Placki-Tage
Meine Oma war der schönste Duft meines Lebens. Er war eine Kombination aus Kölnisch Wasser und Lavendel und umhüllte mich stets, wenn ich sie in die Arme schloss. Es war der wunderbare Duft der bedingungslosen Liebe und tiefsten Hingabe, den ich für immer in Erinnerung behalten würde.
Oma war ein nachhaltiger und sparsamer Mensch. Etwas verkommen zu lassen, kam ihr nicht in den Sinn. „Es ist Sünde, etwas, das noch weiter benutzt werden kann, wegzuwerfen!“, sagte sie mit ihrem oberschlesischen Akzent. Dabei klang das „ü“ in Sünde ein wenig wie ein „i“. Mein Vater schämte sich wegen ihres Akzents. Er wollte nie der Flüchtlinsgjunge sein. Oma wusste jedoch, wovon sie sprach. Sie hatte zwei Weltkriege, mehrere Fehlgeburten, eine Flucht mit Jahren des Hungers und der Suche nach einer neuen wahren Heimat erlebt.
So war es für meine Oma eine klare Mission, dass ich, „das Mädel“ niemals hungern oder mager sein dürfe. Den Teller leer zu essen, war demütige Christenpflicht.
Oma war für mich die beste Köchin der Welt und jedes Mal, wenn ich in die Küche trat, war es dort ein Paradies für meine Sinne. Ganz besonders spürte ich dies an den Placki-Tagen. Diese waren für mich wahre Festtage. Placki sind oberschlesische Kartoffelpuffer, die man als „Platzki“ aussprach. Meistens warteten sie schon auf mich knusprig und goldbraun gebraten und verlockend nach Zuhause und Geborgenheit duftend.
An solchen Tagen konnte ich den Duft von geriebenen Kartoffeln und Zwiebeln schon beim Heinkommen von der Schule in der Luft schmecken. Feierlich verzehrten Oma und ich dann in aller Gemütsruhe unsere Kartoffelpuffer mit Unmengen von Apfelmus. Ich liebte die herrlichen Röstaromen der kartoffeligen Teilchen und fand es wunderbar, dass die ganze Wohnung darin eingehüllt war. Diesen Duft liebte ich fast so sehr wie den meiner Oma.
Meine Mutter hasste Kochdüfte in der Wohnung und missbilligend tat sie dies kund, wann immer sie bei Oma zum Essen eingeladen war.
Ich konnte nicht verstehen, wie man den Duft köstlichen Essens verabscheuen konnte. Aber meine Mutter und ich waren uns in vielfältiger Hinsicht fremd.
Die Placki-Tage waren aber auch die Tage, an denen meine Eltern häufig bei uns mitessen mussten. Meine Mutter konnte sich nie entscheiden, ob dies eine angenehme Bequemlichkeit oder lästige Pflicht war. Sie hasste es zu kochen und konnte es auch nicht. „Hanni“, sagte Oma zu meinem Vater, der in Wirklichkeit Johann hieß „das Mädel braucht Familie. Du bist ihr Vater und du und Beatrix müsst euch kümmern und kommen.“ Er kam gerne, denn er liebte diese Annehmlichkeit und Placki waren auch sein Leibgericht.
Am schönsten war es jedoch, die Placki gemütlich gemeinsam nur mit Oma zu verzehren. Keiner saß sonst bei Tisch und meckerte, wie es meine Mutter mit aller Regelmäßigkeit tat. Die zweitschönsten Tage waren die, an denen wir zu dritt, Oma, mein Vater und ich, ein Placki-Wettessen veranstalteten. Mein Vater war fröhlich und unbekümmert und wir wetteiferten, wer die meisten Portionen schaffte. Es gab viel zu lachen. Damals wohnte Papa in meinem Zimmer, das ich ihm gerne abgetreten hatte. So hätte es ewig weitergehen können. Nur wir und der nicht enden wollende verführerische Duft vom Omas besten Placki.
Die Welt, in der nur wir drei existierten, erlosch, als meine Eltern sich wieder vertrugen. Doch es kam noch schlimmer. Die Affäre meines Vaters war schwanger, meine Mutter wechselte in der gemeinsamen Wohnung alle Schlösser aus und er zog zu der anderen. Danach kam er nie wieder zum Mittagessen. Früher war mein Papa mein Schutz, wenn meine Mutter bei den gemeinsamen Mittagessen wieder an mir herummeckerte, dass ich entweder schlechte Tischmanieren hätte oder zu dick wäre oder eine unmögliche Frisur hätte. Aber all das änderte sich.
Oma hatte Erbarmen nach dem Auszug meines Vaters mit meiner Mutter, und so lud sie sie immer wieder zum Essen zu uns ein, obwohl mir davor graute. Sie erklärte es mir so: „Mädele, versteh. Wenn ich sie nicht einlade, dann denkt sie, ich wäre gegen sie und sie könnte auf dumme Gedanken kommen und dich abholen wollen.“ Das wollte ich natürlich nicht. Oma wollte nur mein Bestes.
Die Frau, die ich Mama nannte und die mir so fremd war, war nicht meine Mutter. Sie hatte die Ehre an Omas stets fürsorglich gedecktem Tisch mit dem guten Silberbesteck Platz nehmen zu dürfen. Doch es war ihr nie genehm genug. Sie bemängelte die Wachstuchtischdecke, die unter der Woche auf dem Tisch lag. Sie nörgelte an mir herum, meckerte wegen Kleinigkeiten und zeigte keinerlei Zuneigung. „Warum kannst du nicht meine Mama sein?“, fragte ich Oma einmal. Ihre Antwort war sanft: „Kind, ich bin zu alt, und du hast ja Eltern.“
Oma hatte häufig ein schlechtes Gewissen, weil sie mich so lieb hatte. „Wir sagen keinem, wie lieb wir uns haben“, flüsterte sie, und wir nahmen uns so fest in die Arme, als könnten wir so die Liebe und die Geborgenheit, die sie mir gab, für immer bewahren. Oma war mein Engel, meine Retterin, meine Seele, und ich verdankte ihr alles.