Seitenwind Woche 3: Dufte

Zeitreise
An manchen Tagen ist es Kernseife. Kernseife kribbelt ganz tief drinnen in der Erinnerung. Sie liegt unter vielen, vielen anderen und ist sehr, sehr alt. Sie schießt mich zurück in das Jahr, in dem fünf war und allein auf dem großen Flur meines Kindergartens stand. Ich war nie ein Fan vom Kindergarten. Und auch nicht vom Geruch da. Kernseife. Rieche ich Kernseife, bin ich fünf Jahre alt, allein und unglücklich.
Kaffee ist weicher. Kaffee lässt mich immer ein bisschen an meine Oma denken, die mir verbotenerweise ganz dünnen Kaffee mit viel zu viel Milch und Zucker in einer kleinen Tasse vor die Nase gestellt hat, damit ich meine Kekse eintunken konnte. Das war großartig. Kaffeekekse waren großartig.
Dann ist da noch der unheimlich aromatische, warme Duft von Heu. Viele, viele Jahre lang haben wir im Sommer das Gras auf der großen Wiese hinter dem Haus gemäht und getrocknet. Und dann, im Hochsommer, wurde es auf den Heuboden geschafft und dort gelagert. Die Luft flirrte an diesen Tagen vor Hitze und der winzig kleine Staub, der in der Sonne glitzerte, kitzelte wahnsinnig in der Nase. Aber nach wie vor ist dieser Duft fast magisch. Warm. Heimelig. Heu riecht nach Zuhause.
Viele Dinge riechen nach Zuhause. Viele Dinge haben die magische Macht, mich wie in einer Zeitmaschine für den Hauch eines Moments um zig Jahre zurückzuversetzen. Grießpudding mit Zimt und Zucker, das Anheizen eines Kachelofens, Holundertee mit Honig oder der schon leicht verflogene Hauch des Weichspülers, nach dem meine Klamotten damals immer gerochen haben.
Manchmal denke ich daran, was für meine Kinder wohl ihre »Zeitmaschine« sein wird. Vielleicht der Geruch nach Bananenbrot, weil ich das wirklich viel zu oft backe. Oder mein Gulasch, das sie beide abgöttisch lieben. Heiße Schokolade. Oder der Geruch von frischem Regen auf heißem Asphalt, wie man ihn im Hochsommer in einer Stadt häufig riecht. Und dann hoffe ich, dass sie ihre Zeitmaschine genauso lieben werden, wie ich meine und dass sie sich die Zeit nehmen werden, diese kleinen Momente, diese wertvollen Fetzen der Kindheit, in vollen Zügen zu genießen. Also, bleibt häufiger mal stehen, haltet inne, atmet tief ein und genießt eure Zeitreisen!

Zuckerwatte

Der Duft von Zuckerwatte und das Knistern, wenn sie auf der Zunge schmolz.

Wenn ich den Kopf in den Nacken legte, sah ich die Köpfe der Erwachsenen, so hoch über mir wie die bunten Lampen des Kinderkarussells.

Mein Lieblingstier auf dieser rotierenden Insel des Glücks war ein fuchsrotes Pferd gewesen, mit blonder Mähne und wildem Blick, das sich, während es seine unendlichen Kreise zog, auf und ab bewegte. Dabei ruckelte und stockte es, bevor es die Richtung wechselte. Ausgestattet mit echten Lederzügeln und einem roten Sattel. Es galoppierte über weite Wiesen mit mir, Hügel hinauf und hinab. Tief beugte ich mich beim wilden Ritt über seinen Hals und roch am warmen Pferdefell.

Ich war noch weit fort, wenn meine Eltern mich vom lackierten Körper des Tieres pflückten und mir den flaumigen Rest meines Zuckerwattebäumchens in die Hand drückten. Mich weiterzogen, bevor ich begriff, dass ich nicht mehr auf dem Rücken des geliebten Tieres saß und zu schreien begann: »Nochmal, nochmal!«

Sie verstanden nicht, dass eine Mission auf mich wartete.

Pappsüßer Zuckerwattenduft umhüllt mich jetzt, mit meinem Becher Glühwein in der Hand, während ich dastehe und zusehe, wie der Zuckerwatteverkäufer einem kleinen Mädchen ein Wunderwerk aus seiner klebrigen Maschinerie überreicht. Da drüben steht ein Karussell mit einem fuchsroten Pferd, wie mein tapferes Reittier früher. Ich spüre den Drang, mir eine Fahrkarte zu kaufen.

Meine Mission muss noch vollendet werden, hinter Zuckerwatte und Karussell liegt der ungehobene Schatz meiner Kindheit.

Herbert und ich. Ein Dreamteam! Der eine nicht ohne den anderen zu denken. Ich bin der Duft, der ihm in jeder Pore seines Körpers steckt. In seinem Haar, in seinen Klamotten; kein Waschgang schaffte es jemals, mich aus ihnen herauszuspülen. Der Duft, den er zum Leben braucht.
Und das ist nicht übertrieben. Seitdem ich keinen Zugang mehr zu ihm finde, lebt Herbert nicht mehr - er dämmert nur noch dahin. Hat nicht die Kraft, neuen Lebensmut zu schöpfen, sich ins Leben zurückzukämpfen.
Wir wurden schlagartig voneinander getrennt. Schlagartig wie Schlaganfall. Ohne Vorwarnung, ohne uns voneinander verabschieden zu können.
Er war Anfang siebzig, als ihn der Hirnschlag mitten aus dem Leben riss. Einfach so. Beim Lesen der Zeitung nach dem Frühstück. Zum Glück war seine Putzhilfe im Haus, die sofort einen Rettungswagen rief. Ohne die zügige Hilfe, hätte Herbert wahrscheinlich gar nicht überlebt.

Ich musste einen Weg finden, ihm ein letztes Mal in der Nase zu kribbeln, ihn zu umschließen wie die warme Umarmung eines alten Freundes zum Abschied. Das war ich uns nach der jahrzehntelangen Verbundenheit schuldig.
Der Zufall kam mir zu Hilfe. Herbert musste mit einem Krankentransporter zu einer Untersuchung ins Krankenhaus überführt werden. Das Fahrzeug gehörte nicht gerade der neuesten Generation an. Das war meine Chance. Über den defekten Vergaser erlangte ich Zugang zum Innenraum und verströmte meinen Duft so intensiv, wie ich nur konnte, bis ich Herbert umströmte - sogar ganz und gar durchdrang.

Gemeinsam gaben wir uns der Erinnerung hin. Herbert als kleiner Junge, der sich schon als Schüler für Motoren begeisterte. Herbert auf dem Sieger-Podest beim Autorennen. Herbert als leidenschaftlicher Schrauber in seiner eigenen Werkstatt. Herbert beim Restaurieren von Oldtimern.
Ich beobachtete, wie eine kleine Lebensflamme in seinen Augen aufflackerte, seine eingefrorenen Gesichtszüge auftauten und glaubte, ein Lächeln auf seinen Lippen zu entdecken.
«Lebe wohl mein alter Freund.», hauchte ich.
Der Fahrer hatte den Schaden inzwischen behoben, warf die Klimaanlage an und ich musste weichen.

An diesem Tag schrieb eine Pflegerin in Herberts Akte: Leichte Verbesserung in der Motorik des Bewohners festzustellen. Zum ersten Mal ein Lächeln registriert.

Eine süße Verführung

Ich mag Hitze nicht. Obwohl ich ohne sie nicht wäre. Ich mag enge Räume nicht. Sie beschneiden meinen Freiheitsdrang. Also suche ich mir Ritzen, Öffnungen und kleine Löcher und mache mich auf den Weg. Ich kann gar nicht anders. Auf den Weg des Wachsens und Werdens und, ja, des Verführens. Denn ich bin nichts anderes als das. Eine süße, einzigartig köstliche Verführung, die jedem die Sinne rauben will. Mira, die den Kuchenteig angerührt hat, schließt die Augen als ich ihr sanft in die Nase krieche. Erinnerungen an ihre eigenen Geburtstage, die ihrer Mutter, ihres Mannes, ihrer Kinder steigen in ihr auf. Herzhaftes Lachen, fröhliche Gesichter, fein gedeckte Tafeln und immer wieder der angeschnittene Kuchen. Mal als Kastenform, mal als Guglhupf, als Schmetterling oder Stern. Mira lächelt und lässt mich tief in ihr Inneres eindringen. Ich spüre Liebe und Leidenschaft, Wärme und Dankbarkeit und so viel mehr. Zum Dank schenke ich ihr ein neues Bild. Sie sieht bereits die weiße Glasur und die kleine rote 6 für Jonas auf dem Kuchen, der da im Ofen steht und erst noch goldbraun werden will. Sieht, wie er sich Jonas alle fünf Finger genüsslich abschleckt, bevor er begierig das nächste greifen will. Doch er ist noch gar nicht fertig, Miras Kuchen. Ich schon. Ich dehne mich voller freudiger Erregung aus, steige die Treppenstufen im Haus empor, spitze in jeden Raum und finde Jonas. Ich will, dass er Vorfreude verspürt. Will, dass er es kaum erwarten kann.
Ich kitzle seine Nasenspitze und merke, wie ihm bei der ersten Berührung schon das Wasser im Munde zusammenläuft. Ich bin gut! Ich bin einfach unwiderstehlich grandios!
„Mama, du hast meinen Lieblingskuchen gemacht!“, schreit er voller Lust durch das ganze Haus und springt auch schon die Treppen hinunter. Neugierig schaut er durch das Ofenfenster, obwohl er genau weiß, was da im Inneren nichtsahnend schlummert. Das alles wegen mir. Nur durch mich.
„Ja, Schatz, Zitronenkuchen.“
Jonas liebt diesen Zitronenkuchen über alles. Er sieht sich schon in ein großes, goldgelbes Stück lockeren Rührkuchen mit einer dicken Schicht Zucker-Zitronenglasur beißen. Er empfindet allein bei der Vorstellung nichts geringeres als pures Glück.
Sollte ich es bedauern, dass ich selbst nicht kosten kann?. Ich werde nie wissen, ob der Geschmack meinem feinen Aroma gerecht wird. Kann er meine ausgewogene Mischung aus Wärme, Süße, Frische und herber Säure übertreffen? Ich weiß es nicht. Aber ich kann es mir nicht vorstellen. Denn der Kuchen ist so klein und komprimiert, im Gegensatz zu mir. Er hat nicht dieses stetige Bedürfnis wie ich, sich auszudehnen, zu wachsen, zu werden, zu verführen und… sich irgendwann einfach zu verflüchtigen. Ja, ich will mich verflüchtigen, fliegen, weiter ziehen, die ganze Welt umarmen.
„Mira“, flüstere ich: „dir ist heiß, du hast das dringende Bedürfnis das Fenster zu öffnen.“
Mira geht zum Fenster und öffnet es einen Spalt breit und ich tue das, wonach mir gelüstet. Ich teile und verflüchtige mich auf der Suche, nach der nächsten feinen Nase, die nicht anders kann, als mir zu folgen, mich zu lieben. Denn ich bin unwiderstehlich.

Nekrose

Ich habe der Frau das Leben gerettet. Punkt. So einfach ist das.
Kein Dankeschön. Gern geschehen.
Jetzt haben sie die Fenster des kleinen Behandlungszimmers weit aufgerissen und eine der Arzthelferinnen versprüht irgendeinen Duftneutralisator, während die andere zum zweiten Mal die Behandlungsliege desinfiziert.
Die Frau, die ich gerettet habe ist vor einigen Minuten von zwei Rettungssanitätern in schweren roten Jacken in einem Rollstuhl rausgebracht worden. Sie werden sie ins Krankenhaus bringen.
Wäre ich nicht so hartnäckig gewesen, wäre sie jetzt tot. Oder spätestens in ein paar Tagen. Die Doktorin, eine nette hübsche Frau mit krausen, grauen Locken, hatte gesagt, dass der Zeh kurz davor war eine Sepsis zu verursachen.

»Wie haben Sie das nur ausgehalten?« fragte sie und es war ihr anzusehen, dass sie sichtlich Probleme mit dem hatte, was sie sah und roch. Ich habe schon immer eine starken ersten Eindruck bei Frauen hinterlassen.
»Elke tut ne ganze Menge wegstecken«, sagte der Mann neben der Frau auf der Liege. »Ne ganze Menge.«

Nun bin ich nur ein einfacher Geruch und nicht in der Position andere auf ihre insuffiziente Grammatik aufmerksam zu machen, aber selbst inhaltlich war das völlig unsinnig. Elke war seit Tagen völlig zugedröhnt mit der charmanten Mischung aus Schmerzmitteln und zwei bis drei Gläsern Kräuterlikör vor und nach dem Essen. Anders ist es nicht zu erklären, dass sie über Wochen ignorierte, dass ihr die linke Großzehe und ein weiterer Zeh abfaulten. Also fing ich an Hilferufe abzusetzen.

Frau Doktor wirkte etwas fassungslos. »Als Folge der PAVK wurden die Zehen über einen zu langen Zeitraum nicht durchblutet. Dies führt zu Schäden im Gewebe.« Sie blickte sichtlich angeekelt auf die tiefschwarzen Zehen. »Aber das hier ist vollständig abgestorben. Die große Zehe hat ja bereits angefangen sich zu zersetzen. Ein Nekrose dieser Art ist normaler Weise tödlich.«
»Ne ganze Menge,« sagte der Mann nochmal und ich sah förmlich, wie die Zahnräder, durch die sein Hirn offensichtlich noch mechanisch betrieben wurde, ratterten. »Hat sich nix anmerken lassen. Wenn ihre Füße nur nicht so stinken täten. Hätt ich sonst nicht gemerkt.«
»Nun ja,« Frau Doktor zog die Nase kraus, was ihr hervorragend stand. »Offensichtlich hat ihr dieser Geruch das Leben gerettet. Eine Blutvergiftung diese Art ist auf Dauer nicht mit dem Leben vereinbar.«

Ja! Jetzt hatte ich es amtlich. Ich war ein Held. Ich hatte hartnäckig, aus purer Selbstlosigkeit, die peripheren Nebengerüche der Wohnung, den Alkohol in ihrem Atem, den kalten Zigarettenrauch der in dem Sofa wohnte, sogar die Duftbäume in der Küche niedergerungen und mich so präsent gemacht, dass ihr Mann sie endlich zum Arzt schleppte.
Nun ist die Frau weg. Vermutlich wird man ihr die Zehen abnehmen, aber so ist das halt. Obwohl die Fenster weit offen sind und die Arzthelferinnen eifrig sauber machen, wird es noch ein paar Stunden dauern bis ich endgültig aus diesem Raum verschwunden bin.
Einzig, dass Frau Doktor sichtlich schlecht wurde bei meiner Anwesenheit, macht mich ein wenig traurig.
Aber sie weiß, dass ich ein Held bin.
Und die meisten Helden sind einsam…

(Basierend auf einer wahren Begebenheit)

Neugeborenenduft

Ich bin noch nicht lange auf dieser Welt. Erst vor ein paar Tagen wurde ich geboren.
Es ist grell hier draußen, viel lauter und kratziger, als ich es mir vorgestellt hatte. In der Luft schweben unzählbare Gerüche; beißende, herbe, blumige Düfte, gegen die ich mich kaum behaupten kann.
Doch bin ich da, so winzig und zart wie du.
Ich hafte an dir. Auf deiner weichen Haut, die an deinen kleinen Händen und Füßen immer noch etwas schrumpelig ist; und an dem dünnen blonden Haarflaum auf deinem Kopf. Um mich zu riechen, müssen die Menschen ganz nah kommen.
Nicht jeden, lässt du so nah an dich heran.
Nicht jeder wird mich riechen.
Im Raum, in dem wir liegen ist es nahezu dunkel; nur ein kleines Licht leuchtet. Es ist geformt wie ein Halbmond, aber das kannst du noch nicht erkennen. Deine Augen suchen. Deine Lippen auch. Du bemühst dich, dich auf deine Gliedmaßen zu konzentrieren, damit sie sich bewegen, aber du bist dir weder sicher, wo deine Arme und Beine anfangen, noch wo sie wieder aufhören. Unruhe überkommt dich.
Du schreist. Erst ist es nur ein leises Krächzen, aber es nimmt rasch an Kraft zu.
Deine Mutter kommt ins Zimmer. Es hat nur wenige Momente gedauert.
Sie nimmt dich aus dem Bettchen; mich mit dir. Sie drückt uns fest an sich. Shhh… Ihr Gesicht schmiegt sich nah an deinen Kopf, ihre Nasenspitze berührt schon den weichen Haarflaum. Sie schnuppert mit tiefen, gleichmäßigen Atemzügen daran, während sie dich hält.
Ich gebe mir Mühe, mich zu verteilen, sie ganz auszufüllen. Ich gebe alles, mich festzukrallen in einer Nische ihres Herzens, um als kleiner Hauch für immer dort eingenistet zu bleiben. Weiß ich doch, dass meine Lebensspanne nur von kurzer Dauer ist.
Du wirst wachsen. Ich werde verfliegen. Schon bald.
Mit einem Mal schreist du wieder auf, diesmal noch lauter, es klingt herzzerreißend. Wie gewaltig ist dieser Ort für dich? Wie lange wirst du es hier aushalten müssen?
Mama schaukelt uns in ihren Armen.
„Ich bin da“, flüstert sie, „Ich bin ja da.“ Ihr Gesicht sieht müde aus. Unter ihren Augen hängen die Schatten der zu wenigen Stunden Schlaf, und doch glänzt darin nichts als Liebe.
Ergriffen plustere ich mich auf, ströme mit ihrem nächsten Atemzug tief in ihre Nase.
Ich bin es, woran sie dich immer erkennen wird, selbst dann, wenn ich verblichen bin. Woran sie sich schmerzlich erinnern wird, in den Nächten, in denen sie wach liegt; nicht mehr weil du schreist, sondern weil sie am Tag zu viel geschrien hat. Ich bin es, wonach sie sich sehnen wird, wenn sie die vielen Fotos von dir anschaut, und nicht recht glauben kann, dass aus dem kleinen Bündel Kind, schon ein so großer Mann geworden ist.
Sie setzt sich, legt dich auf ihre Brust und wippt rhythmisch mit dem Oberkörper vor und zurück. Eine Träne kullert dabei lautlos ihre linke Wange hinunter. Erschöpfung und Freude sind daran vermischt. Hilflosigkeit und grenzenloser Beschützerinstinkt.
Du schreist.
Ich ströme weiter, kreise, fliege. Bemüht den Moment erträglich zu machen.
Deine Mutter lächelt. Sie drückt einen Kuss auf deine Stirn. „Du riechst so gut, mein Schatz.“
Endlich beruhigst du dich, dem Klang ihres Herzschlags lauschend, der dir ein ganz wohlig vertrautes Gefühl gibt, schlummerst du ein.
Ich bleibe wach und umarme deine Mutter noch ein wenig länger. Sie verdient es.

Du kannst es fühlen. Ich helfe dir. Tauche ein. Freibadpommes, Tante Inges Veilchenparfum, Meister Proper Frühlingserwachen. Nimm ruhig eine Nase. Na los, trau dich.

Sie steht vor der Konditorei. Den roten Wollmantel eng um ihre Taille geschnürt. Fahle Haut. Müde Augen, die ins Leere starren. Eine Hülle. Ich möchte sie schütteln.
Laugencroissants, Butterhörnchen, Schoko-Ecken sonnen sich in der Auslage. Das Glöckchen über der Tür bimmelt. Ein Mann mit Mütze, die seine Ohren nicht bedeckt, eilt hinaus. Die Brötchentüte trägt er mit Fassung und dem Handelsblatt nach Hause. Sie schaut nicht auf, tritt nicht ein, schnürt den Wollmantel fester. Immer fester. Ich bekomme keine Luft.

Es ist Zeit. Routine. Zimt wähle ich heute. Anlauf nehmen, durch die Luft schweben, Partikel zerstäuben. Keine große Sache. Ich streife über ihre Haut. Berühre ihre Haarspitzen. Streichle ihre Wangen. Unsichtbare Gewürzteilchen segeln auf den Asphalt. Sie rümpft die Nase, kräuselt die Stirn. Ihre Unterlippe zuckt. Grüne Sprenkel flackern in ihren Augen und verdecken die dreiunddreißig Fragezeichen. Hoffentlich denkt sie an Weihnachten. An Plätzchenduft und Kerzenschein. An Glühwein und Christbaumkugeln. Oder an Zimtschnecken. Elche und den Schwedenurlaub ihrer Kindheit. Vielleicht aber auch an Omas Milchreis mit Kirschen und der dicken Zimt-und-Zucker-Schicht. Sie lockert den Mantel, zieht die Mundwinkel nach oben. Sie lächelt. Das Glöckchen bimmelt.

Der Star

Plötzlich, aus dem blauen Dunst heraus entstehe ich aus dem Nichts. Nur Hitze, ein goldgelber Saft und etwas Muskelgewebe sind irgendwie dabei. Dann bin ich einfach auf einmal da. Die Hitze trage ich weiter in mir und nehme Fahrt auf, ich steige nach oben. Eine herzhafte Tiefe und buttrige Süße nehme ich dabei in mir mit. Ich wende und schlängele mich zwischen den Luftmolekülen durch, um weiter Höhe zu gewinnen. Mir geht es prima, ich fühle mich wundervoll. Noch einige mehr folgen mir nach. Sie sind wie ich. Manche sind genau wie ich, doch je mehr es werden, umso dunklere und nussigere Noten enthalten sie. Sie tragen eher dunklere Farben, fühlen sich aber mindestens so wohl wie ich und schlängeln sich auch auf dem Weg nach oben mir hinterher.

Jetzt bin ich ganz oben angekommen. Es geht nicht mehr weiter. Neben mich setzt sich ein goldgelbes Etwas. Das will auch noch weiter, bleibt aber genau wie ich hier hängen. Wir entdecken eine Lücke und schlängeln uns hinein. Darin ist Licht, es leuchtet uns an. Wir tanzen in seinem Schein, räkeln uns hin und her. Dabei streuen wir das Licht in alle Richtungen, wie eine Discokugel. Vor allem dem goldgelben Wesen macht das richtig Spaß. Jetzt setzt es sich auf die LED drauf und verteilt das Licht noch weiter. Eine Fotodiode bekommt dadurch mehr Licht als sie mag und deshalb…

… Ein ohrenbetäubender Alarmton durchbricht die Stille. Der Student schreckt vom Tisch hoch, rennt zum Herd und reißt die qualmende Pfanne runter. Doch der schrille Ton hört nicht auf, er wird nerviger. Der Student stürmt zum Schrank, rupft den großen Besen raus und versucht damit hektisch auf den Knopf des Rauchmelders zu drücken. Beim vierten Versuch klappt es. Der Ton verstummt und aus den Nachbarzimmern des Studentenwohnheims hallt es Applaus und Gejohle, als wäre er der Star.

Die Warnung

So schnell ich nur kann schwebe ich durch den Garten, wabere durch das angelehnte Fenster, strecke mich und dehne mich langsam aus.
Da eine Frau am Backofen. Sie schiebt gerade irgendein Gebäck in den Ofen. Ich schwebe auf sie zu und steche ihr in die Nase.
Sie verzieht angewidert das Gesicht, rümpft die Nase, geht zum Fenster und schliesst es, ohne recht hinauszusehen.
«Der Alte raucht mal wieder eine.», murmelt sie verärgert, «Aber wenn ich was sage, spielt er drei Tage die beleidigte Leberwurst.»
Ich sehe ein, dass ich hier nicht weiterkomme. Ausserdem werde ich auch bereits schwächer und beginne mich zu verflüchtigen, da ich von meiner Quelle, die im Garten liegt abgeschnitten wurde.
Ich schlüpfe also durch die angelehnte Küchentür und suche jemanden, der für meine Warnungen empfänglicher ist.
Ich gelange in ein helles Wohnzimmer mit Terrassentür, durch die man jedoch den Garten nur undeutlich sieht, da ein leicht transparenter Vorhang vor das grosse Fenster gezogen worden war.
In einem Körbchen liegt ein Hund,d schläft, und auf dem Sofa liegt ein Mann, der fern sieht.
Im Fernsehen erklingen Schreie, Schüsse und das Geräusch von aufeinanderprallenden Autos. Was ihr Menschen nur an solchen Sendungen findet.
Aber ich bin ja hier um zu warnen und so wabere ich zu dem Mann und steche ihm entschlossen in die Nase.
Vielleicht war ich etwas zu motiviert, denn der Mann zuckt zurück und wedelt mit der Hand und ich muss schnell ausweichen um nicht völlig verwedelt zu werden.
«Die Alte hat ihre Muffins wohl wieder zu lange und zu heiss gebacken.», murmelt er verärgert, «Aber wenn ich was sage gibt es wieder Schelte.»
Es ist zum Haareraufen (wenn ich welche hätte). Warum ist es nur immer so schwierig euch Menschen vor Gefahren zu warnen. Mit Tieren ist das immer viel leichter die verstehen einfache Warnungen immer gleich sofort und…
Moment mal. Mir fällt der Hund ein. Schnell schwebe ich zu ihm hinüber und krieche ihm langsam, beinahe schon träge in die Nase.
Der Hund schlägt die Augen auf.
Er schnüffelt, sieht sich um, versteht was ich ihm sagen will und beginnt wie wild zu bellen, während er aus dem Körbchen springt.
Die Frau kommt aus der Küche geeilt, der Mann kämpft sich aus dem Sofa und beide starren auf den Hund, der wie wild die Terrassentür anbellt.
Und nun sehen sie auch, vor was sie dieser Rauchgeruch, also ich, warnen wollte, denn in ihrem Garten steht ein grosser Laubhaufen in hellen Flammen, die bereits gierig am hölzernen Gartenhäuschen lecken.

Placki-Tage

Meine Oma war der schönste Duft meines Lebens. Er war eine Kombination aus Kölnisch Wasser und Lavendel und umhüllte mich stets, wenn ich sie in die Arme schloss. Es war der wunderbare Duft der bedingungslosen Liebe und tiefsten Hingabe, den ich für immer in Erinnerung behalten würde.

Oma war ein nachhaltiger und sparsamer Mensch. Etwas verkommen zu lassen, kam ihr nicht in den Sinn. „Es ist Sünde, etwas, das noch weiter benutzt werden kann, wegzuwerfen!“, sagte sie mit ihrem oberschlesischen Akzent. Dabei klang das „ü“ in Sünde ein wenig wie ein „i“. Mein Vater schämte sich wegen ihres Akzents. Er wollte nie der Flüchtlinsgjunge sein. Oma wusste jedoch, wovon sie sprach. Sie hatte zwei Weltkriege, mehrere Fehlgeburten, eine Flucht mit Jahren des Hungers und der Suche nach einer neuen wahren Heimat erlebt.

So war es für meine Oma eine klare Mission, dass ich, „das Mädel“ niemals hungern oder mager sein dürfe. Den Teller leer zu essen, war demütige Christenpflicht.

Oma war für mich die beste Köchin der Welt und jedes Mal, wenn ich in die Küche trat, war es dort ein Paradies für meine Sinne. Ganz besonders spürte ich dies an den Placki-Tagen. Diese waren für mich wahre Festtage. Placki sind oberschlesische Kartoffelpuffer, die man als „Platzki“ aussprach. Meistens warteten sie schon auf mich knusprig und goldbraun gebraten und verlockend nach Zuhause und Geborgenheit duftend.

An solchen Tagen konnte ich den Duft von geriebenen Kartoffeln und Zwiebeln schon beim Heinkommen von der Schule in der Luft schmecken. Feierlich verzehrten Oma und ich dann in aller Gemütsruhe unsere Kartoffelpuffer mit Unmengen von Apfelmus. Ich liebte die herrlichen Röstaromen der kartoffeligen Teilchen und fand es wunderbar, dass die ganze Wohnung darin eingehüllt war. Diesen Duft liebte ich fast so sehr wie den meiner Oma.

Meine Mutter hasste Kochdüfte in der Wohnung und missbilligend tat sie dies kund, wann immer sie bei Oma zum Essen eingeladen war.
Ich konnte nicht verstehen, wie man den Duft köstlichen Essens verabscheuen konnte. Aber meine Mutter und ich waren uns in vielfältiger Hinsicht fremd.

Die Placki-Tage waren aber auch die Tage, an denen meine Eltern häufig bei uns mitessen mussten. Meine Mutter konnte sich nie entscheiden, ob dies eine angenehme Bequemlichkeit oder lästige Pflicht war. Sie hasste es zu kochen und konnte es auch nicht. „Hanni“, sagte Oma zu meinem Vater, der in Wirklichkeit Johann hieß „das Mädel braucht Familie. Du bist ihr Vater und du und Beatrix müsst euch kümmern und kommen.“ Er kam gerne, denn er liebte diese Annehmlichkeit und Placki waren auch sein Leibgericht.

Am schönsten war es jedoch, die Placki gemütlich gemeinsam nur mit Oma zu verzehren. Keiner saß sonst bei Tisch und meckerte, wie es meine Mutter mit aller Regelmäßigkeit tat. Die zweitschönsten Tage waren die, an denen wir zu dritt, Oma, mein Vater und ich, ein Placki-Wettessen veranstalteten. Mein Vater war fröhlich und unbekümmert und wir wetteiferten, wer die meisten Portionen schaffte. Es gab viel zu lachen. Damals wohnte Papa in meinem Zimmer, das ich ihm gerne abgetreten hatte. So hätte es ewig weitergehen können. Nur wir und der nicht enden wollende verführerische Duft vom Omas besten Placki.

Die Welt, in der nur wir drei existierten, erlosch, als meine Eltern sich wieder vertrugen. Doch es kam noch schlimmer. Die Affäre meines Vaters war schwanger, meine Mutter wechselte in der gemeinsamen Wohnung alle Schlösser aus und er zog zu der anderen. Danach kam er nie wieder zum Mittagessen. Früher war mein Papa mein Schutz, wenn meine Mutter bei den gemeinsamen Mittagessen wieder an mir herummeckerte, dass ich entweder schlechte Tischmanieren hätte oder zu dick wäre oder eine unmögliche Frisur hätte. Aber all das änderte sich.

Oma hatte Erbarmen nach dem Auszug meines Vaters mit meiner Mutter, und so lud sie sie immer wieder zum Essen zu uns ein, obwohl mir davor graute. Sie erklärte es mir so: „Mädele, versteh. Wenn ich sie nicht einlade, dann denkt sie, ich wäre gegen sie und sie könnte auf dumme Gedanken kommen und dich abholen wollen.“ Das wollte ich natürlich nicht. Oma wollte nur mein Bestes.

Die Frau, die ich Mama nannte und die mir so fremd war, war nicht meine Mutter. Sie hatte die Ehre an Omas stets fürsorglich gedecktem Tisch mit dem guten Silberbesteck Platz nehmen zu dürfen. Doch es war ihr nie genehm genug. Sie bemängelte die Wachstuchtischdecke, die unter der Woche auf dem Tisch lag. Sie nörgelte an mir herum, meckerte wegen Kleinigkeiten und zeigte keinerlei Zuneigung. „Warum kannst du nicht meine Mama sein?“, fragte ich Oma einmal. Ihre Antwort war sanft: „Kind, ich bin zu alt, und du hast ja Eltern.“

Oma hatte häufig ein schlechtes Gewissen, weil sie mich so lieb hatte. „Wir sagen keinem, wie lieb wir uns haben“, flüsterte sie, und wir nahmen uns so fest in die Arme, als könnten wir so die Liebe und die Geborgenheit, die sie mir gab, für immer bewahren. Oma war mein Engel, meine Retterin, meine Seele, und ich verdankte ihr alles.

Ob sie mich wiedererkennt? Damals waberte ich im Haus ihrer Großmutter durch Türen und Fenster, drang durch Ritzen, Rillen und Spalten. Ich strömte in die Küche, weiter durch den Flur ins Wohnzimmer auf die Terrasse. Die ganze Familie kam zusammen, wenn ich zu Gast war. Ich wohnte dann im Backofen. Dort fühlte ich mich zu Hause.

Und nun treffe ich sie hier. Sie, die sie damals zusammen mit Cousinen, Tanten und Onkel sowie ihren Eltern und der Schwester auf der Terrasse oder, im Winter, in der Küche saß und mich genüsslich einatmete.

„Hallo!“, spreche ich sie schüchtern an, „kennst du mich noch?“

Sie kräuselt die Nase und legt die Stirn in Falten. „Ja, ich erinnere mich. Wir haben uns bei meiner Oma zum letzten Mal getroffen!“

„Richtig!“

„Du riechst so gut nach Brotteig!“

„Unter anderem.“

„Und gerösteten Zwiebeln.“

„Auch.“

„Und knusprigem Speck.“

„Ja, genau. Wie geht’s denn deiner Oma? Und was macht mein alter Backofen?“

„Ach, um den streiten sich jetzt alle.“

„Um einen Backofen?“

„Na ja, eigentlich um das Haus, in dem er steht.“

„Ach so. Wieso denn das?“

„Weil Oma nicht mehr da ist.“

„Wo ist sie denn?“

„Im Himmel. Dritte Wolke von links vermutlich.“

„Das tut mir leid. Kein Wunder hat sie mich nicht mehr eingeladen.“

„Kannst du ja nix dafür. Mit dir war es immer schön gemütlich im Haus. Damals war noch alles Friede, Freude, Flammkuchen… Wie geht es dir denn? Hab dich schon lange nicht mehr getroffen.“

„Gut, danke. Bin umgezogen, wie du siehst. Gleich hier ins Bistro.“

„Das ist schön, da treffen wir uns jetzt öfters. Ich wohne gleich um die Ecke“, sagt sie, zieht mich nochmal durch die Nase ein und lächelt. Dann wischt sie sich ein Tränchen aus dem Augenwinkel und setzt ihren Weg fort, während ich weiterwabere, durchs Viertel ströme und so manchen Feinschmecker ins Bistro locke. Dorthin, wo ich jetzt wohne und bleiben kann. Zwar wird hier nicht ganz dasselbe Rezept verwendet, doch bleibe ich für sie unverkennbar. Ich, der Duft von Omas Flammkuchen!

Wie lange ich schon im Kräuterladen vorhanden bin, vermag ich nicht mehr zu sagen. Ich bin ständig umhüllt von dem betörenden Duft von verschiedenen Gewürzen und Kräutern aus aller Welt.

Die Regale sind bis zum Rand gefüllt mit kleinen und großen Dosen, Tütchen, Gläsern und Holzkisten, die sämtliche möglichen Arten von Kräutern und Gewürzen beherbergen. Die Luft ist erfüllt von einer Mischung aus würzigen und süßen Aromen, von aromatischem Basilikum bis zum Zimt. Ich präsentiere mich jeden Tag aufs Neue, um bei mir zu bleiben und nicht in dem gemeinsamen Duftrausch zu verlieren.

Natürlich bin ich ein Teil dieser lebendigen Gemeinschaft von Pflanzen, meine Duftstoffe schweben durch die Luft, umgeben von einem Wirrwarr köstlicher Aromen. Jedes Gewürz und Kraut trägt ihre eigene Geschichte, die ich in Form dieser Duftnoten wahrnehme. Auch wenn ich nur von einer kleinen Pflanze abstamme, so hat mein Duft etwas Bezauberndes.

Ich fühle mich wohl in diesem Laden und doch muss ich hinaus, heraus aus dieser Vielfalt. Die Neugier treibt mich um, wie ist es außerhalb von diesem Laden? Ich stelle es mir wunderbar vor, frei sein und dahin schweben zu können, wohin ich möchte. Ich werde draußen eine große Besonderheit sein, die dem Eingesperrtsein entflohen ist und von allen bewundert wird.

Heute habe ich die Chance ergriffen, eine junge Frau mit blondem Haar kauft mein Kraut und ich bleibe an ihrer Jacke haften, wickele mich in ihren Schal und verlasse mit ihr den Laden.

Ich bin im Freien und habe es geschafft. Die Außenwelt ist aber überraschend anders, als ich erwartete, eine Kälte packt mich, wirbelt mich im Herbstwind herum und ich verliere mich in der Weite der Freiheit.

noch 57 Tage

Abwarten – ich kriege euch alle!

Noch habe ich nicht meine geballte Kraft entwickelt, wie es in ein paar Wochen der Fall sein wird. Ihr werdet sehen, es geht schneller, als ihr es wahrhaben wollt.

Noch warten meine einzelnen Komponenten auf ihre Befreiung. Eingeschweißt in den unterschiedlichsten Verpackungen mit bunten Aufdrucken. Eingesperrt in Glasflaschen mit dunkelroter oder blassgelber Flüssigkeit. Fest verwurzelt in den Wäldern mit tausend anderen meiner Art.

Hier und da schwebt schon ein Hauch von mir durch die Luft. Ein Wölkchen Lebkuchenduft, den manch eine schon hat entweichen lassen. Ein Anflug vom Geruch nach frischem Holz, wo manch anderer schon gebastelt hat. Ich sammle mich. Ein Quäntchen Bratapfelaroma hier, das Aroma von Mandarinen und Orangen, die wieder zu kaufen sind, dort. Woche für Woche streife ich durch die Küchen, durch die Baumschulen, besuche Kirchen und Märkte, wehe durch Kindergärten und Schulen – und wachse stetig zu der Duftkomposition heran, die euch alle erwischt.

Und dann habe ich euch! Die einen in sentimentaler Erinnerung, viele in großer Vorfreude, die meisten von euch zu Hause. Dann, wenn ihr euch Zeit genommen habt, Kerzen entzündet, alte Rezepte auspackt, Glühwein genießt und Vanillekipferl verzehrt. Ich werde überall sein – für die einen im Tannengrün, in der mit Nelken gespickten Orange, für die anderen im Weihrauch oder Gänsebraten. Ich werde da sein, Arm in Arm mit besonderen Klängen und dem Wunsch nach Frieden.

In 57 Tagen ist Weihnachten.

Anne

Als ich aufwachte, lag ich im Bett.
Ich war verwirrt, wie war ich dort hingekommen?
Es sah nicht aus wie mein Zuhause, es waren nicht meine Vorhänge, es waren nicht meine Möbel, es waren nicht meine Bettbezüge und es roch nicht wie mein Zuhause.
Ich wollte aufstehen, aber es ging nicht, ich konnte mich kaum bewegen.
Meine Arme und meine Beine waren schwer wie Beton und fühlten sich an wie Kaugummi. Ich wollte rufen, aber meine Worte fanden den Weg zu meiner Zunge nicht, ich konnte Worte denken, aber mein Mund wollte die Worte nicht formen.
Erdrückende Angst setzte sich auf meine Brust, mein Magen fühlte sich an wie mit kalten und heißen Steinen gefüllt, mein Herz schlug so heftig, das mein ganzer Körper zu pulsieren schien.
„Hallo Anne“ Toms Gesicht erschien über mir.
Er lächelte, er wirkte verlegen.
„Keine Sorge, das geht vorbei und du wirst dich kaum erinnern, du wirst denken, es war nur ein Traum“ dann begann er damit, am Verschluss meiner Hose herumzufummeln .
Ich trug immer noch meine Arbeitshose, die war nicht so einfach zu öffnen.
Meine Gedanken waren durcheinander, mein Auto, es war nicht angesprungen, auf dem Parkplatz nach der Nachtschicht. Tom wollte mich nach Hause fahren.
Ich war während der Fahrt eingedöst, er musste mir etwas gegeben haben, aber wie? Ich konnte mich nicht erinnern.
„Das habe ich total vergessen, diese blöde Hose, aber die krieg ich noch auf“ murmelte er vor sich hin.
Plötzlich geschah etwas Seltsames, die Angst wich und ein Gefühl von Leichtigkeit breitete sich in meinem gesamten Körper aus.
Sterbe ich jetzt?
„Ach scheiße, hast du einen fahren lassen?“ Tom hielt sich die Nase zu und sprang vom Bett, er ging zum Fenster und riss die Vorhänge auf. Helles Sonnenlicht flutete das Zimmer.
Tom öffnete eines der Fenster und drehte sich wieder um.
„Meine Güte, was hast du nur gege…“ Er blickte auf das Bett. Aber ich war nicht mehr dort.
Ich war überall, konnte mich ausbreiten und zu einer kleinen Kugel schrumpfen in jede Ritze kriechen und mich auf dem Boden verteilen.
Ich waberte zu ihm hinüber.
Zuerst bemerkte er das gar nicht, er war noch zu verwirrt, dass ich nicht mehr dort war, wo ich noch vor ein paar Sekunden gewesen war. Er lief um das Bett herum.
„Anne?“ Seine Stimme überschlug sich.
„Oh, Gott, was ist das für ein Geruch?“ Jetzt hatte er mich bemerkt.
Er begann zu würgen und rannte aus dem Zimmer, aber ich waberte hinterher.
Jetzt war er in der Küche und goss sich etwas Wasser aus einer Flasche in ein Glas.
Ich schob mich in das Glas, füllte die Lücke zwischen Wasser und Rand.
Tom setzte an, um zu trinken, warf das Glas dann mit vor Ekel verzerrtem Gesicht von sich und erbrach sich in der Küchenspüle.
Als er damit fertig war, wusch er sich den Mund aus. Seine Haut war fahl, er blickte verwirrt und ängstlich in alle Richtungen. Er sah aus wie ein verirrter Hundewelpe. Fast hatte ich Mitleid mit ihm.
Fast.
Dann stürmte er aus der Küche und verließ die Wohnung.
So schnell war ich nicht, aber das spielte keine Rolle, ich wusste, wo er hingehen würde, er hatte nämlich seinen Autoschlüssel mitgenommen.
Durch die Fensterritzen zog ich nach draußen, kroch die Außenmauer entlang und schlüpfte in den Kofferraum.
Dort blieb ich eine Weile, ich wollte nicht, dass er einen Unfall verursachte, die anderen Leute konnten ja nichts dafür, dass er ein Arschloch war.
Er hielt an und stieg aus.
Auch ich verließ das Auto und schwebte ruhig hinter ihm her.
Tom ging zu einem Kiosk. Er wirkte jetzt wieder etwas gefasster.
„Eine Flasche Wasser bitte“ sagte er zu dem Mann hinter der Scheibe.
„Meine Güte, waschen sie sich doch bitte mal, das ist ja kaum auszuhalten“ sagte der Mann und hielt Tom angewidert eine Flasche mit Wasser hin. Dabei zog er sich so weit in den Kiosk zurück, wie er konnte.
Tom wurde blass und fing an zu zittern. Statt das Wasser zu nehmen und zum Auto zurückzugehen, lief er ein paar Schritte rückwärts, dann drehte er sich um und rannte davon.
Doch das würde ihm nichts nützen. Ich war schon in seine Kleidung gezogen, in seine Haare, in seine Haut.
Dort machte ich es mir bequem.

Er wollte mich nehmen.
Er hat mich bekommen.

Ich werde bleiben, solange ich will.

Anne

Cold Case

Ich habe lange gewartet. Sehr lange. Jahrzehntelang. Es geht nicht um Schnelligkeit. Es geht um Präzision.

Aber vielleicht erst einmal zu mir. Ich bin ziemlich normal, nur eben selten. Ich bin der Geruch aus dem Linoleum alter Fußböden, die mit einem bestimmten Desinfektionsmittel der 70er Jahre gereinigt wurden. Diese spezielle Melange vermischt sich mit den Ausdünstungen dünnwandiger Fertighäuser. Ein Hauch von Kaffee kommt dazu, zusammen mit einer Anmutung von Abwasser, das ungefiltert ins Meer geleitet wird, salzig, mit Algen. Letztlich bin ich das Konglomerat der Gerüche eines Nachmittags in einem Bungalow am Meer im Jahre 1976.
Später kommt noch etwas Metallisches vom Blut, aber das bin nicht mehr ich, das ist danach.

Ich habe noch gar nicht über meine Aufgabe gesprochen. Ich bin beauftragt worden, recht schnell schon, noch im gleichen Jahr. Da zeigte sich nämlich bereits, dass die Person, die mich von damals kennt, einfach so getan hat, als sei das alles gar nicht geschehen. Für Menschen geht es aber nicht, dass einer, der sowas tut, es einfach vergisst und dann auch noch nicht einmal überführt werden kann.

Nun sind Menschen mir eigentlich egal. Allerdings wurde mir ein Neubau-Ferienhaus direkt am Meer sowie lebenslange Versorgung mit Desinfektionsmitteln der 70er, Linoleum und Kaffee als Bezahlung für meine Dienste angeboten. Zunächst ging es mir nur um das eigene Haus. Inzwischen ist das Desinfektionsmittel jedoch nicht mehr zu bekommen und auch Linoleum muss man lange suchen. Zum Glück habe ich damals das Angebot angenommen, sonst gäbe es mich vielleicht schon nicht mehr.

Die Aufgabe war allerdings äußert schwierig. Ich musste genau diese spezielle Person dazu veranlassen, in mein Haus zu kommen. Da ich mich immer nur im Umkreis aller für meine Zusammensetzung notwendigen Materialien aufhalten kann, war es mir nicht möglich, selbst aktiv die Verfolgung aufzunehmen.

In jahrzehntelanger Recherche habe ich alles über das Leben der Zielperson, insbesondere ihre Vorlieben und Abneigungen herausgefunden und mein Haus nach und nach mit allen erforderlichen Accessoires ausstatten lassen. Dann habe ich es zur Ferienvermietung angeboten. Aber die Person biss leider nicht an. Zeitweise lebte sie im Ausland. Dann war sie beruflich so eingespannt, dass sie ausschließlich in Sporthotels mit Spa-Bereich Urlaub machte. Aber nun ist sie berentet - und hat mein Ferienhaus gemietet!

Morgen kommt sie an. Meine Auftraggeber werden vor Ort sein.
Ich werde in meiner perfekten Mischung von 1976 auftreten und direkt im Riechhirn andocken: Flashback!

Duft-Geist

Einst gehörte ich dazu. Ich war Teil des Jahreslaufs. Im Herbst hatte ich meine große Zeit. Zugegeben, nur wenige Menschen mochten mich. Anderen war ich egal. Das Urteil der Mehrheit war eindeutig. ‚Das stinkt‘, sagten sie und rümpften die Nase dabei, oder sie klemmten sie mit Daumen und Zeigefinger zu, um es noch ein wenig deutlicher zu machen, wie sehr ich ihr Empfinden störte.

Nun Ja.

Trotzdem, ich genoss es, mich ausbreiten zu können. Besonders gut kam ich im dichten Rauch zur Geltung, der aus den Schornsteinen der Fabrik kam. Oft war der Rauch so schwer, dass er nicht in die Luft steigen konnte, sondern sich am Schornstein entlang nach unten bewegte. So ließ ich mich denn von den Schwaden über den Boden tragen, bis eine Werksmauer dem Rauch und mir den Weg versperrte. Doch wir hatten gelernt uns an der Mauer aufzutürmen, um an der anderen Seite wieder langsam hinunterzugleiten. Es blieb nicht aus, dass Menschen hin und wieder durch die Rauchschwaden hindurchgehen mussten. Von mir ging dabei keine Gefahr aus, nein, das nicht. Es schien für die Menschen lediglich ein wenig unangenehm zu sein. Der sich abkühlende Rauch wurde zäher. ‚Als ob man durch Zuckerwatte ginge‘, sagten die Menschen. Manche husteten auch, weil das Atmen ihnen schwerer fiel.

Für die Rauchschwaden mochte der Vergleich mit der Zuckerwatte stimmen. Für mich definitiv nicht. War doch mein Duft um einiges kräftiger als der von Zuckerwatte! Er war schwerer und herber, etwa so, wie der von angebranntem Zuckersirup. Kein Wunder, ging es bei meiner Entstehung doch um dessen Herstellung. Und natürlich um das, was die Menschen noch viel mehr liebten: Zucker. Warum nur freuten sie sich nicht, wenn meine Zeit im Jahr wieder gekommen war? Zucker und ich, wir gehörten doch zusammen! Das Problem war wohl, dass ich kein Zucker war. Ich war nichts weiter, als die unerwünschte Nebenwirkung.

Nun ja.

Mittlerweile ist aus dem alten Fabrikgelände eine Wohngegend geworden. Die Menschen, die dort jetzt wohnen, sie haben mich nie kennengelernt. Obwohl gelegentlich, wenn im Herbst die Tage grau und feucht sind und Nebel auf die Stimmung drückt, dann nehmen sie plötzlich diesen Geruch wahr, ein wenig angebrannt, ein wenig wie Zuckerwatte, ein wenig wie – aber das können sie nicht genau sagen. Sie schnuppern. Sie schütteln kurz den Kopf. Gehen weiter. Zum Kichern, wenigstens ein bisschen. Wenn ich nur könnte. Ich bin nur noch ein Duft-Geist. Duft-Geister kichern nicht. Sie sind eine kleine Erinnerung, dünn wie ein Hauch, viel zarter als Zuckerwatte.

Nur ganz selten gelingt es mir, meine Dufterinnerungen doch noch mit Menschen zu teilen. Wie die anderen schnuppern sie. Es riecht ein wenig wie Zuckerwatte, ein wenig angebrannt und ein wenig nach früher. Sie lächeln. Die Nebenwirkungen eines Duft-Geistes scheinen angenehm zu sein. Ich lächele auch. Das können Duft-Geister.

Ein Duft für die Ewigkeit

Ich bin ein Duft - ein magischer Hauch, der durch die Lüfte schwebt, auf der Suche nach einem wahren Liebhaber. In mir vereinen sich Jahrhunderte von Geheimnissen und Traditionen, die in den exotischen Gärten und Gewürzmärkten verwurzelt sind. Meine Essenz ist wie ein kostbarer Wein, gealtert in den Amphoren der Antike. Beim ersten Atemzug entfalte ich eine betörende Mischung aus frischen Lorbeerblättern, aromatischen Kräutern und den süßen Noten von Weintrauben, die in der Sonne gereift sind.

Vor Tausenden von Jahren ging ich aus den Mysterien der Pharaonen und der Glanzzeit der Pyramiden hervor. Ich reiste umher, von einem Land ins andere.

Bis heute bin ich anziehend und geheimnisvoll.

Meine Essenz ist wie eine vergessene Schatzkammer der Geschichte, in der sich Noten von Weihrauch, Myrrhe und wahre Schönheit vermischen.

Kannst du den Hauch von Zimt und Kardamom, gewürzt mit einer Prise exotischer Blumen und sinnlicher Hölzer riechen?

Ich möchte zu dir kommen. Sei bereit, denn mein Duft trägt auch den Geist der Römer mit sich, mit ihrer Pracht und ihrem stolzen Erbe.

Mit jedem Schritt, den ich auf dich zumache, erzähle ich dir leise Geschichten von glanzvollen Arenen, in denen Gladiatoren um ihr Leben kämpften, von römischen Thermen, die von mächtigen Herrschern besucht wurden, und von den Straßen des alten Rom, auf denen Händler und Philosophen wandelten.

Doch ich bin nicht leicht zu bändigen. Mein Duft ist eine Einladung, aber auch eine Herausforderung. Nur diejenigen, die bereit sind, sich in die Geheimnisse der alten Welt zu vertiefen, können meine wahre Pracht und Bedeutung erleben. Ich bin nicht nur ein Duft, sondern eine Reise in die Vergangenheit, ein Weg, die Sinne zu verführen und die Seele zu erheben.

Wenn du dich auf mich einlassen willst, wirst du eine Welt voller Magie und Abenteuer entdecken, die in jedem Hauch meines Duftes verborgen ist. Und wenn wir uns einmal gefunden haben, wirst du mich nie wieder vergessen, denn ich bin der Duft eines magischen Zaubers, der ewig währt.

Trigger …

Ihr eilt mt angehaltenem Atem hinauf in die beletage - ihr wollt uns nicht wahrhaben. Wir sind über hundert Jahre alt. Wir kriechen aus den Kellern der alten Zinskasernen in die Stiegenhäuser und sickern durch die Wohnungstüren im Souterrain. Wir riechen nach feuchtem Holz, nach Koks, Moder und kaltem gekochten Kohl, alles vermischt mit dem Odeur der Gangtoiletten. Das Mauerwerk hat uns aufgesogen. Wir sind die Ausdünstungen der Armut.

Ihr könnt uns nicht entkommen - wir sind die Beherrscher der Erde. Wir sind stark, wir riechen süß nach heißem Metall, nach Sprengstoff und Waffenöl, sind ein Gemisch aus Blut, aus Kloake und aus verbranntem Fleisch. Wir wabern aus den aufgebrochenen Eingeweiden, die aus den Körpern der Toten quellen, schweben über den Reihen der Leichen und verbreiten uns im beißenden Rauch über den Schlachtfelder dieser Welt. Wer uns gerochen hat, wird uns nie wieder vergessen. Wir sind der Gestank des Krieges.

Kennt Ihr mich? Ich bin nicht aufregend und nichts Besonderes - in mir, da sind bloß die grünen Äpfel, die langsam heranreifen, die Blüten, aus deren Süße die Bienen ihre Nahrung sammeln, da ist nur das Brot im Backofen, das sich langsam mit malziger Kruste bedeckt, das Wasser des hurtigen Bachlaufs, der über die bemoosten Steine kapriolt und die dunkle schwere Erde, die Leben verströmt … ich bin der Duft der Sehnsucht nach Frieden …

ALIENS VS. MONKS

»Es riecht nach Tod.« Diesen und ähnliche unsinnige Sätze hatte er schon zuhauf gehört, seit seine Heiligkeit ihn zur Inquisition berufen hatte. »Ich habe das Tier gesehen.« »Lucifer stand direkt vor mir und sein fauliger Atem brannte mir in den Augen.« »Es war das Tier, es roch nach Pest und Cholera.«

Luigi hatte dann stets eine betroffene Mine aufgesetzt, obgleich es ihn innerlich geschüttelt hatte, sein Mitgefühl und sein Entsetzen ausgedrückt. Wie soll das gehen, hatte er sich stets gefragt. Wie bitteschön soll denn der Tod riechen? Es waren Bakterien, die einen Leichnam zersetzten und ihm damit einen Geruch von Unrat gaben. Staub und Feuchtigkeit ließ einen Raum modrig riechen. Meist stieg ihm auch noch der Duft von Kräutern in die Nase, wenn er die Kammer eines Besessenen betrat. Rosmarin, Majoran und Salbei schwängerten die Luft und Knoblauch. Vor allem Knoblauch, den sie über die Pforte hingen, vor die Fenster, an den Kaminschacht. Als ob so ein bisschen Grünzeug das Böse in Schach halten könnte, wenn es von einer abtrünnigen Seele Besitz ergriffen hätte.

Hätte, wohlgemerkt. Bisher hatte er noch jeden Exorzismus als Schauspiel veranstaltet. Sie wollten es ja nicht anders und waren glücklich, wenn er rasch einige Zeilen der Bibel zitierte. Wenn er lateinische Verse brabbelte, die sie ohnehin nicht verstanden. Sie waren allesamt ungebildet diese Bauern und selten auch nur einer unter ihnen, der Lesen und Schreiben gelernt hatte. Latein, die heilige Sprache der Kirche, beherrschte freilich niemand.
Und doch war dieser Fall hier anders als die Bisherigen. Sie hatten von einem glühenden Felsen gesprochen, der vom Himmel gefallen sei. Er habe Felder und Wälder in Brand gesteckt und einen tiefen schwarzen Krater in die Erde gerissen. Verfluchte Erde, auf der nichts und niemand mehr würde existieren können. Und dann sei Satan dem Felsen entsprungen und in die nahegelegenen Höhlen geflüchtet.

Luigi hatte die Augen geschlossen und den Herrn um Kraft gebeten. Kraft für sich selbst, um dieses Geschwätz zu ertragen, und Christus um Geduld mit seinen Geschöpfen. Sie wussten es halt nicht besser.
Luigi steckte eine Fackel in Brand und leuchtet in die Dunkelheit. Niemand hatte ihn begleiten wollen, also hatte er sich alleine auf den Weg gemacht. Am Eingang der Höhle war ihm der Abdruck eines riesigen Hufes aufgefallen, sowie Spuren von Krallen, wenn man sie denn so deuten wollte. Luigi wusste, nicht welches Tier ihn hinterlassen haben könnte. Doch gewiss gab es noch viele Geschöpfe auf Erden, denen er noch nicht begegnet war.

Dann erspähte er eine Flüssigkeit zu seinen Füssen. Luigi ging in Hocke und schärfte seine Sinne. Roch es nach Eisen? Dann könnte es Blut sein. Nein, niemals, dachte er. Es war auch nicht von roter Farbe, was da am Felsen klebte. Eher grünlich. Ja es schimmerte tatsächlich Grün, wenn er die Fackel daneben hielt. Was in Gottes Namen war das?
Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Luigi fuhr herum, hielt die Fackel in die Dunkelheit und erstarrte.
So ein Geschöpf hatte er noch nie zuvor gesehen und doch war er sich sicher, dass es nicht von dieser Welt war. Es schien verletzt und kauerte am Boden. Schwarz war es wie ein Skorpion. Überhaupt hatte es sehr viel Ähnlichkeit mit diesen teuflischen Kreaturen, doch war es um ein Vielfaches größer. Ja größer als er selbst. Es fauchte und stieß einen Schrei aus, der ihn erzittern ließ. Grüner Speichel tropfte aus seinem Maul, der den Felsen zu seinen Füssen zersetzte, sobald er auf ihn herabtropfte. Es roch nach Schwefel. Es roch nach Tod. Es roch nach dem jüngsten Gericht.

Luigi ließ die Fackel fallen und rannte. Er rannte um sein Leben und hatte doch keine Chance. Der Leibhaftige hatte ihn bereits eingeholt und rammte ihm seinen tödlichen Stachel in die Brust.

Memento Mori
Süß, klebrig, kupfrig steige ich empor. Kopf-, Brust- und Bauchhöhle, ja, das muss sein. Ich bin kein schöner Vertreter meiner Zunft. Wer bei Trost ist, hat Angst vor mir, und die, die mich mögen, vor denen sollte man Angst haben. Während meine salzige Schärfe meine Herznote ankündigt, und der Obduzent die Säge zur Seite legt, schaue ich durch die Plexiglasscheibe. Ich bin neugierig, wer uns heute besuchen wird. Und wann mein alter, stechender Freund sich sehen lässt. Denn die meisten Besucher übergeben sich, wenn sie mich kennenlernen, und dann lachen wir zusammen. Es ist immer dasselbe. Keiner ist der, der er war, wenn er mir begegnet ist. Und diese Macht - sie ist wahrhaft berauschend. Ich kann Menschen Schrecken zufügen, ohne dass man mich sehen und anfassen kann. Und ich bin sogar ein Guter, denn hier muss ich sein. Ich assistiere bei der Lösung von Verbrechen oder helfe, sie auszuschließen. Und ich erinnere Euch daran, dass ihr sterblich seid. Euer Verstand weiß das. Dass es von einem auf den anderen Moment vorbei sein kann, wie bei dem armen Tropf hier auf dem Tisch. Jung, dynamisch und frisch verliebt. Auf dem Weg zum Rendezvous. Leider schlug das kranke Herz zu hoch. Und selbst wenn er es gewusst hätte, niemand hätte es heilen können. Alles hat seine Zeit. Jeder auch.
Vor der Scheibe steht nun unser heutiger Besuch. Jung, dynamisch – verliebt? Vielleicht. Im Hintergrund freuen sich Pathologe und Staatsanwältin über den Besuch. Sie wollen uns gerne bekannt machen. In meinem Angesicht bedeutet jeder Lebende ein Stück mehr Sicherheit, egal, wie gut ihr mich schon kennt.

Nachdem der Besuch mit Bravour die Lunge vom Herzen unterschied, während blutrot gefärbtes Wasser über den Tisch rauschte, gibt es nebenan eine Tüte schreiend süßer Waffelkekse. Ich sitze in ihrer Kleidung, ich sitze auf ihrer Haut und mit am Tisch. Ich höre ihre Gedanken.

„Natürliche Todesursache. Zum Glück. Ein Fall weniger auf dem Schreibtisch.“

„Organraten ist auch nicht mehr, was es mal war. Normalerweise rennt der Besuch dabei spätestens raus.“

„Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so ekelhafte Kekse verschlingen würde. Wenn ich in diesem Alter umkippe, komm ich auf auf den Tisch. Hoffentlich sterbe ich später, denn wenn man mich jetzt aufschneiden würde, sähe jeder meine Fettschicht. Obwohl mir das ja dann auch egal sein könnte, denn – dann - dann wäre ich – tot !? Was tu ich hier eigentlich? Will ich das??“

Ja, genau. Memento mori. Ist es nicht spannend, wie meine Anwesenheit Euch verändert? Wie Euch bewusst wird, wie wertvoll Eure Zeit hier ist?

Ich begleite sie alle nach Haus. Bevor ich unter der Dusche in den Abfluss gespült werde, treffe ich noch schnell mein Rendezvous. Da, wo ich auftauche, ist auch sie präsenter als anderswo. Und sie ist besonders, denn sie riecht für jeden anders.

Unser heutiger Besuch wirft den Schlüssel in die Schale, die Jacke landet auf dem Sofa. Sowie sie ihren Kopf auf den ihrer Katze schmiegt und ihren Duft einsaugt, erscheint mein Rendezvous.

Pudrig, vanillig und zart. Derselbe Duft, der aufsteigen wird, wenn unser Besuch das Kind, von dem sie selbst heute noch nichts ahnt, eines Tages umarmen wird. Weil unsere Begegnung sie verändert hat. Mein Rendezvous lächelt zufrieden. Seit Anbeginn der Zeit ist sie das schönste Geheimnis, dem ich machtlos gegenüberstehe. Der Duft von Liebe. :heartpulse: