Der Deal mit dem Weihnachtsmann
Lisbeth war schlecht gelaunt, wie jedes Jahr an Heiligabend. Ach, wäre es nur schon vorbei. Alle waren mit den Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt und im Stress. Alle, außer sie, die im Rollstuhl saß und ihr fünfjähriger kleiner Bruder, Kevin. Sogar Diana, ihre ältere Schwester hatte keine Zeit, denn sie übte Weihnachtslieder, die sie später alle singen würden. Lisbeth beschloss, ihrem Bruder Gesellschaft zu leisten und machte sich auf den Weg zu Kevins Zimmer. Als sie am Wohnzimmer vorbei kam, hielt sie an und traute ihren Augen nicht:
Ein dicker Mann in einem roten Mantel kniete vor dem Weihnachtsbaum, in einer Hand hielt er einen riesigen Sack, in der anderen Hand ein Geschenk.
»Hey, wer sind Sie!«, rief Lisbeth. Der Mann stand ruckartig auf und drehte sich um.
»Du kannst mich sehen?«, fragte der Fremde, der wie der Weihnachtsmann gekleidet war.
»Sie sind doch hier, oder? Natürlich kann ich Sie sehen. Was machen Sie hier?«, fragte Lisbeth weiter. Seltsamerweise verspürte sie keine Angst.
»Also, das ist nicht, wonach es aussieht, ähm …«
»Wonach sieht es denn aus?«, unterbrach sie den Alten. »Nun, ich … ähm … ich bin der Weihnachtsmann, das solltest du doch wissen, aber wieso kannst du mich sehen?«, fragte er erneut und sah etwas ratlos aus.
»Der Weihnachtsman, wer’s glaubt.«, lachte Lisbeth. »Nun, es käme auf einen Versuch an …«, antworte er.
»Wie? Auf was für einen Versuch denn?«, fragte Lisbeth etwas verwirrt.
»Es käme auf einen Versuch an, an den Weihnachtsmann zu glauben.«, antwortete der Bärtige.
»Nein, ich glaube nicht an Weihnachten, oder den Weihnachtsman. Ich bin froh, wenn das alles vorbei ist. Jedes Jahr der gleiche Quatsch. Man schenkt sich irgendwelchen Kram, den man ohnehin nicht braucht. Weihnachten ist nur noch für Kinder etwas Tolles, die können sich noch freuen.«
»Du bist ebenfalls noch ein Kind«, sagte der Alte und steckte das Geschenk, das er immer noch in der Hand hielt, geistesabwesend in seinen Sack.
»Ich wusste es!«, rief Lisbeth »Sie sind ein Dieb, ich rufe jetzt um Hilfe«.
»Hoppla, äh … tut mir Leid, das war …«
»… Macht der Gewohnheit?«, unterbrach Lisbeth den Weihnachtsdieb, erneut.
»Nein, das war keine Absicht.« Der Alte holte das Geschenk wieder aus dem Sack und legte es unter den Baum. Lisbeth nutzte die Gelegenheit und nahm die Weihnachtsbaum-Spitze vom Tisch. »Sie haben doch tatsächlich vergessen, die Spitze anzubringen.«, dachte sie noch und drohte dem alten Zausel damit.
»Du glaubst doch nicht, du könntest mich damit angreifen?«, fragte der Verkleidete belustigst.
»Nun, es käme auf einen Versuch an …«, machte Lisbeth den Alten nach und grinste ihn dabei angriffslustig an. Da fing er plötzlich an, schallend zu lachen.
»Ok, der Punkt geht an dich.«, sagte er und fügte hinzu: »Ich werde dir beweisen, dass ich wirklich der Weihnachtsmann bin.« Er fuhr fort: »Dein Name ist Lisbeth Sommer, du bist 12 Jahre alt und …«
»Kunststück, mein Name steht auf dem Päckchen, welches Sie einsacken wollten und mein Alter ist auch nur gut geraten.«, unterbrach sie ihn nun zum dritten Mal, doch der Mann ließ sich nicht beirren und sprach einfach weiter: »Du hast dir die komplette Diskographie von Queen gewünscht, aber deine wahren Wünsche sind ganz andere: Du möchtest wegen deiner Krankheit nicht von allen wie ein rohes Ei behandelt werden, du wünscht dir, dass dein Vater endlich eine Festanstellung bekommt, dass deine Schwester die Anerkennung mit ihrer Schulband erhält, die sie verdient, dass dein Bruder endlich seinen Sprachfehler überwindet, und nicht zu letzt, wünscht du dir auch etwas mehr Frieden in der Welt.«
Lisbeth stand der Mund offen, das konnte ein Einbrecher im Weihnachtsmann-Kostüm nun wirklich nicht wissen. »Woher wissen Sie das alles?«, flüsterte sie.
»Wie ich schon sagte, ich bin es wirklich und wenn du noch einen Beweis brauchst, schau mal auf die Uhr.«, antwortete er.
»Sie ist stehen geblieben – 18:23 Uhr und 18 Sekunden. Wie kann eine Digitaluhr stehen bleiben?« Lisbeth war nun total verwirrt.
»Wie kann der Weihnachtsmann, an nur einem Tag, alle Kinderwünsche erfüllen?«, stellte er eine Gegenfrage.
»Indem er die Zeit anhalten kann …«, gab Lisbeth zögerlich zurück. »Du bist ein sehr kluges Kind.«, antwortete der Mann, von dem nun Lisbeth überzeugt war, den Weihnachtsmann vor sich zu haben.
Nun wurde sie von Ehrfurcht ergriffen und sagte: »Sie sind es wirklich … oh … es tut mir so leid, ich wusste ja nicht … und all die Sachen, die ich über Weihnachten gesagt haben…« Der Weihnachtsmann lächelte Lisbeth an und sagte: »Schon gut, ist schon vergessen.«
»Wieso kann ich Sie sehen?«, war es nun an Lisbeth zu fragen.
»Es liegt wohl daran, dass du in die Herzen der Menschen sehen kannst, genau wie ich. Das ist mir jetzt klar geworden«, antwortete er ihr. »Du verabscheust das Weihnachtsfest, weil es nur noch um Profit geht. Ich verabscheue das ebenfalls.«
Lisbeth traute ihren Ohren nicht und sagte: »Gerade fing ich an, Ihnen zu glauben. Machen Sie es jetzt bloß nicht kaputt.«
Der Weihnachtsmann gluckste und sagte: »Nein, du hast recht. Alle drehen wie auf Kommando durch, als käme Weihnachten jedes Jahr so überraschend, dabei ist ja Zeit genug um sich darauf vorzubereiten. Am Ende darf alles dann der Weihnachtsmann richten.« Er fuhr fort: »Weißt du wer die glücklichsten Menschen an Weihnachten sind? Das sind nicht die mit den größten Wünschen. Es sind die, die sich was aus tiefsten Herzen wünschen und ich meine es geht hier nicht um materielle Dinge«
Lisbeth dachte über die Worte des Weihnachtsmanns nach und forderte dann: »Ok, beweisen Sie’s!«
Jetzt war es am Weihnachtsmann etwas verwirrt zu schauen und er fragte: »Wie, bitte?«
»Sie können mein Geschenk behalten, dafür erfüllen Sie mir nur einen der Wünsche, die Sie aufgezählt haben, egal welchen. Es würde mir sogar reichen, wenn Oma und Opa zu Besuch kämen.«, sagte Lisbeth und sah dem Weihnachtsmann fest in die Augen. Er betrachtete sie sorgfältig und stellte dann fest: »Dir ist das Ernst.«
»Ja, vollkommen, oder bin ich zu fordernd? Ich möchte wirklich nicht aufdringlich sein«, entschuldigte sich Lisbeth sogleich.
»Nein, überhaupt nicht. Alle deine Wünsche sind machbar, aber du musst dich für einen Wunsch entscheiden.«, sagte der Mann.
»Also haben wir einen Deal?«, fragte Lisbeth freudig.
»Ja, wir haben einen Deal.« Der Weihnachtsmann hielt ihr die Hand hin und Lisbeth schlug ein.
»Nun gut.«, sagte er feierlich. »Schließe die Augen und denke fest an den Wunsch, den ich dir erfüllen soll.«, forderte er Lisbeth auf.
Lisbeth schloss die Augen für eine knappe Minute. Als sie die Augen öffnete, sagte sie: »Ok, ich habe mich für einen …«
Sie unterbrach sich, denn der Weihnachtsmann war nicht mehr da. Lisbeth sah sich um. Ihr Geschenk unter dem Baum fehlte und ihre Uhr zeigte 18:24 Uhr und 7 Sekunden und lief wieder.
»Mit wem sprichst du, Lisbeth«, fragte ihre Mutter, die plötzlich in der Tür stand. »Ach mit niemandem, ihr habt die Baumspitze vergessen.«, lenkte Lisbeth ab, aber ihre Mutter hörte ihr gar nicht zu, denn sie fragte: »Lisbeth hör mal, ähm … ich habe viel zu tun und … naja ich dachte vielleicht könntest du mir etwas zur Hand gehen … also nur …« Sie kam ins Stottern, doch Lisbeth lächelte und sagte. »Ich helfe dir gerne. Ich könnte ja den Tisch decken, wenn du magst.« Ihr Mutter strahlte und sah ziemlich erleichtert aus und Lisbeth freute sich über die Aufgabe.
Eine Stunde später saßen alle am festlich gedeckten Tisch. Die Hektik hatte sich gelegt, die Festtagsente war ein Gedicht, das Radio spielte Weihnachtslieder, Dianas Keyboard war für das spätere Weihnachtslieder-Singen aufgebaut und die Christbaum-Spitze war nun auch an ihrem Platz. »Vielleicht wird es doch noch ganz schön.«, dachte sich Lisbeth.
»Papa, was ist los?«, fragte Diana ihren Vater. »Du grinst schon den ganzen Abend.«
»Nun, ich muss euch etwas sagen.«, rückte er zögerlich mit der Sprache heraus und alle sahen ihn gespannt an. Er fuhr fort: »Ich hatte einen Anruf von meinem Chef und ich bekomme ab Januar eine Festanstellung und sogar ein höheres Gehalt.«
Alle klatschten und freuten sich. Als sich der Trubel etwas gelegt hatte, sagte er zu Diana: »Übrigens, in der Post war ein Brief für dich, hier bitte. Post an Heiligabend, stellt euch mal vor.« Diana nahm verdutzt den Brief und begann ihn zu lesen.
Mutter sagte: »Ich habe auch noch eine freudige Nachricht: Oma Kathie und Opa Günther kommen uns am 2. Weichnachtsfeiertag besuchen. Ist das nicht toll?«
Da rief plötzlich Diana: »Oh, wie geil!« Alle sahen sie an. »Der Brief von der Schule …«, fuhr sie fort. »Wir bekommen endlich einen Proberaum für die Schulband, sogar mit Schlüssel!« Diana war außer sich, vor Glück.
Mutter sagte plötzlich: »Seid mal kurz still, die bringen gerade was Wichtiges im Radio.« Und drehte etwas lauter.
»… soeben erfahren, dass die Kampfhandlungen mit sofortiger Wirkung eingestellt werden. Die Anführer beider Seiten sind bereit, sich an einen Verhandlungstisch zu setzten. Wollen wir hoffen, dass somit ein jahrelanger Konflikt, bald der Vergangenheit angehört …«
»Na, wenn das mal kein tolles Weihnachten ist, die guten Nachrichten reißen nicht ab.«, sagte der Vater und drehte das Radio wieder leiser. Da fragte Kevin plötzlich: »Aber warum ist Lisi dann so traurig?«, und sah Lisbeth an, die Tränen in den Augen hatte.
»Kevin, du hast ›traurig‹ gesagt und nicht wie sonst ›taulig‹. Oh, ich werde deinen Sprachfehler vermissen.«, sagte Diana, aber niemand hörte ihr zu.
»Lisbeth, was ist denn, mein Schatz.«, fragte die Mutter besorgt. Lisbeth wischte sich die Tränen aus den Augen und sagte: »Nichts, ich freue mich so, über all die guten Nachrichten.« Vater sagte etwas bekommen: »Nun es gibt auch eine schlechte Nachricht: Was dein Geschenk angeht, Lisbeth … es gab da … nun ja …«, aber Lisbeth lächelte nur und sagte: »Nun, der Weihnachtsmann wird sich sicher auch über gute Musik freuen. Alle erwarten Geschenke vom Weihnachtsmann, aber er erhält nie ein Geschenk.« Die Eltern sahen sich an, wusste aber nichts darauf zu erwidern.
Lisbeth erklärte weiter: »Ich brauche kein Geschenk, ich habe schon mehr Geschenke erhalten, als ich verdient habe. Dies ist mein schönstes Weihnachten.«, endete sie und nun brach sie vollends in Tränen aus. Alle kamen, um Lisbeth zu umarmen.
Sie lagen sich noch in den Armen, als der Radiosprecher verkündete:
»Und nun ein besonderer Weihnachtswunsch: Herr W. aus N. wünscht sich von Queen - ›Thank God It’s Christmas‹, für Lisbeth, ein Mädchen, dass den wahren Weihnachtsgedanken in Ihrem Herzen trägt.«