum. Selbst die Fenster, die sonst bei jedem Windhauch klappern, verhalten sich ruhig.
Und dann passiert, was ich niemals für möglich gehalten hätte. Er saugt die Luft in der Küche mit einem tiefen Atemzug ein und – stutzt. Wie von der Tarantel gestochen springt er auf, schaut sich um, geht in jeden Winkel des Raumes und schnuppert. Er riecht etwas, das ihm vertraut ist.
Er hat mich entdeckt.
„Oma“, sagt er mit zittriger Stimme „ich rieche deinen Geruch. Das ist ja Wahnsinn. Ich bin hier in deiner alten Küche und kann dich riechen.“
Er muss schluchzen, setzt sich zurück auf den Stuhl und hat Tränen in den Augen. Dann weint er wie ein kleiner Junge.
Es sind die Erinnerungen, die ihn überwältigt haben. Dann sagt er endlich wieder etwas. Ich höre ihm zu und sauge jedes Wort auf.
„Ich hätte nie gedacht, Oma, dass ich den Duft deiner Haut noch einmal riechen würde.“
Er schweigt für einen Augenblick, zieht wieder prüfend die Luft durch seine Nase, während seine Gedanken in eine längst vergangene Zeit reisen.
„Ich war sechs Jahre alt, als du gestorben bist. In der Nacht, bevor ich eingeschult wurde. Bis kurz davor warst du es, die immer für mich da war. Ich erinnere mich noch gut, dass mich der Duft deiner Haut noch lange begleitet hat. In Träumen, aber auch, wenn ich wach war. Er war für mich ein Wohlgeruch, ein Aroma, auf das meine Schleimhäute reagierten. Doch als ich erwachsen wurde, verlor sich dieses Empfinden. Ich habe oft nach ihm gesucht, hätte es gerne noch einmal erlebt, ihn aber nicht mehr gefunden. Dass ich ihn jetzt, so unerwartet doch noch fand, ist für mich wie ein Wunder, das mich mehr als glücklich macht.“
Er hält inne, sitzt mit feuchten Augen da und genießt die Erinnerungen an seine geliebte Oma.
An Selma.
Und an mich.
Denn ich bin der Duft ihrer Haut, eine unaufdringliche Mischung aus Schweiß, Seife und ein wenig Parfüm.
Reinhold hat mich geliebt, wie sein Enkel auch, dessen Namen ich noch nicht einmal kenne, aber der mir so vertraut ist.
< >