Tierärztlicher Notdienst
„Was machen Sie in meinem Schlafzimmer?“ Ich springe aus meinem Bett. Ein Typ in schwarzen Stiefeln und roten Klamotten mit weißem Bart und Brille starrt mich an. Keine Ahnung, wie lange schon, aber er hält einen leeren Jutesack in der Hand. Der wollte mich eben bestimmt ersticken. Heilige Scheiße. Gott sei Dank bin ich wach geworden. Ich muss die Polizei rufen.
„Wonach sieht’s denn aus?“ Er kratzt sich am Bart, als wäre es das Normalste der Welt, vor meinem Bett zu stehen.
„Sofort raus hier. Sie haben wohl den Knall nicht gehört. Ich rufe die Polizei.“ Ich greife nach meiner Nachttischlampe, bereit ihm das Ding zwischen die Augen zu donnern.
„Silvio, beruhige dich.“ Seine Stimme klingt weich. Weich wie eine warme Wolldecke, die mich ummantelt. „Ich bin es doch. Kannst du dich nicht an mich erinnern?“
Nein, um ehrlich zu sein, kann ich das nicht. Der Weihnachtsmann wird er ja wohl kaum sein. Aber er kennt meinen Namen. Das wundert mich. An dem Schild an meiner Einfahrt steht lediglich Tierarztpraxis Callsen. Woher also weiß er…
„Damals, als du dir die Carrera-Bahn gewünscht und dann endlich zu deinem achten Weihnachtsfest bekommen hast, weißt du das gar nicht mehr?“ Er tippt sich auf den Nasensteg seiner Brille.
„Doch, klar… Das war richtig cool.“ Ich stutze. Woher… Nur meine Eltern wissen davon.
„Du, aber warum ich hier bin…“ Er greift nach meiner Hand. „Rudolfs Nase ist entzündet. Sie leuchtet nicht mehr und hat schwarze Flecken. Du bist doch Tierarzt. Du musst uns helfen.“ Er zeigt nach draußen in meinen Garten.
Schwarze Flecken… Das klingt nach… „Warte kurz, ich komme sofort.“ Ich steige in meine Schlappen, werfe mir eine Fleece-Jacke über und renne in den Flur. Der Weihnachtsmann folgt mir. Im Vorbeigehen greife ich eine Taschenlampe und meine Tierarzttasche. Rudolf steht mit hängenden Ohren in meinem Garten. Das Heu aus dem Heunetz rührt er nicht an. Er blickt immer wieder zu seinem Bauch.
„Ach herjee.“ Ich krame in meiner Tasche. Irgendwo habe ich doch… ach hier.
„Was hat er?“ Der Weihnachtsmann krault besorgt Rudolfs Ohr.
„Kann es sein, dass er zu viel Schokolade gefressen hat?“ Ich ziehe die Spritze auf. „Er wird Bauchschmerzen haben, ich gebe ihm etwas gegen die Schmerzen und einen Krampflöser.“
„Naja, nicht mehr als sonst. Die Zartbitter hat er letztens nicht angerührt, aber Haselnuss mag er halt einfach total gern.“ Der Weihnachtsmann streichelt mechanisch Rudolfs Hals.
„Santa, so läuft das nicht. In einen Rudolf gehört keine Schokolade.“
Betroffen sieht er zu Boden. „Nicht mal eine Tafel? Er mag sie doch so gern.“
Die schwarzen Flecken auf Rudolfs Nase verschwinden. Er mümmelt Heu.
„Nicht mal eine Tafel. Komm mal im Sommer wieder und mach bei mir ein Praktikum. Dann erkläre ich dir ein paar Basics.“
Der Weihnachtsmann nickt und steckt Rudolf einen Müsli-Riegel zu.
Alte Männer, ey… unmöglich.