„Eine Weihnachtsgeschichte“
Ich durcheilte die Raumkrümmung hinter dem dritten Stern rechts und flog, getragen von kosmischen Winden, Richtung Erde. Dabei kam mein Schlitten etwas aus der Bahn. Eine Kursabweichung war die Folge, die mich durch das Trümmerfeld bröckelnder Asteroiden zur Erde schleuderte. Bald sah ich die Kugelgestalt des blauen Planeten vor mir auftauchen. „Ho!“, rief ich meinen Rentieren zu, deren Namen ich verinnerlicht hatte wie ein Grundschullehrer die Namen seiner Kinder. Während ich durch die bläulichen Wolkenschichten stieß, zählte ich sie auf, wobei ich mir, beseelt durch den Glühweingenuss, lustige Verse auf ihre Namen ausdachte: „Dasher, Dancer, Prancer – ihr seid keine Necromancer, Cornet, Cupid, Vixen, euch kann man nicht austricksen, Donner und Blitzen, ihr kommt niemals in Schwitzen. Rudolf…", bei Rudolf klemmte der Reim, denn was reimt sich schon auf rote Nase – mir fiel nichts anderes ein als Base oder Blumenvase – was gar nicht ging, denn was hatte das eine mit dem anderen zutun?
Als ich noch darüber nachgrübelte, raste ich bereits mit Mach 3 auf das altehrwürdige Gebäude des St. Ormonds Kinderkrankenhauses in London zu und konnte gerade noch bremsen, bevor ich die Schindeln des Daches abräumte. Geistesgegenwärtig griff ich in die Zügel, wendete mein schlingerndes Gefährt und brachte es mit einem Kreischen auf dem Dachfirst zum Stehen. Nur dem guten Gleichgewichtssinn meiner Rentiere war es zu verdanken, dass sie nicht allesamt von der Schräge Holterdipolter samt dem Schlitten und mir an Bord, in den Abgrund sausten. „Junge, das war knapp“, sprach ich zu mir selbst und nahm noch einmal einen kräftigen Schluck aus der Glühweinpulle. Kalt schmeckt das Zeug wie Knüppel an den Kopf, aber durch den Fahrtwind meiner Reise erhitzt, war der Wein wohlig und warm und mundete mir vorzüglich. Mit einer kleinen Kraftanstrengung hievte ich meinen stattlichen Leib aus dem Schlitten und landete leicht taumelnd auf dem Dachfirst. Dabei glitt mir die Glühweinflasche aus der Tasche, schlidderte über das vereiste Dach und landete mit lautem Plumps im Schnee. Über seinen Verbleib musste ich mir keine Sorgen machen. Dies war London. Irgendeine arme, frierende Seele würde sich des Getränkes gewiss anehmen.
Sei’s drum, dachte ich und zog den großen Sack vom Schlitten, der so prall gefüllt war, dass sich die Ladefläche unter ihm bis zur Belastungsgrenze bog. Er würde die ganze Nacht prall gefüllt sein, so oft ich auch hineinlangte, das war Teil des Zaubers. Den Trick hatte mir mal Fortuna mit ihrem Füllhorn gezeigt und mittlerweile beherrschte ich ihn ziemlich gut. Aber genug von mir; jetzt galt es einen Job zu machen. Mit einem Ruck zog ich den riesigen Sack vom Schlitten und warf ihn mir „Schwupps“ über die Schulter. Er war so gewaltig, dass ich darunter fast verschwand.
Meine Rentiere schnaubten und tänzelten aufgeregt. „Johoho!“ rief ich und lachte in meinen Bart, in Vorfreude des Kommenden. Dann war ich samt Sack mit einem Satz in dem dunklen Kamin verschwunden.
Ruß kitzelte meine Nase als ich abwärts sauste, der warmen Stube entgegen. Unten angekommen erhob ich mich und blinzelte in das schummrige Licht einzelner Kerzen.
Ich befand mich im großen Speisesaal des Krankenhauses von St. Ormond – und ich war nicht allein. Ein Junge stand vor mir, im dünnen Nachthemd, sehr klein und sehr bleich. Aber das war nicht das Schlimmste. Dem Leuchten seiner Augen sah ich an, dass er auch mich sah. Natürlich, er mochte gerade vier Jahre alt sein und glaubte noch an den Weihnachtsmann. Damit war meine Tarnung dahin, ich war komplett aufgeflogen. Für einen Augenblick verließ mich meine sprichwörtliche Gemütlichkeit, kehrte aber sofort zurück als der Junge zu sprechen begann. Seine Stimme war zart und zerbrechlich, wie die eines verletzten Vögelchens.
„Bist du das, Peter?“
Damit hatte ich nicht gerechnet.
„Welcher Peter?“ fragte ich, „wovon redest du, mein Junge?“
Er wich einen Schritt zurück und klammerte sich an seinen Teddy, der zerliebt und verzottelt in seinen dünnen Ärmchen lag.
„Na, von Peter“, wiederholte er mit zittriger Stimme, die von eimen Hüsteln durchbrochen wurde, „Peter Pan.“
„Ach der Peter“, sagte ich und warf einen mitfühlenden Blick auf das kranke Kind, „Nein, der bin ich nicht. Der Peter ist in Nimmerland.“
„Ich weiß“, sagte der kleine Junge, „aber ich dachte er kommt zurück, um mich mitzunehmen.
Dann kann ich immer dort spielen, mit Peter, der so herrlich Krähen kann und den anderen Kindern dort. Weißt du? Die verlorenen Jungs.“
„Oh ja“, sagte ich, „das wird sicher ganz toll werden. Aber sag mal, spielt hier denn keiner mit dir?"
Der Junge zwinkerte ins Licht und wurde von einem neuen Hustenanfall geschüttelt.
„Die anderen Kinder wollen schon, aber die Schwestern erlauben es nicht. Sie sagen ich bin zu krank und muss im Bett bleiben. Aber ich liege ganz allein da und ich fürchte mich vor dem Dunkeln.“
„Das verstehe ich“, sagte ich.
„Schickst du mich jetzt zurück?“ seine Stimme klang flehend.
„Das sollte ich“, dachte ich bei mir. Ich habe meine Arbeit noch nicht mal begonnen und muss mich schon um ein krankes Kind kümmern. Nicht, dass das wirklich eine Rolle spielte, ich konnte mir so viel Zeit nehmen wie ich wollte. Auf der Wirklichkeitsebene, auf der ich mich befand - und dieser kleine Bursche jetzt auch, spielte Zeit keine Rolle. Die Bescherung dauerte so lange wie sie dauerte, und bis zum Weihnachtsmorgen würden sämtliche Geschenke unter den Bäumen liegen und alles erledigt sein.
Ich betrachtete das kleine Menschlein, das an seinem Teddy geklammert mit triefender Nase vor mir stand, und ein Gefühl der Rührung überkam mich. Der Rat mystischer Wesenheiten würde nicht amüsiert sein, wenn er von dieser Sache hörte. Ganz und gar nicht. Aber war es nicht meine Aufgabe, die Kinder an Weihnachten glücklich zu machen? Alle Kinder. Auch diesen Knirps hier.
„Ich schicke dich nicht zurück“, sagte ich lächelnd unter meinem rauschenden Bart. Das verspreche ich, so wahr ich der Weihnachtsmann bin.“
Der Kleine musterte mich von Kopf bis Fuß, angefamgen bei den schwarzen Stiefeln, über den tannengrünen Rock und Rauschebart bis zu der Mütze mit dem weißen Bommel. Dann legte er den Kopf schief und sah mich aus großen Augen an.
„Du bist nicht der Weihnachtsmann.“
„Na toll“, dachte ich und grummelte in meinen Bart, "da hatten wir es ja wieder. Niemand kannte mehr mein grünes Original- Outfit, das ich noch in Dickens „A Christmas Carol“ getragen hatte. Danke, Coca Cola.“
„Doch“, sagte ich seufzend, „ich bin der Weihnachstmann, der einzige, echte und wahre. Ich weiß, ich habe keine roten Klamotten an, aber die sind…äh…in der Reinigung. Aber glaube mir, Kleiner, ob grüne oder rote Kleidung, ich kann trotzdem Zaubern. Willst du es sehen?"
Und ob er wollte.
„Komm“, sagte ich, „du kannst mir helfen.“
Freudig hüpfte er auf mich zu und beäugte meinen großen, tonnenschweren Geschenkesack.
„Christmassus!“, rief ich und der Sack öffnete sich wie von Geisterhand. Ein Strom von Geschenken quoll daraus hervor. „Und jetzt du“ forderte ich den Jungen auf.
„Christmassus!“, rief der Kleine begeistert, und eine Lawine von Süßigkeiten ergoss sich in die Halle. Eine Wolke von Zimtsternen wirbelte durch die Luft und sank knisternd zu Boden, Lebkuchen-Männer hüpften durch den Raum, weiß-rot- gestreifte Zuckerstangen stellten sich auf zum Spalier. In Folie gewickelte Marzipanbrote stapelten sich wie Goldbarren und Berge von Lebkuchenherzen luden zum Schmaus. Ich machte eine Geste und der Weihnachtsbaum entzündete hundert helle Lichter. Silbernes Engelshaar und buntes Lametta erstrahlten in überirdischem Glanz.
Mein kleiner Freund lächelte angesichts dieser Sinn betörenden Pracht und ich erwiederte sein Lächeln. Schüchtern reichte er mir die Hand und ich umschloss sie behutsam mit meiner großen Pranke. So blickten wir eine Weile auf den Weihnachtszauber und ein warmes Gefühl erfüllte unser Sein.
Ich lächelte, aber ein Gefühl der Traurigkeit schlich in mein Herz, als ich durch den dünnen Stoff meines Handschuhs fühlte, wie die Hand des Jungen kälter wurde und immer kälter. Behutsam nahm ich ihn auf und drückte ihn fest an mich. Sein kleines Köpfchen sackte an meine Brust.
Ich spürte, wie die Müdigkeit in ihm Raum einnahm.
„Das war schön, Weihnachstmann“, sagte er und hüstelte leise.
„Ja, das war schön.“
„Die anderen Kinder werden sich über die Geschenke freuen, nicht?“
„Ja, das werden sie.“
„Und über die vielen Süßigkeiten.“
„Ja, die auch.“
Ich streichelte über seine schweisnassen Locken.
Noch einmal weiteten sich seine Augen. Hoffnung lag in seinem Blick.
„Bringst du mich jetzt nach Nimmerland?“
Ich sah ihn überrascht an.
„Das kannst du doch? Du bist der Weihnachstmann.“
„Ja, sagte ich“, und umfasste seine kleine, kühle Hand, „das kann ich.“
„Ich bin so müde“, murmelte er.
„Dann schlaf“, sagte ich, „ich bringe dich nach Nimmerland. Dort wirst du unter den Sternen spielen, mit Peter Pan und den anderen Kindern. Du wirst mit Peter Krähen und mit ihm gegen die Piraten kämpfen. Auch gegen Käptn Hook, den Schlimmsten von allen. Aber auch der wünscht sich etwas zu Weihnachten…
Aber das hörte der kleine Bursche schon nicht mehr. Leise schlich ich mit dem Kind im Arm den dunklen Flur hinab und öffnete die Tür am Ende des Ganges. Dort war es still. Nur ein leichter Luftzug wehte durch den Raum. Ich betrat das Zimmer. Hinter der schneebehauchten Scheibe tanzten weiße Flocken. Der Geruch von Hustensaft hüllte mich ein. Langsam ließ ich den Jungen in das Federbett sinken, das ihn warm und weich empfing. „Ich wünsche dir Glück, mein Kleiner“ sagte ich und küsste ihn sanft auf die Stirn. Im Hinausgehen sah ich noch einmal zu dem Jungen hin. Er schlief friedlich, wie ein kleiner Engel. „Fröhliche Weihnachten“, flüsterte ich und schloss leise die Tür.