CHRISTMAS in GOTHAM
Ich hatte beschlossen, meinem jämmerlichen Dasein ein Ende zu setzen. Niemand würde mich vermissen, niemand würde um mich trauern. Wahrscheinlich würde es nicht einmal jemand bemerken.
Seit Jahren hatte ich das Institut nun schon nicht mehr verlassen. Gruppensitzungen, Einzelgespräche, psychologische Tiefenanalysen, jeden gottverdammten Tag. Mit welchem Erfolg? Es wurden immer mehr. Diese Stadt war ein Geschwür, auf deren Straßen der Wahnsinn tanzte und das Böse lachend aus jeder Ritze kroch.
»Gotham ist die Stadt der Verzweifelten, der Verrückten und Wahnsinnigen«, hatte Großvater immer gesagt. »Es ist der ideale Standort für unser Institut.« Welch Ironie, zweifellos hatte er Recht behalten. An Arbeit hat es uns nie gemangelt. Doch zu welchem Preis. Nein, es hatte keinen Sinn mehr.
»Gotham ist ein Moloch«, hatte Bruce gerade gesagt. Wie immer trug er seinen schwarzen Latexanzug und die Maske mit den Fledermausohren. Die anderen waren darauf eingegangen und brüllten im Chor.
»Moloch, Moloch, Moloch …« Harlekin stampfte ihren Baseballschläger auf den Boden, Pinguin klatschte seine Patschehändchen zusammen, Joker und Bane hämmerten auf die Tischplatte …
Was bin ich froh euch nicht mehr wiedersehen zu müssen, dachte ich, während meine Hand den kalten Stahl der 45er in meiner Tasche fühlte.
»Jeremiah?«
Ich drehte mich um. Ein dicker Kerl. Roter Anzug. Langer weißer Bart. Die Lampe an der Tür war defekt. Sein Gesicht war nicht zu erkennen.
»Jeremiah Arkham? Ah, da bist du ja. Tut mir leid, ich bin spät dran. Heiligabend ist es immer ein
bisschen stressig.«
Woher kannte er meinen Namen? Keiner der Patienten kannte ihn. Sie nannten mich alle nur »Doktor«.
Er kam auf mich zu. In den Händen hielt er ein kleines Päckchen mit einer roten Schleife.
»Ich bin …«
»Lass mich raten, Santa Claus?«
Er schüttelte den Kopf »Natürlich bin ich das. Ich
bin gekommen, um dir dein Geschenk zu bringen.«
»Mein Geschenk?«
»Ja natürlich, hier bitte.« Er lächelte sanft.
Noch so ein Verrückter. Wenigstens hält er sich nicht für den nächsten Superschurken. Erst da bemerkte ich, dass alle außer mir in eine Art Trance verfallen waren. Als hätte Mr. Freeze sie in der Bewegung eingefroren.
»Na los, mach es auf.«
Ich tat dem Spinner den Gefallen. Es war ein altes
Schwarzweiß-Foto in einem goldenen Rahmen, auf
dem ich mit meinem Vater und meinem Großvater zu sehen war. Es war draußen am Tor vor dem Institut aufgenommen worden, am Tag meiner Graduierung zum Doktor der Psychologie. Sie hatten mich in die Mitte genommen und beide einen Arm um meine Schultern gelegt, so stolz wie Väter nicht stolzer sein konnten. Ich schluckte, wie lange war das jetzt schon her. Wie sehr musste ich sie enttäuscht haben.
»Weißt du, wie sehr sie dich bewundern, Jeremiah?«
»Bewundern? Wohl kaum«, platze es aus mir heraus. »Ich bin ein Versager und …«
Santa hob einen Zeigefinger und schlagartig versagte mir die Stimme.
»Jeremiah, Jeremiah, wie kann man nur so töricht sein. Leider drängt die Zeit. Wie du weißt, sind nur noch ein paar Stunden bis Mitternacht. Aber ich werde dir den Geist der Vergangenheit vorbeischicken, versprochen. Da draußen sind so viele, die dir ihr Leben verdanken. So viele, die dich brauchen. Und die da brauchen dich ganz besonders.« Lächelnd deutete er auf meine Gruppe.
»Ach ja, die wirst du nicht brauchen.« Plötzlich hielt er den Revolver in Händen, der gerade noch in meinem Sakko steckte. Er drückte ihn zusammen, als wäre er aus Knetgummi.
»Hey, Doktorchen, lassen Sie uns anstoßen. Es gibt was zu feiern.«
Harlekin hielt ein Glas in ihren Händen und prostete mir zu. »Frohe Weinachten«, riefen sie alle zusammen.
»Frohe Weinachten«, sagte ich leise.
Santa war verschwunden. Das Bild hielt ich noch immer in meinen Händen.