Seitenwind 2024 beginnt! 1. Teil

An einem Montagmorgen schloss Anton Taler den Deckel seines Laptops und rieb sich geistesabwesend mit der Hand über die Stirn. Das angepinnte Schild an seinem Hemd war das einzige, was frisch und akkurat an ihm saß. Er kniff sich in die Nasenwurzel und wünschte seine rasenden Gedanken zur Hölle, die ihm die zweite schlaflose Nacht in Folge beschert hatten.
Sein Handy klingelte und er fuhr so heftig zusammen, dass der Laptop beinahe von seinem Schoß rutschte. Es war noch nicht einmal hell und schon belästigte man ihn wieder.
Geistesabwesend griff er nach dem Knoten seiner Krawatte und zerrte daran, als könne er dadurch die plötzliche Enge in seiner Kehle lindern.
»Was?«, blaffte er in den Lautsprecher und ballte die Hand um den roten Stoff.
»Der Geier ist gelandet.«
Taler hätte das Handy am liebsten gegen die Wand geschmettert. Was erlaubte der Kerl sich eigentlich? »Sparen Sie sich Ihre geschmacklosen Witze und sagen Sie mir, was Sie herausfinden konnten.«
»Unser Robin Hood hat den Köder direkt nach seiner kleinen Showeinlage weggebracht, ganz wie von Ihnen verlangt.«
»Die Spurensicherung?«
»Hat lediglich die Blut- und Gehirnreste vom Boden kratzen können.«
Taler atmete tief durch.
»Das Video ist ein voller Erfolg, Chef.«
»Das weiß ich selbst.«
»Die Medien werden über nichts anderes berichten.«
Talers Blick zuckte zu dem leeren Sparschwein auf dem Sideboard und er biss die Zähne fester zusammen.
»Suchen Sie mir beim nächsten Mal ein zahlungswilligeres Opfer aus, Anster.«
»Wie Sie wünschen, Chef.«
Taler legte auf, erhob sich von seinem Stuhl und ging auf die Tür zu seiner Linken zu. Für einen Moment schloss er die Augen, versuchte sich für das Bild zu wappnen, das ihn gleich erwarten würde.
Er drückte die Klinke hinunter und lehnte seine Schulter leicht gegen das Türblatt. Dann trat er ein. Im dämmrigen Schein des Nachtlichts blickte er auf die zierliche Gestalt hinab, die friedlich in ihrem Bett schlief. Wäre da nicht das stetige Piepen, das den Eindruck von heiler Welt in Sekundenbruchteilen zu Nichte machte.
Zu viele Schläuche, zu blasse Haut, zu hohe Rechnungen.
Taler trat einen Schritt zurück und zog die Tür wieder hinter sich ins Schloss. Dann griff er nach der Aktentasche neben dem Esszimmertisch.
»Du gehst schon?«, fragte eine verschlafene Stimme aus Richtung des Badezimmers.
»Tut mir Leid Schatz, es gab wieder einen Mord«, sagte er mit ernster Stimme zu seiner Frau.

Dorothea Berger hatte lauschend in der Tür zwischen Diele und Wohnbereich verharrt, um herauszufinden, mit wem sich ihr Mann unterhielt. Sehen konnte sie niemanden, denn wegen der vorgelegten Sicherheitskette ließ sich die Haustür nur einen Spalt breit öffnen. Doch jetzt stand ihr Mann vor der geschlossenen Tür mit einem Ausdruck im Gesicht, als wäre er dem Leibhaftigen begegnet.

»Wer war das, Rich? Und was war das für ein furchtbarer Knall?«

»Du sollst die Polizei rufen! Da hat sich eben ein Kerl direkt vor unserer Tür erschossen und sein Kumpel hat alles gefilmt!« Mit einem leisen Aufschrei des Entsetzens löste sich Dorothea aus ihrer Erstarrung.

Vor Richard Bergers Augen lief die absurde Szene wieder und wieder in Dauerschleife ab. Er fühlte sich entsetzlich hilflos. Wie verhielt man sich in einer solchen Situation? Er ging in die Küche, wo seine Frau mit dem Handy stand und gerade in harschem Tonfall sagte: »Entschuldigung, das weiß ich auch nicht! Sie sollten sich lieber selbst einen Eindruck verschaffen!«

Berger schwankte. Das Bild der explodierenden Blutwolke hinter dem Selbstmörder hatte sich in seine Netzhaut geätzt. Wie ein gefällter Baum war der Graubärtige nach hinten gekippt. Er löste seinen Krawattenknoten und den obersten Kragenknopf, schluckte und ging ins Bad. Gerade rechtzeitig, denn plötzlich wurde ihm übel und er übergab sein, noch vor Kurzem in häuslicher Harmonie genossenes, Sonntagsfrühstück der Kanalisation.

Während er sich anschließend Gesicht und Hände wusch, blickte er in sein Spiegelbild über dem Waschbecken. Wie wenige Augenblicke unser Leben im Nullkommanichts komplett verändern, dachte er. Als er sich heute früh rasiert hatte, hatte ihn das Spiegel-Ich eines immer noch attraktiven Mittvierzigers angeschaut, der wieder vor Lebenslust, Zukunftsperspektiven und kreativer Ideen sprühte, trotz seiner, durch Fehlinvestitionen verursachten, finanziellen Verluste. Jetzt erinnerten ihn die glanzlosen Augen erneut an Richard, den Loser, und seine unrühmliche Vergangenheit. Wie hatte der jüngere Typ ihn tituliert? Ausbeuter. Kapitalist. Schwein! Und was sollte diese Geldforderung? Zehntausend Euro. Brachte man sich dafür um? Vielleicht hatte der Typ Mietrückstände und ihm drohte die Obdachlosigkeit. Oder benötigte die Summe für eine lebensrettende Operation eines Angehörigen. Warum ausgerechnet diese Summe? Verlangten ›normale‹ Erpresser nicht üblicherweise sehr viel mehr? An irgendetwas erinnerte ihn der Betrag, aber in seiner momentanen Verwirrung gelang es ihm nicht, den Gedanken festzuhalten.

Neuerlich wurde sich Berger der Absurdität des Geschehens bewusst. Ob der, der das gefilmt hatte, noch immer da draußen war? Und wenn er das Video veröffentlichte? Was könnte das beweisen, außer dass Richard das Opfer ist und nicht der … Tote. Er hielt die Endgültigkeit, die dieser Tatsache zugrunde lag, kaum aus. Und was sollte er selbst der Polizei erzählen – kein Wort würde man ihm glauben. Er konnte es kaum selbst. Lauter Fragen, keine Antworten. Hoffentlich würde die Polizei eine Erklärung finden. Dorothea klopfte an die Tür.

»Liebling, alles in Ordnung? Kann ich dir helfen, Rich?«

Richard Berger schloss den Kragenknopf und begann seine Krawatte zu richten, als er es bemerkte. Wieder drohte er aus dem Gleichgewicht zu geraten, denn er war sich zu einhundert Prozent sicher, am Morgen die Krawatte mit den goldenen Euro-Zeichen angelegt zu haben. Hatte Dorothea nicht sogar noch spitz bemerkt, dass sie das Muster unangemessen für den Gottesdienst fand? Warum nestelte er aber jetzt an einem zwar ebenfalls grünen, aber gestreiften Schlips herum? Oder hatte er einfach vergessen, dass er sie gewechselt hatte? Was, zum Teufel, ging hier vor?

»Ich bin okay, Schatz«, log er und öffnete zögerlich die Tür, »wann kommen die Polizei und der Notarzt? Hat jemand gesagt, was wir bis dahin tun sollen?«

»Aber Rich, was ist denn bloß los mit dir, wirst du krank? Du stehst ja komplett neben dir! Warum sollte denn die Polizei kommen? Ich will ja nicht drängen, aber wir sollten jetzt los, wenn wir noch rechtzeitig zur Kirche wollen.«

Richard Berger fühlte sich tatsächlich hundeelend und verstand die Welt, zumindest seine eigene, nicht mehr. Er zog sich mechanisch fertig an und wappnete sich gegen den Anblick, der sich ihm und Dorothea gleich bieten musste, als er die Haustür öffnete.

Frau Hagedorn, die ältere Witwe, die in derselben Straße, nur wenige Grundstücke weiter wohnte, und die von den meisten Anwohnern hinter vorgehaltener Hand ›The Observer‹ genannt wurde, ging mit ihrem adipösen Dackel auf dem Bürgersteig an Bergers Gartentor vorüber und winkte ihnen grüßend zu. Doch von den beiden Fremden, nicht einmal von dem toten, war weit und breit nichts zu sehen!

Berger brach kalter Schweiß aus. Auf wackeligen Beinen ging er die paar Stufen hinunter auf den Plattenweg. Und da sah er ihn: Einen großen dunkelroten, feucht glänzenden Fleck, den das in den Sandstein gesickerte Blut hinterlassen hatte.

Drei Stunden später hockte Berger im sterilen, viel zu hellen Vernehmungsraum der örtlichen Polizei und nippte noch immer zitternd am schlechtesten Kaffee, der ihm jemals untergekommen war. Die vielen Worte, die er eben gegenüber der jungen Beamtin zu Protokoll gegeben hatte, wiederholten sich wieder und wieder in einzelnen Bruchstücken in seinem Kopf. Ebenso wie das Bild des Mannes, den die Polizei in einem Leichensack aus seinem Garten getragen hatte. „Ich habe soetwas noch niemals gesehen. Ich meine, er hat einfach abgedrückt. Wer macht sowas?“, stammelte er und stellte die Tasse vor sich auf den zerkratzten Tisch. „Ich hätte … ich hätte es ihm vielleicht einfach geben sollen. Das Geld, meine ich. Ich hätte …“

„Sie haben keinen Fehler gemacht, Herr Berger. Die Situation war außerordentlich belastend.“ Die Beamtin tippte irgendwas in ihren Computer und klang sehr sachlich, als sie das sagte. War sie sich denn nicht der enormen Tragweite dieser Sache bewusst? War ihr nicht klar, dass da wirklich ein Mensch in seinem Garten gestorben war?

„Konnten Sie den anderen denn bereits fassen?“, fragte Berger mit brüchiger Stimme. „Den mit dem Handy, der alles gefilmt hat? Sie … Sie sorgen doch dafür, dass die Aufnahmen nicht veröffentlich werden, oder?“

„Nein, die Fahndung läuft noch und wir behalten die gängigen Kanäle im Blick. Bislang wurden keine Aufnahmen im Zusammenhang mit dem Vorfall veröffentlicht. Wir behalten aber alles im Blick und werden natürlich sofort reagieren, wenn irgendwo irgendwas hochgeladen wird. Und Sie melden sich bitte sofort, wenn Sie sich an irgendwelche weiteren Details erinnern oder den Mann, der Sie gefilmt hat, noch einmal sehen.“

Berger nickte. Rosenthal ebenfalls. „Wir danken für Ihre Mithilfe. Es tut mir sehr leid, dass Ihnen das heute widerfahren ist, aber wir werden unser Bestes tun, um den Fall so schnell wie möglich aufzuklären.“

Sie erhob sich und begleitete Berger und seine Frau, die auf dem Flur wartete und von ihrem Kollegen Schmidt vernommen worden war, zum Ausgang. Beide warteten an der Tür, bis das Ehepaar in den grauen VW gestiegen und hinter der großen Linde an der Kreuzung verschwunden war.

„Wieder dieselbe Geschichte. Ich hab deinen Bericht gelesen“, murmelte Rosenthal und verschränkte nachdenklich die Arme vor der Brust. „Sie passt haargenau zu den anderen. Wie zur Hölle ist das möglich?“

Schmidt zog die Schultern hoch und schnalzte mit der Zunge. „Wir haben vier Schaufensterpuppen mit Kopfschuss in der Leichenhalle liegen. Vier Männer in etwa demselben Alter, die allesamt Stein und Bein schwören, dass diese Puppe keine Puppe, sondern ein Kerl war, der sich vor ihren Augen eine Knarre in den Mund gesteckt und abgedrückt hat. Noch dazu in Begleitung eines weiteren Mannes, von dem es absolut keine Spur gibt. Alles, was wir also haben, sind vier Puppen, etwas Kunstblut und vier absolut übereinstimmende Aussagen von sehr zuverlässigen Männern, die der Meinung sind, Augenzeuge eines Mordes gewesen zu sein. Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht.“

„Dorothea, hörst du nicht?“ Mit wild klopfendem Herzen sah Herr Berger sich nach seiner Ehefrau um, die doch eben noch hinter ihm im Hausflur gestanden hatte. Er blinzelte. Ihm war gar nicht gut. „Dorothea? Dorothea!“
Dass nicht nur vor seiner Haustür, sondern auch innerhalb der vermeintlichen Sicherheit seines eigenen Heims etwas ganz und gar im Argen lag, merkte er, als er die Hintertür ins Schloss fallen hörte. Ein im Grunde unschuldiges Geräusch, für das es viele unschuldige Erklärungen geben könnte. Dorothea könnte an die frische Luft gegangen sein oder die Katze hereingelassen haben. Sie könnte sich entschieden haben, im Garten einige der noch im Spätsommer blühenden Blumen zu pflücken, um damit den Kaffeetisch nach dem Gottesdienst zu dekorieren. Doch Herr Berger spürte instinktiv, dass keine dieser Erklärungen zutraf. Und als eine kühle, fremde Männerstimme aus dem Salon erklang, kam es ihm schon fast logisch vor, dass auf den Wahnsinn von soeben, nun der nächste Wahnsinn folgen würde.
„Herr Berger. Seien Sie doch so gut und gesellen Sie sich zu mir. Kommen Sie. Nur keine Scheu.“
Mit weichen Knien betrat Herr Berger den Salon, wo ein junger Mann auf dem Sofa neben dem Bücherregal saß. Im Gegensatz zu den Männern an der Tür wirkte dieser hier in seinem grauen Sakko und mit der auf dem Salontisch abgelegten Aktentasche durchaus wie ein Vertreter.
„Wo ist mei…“ Herr Berger hielt inne, als seine Stimme sich überschlug, und räusperte sich, bis er zuversichtlich war, einen festen Tonfall anschlagen zu können. „Wo ist meine Frau?“
„Sie wurde soeben abgeholt, Herr Berger und befindet sich nun in der Obhut meines Auftraggebers. Grämen Sie sich nicht. Wenn Sie genau tun, was ich Ihnen sage, steht der baldigen Heimkehr Frau Bergers nichts im Wege. Setzen Sie sich doch.“ Einladend deutete der grausige Vertreter zum Sessel, als wäre er der Hausherr.
„In wessen Obhut? Was?“ Es fiel Herr Berger schwer, klar zu denken. Der Anblick des Toten auf dem Plattenweg ließ ihn nicht mehr los. „Vor meinem Haus hat sich jemand erschossen. Erschossen!“
„Genau, ja. Das war Herr Schätzle. Seine Zeit war abgelaufen, Herr Berger. Ihre eigene Zeit läuft jedoch gerade an. Wir sollten sie nicht vergeuden. Wollen Sie sich nicht doch lieber hinsetzen? Sie sind etwas bleich um die Nase.“
Kraftlos sank Herr Berger in seinen Lieblingssessel, dem auf einmal jede Behaglichkeit abhandengekommen zu sein schien. „Meine eigene Zeit?“
„Ja, Herr Berger. Sie müssen sich jetzt zusammenreißen, sonst haben Sie das Spiel schon so gut wie verloren.“
„Ich will nicht mitspielen“, flüsterte Herr Berger und ein kalter Schauer rieselte ihm durch alle Glieder.
„Na na, Herr Berger. Dann hätten sie Ihrem Vorgänger die zehntausend Euro geben sollen. Damit wäre das Spiel beendet gewesen. Doch jetzt geht es in die nächste Runde und Sie sind am Zug. Gelingt es Ihnen innerhalb der nächsten zwei Stunden hier in dieser Stadt einen Ihnen fremden Menschen zu finden, dem Ihr Leben zehntausend Euro wert ist, haben Sie gewonnen.“
„Das wird doch niemals klappen!“
„Und ist das nicht schrecklich?“ Der Fremde beugte sich ein wenig vor und für einen Moment flackerte in seinen Augen etwas Unstetes. „Diese Verrohung der Menschheit? Diese Kälte der Gesellschaft?“ Er lehnte sich wieder zurück und atmete tief durch. „Zu den Einzelheiten. Das ganze … nun, sagen wir: Experiment, wird dokumentiert. Ich werde Sie auf Schritt und Tritt begleiten und manchmal filmen. So wie es mein Kollege eben bei Herrn Schätzle getan hat. Wir werden uns gleich auf den Weg machen und uns unauffällig verhalten. Wie Vater und Sohn auf einem Sonntagsausflug.“
„Wieso? Das ist … das ist doch krank. Filmen? Wer will so etwas sehen?“
„Das braucht Sie zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht zu kümmern, Herr Berger. Wollen Sie sich umziehen, oder sind sie so fertig? Denken Sie an bequemes Schuhwerk. Sie werden eine Weile zu Fuß unterwegs sein. Ihr Auto dürfen Sie nicht nutzen. Über den öffentlichen Nahverkehr können wir eventuell reden.“
„Ich bitte Sie …“
„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie hier gleich unterbreche. Nicht um Mitleid heischen, Herr Berger. Sie selbst hatten doch auch keins, nicht wahr?“
Herr Berger blickte auf die Krawatte mit den goldfarbenen Eurozeichen herab, die ihn jetzt geradezu zu verspotten schien.
„Nicht verzagen, Herr Berger.“ Der Mann sprach nun tröstlich und Herr Berger hob hoffnungsvoll den Kopf. „Wenn die Zeit abgelaufen ist und Sie sich erschießen, ehe ich es für Sie tue, dann retten Sie damit Ihre Frau. Eine letzte selbstlose Tat. Die Tilgung jeglicher Schuld. Ich kann mir vorstellen, dass Herr Schätzle am Ende einen tiefen Frieden empfunden hat, und Ihnen wird es genauso ergehen.“
Kurz hatte Herr Berger das Gefühl, schlecht Luft zu bekommen und ihm wurde leicht im Kopf, als befände sich dort schon jetzt nichts mehr als rötlich-grauer Nebel. Dann zwang er sich zur Ruhe und dachte an Dorothea. Ob er ihre Entführung noch hätte verhindern können, wäre er vorhin gleich zur Hintertür gerannt? Wahrscheinlich nicht. Wenn er nun vorgab, mitzuspielen, und dann unterwegs zur Polizei floh? Doch hatte er keinen Zweifel, was das für seine Frau bedeuten würde. Nein, ihm musste etwas Klügeres einfallen, um diesem Irrsinn ein Ende zu bereiten. Würde die Polizei nicht sowieso bald auftauchen? Der Schuss musste in der ganzen Nachbarschaft zu hören gewesen sein. Lag die Leiche noch vor seiner Tür, oder war sie ebenso verschwunden wie Dorothea? Mit bangem Herzen beobachtete er, wie der Eindringling auf seine Uhr blickte und dann mit routiniertem Griff die Aktentasche öffnete.

Die bebte auch, und war ganz offensichtlich außerstande, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen.

»Ruf - die - Polizei!«, wiederholte Richard Berger. Er hielt den Rücken an die Eingangstür gepresst, als rechnete er jeden Augenblick damit, dass aufgebrachte Horden sein Heim stürmen könnten, herbeigerufen durch den unverzüglich in die sozialen Medien hochgeladenen Selbstmord-Clip.

»Ich kann nicht« flüsterte seine Frau. Ihre Stimme war gespenstisch dünn, als ob sie jeden Augenblick anfangen würde, hysterisch zu schreien.

Richard Berger brach der Schweiß aus. Bereits die Vorstellung, sich mit dem Rücken von der Tür zu lösen, die ihm irgendwie auch Halt gab, forderte ihm fast unmenschliche Kraft ab.

In diesem Augenblick machte es »Puff«.

Es war ein leises Geräusch, fast unscheinbar, doch da sich gleichzeitig in der Mitte des Raumes eine kleine grüne Wolke bildete, die sich dann schnell ausbreitete, riss es Richard und Dorothea Berger aus ihrer Erstarrung.

»Huch«, sagte seine Frau, und bevor Richard Berger das Groteske der Situation auch nur annähernd erfassen konnte, schälte sich aus dem dunstigen Grün ein bezipfelter Zwergenschuh, und gleich darauf ein zweiter.

Richard Bergers Mund klappte auf, und wieder zu. Seine Frau sah zum Erbarmen aus, aber Richard hatte nur Augen für die grüne Wolke, aus der jetzt zwei kurze Beine sichtbar wurden , dann ein kleiner, lederbekleideter Rumpf, und sofort noch eine Mütze, die jeder norwegischen Zwergengeschichte Ehre gemacht hätte, mit Rentiermotiven, und Zopfmustern. Als der kleine Kopf sich hob, sah Richard Berger zwei blanke Knopfaugen, schwarz wie die Nacht, die ihn über einer fast knuffig anmutenden, leicht rötlichen Kartoffelnase merkwürdig scharf ansahen.
Richard Bergers Mund öffnete sich, langsam und zitternd.

Doch bevor er noch das erste Wort herausbringen konnte, stieg hinter dem ersten Zwerg ein zweiter aus der Wolke. Er glich dem ersten wie ein Ei dem anderen - mit einem winzigen Unterschied: Seine Nase schimmerte leicht bläulich. Er fragte:
»Und? Sind sie fertig?«

Ärgerlich drehte der erste Zwerg den Kopf: »Nun hetz doch nicht. Ist doch klar, dass die beiden gerade ein bisschen überfordert sind."

Der zweite Zwerg maulte ein bisschen, hielt sich jedoch zurück.

Die beiden Zwerge reichten dem Herrn des Hauses gerade mal bis zum Knie. Richard Berger wäre allerdings keine Sekunde lang auf die Idee gekommen, sich deswegen überlegen zu fühlen. Er spürte, wie ihm der Schweiß die Schläfen herabrann, und diese winzige Wahrnehmung von Körperlichkeit ermöglichte es ihm plötzlich, Kontakt zur Realtiät zu bekommen. Er öffnete den Mund:

»Was …«

Der Zwerg mit der roten Nase sah mit einem schiefen Grinsen hinüber zu seinem blauen Gefährten, nickte zufrieden und drehte sich dann wieder Richard Berger zu.

»Wir…« verbesserte er, und fuhr nach einer winzigen Pause fort:
»Wir sind Ihre Alternative!.«

»Ich verstehe nicht …« brachte Richard Berger heraus.

Wieder nickte der Zwerg. »Kein Wunder«, sagte er, »ist ja auch gerade ein bisschen viel auf einmal.«
Er holte tief Luft.
»Lassen Sie mich erklären … «, fuhr er fort.
Der Rotnasige räusperte sich, machte eine etwas skurril anmutende Bewegung mit seiner Hand, schnipste, und mitten im Raum materialisierte sich eine zweite Wolke. Sie war hell blau.

Dorothea Berger, die immer noch stocksteif neben der Garderobe stand, hickste.
Sofort trat der zweite Zwerg neben sie und nahm sie fürsorglich bei der Hand. Merkwürdigerweise schien Dorothea Berger das zu beruhigen, denn sie hielt still.

Unterdessen breitete sich die hellblaue Wolke rasch aus. In der Mitte wurde sie transparent, und Richard Berger sah Berge, weiße Wölkchen, eine Sennhütte, wie er sie aus dem letzten Urlaub in Oberbayern kannte, und ein paar Kühe.
Um dem ganzen die Krone aufzusetzen, klappte aus dem unteren Rand der Wolke jetzt eine Treppe heraus.

Richard Berger traten fast die Augen aus dem Kopf.

»Wir, …«, wiederholte der Zwerg mit der roten Nase jetzt noch einmal,
»… wir sind Ihre Alternative. Wollen wir?«
Einladend hielt er Richard Berger seine Hand hin, während sein Gefährte mit der blauen Nase Dorothea Berger bereits Richtung Treppe bugsierte.

Dorothea, stand am Fuß der Treppe. Ihr Gesicht war bleich, ihre Hände umfassten das Geländer so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.

„Er hat es wirklich getan“, flüsterte Dorothea, mehr zu sich selbst als zu ihrem Mann. „Er hat es wirklich getan.“

Berger sagte nichts. Sein Atem ging flach, sein Gesicht war aschfahl.

„Er hat sich umgebracht“, sagte er schließlich mechanisch, als versuchte er, die Worte zu begreifen. „Vor unserer Tür. Vor meiner Tür.“

„Was hast du getan?“ fragte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

„Ich… ich habe nichts getan!“ stieß er hervor. „Der Mann war verrückt! Er hat sich selbst umgebracht!“ Er schluckte schwer. „Es ist nicht meine Schuld“, murmelte er. „Es ist nicht meine Schuld.“

„Er wollte dich überzeugen“, sagte Dorothea leise und hob langsam den Kopf. Ihre Augen waren feucht, und ihre Stimme zitterte. „Er wollte nur, dass du zuhörst. Und jetzt… ist er tot.“

Seine Frau sah ihn lange an, ihre Augen voller Tränen, aber auch voller Vorwurf. „Du hast ihn nicht einmal erkannt, oder?“

Er blinzelte verwirrt, trat näher an sie heran. „Wovon redest du?“

„Das war Herbert Meinhardt“, sagte sie, ihre Stimme brüchig. „Er war früher dein Freund. Und du hast ihn nicht einmal erkannt. Du hast nicht einmal hingesehen. Nicht auf ihn, nicht auf das, was er wollte. Alles, was du gesehen hast, war jemand, der dir deine Ruhe stören wollte.“

Bergers Gedanken wirbelten durcheinander, Chaos aus Unglauben und einer Spur von Angst. Die Pistole – das musste doch eine Attrappe gewesen sein, hatte er noch gedacht. Ein Drohmittel, ein letztes Mittel, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber jetzt lag Herbert draußen vor der Tür und der Knall hallte noch immer in seinem Kopf nach. Bevor er sich fangen konnte, stürmte seine Frau an ihm vorbei. Ihre Bewegung brach die Starre, die ihn gefangen hielt.

„Dorothea, bleib hier“, schrie er sie an, doch sie öffnete die Tür mit einem Knarren und lief hinaus.

Plötzlich fiel Berger ein, dass die Polizei noch nicht informiert wurde. Er fischte aus seiner Hosentasche sein Smartphone heraus. Seine Hände zitterten so stark, dass er das Gerät fast fallen ließ. Er musste sich konzentrieren, um die Notrufnummer zu wählen.

„Polizei… bitte, Sie müssen kommen“, stammelte er, sobald die Stimme am anderen Ende antwortete. Seine Worte überschlugen sich. „Ein Mann… ein Mann hat sich vor meinem Haus erschossen. Er… er liegt hier. Es ist Blut überall.“

„Bleiben Sie ruhig, Können Sie mir Ihre Adresse nennen?“ fragte die Stimme. Sie klang ruhig, fast monoton, als sei ein toter Mann vor der Haustür etwas Alltägliches.

Er gab die Adresse durch, hastig, atemlos. Bitte beeilen Sie sich“, fügte er hinzu, bevor die Verbindung unterbrochen wurde.

Nun trat er an die Türschwelle und sah hinaus.

Die Sonne, die zaghaft durch die aufreißenden Wolken brach, warf einen blassen. gebrochenen Strahl auf die Szenerie und enthüllte nur gnadenlos die Details des Todes. Der zerfetze Körper lag schwer und reglos auf den kalten Platten, eingefasst von einer dunkel glänzenden Blutlache. Dorothea kniete sich daneben, ihre Schultern bebten, und er wusste, dass sie weinte. Neben ihr hockte der junge Mann, der vorhin gefilmt hatte. „Ich wusste nicht, dass er es wirklich tun würde. Ich dachte, es ist eine Show!“, schluchzte er.

Berger wurde übel und er wandte sich ab. Bald wird schon die Polizei kommen und all dem ein Ende setzen, versuchte er sich zu beruhigen.

Von draußen drang Dorotheas Stimme herein, ein heiseres Flüstern voller Schmerz. „Kevin, wie konnte das passieren?“

„Das ist es, was passiert ist“, hörte Berger Kevins Stimme, auf einmal bebend vor Wut. „Das ist, was geschieht, wenn Gier und Ignoranz einen Mann zerbrechen. Herbert Meinhardt ist tot, und ihr alle solltet wissen, warum.“ Offensichtlich filmte er wieder.

Als endlich die Sirenen ertönten, ein auf- und abschwellender Klang, der das Unausweichliche ankündigte, drehte sich Berger wieder um und trat hinaus.

Das blaue Licht der Einsatzwagen tanzte über die Wände des Hauses, über die Pflastersteine, die Stufen, und beleuchtete den leblosen Herbert in unregelmäßigen Rhythmen. Es war, als würde die Szene in kurzen, unbarmherzigen Blitzlichtern eingefroren sein – die Reste des weißen Bartes, getränkt in tiefem Rot, daneben die Pistole.

Die Reifen des ersten Polizeiwagens kamen mit einem kurzen, scharfen Quietschen zum Stehen. Zwei Beamte stiegen aus, ihre Bewegungen geübt, aber schwer, als hätten sie schon zu viele solcher Einsätze erlebt.

„Dritter Selbstmord am heutigen Sonntag“, murmelte der eine, ein älterer Mann mit scharfen Zügen, während er sich dem Körper näherte. Seine Kollegin, jünger, mit ernster Miene, folgte ihm. Sie blieben kurz stehen, einen Moment lang regungslos, wie um die Szene zu erfassen, bevor sie sich an die Arbeit machten.

„Was ist passiert?“ fragte die jüngere Beamtin und sah Berger an, Ihre Stimme war ruhig, aber der Druck darin war unmissverständlich.

Berger brauchte einen Moment, bevor er antworten konnte. „Er… er hat sich erschossen. Einfach so. Vor meinem Haus.“

„Haben Sie ihn gekannt?“ fragte die Beamtin weiter, während der ältere Polizist sich neben Markus kniete und dessen Puls überprüfte, obwohl klar war, dass jede Hilfe zu spät kam.

„Ja. Nein. Ich… ich wusste nicht, wer er war, bis…“ Seine Worte brachen ab, und er schluckte schwer.

„Herbert Meinhardt“, sagte eine andere Stimme, klar und fest. Dorothea, den Blick auf den Polizisten gerichtet. „Er war ehemaliger Professor, ein Aktivist und ein sehr guter Freund von mir“

Die Polizisten tauschten einen Blick. Der ältere der beiden seufzte, ließ Herberts Hand sanft zurück auf den Boden sinken und stand auf. „Schon wieder ein Aktivist“, murmelte er bedrückt.

„Ja“, antwortete seine Kollegin. „Alle innerhalb von dreißig Minuten. Und immer das Gleiche. Ein Aktivist, ein Protest, ein verzweifelter letzter Schritt. Was für ein verdammter Sonntag!“ Sie betrachtete den Tatort, hielt kurz inne, als sie bemerkte, dass ihr Gespräch mit dem Handy aufgenommen wird.

„Was tun Sie hier?“, fragte sie scharf, während sie Kevin das Handy aus der Hand riss. „Filmen Sie das alles?“

Dieser starrte sie mit weiten Augen an, sichtlich erschrocken. „Die Welt muss wissen, was passiert ist!“

„Hören Sie zu!“, erwiderte die Polizistin, ihre Stimme eisig. „Sie haben keinen Anstand, diesen Moment zu filmen. Das ist kein Schauspiel, das ist ein Mensch. Geben Sie mir das Handy!“

Mit einem Ruck nahm sie ihm das Gerät ab und steckte es in ihre Tasche.

„Die Welt wird sowieso alles erfahren“, schrie Kevin „Es ist alles bereits im Netz!“

Es war bereits dunkel, als der letzte Beamte Bergers Haus verließ. Richard Berger schloss die Haustür. Er tat dies ganz langsam und mit Bedacht.
Was für ein Tag, dachte er. Alles kam im unwirklich vor, mehr wie ein Traum, denn wie wirklich Erlebtes.
Die Polizei war in erstaunlich kurzer Zeit eingetroffen. Nur wenige Minuten, nachdem seine Frau den Notruf getätigt hatte, waren Sirenen zu hören gewesen. Dann waren in kurzer Folge mehrere Streifenwagen mit Blaulicht um die Ecke gebogen. Die Polizisten hatten ihn ins Haus gedrängt und draußen den Garten abgesperrt. Er hatte durchs Fenster sehen können, wie die Schaulustigen von außerhalb der Absperrung Handyvideos gemacht und die Beamten bedrängt hatte.
Innen hatte man seiner Frau und ihm zu verstehen gegeben, dass man auf die Kripo warten müsse. Dies musste so etwas länger als eine Viertelstunde gedauert haben, dann kamen mehrere Beamten in Zivil ins Wohnzimmer.
Mit einer Art professionellen Desinteresses hatten sie seine Aussage notiert und dann mit Dorothea gesprochen. Oder es versucht. Ihr ging es nicht gut. Sie hatte sich zurückgezogen, guckte immer auf ihr Handy und antwortet nur einsilbig.
Dann waren noch ein Polizeiseelsorger und eine Psychologin eingetroffen. Die beiden waren offenbar ein eingespieltes Team, wenn auch eine deutlich spürbare Rivalität zwischen ihnen zu herrschen schien. Es war irgendwie nervig.
Zwischendurch kamen dauernd die verschiedensten Leute herein. Polizisten in Uniform, Spurensicherung und Gerichtsmedizin. Der Tatortreiniger erkundigte sich, wo er denn Wasser bekommen könne.
Zum Abend hin waren dann alle, einer nach dem anderen wieder verschwunden. Auf den Pflasterplatten vor der Haustür ein heller Fleck vom Hochdruckreiniger.
Hätten Sie auch den ganzen Weg machen können, dachte Berger, bevor er die Tür schloss.
Eine Zeitlang stand er unschlüssig im Flur. Dann beschloss er, sich einen Whiskey zu holen. Natürlich war Alkohol keine Lösung, aber schlimmer konnte es auch nicht mehr werden. Eben, als er seine Frau fragen wollte, ob er ihr auch etwas zu trinken bringen solle, klingelte es an der Haustür.
Berger guckte durch den Spion.
Ein Mann stand da und guckte ihn an. Berger zuckte zurück, nur um sofort danach wieder nach draußen zu gucken.
Der Mann vor der Tür machte ein ungeduldiges Gesicht.
»Machen Sie auf«, sagte er. »Ich will Ihnen nichts tun. Aber ich muss mit Ihnen sprechen.«
Berger kontrollierte die Kette und öffnete die Tür einen Spalt.
»Nun kommen Sie schon. Ich will Ihnen wirklich nichts tun.«
Berger zögerte.
»Wenn ich Ihnen was Böses wollte, wäre ich einfach durch die Gartentür hereingekommen. Die hat der Tatortreiniger nämlich offengelassen.«
Berger fühlte sich irgendwie ertappt. Er sah sich um, wusste aber nicht, was er tun sollte und öffnete dann wie in Trance die Tür.
Der Mann trat in den Flur.
»Wer sind Sie«, fragte Berger.
»Schicke Krawatte«, der Mann zwinkerte ihm zu. »Ich bin vom Verfassungsschutz. Mein Name ist Gerd. Gerd Müller.«
»Gerd Müller?«, fragte Berger. Der Tag hatte an seinen Nerven gezerrt und jetzt kam er sich vor, wie in einem schlechten Film. »Ist das Ihr Ernst?« Er lachte laut auf. »Warum nicht gleich Sepp Meier?«
»Der Kollege Meier hat Urlaub«, erwiderte der Mann.
Berger fragte sich, ob er gerade mit versteckter Kamera gefilmt wurde. »Wirklich Gerd Müller?«, fragte er.
»Das sind natürlich Decknamen«, erklärte der Mann. »Ich bin beim Verfassungsschutz und nicht beim Secret Service und unser Chef ist Fußballfan.« Er zuckte mit den Schultern. »Wollen wir vielleicht durchgehen?«
»Äh, was? Ja. Bitte kommen Sie.« Berger ging vor, den Flur entlang.
»Das ist Herr Müller vom Verfassungsschutz«, sagte er, nachdem sie beide das Wohnzimmer betreten hatten.
Seine Frau saß auf der Couch und sah vom Handy auf. »Angenehm«, sagte sie geschäftsmäßig und wandte sich wieder dem Telefon zu.
»Äh, ja«, sagte Berger. »Was kann ich für Sie tun, äh, Herr Ähh?«
»Setzen Sie sich. Ich habe ein paar Fragen an Sie.«
Berger setzte sich auf die Couch und Gerd Müller nahm gegenüber im Sessel Platz.
»Sagt Ihnen die Bezeichnung ›Jünger des jüngsten Gerichts‹ etwas?«
»Die was?«
»Jünger des jüngsten Gerichts. Ich weiß, das klingt wie ein Witz. Ist es aber nicht. Schon mal gehört?«
»Nein.« Berger zuckte mit den Schultern. »Nie gehört.«
»Kennen Sie einen Torben Rekam?«
»Nein. Wer ist das?«
»Torben Rekam ist Deutsch-Kanadier und Anführer einer Sekte, die sich eben die Jünger des jüngsten Gerichts nennen. Sie haben eine neue Art des Selbstmordanschlags entwickelt. Wie das geht haben Sie ja heute Morgen erleben können.«
»Aber was soll das?«
»Man hat Sie gefilmt, richtig?«
Berger nickte.
»Der Film wird ins Internet gestellt und dient dazu, seine Anhänger aufzupeitschen. In den USA hat es schon mehrere solcher Anschläge gegeben. In Texas ist ein Mann von einem wütenden Mob gelyncht worden. Ich befürchte, etwas Ähnliches wird auch hier passieren. Sie müssen hier weg.«
»Aber ich kann jetzt nicht weg. Meiner Frau geht es nicht gut. Sie ist ganz apathisch. Ich glaube nicht, dass sie jetzt weggehen kann.«
»Ich kann Sie nicht zwingen, aber wenn Sie hierbleiben, wird es bestimmt unangenehm. Oder schlimmer.«
»Warum ich?«
»Nun ja, das müssen wir herausfinden. Es heißt, dass Torben Rekam die Opfer seiner Anschläge persönlich auswählt. Fällt Ihnen dazu etwas ein?«
»Tja, ähh«, sagte Berger. »Warum wollte er 10.000 Euro von mir?«
»Wissen wir auch nicht. Aber es werden immer 10.000 Dollar oder eben Euro verlangt.« Gerd Müller deutete zur Treppe. »Packen Sie ein paar Sachen zusammen und kommen Sie. Wir sollten hier weg sein, bevor die ersten Jünger ankommen.«

In einer der vielen prächtigen Villen Berlin-Zehlendorfs herrschte schon früh am Sonntagmorgen der Stress.
„Wo sind meine frisch gereinigten Hosenanzüge?“, rief Susanne Berger die Treppe hinauf, während sie die Utensilien in ihrer Handtasche sortierte.
„Hängen die nicht an der Garderobe … Liebling?“, schallte es mit sanfter Stimme von oben zurück.
„Du hältst mich also für blind … Schatz.“
Niemand konnte das Wort „Schatz“ so passiv-aggressiv aussprechen wie sie. Sie zog einen pflaumenfarbenen Lippenstift aus der Tasche und überprüfte ihr Äußeres im Flurspiegel.
„Warte, ich schaue selbst noch einmal nach.“
Gernot Berger, geborener Dannemann, eilte im Bademantel die breite Marmortreppe hinab und durchsuchte die Garderobe im Eingangsbereich. Selbstverständlich ohne Erfolg.
„Na?“, fragte Susanne mit hochgezogenen Augenbrauen, während sie mit den perfekt manikürten Fingernägeln auf den Konsolentisch trommelte. „Merkste selber, oder?“
„Einen Moment nur, mein Engel, mir fällt da gerade noch etwas ein“, flötete er und stürzte die Treppe wieder hinauf.
„Beeil dich bloß nicht, mein Flieger nach Frankfurt startet ja erst in anderthalb Stunden“, schickte sie ihm hinterher.
Vorstandssitzung der Aktiengesellschaft. Am Montagmorgen um neun Uhr. Da reiste man besser am Vortag an, vor allem, wenn eine so ungemütliche Veranstaltung wie dieses Mal bevorstand. Es ging ausnahmsweise nicht nur um Dividenden und Gewinnausschüttungen, sondern um Grundsätzliches.
Und sie hatte ein paar Dokumente im Gepäck, die durchaus als Zündstoff bezeichnet werden konnten.
Es klingelte an der Tür.
Mehrfach.
Da das Hausmädchen seinen freien Tag hatte und Gernot offensichtlich im begehbaren Kleiderschrank verschollen war, beschloss Susanne Berger, sich ausnahmsweise höchstpersönlich um die lästige Störung zu kümmern.
Sie schaltete den Monitor der Überwachungskameras ein.
Zwei unauffällig gekleidete Männer, einer jünger, einer älter, standen vor dem gusseisernen Tor. Der Jüngere hielt ein Tablet in der Hand, der Ältere einen auf den ersten Blick nicht genau zu identifizierenden Gegenstand.
„Verkauft ihr den Wachtturm jetzt schon digital?“, spottete sie in die Sprechanlage hinein. „Hut ab, das hätte ich eurer Sekte gar nicht zugetraut.“
„Spreche ich mit Susanne Berger?“, fragte der Mann mit dem Tablet.
„Ja. Aber wir kaufen nichts. Einen schönen Sonnt…“
„Geben Sie mir 100.000 Euro!“
Susanne Berger musste lauthals lachen. Ihr Mann stieß sich in den Tiefen des Kleiderschrankes den Kopf bei diesem ungewohnten Geräusch.
„Das ist ja mal ein interessanter Ansatz“, sagte sie. „Wie hätten Sie es denn gerne? In kleinen Scheinen oder per PayPal?“
„Das ist kein Scherz“, betonte der jüngere Mann, ohne die Stimme zu heben. „Schauen Sie auf den Bildschirm.“
Er hielt das Tablet hoch, auf dem ein ruckeliger Livestream zu sehen war. Sie stutzte. Das Haus da kam ihr irgendwie bekannt vor.
„Ist das etwa bei meinem Bruder? Was soll der Scheiß?“
Dann öffnete ihr Bruder die Tür.
Kurze Zeit später zuckte sie beim Knall des Schusses zusammen.
„Sie sehen, wie ernst es uns ist“, sagte der Jüngere ruhig, während Susanne Berger erkannte, dass es sich bei dem Gegenstand in der Hand des Älteren um eine Pistole handelte. „Jetzt geben Sie mir 100.000 Euro, ansonsten passiert hier das Gleiche wie in Frankfurt.“

Sie rührte sich nicht. Ihr Gesicht bleich wie eine Wand.
„Doro!“, rief er. „Dorothea! Die Polizei!“
Sie starrte ihm entgegen, als spräche er die falsche Sprache.
Berger drängte sich an ihr vorbei, hastete zum Telefon und riss den Hörer aus der Station. Kaum hatte er den Notruf gewählt, kam Bewegung in seine Frau.
„Hat er sich erschossen?“, fragte sie.
„Hast du doch gesehen“, sagte er aufgebracht.
„Nein.“
„Was heißt hier nein?“
„Du hast die Kette vorgelegt, die Tür war nicht weit genug offen, du standest davor. Ich habe überhaupt nichts gesehen.“
„Du glaubst mir nicht? Dann schau doch selbst…“
Es knackte in der Leitung. Eine freundliche Stimme meldete sich. „Notrufzentrale, wie kann ich ihnen helfen?“
„Ja, Richard Berger hier. Bitte schicken sie einen Streifenwagen. Vor meiner Haustür hat sich ein Verrückter erschossen.“ Er gab die Adresse durch und beantwortete einige Fragen, dabei beobachtete er, wie Dorothea die Sicherheitskette aushakte und ihre Hand auf die Türklinke legte.
Sollte er dazwischen gehen? Sie vor diesem grauenhaften Anblick bewahren, der zweifellos auf sie wartete? Aber sie glaubte ihm nicht. Sie musste das mit eigenen Augen sehen.
Dorothea drückte die Klinke, sattes Schmatzen der Gummidichtungen, die kühle Morgenluft bahnte sich ihren Weg herein gespickt mit herbstlichem Moder und einer metallischen Unternote, die Berger augenblicklich mit dem verspritzten Blut assoziierte.
Er wappnete sich.
Dorothea wankte, dann drehte sie sich zu ihm um. In ihren Augen lag ein Entsetzen, das er nie zuvor darin gesehen hatte.
Berger sah hinaus. Er keuchte. „Glaubst du mir jetzt?“
Wortloses nicken.
„Und wo ist der Typ mit dem Smartphone?“

Das Mobiltelefon klingelte nun schon zum wiederholten Male an diesem frühen Sonntagmorgen und Kommissar Benjamin Freese, ahnte bereits, dass etwas Ungeheuerliches auf seine imposante Stadt der Hochfinanz zurollte. Er joggte am Mainufer entlang, fummelte fahrig an dem winzigen Zipper seines atmungsaktiven Funktionsshirts herum und schaffte es gerade noch rechtzeitig, das Gespräch anzunehmen. Gedankliche Notiz an sich selbst: Das Shirt taugt nichts.
„Bist du schon auf dem Weg?“, fragte sein Partner Sven Meining am anderen Ende der Leitung.
„So schnell bin ich nun auch nicht“, schnaufte er. „Ich habe noch etwa anderthalb Kilometer.“
„Ok, aber vergiss die Dusche wir brauchen dich hier. Dringend.“
„Irgendein Update?“
„Das kann man so sagen. Es ist schon der vierte Anruf.“
„Wie meinst du das?“
„Na, der vierte Fall. Alle nach demselben Muster.“
Benjamin blieb abrupt stehen, warf einen Blick auf die Uhr. Fassungslos stellte er fest: „Seit deinem ersten Anruf sind doch gerade mal zwanzig Minuten vergangen.“
„Ich sage ja, es ist dringend. Wir erwarten noch mehr.“
„Was haben die Kollegen vor Ort festgestellt?“
„Die gehen uns gerade aus. Bei dem vierten Tatort waren wir noch nicht. Bekannt ist bisher, dass sie immer zu zweit sind. Eine jüngere Person etwa Anfang bis Mitte zwanzig filmt das Geschehen. Laut der Augenzeugen kann diese sowohl männlich als auch weiblich sein. Hier scheint also das Alter von Bedeutung zu sein, nicht das Geschlecht. Der ältere Täter…“, er stockte. „Die ältere Person bringt die Forderung vor. Diese ist bisher ausschließlich männlich. Die verlangte Summe beläuft sich immer auf genau zehntausend Euro. Wird das Geld nach der dritten Anfrage nicht gezahlt, kommt es zum Suizid.“
„Das ist verrückt“, sagte Benjamin. „Wer ist hier Täter und wer ist das Opfer?“ Ihm mäanderten diverse andere Fragen durch den Kopf, deren Beantwortung allerdings davon abhingen, wie zügig er an einem der Tatorte war. „Gib mir…“, er richtete seinen Blick in die Ferne. „Ich laufe so schnell ich kann. Holst du mich ab?“
„Bin schon unterwegs“, sagte Sven und drückte das Gespräch ab.
Benjamin wischte sich mit dem Ärmel über die verschwitzte Stirn, dann sprintete er los, wohlwissend, dass dies ebenfalls einem Suizid glich. Seine Gedanken kreisten um den Fall. Was bringt einen Menschen dazu, sich selbst umzubringen? Die Person sieht keinen anderen Ausweg – das funktioniert nur durch psychischen Druck. Damit nicht genug, sich obendrein dabei filmen zu lassen, setzt die komplette Situation in ein abstrakteres Bild. Wenn jemand filmt, dann doch nur, um einen Beweis in der Hand zu haben. Für wen? Was passiert mit der Aufnahme? Wo ist das Motiv? Da muss mehr hinterstecken als auf den ersten Blick erkennbar. Und warum so viele?
Der Teerweg schien kein Ende zu nehmen, sein Atem brannte ihm in der Lunge, Seitenstechen stellte sich ein. Er presste eine Hand gegen den Schmerz. Verdammt, ich sollte öfter laufen gehen – oder gar nicht, führte er den Gedanken fort. Ich bin zu alt für die Scheiße.

Als Benjamin Freese keuchend um die Ecke bog, seine schmucke Doppelhaushälfte in Sichtweite, brach er beinahe zusammen. Ächtzend klappte er nach vorn, die geballten Fäuste fest in die Seiten gestemmt. Es fehlte nicht viel und er hätte sich übergeben. Gut, dass er nicht gefrühstückt hatte.
Sven Meining hatte den schwarzen Dienstwagen bereits vor dem Haus geparkt und wartete auf ihn.
Benjamin brannte darauf, wenigstens seine Klamotten zu wechseln, wenn ihm schon keine Zeit für eine Dusche blieb. Und Deo, eine Tonne Deo, oder zwei.
Kaum zehn Minuten später ließ er sich auf den Beifahrersitz fallen und zog die Tür zu, die mit einem satten Geräusch einrastete. Das Wageninnere füllte sich mit einer Duftmischung aus Mountain breeze, Schweiß und Ungeduld.
Sein Kollege zögerte keine Sekunde, startete den Motor und trat auf den Pin. „Wohin zuerst?“, fragte er. „Willst du bei Eins beginnen, oder den nächstgelegenen Tatort anfahren? Mappe liegt im Handschuhfach.“
Benjamin holte sie heraus und schlug sie auf. Sie ruhte auf seinen Knien, während er die zugegeben, mehr als dürftigen Informationen aufsaugte wie ein Schwamm. „Konti und Berger liegen knapp beieinander. Da sollten wir zuerst aufschlagen.“
„Gut“, sagte Sven und setzte den Blinker, um an der nächsten Ampel links Richtung Westend abzubiegen.
„Gab es noch weitere Anrufe?“
„Zwei.“
Benjamin schnappte nach Luft. „Dann sind es jetzt sechs?“
„Korrekt.“
„Und alle in gut betuchten Gegenden?“
„In Zeil oder Alt-Sachsenhausen findest du sicher niemanden, der zehntausend Euro in einem Safe lagern würde.“
„Ja schon, aber wie wählen diese Leute ihre Opfer…“ Benjamin schüttelte den Kopf. „Kann es überhaupt noch verrückter werden? Wie wählen sie ihre potentiellen Geldgeber aus? Zufall? Nicht jeder, der im Nord- oder Westend wohnt, hat eine solche Summe Bargeld im Haus, geschweige denn einen Safe.“
„Tja, wenn wir das wüssten, wären wir schon einen Schritt weiter.“
„Was ist mit den Leichen? Ich gehe davon aus, dass sich alle geweigert haben zu zahlen?“
„Bisher ja. Wir haben sechs Tote, Identifizierungen laufen. Von den jeweiligen Begleitern fehlt jede Spur.“
„Sind diese Videos schon irgendwo aufgetaucht?“
„Bisher nicht, die IT arbeitet daran.“
Benjamin Freese nahm einen tiefen Atemzug. „Fassen wir zusammen: Alles was wir wissen ist, wir wissen nichts.“
„Das wird sich hoffentlich gleich ändern.“ Sven steuerte den Dienstwagen in eine breite Anwohnerstraße, gesäumt von herbstroten Ahornbäumen, darunter parkten einige Fahrzeuge. Keines davon älter als fünf Jahre. Sauber gepflasterte Garagenauffahrten zu imposanten Altstadtbauten, die in gepflegten Oasen aus schmuckem Grün ruhten.
„Konti“, sagte Sven, als er neben einer Hainbuchenhecke parkte. Vor der Auffahrt stand ein Polizeifahrzeug, Notarzt, Rettungswagen und einige Schaulustige, die trotz Aufforderung der Beamten nicht daran dachten das Feld zu räumen. Wenigstens hatte diesmal niemand ein Smartphone in der Hand.
Benjamin hatte in dieser Hinsicht schon einiges erlebt und begrüßte diesen Umstand. Erst auf den zweiten Blick wurde ihm bewusst, dass es sich bei den vermeintlich Schaulustigen allesamt um Nachbarn und damit Personen älteren Semesters handelte.
Er bahnte sich zusammen mit seinem Kollegen einen Weg Richtung Hauseingang. Ihnen kamen zwei Sanitäter mit einer Bahre entgegen, worauf die in weißes Sackleinen verpackte Leiche ruhte. Sven blieb zurück, um Informationen einzuholen.
Benjamin näherte sich der Haustür zum Konti-Anwesen. Schon von Weitem erkannte er die Blutlache. Sie hob sich dunkel vom sandsteinfarbenen Pflaster ab. Die Spurensicherung hatte kleine gelbe Marker verteilt. Er sah den eingezeichneten Umriss der Leiche, die rücklinks von der ersten Eingangsstufe auf den Weg gestürzt sein musste. Ein Kollege im vorgeschriebenen Ganzkörperkondom schoss Detailfotos vom Tatort und schien keinen Winkel auszulassen. Gewissenhaft.
Ein kurzer Gruß, einige Wortwechsel. Tathergang abgleichen. Die Informationen passten zu den Unterlagen und füllten diverse Lücken.
Benjamin wunderte sich trotz seiner langjährigen Erfahrung immer noch darüber, welchen Unterschied es doch machte, die Dinge vor Ort in Augenschein zu nehmen, statt lediglich Aktennotizen zu lesen. Nachdem er von seinen Kollegen auf den neusten Stand im Fall Konti gebracht worden war, fragte er nach einer alternativen Möglichkeit ins Haus zu gelangen, da er die Spuren nicht zerstören, aber unbedingt mit der Familie sprechen wollte.
„Gehen sie dort rechts herum, da kommen sie an einen Wintergarten. Einfach klopfen“, gab der Kollege von der Spurensicherung Auskunft.
Benjamin folgte seinem behandschuhten Fingerzeig und wanderte einem schmalen Fußweg um die Hausecke herum. Als er am hinteren Bereich angelangt war. Breitete sich vor ihm der Garten aus in seiner gesamten herbstlichen Pracht mit vorsorglich winterfest abgedecktem Pool und einem festlich geschmückten Pavillon. Es sah so aus, als habe am Vortag eine Art Gartenfest stattgefunden. Zu seiner Linken fand er den Eingang zu einem üppig bepflanzten Wintergarten. Er klopfte.

Die Tür wurde von einer schlanken Dame mittleren Alters geöffnet. Sie trug Freizeitkleidung und ihre schmalen Füße steckten in Hausschuhen. Die braunmelierten Haare waren zu einer fahrigen Hochsteckfrisur zusammengefasst. Ihr folgte ein leicht untersetzter Mann in ähnlichem Aufzug, der sie um Haupteslänge überragte und sich formvollendet als Dr. Samuel Konti vorstellte. „Meine Frau Barbara“,ergänzte er.
„Hauptkommissar Benjamin Freese.“ Sven trat neben ihn und er fügte hinzu: „Mein Kollege Kommissar Meining.“
„Bitte“, sagte Dr. Konti und ließ sie eintreten.
Der mit bunten Mosaikfliesen ausgelegte Wintergarten war hell und geräumig. In dessen Mitte stand eine weiße Rattan-Sitzgruppe an der locker acht Gäste hätten Platz finden können. Dort sah Benjamin auch seine Vermutung des gestörten Sonntagsfrühstücks bestätigt, da der Tisch für zwei Personen üppig gedeckt, aber dieses kaum angerührt worden war.
Frau Konti raffte ein Jackett und eine grüne Krawatte mit goldfarbenem Aufdruck von einem der Stühle und hieß sie, Platz zu nehmen. Dann bot sie ihnen Kaffee an und nahm ein Tablett zur Hand, um die Speisen abzuräumen. „Ich kann jetzt ohnehin nichts mehr essen“, erklärte sie.
„Verständlich“, sagte Sven in ernstem Tonfall.
„Das muss man sich vorstellen“, ergriff Dr. Konti das Wort. „Da stehen mir nichts, dir nichts zwei Leute vor der Tür und bedrohen unbescholtene Bürger. Und dann greift einer zu einer Waffe. Ich dachte, jetzt ist alles vorbei.“
Benjamin runzelte die Stirn. „Aber er hat sich dann selbst erschossen.“
„Ja“, rief Dr. Konti aus und wedelte erregt mit den Händen in der Luft. „Der steckt die Pistole in den Mund und drückt einfach ab.“
„Hat der Mann sie bedroht?“, hakte Sven nach.
Konti nickte energisch. „Er hat mir gedroht. Wenn ich ihm das Geld nicht gebe, bringt er sich um.“
„Er hat sie also nicht bedroht“, stellte Benjamin fest.
„Was?“ Dr. Konti blickte verwirrt.
„Er hat sie erpresst, aber nicht bedroht. Die Drohung war gegen sich selbst gerichtet.“
Die Augen des Dr. Konti verengten sich. Er zog die Stirn in Falten, seine Lippen wurden schmal. „M-o-m-e-n-t“, sagte er gedehnt. „Worauf wollen sie hinaus?“
„Ich will auf garnichts hinaus. Das ist nur eine bloße Feststellung“, gab Benjamin an. Sven musterte seinen Kollegen fragend von der Seite.
„Wie wirkte der Mann auf sie?“
Frau Konti trat mit einem Tablett voller dampfender Kaffeetassen über die Schwelle in den Wintergarten und hatte seine letzte Frage offensichtlich gehört, denn sie antwortete freimütig: „Verzweifelt. Nicht war Schatz?“ Sie stellte das Tablett ab und suchte den Blick ihres Mannes, der ihr verschlossen entgegen starrte. „Was ist?“, fragte sie.
Just in diesem Augenblick klingelte Svens Mobiltelefon. „Meining“, meldete er sich knapp. Wenige Sekunden später schnappte er nach Luft. „Was?“
Mit dieser Reaktion fing er Benjamins volle Aufmerksamkeit.
„Können sie das bitte nocheinmal wiederholen?“ Sven lauschte, dann fragte er: „Wo?“ Er beendete das Gespräch und ließ den Hörer sinken. Sein Blick wanderte zu seinem Kollegen, er zögerte, als suche er nach den richtigen Worten. Endlich sagte er an das Ehepaar gewandt: „Wir müssen uns leider verabschieden. Es tut mir leid, wegen dem Kaffee, aber das duldet keinen Aufschub.“
„Ist wohl besser so“, brummte Dr. Konti.
Benjamin folgte seinem Kollegen hinaus in den Garten, an der Hauswand vorbei zum vorderen Grundstück. Erst als sie die Straße erreicht hatten, fand Sven seine Sprache wieder. „Du wirst es nicht glauben. Wir haben noch einen. Aber diesmal hat der Anwohner gezahlt.“

  • Danise Juno -

„Ach… und danach noch den Reinigungsdienst. Da draußen hat sich einer umgebracht“, fügte er noch hinzu. Dorothea Berger sah ihn entgeistert an: „Machst du Witze? Ich habe gestern Abend alles auf Hochglanz gebracht im Stiegenhaus.“ Ihr Mann schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern: „Was soll ich machen, diese Internet-Challenges werden immer blöder. Ich hab ihm sogar noch gesagt, er soll nach draußen gehen. Es tut mir leid, Schatz - gehen wir nachher was essen, so als Entschädigung?“ Sein Lächeln und die versprochene Einladung zum Essen besänftigten Dorothea. Sie waren schon lange nicht mehr ausgegangen. Überhaupt war ihr Leben in den letzten Wochen ein wenig trist verlaufen. Zuerst starb ihr Hamster Alois, dann verlor sie ihre Stelle in der örtlichen Pfandleihe, und jetzt kam auch noch ein Toter vor der Tür dazu. Richard war ständig unterwegs, um neue Reisedestinationen zu testen, und sie saß alleine zu Hause und sah Quizsendungen. Naja, es würde bald besser werden, schließlich liefen die Buchungen gut in seinem Büro, und mittlerweile waren ihm seine Routen ja geläufig. Seine Klientel stellte eine eher kleine Gruppe dar, aber eine, die nicht geizte, wenn es um ihren besonderen Geschmack ging. Dorothea war sich recht sicher, dass es in Frankfurt nicht viele Reiseagenten gab, die Touren in die verbotenen Zonen anboten. Sie konnte sich noch gut erinnern, als Richard, mehr aus einer Notlage heraus, eine Explorationslizenz beantragte und seinen ersten Reisegast über die Alpen brachte. Dem Impuls damals, diesen Verrückten sofort zu verlassen, gab sie nicht nach. Es war gefährlich dort, das Militär und die Kirche setzten den Bann nun seit einem Jahrzehnt durch. Früher, in ihren Kindertagen, war ein Urlaub am Mittelmeer mit ihren Eltern etwas, worauf man sich freute. Das Meer… das war nun schon seit über 20 Jahren verschwunden. Zurück blieb damals ein stinkender Pfuhl aus sterbenden Fischen und was sonst noch alles im Meer lebte. Es gab Quellen dort, aber nicht viele. Für jene, die aus den Äquatorregionen flohen, die einzige Chance zu überleben. Die Kirche versprach, in etwa hundert Jahren würde sich der ehemalige Meeresgrund in fruchtbares Ackerland verwandelt haben, und dann würde die Gefolgschaft des großen Ernährers dort ihr gelobtes Land finden. Bis dahin hieß es ausharren zwischen dem Eis weiter nördlich und den Alpen, hinter denen die Hitze lauerte. Bis zu 70 °C im Sommer waren keine Seltenheit. Der schmale Streifen, der sich quer durch Europa zog wie ein Band des Lebens, beherbergte alle, die die große Säuberung überlebt hatten. Auch eine Notwendigkeit, die sie nicht verstand… nicht verstehen musste. Ihre Aufgabe war es, Richard eine brave Frau zu sein und jeden Sonntag die Kirche zu besuchen. Mittlerweile wurde niemand mehr hingerichtet, wenn er oder sie einen Gottesdienst versäumte, aber auch Stockschläge wollte sie vermeiden. Der Glaube gab ihnen letztlich so viel.

„Los jetzt, der geistliche Gönner wartet nicht“, schelmisch gab Richard ihr einen Klaps auf den Po. Sie warfen sich die erdfarbenen Büßerroben über und öffneten die Tür. Von der Stadtwache war noch nichts zu sehen, der Reinigungsdienst fuhr gerade vor. Die Herren Polizisten würden Pech haben, dachte er bei sich. Wer zuerst kam, bekam die Leiche. Umständlich stieg das Ehepaar über den Toten hinweg. Es war viel Blut, das sich über die glänzenden Fliesen ergoss. Gut gelaunt schritten sie den Weg zur Straße hinunter. Fröhlich pfeifend kamen ihnen die Ordnungskräfte der städtischen Hygieneabteilung, wie der Reinigungsdienst offiziell hieß, entgegen. „Mojen Mester“, rief der Größere der beiden, der auch den Wagen mit den Utensilien schob. Dorothea und Richard winkten freundlich und erreichten kurz darauf das Tor. Richard sah sich um. Von dem anderen, der alles filmte, war nichts mehr zu sehen. Er hoffte, dass die Polizei ihn aufgriff oder einer der Glaubenshüter. Die Kids waren noch immer der Meinung, wenn sie irgendwelche Dinge ins Netz stellten, die Welt verändern zu können. Das hatte man ja gesehen während der großen Wende. Hätten die damals mal besser gearbeitet, anstatt nur vom Klimawandel zu sprechen und das Internet damit zuzupflastern, wäre die Sache vielleicht anders ausgegangen. Manche lernten es nie. Die ganze Siedlung war bereits auf dem Weg in die Kirche. Früher handelte es sich um ein katholisches Gotteshaus. Die Erkenntnis, die letztlich die große Säuberung auslöste, merzte das Übel der alten Religionen aus, Gott sei Dank. Nur wer aufrecht bereit war, den Kampf zu suchen, wurde von der Vorsehung belohnt und vom großen Ernährer bei der letzten Speisung bedacht. Das war kein Glaube, das war Gewissheit.

Sie traten durch das Tor und mussten feststellen, dass ihr üblicher Platz von den Meiers belegt war. Das alte Ehepaar kniete bereits und presste die Gesichter zu Boden. „Ist deren Zeit nicht bald gekommen?“, raunte Dorothea Richard zu. Er nickte: „Ja, ich glaube, die werden bald abgeholt. Sie muss schon über 60 sein und er hat die 40 auch bald erreicht.“ Partnerschaften waren verpflichtend, und wenn gemeinsam die 100 erreicht wurde, war es eine Ehre, den Weg der ersten Gläubigen zu gehen und eins zu werden mit dem Quell der Existenz.

Sie fanden eine freie Stelle in der Nähe der großen Schale, die im Zentrum des Kirchenschiffs von den Gläubigen umringt wurde. Die frühere Architektur mit einem Altar am Ende des Raums und Bänken, die dorthin ausgerichtet den Menschen Sitzplätze boten, war lange überholt. Buße im Sitzen war zur Häresie geworden. Nackte Knie auf rauem Stein – der Büßer musste fühlen, dass seine Nahrung ihm Opfer abverlangte. In tiefer Demut pressten nun auch Dorothea und Richard ihre Gesichter auf den Boden, der sich nach den Jahren der Buße schon lange nicht mehr wirklich rau anfühlte. Es wurde still im Haus des Glaubens, und sie hörten den Gong der Ewigkeit, der das Erscheinen des Gönners ankündigte. Gesegnet durch den großen Ernährer, hatten die geistlichen Gönner nicht mehr viel Menschliches an sich. Jener dieser Kirche ragte beinahe vier Meter in die Höhe. Seine dürre Gestalt konnten die Büßer natürlich nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen. Er schritt über die Körper der kauernden Menschen hin zur Treppe, die ihn zur Mitte der großen Schale führte. „Erleuchtete“, sprach er, und obwohl seine Stimme nicht laut war, konnte jeder sie hören. Ein Gönner sprach nicht nur akustisch, er drang in die Köpfe der Menschen, ließ seine Worte aus ihrem Inneren tönen.

„Euer Opfer heute wird vom Ernährer akzeptiert“, setzte er fort, und ein erleichtertes Raunen ging durch die Menge. Für diese Woche war eine Diebin auserkoren worden, statt ihrer Strafe den Weg der ersten Gläubigen in vollem Bewusstsein zu beschreiten. Dorothea zitterte beim Rasseln der Ketten, an denen, wie sie wusste, der Käfig mit der Auserwählten von der Decke gesenkt wurde. Wie jeden Sonntag, begann auch das heutige Opfer schrill zu schreien, als es den Gönner erblickte. Zumindest vermuteten Dorothea und Richard das. Die Schale des erlösenden Nektars musste sie ja zuvor schon gesehen haben. Hätte ihr diese Angst eingejagt, wären ihre Schreie doch schon früher zu hören gewesen. Im Gegensatz zu Richard verspürte Dorothea ein Gefühl der Angst und auch so etwas wie Mitgefühl für das Opfer. Natürlich wusste auch sie, dass es keine größere Ehre gab für einen Menschen. Dennoch, es waren fast immer Frauen, die, ohne betäubt zu werden, langsam in der Schale Erlösung fanden. „Es ist eine Schande, dass sie immer so schreien“, flüsterte ihr Mann. Dorothea zitterte. Richards Worte gefielen ihr überhaupt nicht. „Das junge Ding wird gleich quälend langsam in Säure aufgelöst, da würdest du auch schreien“, gab sie ihm verärgert zur Antwort. Plötzlich die Stimme des Gönners in all ihren Köpfen: „Höre ich den Wunsch einer Büßerin, den Platz des Opfers einzunehmen?“ Sofort schwiegen Dorothea und Richard und pressten ihre Gesichter noch fester auf den Stein. Wieder waren nur die spitzen Schreie zu hören. Der Gong ertönte, als Zeichen, die Zeremonie beginnen zu lassen. Für die Büßer war er das Signal, ihre Gebete zu sprechen, immerfort, bis das Opfer dargebracht war. Die Ketten rasselten wieder. Gleich würde es beginnen, dachte Dorothea. Sie biss die Zähne zusammen und rechnete jeden Moment damit, die Angstschreie in einen Ausbruch puren Schmerzes wechseln zu hören. Plötzlich fühlte sie mit Entsetzen, wie zwei kräftige Hände sich mit dünnen Fingern wie Greifzangen um ihre Schultern schlossen…

Gerald G.

Und täglich …

Es war draußen schon hell, als Richard erwachte. ›Schon hell!‹, schoss ihm durch den Kopf. ›Verdammt nochmal ich habe verschlafen! Und das gerade heute!‹ Ein Blick auf den Radiowecker bestätigte seine schlimmste Befürchtung: 09:02 Uhr. Zu spät, um rechtzeitig zu öffnen. Nur am Montag war er am Vormittag alleine im Reisebüro ›und ausgerechnet den Tag musst du dir zum Verschlafen aussuchen!‹, ärgerte er sich.
Richard sprang auf und stürzte in das Badezimmer. ›nur ein bisschen frisch machen, Zähne putzen, rasch rasieren und den Kaffee im Büro nehmen, dann schaffst du es noch bis halb zehn.‹
Er schaltete das Radio an. »Zum Ausklang des Wochenendes werden am Sonntag massive Staus erwartet. Die Polizei rät dazu …«
Es dauerte einen Moment, bis Richard den Unsinn der Aussage erfasste. ›Jetzt bringen sie sogar im Verkehrsfunk schon Wiederholungen‹, dachte er sich noch, als ihn das weitere Radioprogramm zum Grübeln brachte: Eine Morgenandacht am Werktag? Sehr ungewöhnlich. Er blickte auf seine Uhr.
Ab diesem Moment war für Richard Berger nichts mehr wie zuvor.
Ein Fehler im Radioprogramm, ok, vielleicht noch möglich. Aber eine Funkuhr kann nicht lügen! Nicht bei der Uhrzeit und nicht bei dem Datum! Sonntag, 22.09.2024, 09:12 stand auf seiner Uhr, klar und eindeutig! In diesem Moment klingelte es an der Haustür.
Richard Berger, den normalerweise nicht so rasch etwas aus der Ruhe brachte, ließ die Zahnbürste fallen. Im Badezimmerspiegel starrte ihn sein Spiegelbild mit weit aufgerissenen Augen an. Erst als ein zweites Klingeln ertönte, schluckte er den Zahnpastaschaum hinunter und schlich mit zitternden Beinen zur Treppe.
»Machst Du mal bitte auf, Richard?« Der Ärger seiner Frau war selbst durch die geschlossene Schlafzimmertür kaum zu überhören.
»Ja doch«, antwortete er ganz automatisch, »bin schon unterwegs.«
Richard fasste sich ein Herz und ging hinunter zur Haustür, vor der er stehen blieb. Sein Blick richtete sich auf den Spion. Aber er konnte sich nicht dazu durchringen hindurchzusehen.
Als es zum dritten Mal klingelte, zuckte Richards rechter Arm so stark, dass seine Hand heftig gegen die Tür schlug. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schaute er den Spion an. Fast schien es ihm, als würde ihn das Auge des Spions verhöhnen.
»Schatz, soll ich kommen?«, hörte er seine Frau von oben auf dem Treppenabsatz.
Richard sah im Spion das, was vollkommen unmöglich war: Zwei alltäglich aussehende Männer in Jeans und Jacken aus Lederimitat mit ernsten Blicken.
Er legte die Sicherheitskette vor, ehe er öffnete. Wie gestern - oder sollte er besser heute sagen - roch es feucht nach Regen und nahendem Herbst.
»Was wollen Sie von mir?«, schrie er.
Der jüngere der beiden Männer, hielt sein Smartphone vor sich, und schien wieder zu filmen. Der graubärtige Ältere sagte: »Guten Tag. Sie wissen, was ich will. Bitte geben Sie mir zehntausend Euro, sonst muss ich mich umbringen.«
»Warum?«, entfuhr es Berger.
Der bärtige Mann wiederholte seine Forderung: »Ich brauche zehntausend Euro. Wenn Sie mir die nicht geben, bringe ich mich um.«
Wie gestern, heute, wann auch immer, fühlte Richard Berger eine eigenartige Verblüffung. Nein, das traf es nicht. Er fühlte sich genau so, wie es diese abgedroschene Phrase beschrieb: wie im falschen Film. Das hier konnte nicht wirklich passieren!
Und plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke: Würde sich der alte Mann erneut erschießen?
Er fühlte die Türklinke hart und kalt in seiner Hand.
Richard sah den anderen an, den mit dem Smartphone. »Was soll das?«, fragte er. »Wird er sich wieder umbringen?«
»Geben Sie ihm zehntausend Euro«, sagte er. »Sie haben das Geld, und er braucht es.«
Richard Berger schüttelte den Kopf in rasender Verzweiflung. »Wie stellen Sie sich das vor? Ich habe das Geld nicht!«
»Ich brauche zehntausend Euro«, beharrte der ältere Mann, der nun zitterte. »Wenn Sie mir keine zehntausend Euro geben, bringe ich mich um.«
Berger entfuhr ein verzweifelter Schrei: »Oh Mann! Ich hatte das Geld gestern nicht und ich habe es heute nicht. Ich kann ihnen höchstens das geben, was ich daheim habe. Vielleicht 200 €, vielleicht auch 300 €. Wenn es ihnen hilft, dann hole ich es, okay?«
Hilflos sah er, was er schon einmal gesehen hatte: Der Mann riss eine Pistole aus der Jackentasche, steckte sich ihren Lauf in den Mund und drückte ab. Der Schuss war lauter, als Berger in Erinnerung hatte. Er wollte die Augen schließen, aber er konnte nicht und sah erneut die rötlich-graue Wolke, die aus dem Hinterkopf des Mannes schoss. Und er sah, wie der Mann leblos nach hinten auf den Plattenweg fiel und sich dort sein Blut ausbreitete.
Der jüngere Mann richtete sein Handy auf Berger und schrie: »Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!«
Berger schloss die Augen. Dann trat er zurück und zog die Tür zu.
»Ruf die Polizei«, rief er mit bebender Stimme zu seiner Frau, die noch immer im Morgenmantel oben auf der Treppe stand.

(c) Jens Skowronek

Wenn sie die Polizei rufen, zünde ich ihr Haus an!
Berger traute seinen Augen nicht, als er durch den Spion blickte. Wo nahm der Jüngere auf einmal den Zettel mit diesem Schriftzug her, den er in seine Richtung hielt? Er filmte immer noch mit seinem Smartphone.
Wenn sie die Polizei rufen, zünde ich ihr Haus an!, las Berger abermals. Es war ihm zu glauben. Einen Beweis hatte der Ältere der beiden eben erst geliefert.
Der Mann hob den Flyer an und Berger glaubte, im Griff seiner Krawatte zu ersticken. Er lockerte sie und sein Atem flog ihm über die bebenden Lippen.
Seine Gedanken rasten wie Kanonenkugel durch ihn durch, sein Kopf hämmerte wie ein Schmied seinen Amboss. Eine Weile stand er da wie angewurzelt. Die Beine taub, kaum tüchtig genug, ihn aufrecht zu halten. Der Schreck nagte an seinen Kochen wie ein ausgehungerter Marder an seiner Beute. Reiß dich zusammen!, disziplinierte er sich wie einst sein Oberst Schultheiß, während er in der Blüte seines Lebens als Fahnenjunker dem Land einen Dienst erwies.
Benzingeruch drang an seine Nase und floss unter der Tür ins Innere.
Berger erschrak. Er schob rasch den Riegel vor und öffnete die Tür einen Spalt. »Warten sie bitte. Ich hole das Geld.« Auf wackligen Beinen taumelte Berger zum Dielenschrank. »Geh nach oben«, befahl er Dorothea, ohne sie anzusehen. Der Schweiß stürzte ihm inzwischen wie ein Bach die Stirn herab.
Der Mann wartete vor der Tür und wiederholte seine Parolen. Er sei Kapitalist und Schuld am Tod seines Begleiters. Wort für Wort, hysterisch laut. Von oben wimmerte seine Frau.
Berger rückte zur Tür vor und entfernte die Kette. Er nahm tief Luft und prustete sie aus seiner Lunge. Dann lud er seine Mauser Jagdwaffe durch und ohne zu zögern, feuerte er das Gewehr ab. Ein ohrenbetäubender Donnerschlag sauste durch die sonntägliche Stille. Der junge Mann stürzte zu Boden, Blut quoll rasch aus seiner Brust. Berger hatte bisher stets auf Wild geschossen. Es fiel ihm erstaunlicherweise nicht schwer, auf einen Menschen zu schießen.
Seine Frau stieß einen Schrei aus und stürmte die Stufen hinunter. Richard beugte sich über den Mann am Boden und tastete nach seinem Puls.
»Ist er tot?«, schrie Dorothea ihm zu.
Berger nahm das Smartphone, um das Video zu löschen. Beweise zu vernichten. Er würde der Polizei schon weismachen können, dass die beiden Männer ihn und seine Frau überfallen hatten. In seinem Kopf sann er sich längst eine plausible Geschichte zurecht. Er bewunderte sich fast für seine Kühnheit und die Nervenstärke, seine Gedanken geschwind klar zu fassen.
Richard erbebte dennoch erneut, als er das Handy aufhob und einen Blick auf das Display warf. Er hatte wohl sein gesamtes Blut aus dem Gesicht verloren, da Dorothea ihn auf einmal stützte. Er sah seine Frau aus flatternden Augen an. »Es … ist kein Video.«
»Ich verstehe nicht, Richard.«
»Dann lies doch selbst.«

Livestream. Zuschauer: 5 Millionen.

»Der Mann – er hat sich einfach erschossen!« Die Stimme von Dorothea Berger drang schrill und zittrig zu ihr durch den Lautsprecher.
»Beruhigen Sie sich. Wo hat sich die Tat zugetragen? Wie viele Personen sind betroffen?«, fragte Ljudmilla routiniert. Sie hörte, wie die Frau am anderen Ende die Luft einsog. Einmal, zweimal.
»Direkt vor unserer Haustür.« Dann, mit etwas Verzögerung, gab sie die Adressdaten durch. »Bitte kommen sie schnell!«
Die Durchgabe ihrer Adresse war unnötig. Ljudmilla wusste, wo und wie die Bergers wohnten. »Die Kollegen sind unterwegs. Verlassen Sie nicht das Haus. Bleiben Sie in Sicherheit.«
Kurze, prägnante Anweisungen. Frau Berger war so sehr von der Rolle, dass sie den zweiten Mann – den mit dem Live-Stream – nicht erwähnt hatte.
Es knackte in der Leitung. Aufgelegt.
Ljudmillas Blick schweifte hinüber zum Bildschirm. Acht rechteckige Bildausschnitte waren ihre Fenster in das Leben der Bergers.
Sie verfolgte, wie Dorothea hektisch den Flurbereich verließ und kurz darauf im oberen, linken Bereich des Bildschirms wieder auftauchte. Zaghaft näherte sie sich dem Fenster an der Küchenspüle, das zur Straße wies, und zog sich ruckartig zurück. Nein, der zweite Mann war nicht vollständig aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Das sollte die Bergers an Ort und Stelle halten.
Es rauschte neben ihr.
»Firefly One, kommen. Fuchs ist unterwegs. Over.«
»88. Over and Out«, antwortete sie kurz angebunden.
»Verlassen Sie sofort die Frequenz!«, schnarrte es autoritär durch den Lautsprecher.
Verdammt, verdammt, verdammt! Für gewöhnlich war auf diesem Frequenzband sonntagmorgens wenig los. Mit etwas Glück würden sie es einer missglückten Fuchsjagd unter Amateuren zuordnen und ihnen nicht direkt die Bundesnetzagentur auf den Hals hetzen.
Für sie und ihre Kollegen war damit alles getan. Es war das unmissverständliche Signal zum Abbau der temporären Funkmasten. Sofort.
Ein hastiger Blick auf den Bildschirm zeigte eine Anzahl von 347 Zuschauern. Das Video hatte Potenzial. Ihre Zuschauer waren durstig. Mit etwas Glück konnte sie kräftig Kasse machen, indem sie sie zu weiteren Wetten animierte.

»Das waren Profis.« Mit diesem Satz des Kriminalkommissars zerschellte ihr Leben. Diesmal war der Polizist echt.
Die Arme eng an den Körper gepresst, verharrte sie auf dem Stuhl und machte ihre Zeugenaussage. Ihr gegenüber saßen Kriminalkommissar Fechtner und eine weitere Polizistin. Miller? Müller? Eigentlich hattte ihr Name für sie keine Bedeutung.
Dorothea knetete ihr feuchtes Taschentuch in den Händen. Ihr Blick kehrte sich nach innen.
»Zur Aufnahme ihrer Aussage und Personalien möchten wir Sie bitten, mit aufs Revier zu kommen.« Derselbe, verdammte Satz.
In ihrer Erinnerung sah sie, wie Richard sich hastig den Mantel überwarf. Er hatte
sie kurz an sich gedrückt, ein flüchtiger Kuss auf die Wange und das Versprechen, dass alles gut werden würde. Dann war er den zwei Polizisten gefolgt und hinter der zugleitenden Tür eines schwarzen VW Bullis verschwunden. Das war das letzte Mal gewesen, dass sie ihn gesehen hatte.
Kurz darauf hatte ihr Handy sich mit Nachrichten überschlagen. Der geplante Kirchgang hatte sich als Tor zur Hölle entpuppt. Die Nachricht des Toten in ihrem Vorgarten hatte sich wie ein Flächenbrand verbreitet. Nachbarn, Freunde, Bekannte. Sie hatten wissen wollen, was geschehen war, wie es ihr ging.
Und dann waren da noch die anderen. Die, die über sie und ihren Mann richteten. Die sie in den Weiten des Internets vernichteten. Geizhals. Schein-Christ. Nichts war ihnen heilig.

Marion Wesp schob den Kabinentürriegel der engen Damentoilette vor. Sie klappte den Klodeckel nach unten und setzte sich. Dann schloss sie die Augen und atmete dreimal tief durch. Nach dem dritten Atemzug löste sie ihre nervös gefalteten Hände. So hatte sie sich ihren ersten Tag als leitende Ermittlerin im Morddezernat nicht vorgestellt. Nicht einmal ein eigenes Büro stand ihr zum Nachdenken zur Verfügung. Nebenan ging es zu wie in einem Bienenstock. Jeder wusste, was zu tun war. Telefonierte, recherchierte, kondolierte. Das alles hatte sie an die Kollegen delegiert. Nur was sie selbst tun sollte, darüber war sie sich überhaupt nicht klar. Musste man so einen Fall sofort beim Innenministerium melden? Sie sollte das nachher mit dem Direktor besprechen.
Beruhig dich! Was unterscheidet einen Selbstmord von einem Mord? Außer, dass einem die Presse in Ruhe lässt. Werther-Effekt.
Sie zog ihr Handy hervor und googelte „Teilnahme an einem Suizid“.
Laut StGB war die Anstiftung oder Beihilfe straffrei, sofern die Tat von einem vollverantwortlich Handelnden ausgeführt wurde. Selbstmord war keine vorsätzlich rechtswidrige Haupttat. Hmm. Diesen Fall würde sie trotzdem nicht so schnell zu den Akten legen. Bauchgefühl.
Automatisch wählte sie die oberste Nummer ihrer Anrufliste. Es war von Vorteil, wenn der eigene Vater Gerichtspsychologe war.
„Hallo Paps. Hast du schnell Zeit?“
„Hallo. Wo drückt der Schuh, Frau Inspektor?“
„Wo liegt der Unterschied, ob jemand droht dich umzubringen, wenn du ihm nicht sofort 10.000 Euro gibst, oder sich selbst umzubringen?“
Sie hörte ihren Vater lautstark Luftholen. „Das ist wirklich passiert?“
„Natürlich nur hypothetisch. Laufendes Verfahren. Du weißt schon…“
„Tja. Wenn du nicht von Haus aus ein deprimierter Säufer bist, wäre dir dein eigenes Leben um einiges mehr wert als, wieviel? 10.000 Euro?“
„Ja.“ Sie dachte an den armen Herrn Berger. Der mit den Nerven am Ende war. In diesem Fall gab es zwei Opfer. Ein totes und ihn. Er musste bis an sein Lebensende mit seiner Rolle fertig werden.
Ihr Vater spekulierte weiter: „Eine Verzweiflungstat? Wobei, wenn du so richtig am Arsch bist, helfen dir 10.000 Euro auch nicht, oder? Du kannst dir keine neue Wohnung kaufen, vielleicht noch ein altes Auto.“
„Was wenn er das Geld für eine lebensrettende Operation benötigt hätte?“
„Für 10.000? Meine Bandscheiben-OP hat schon mehr gekostet.“
„Was? Im Ernst? Das hast du gar nicht gesagt.“
„Wenn es einen selbst betrifft, spielt Geld keine Rolle. Das wolltest Du doch hören, oder mein Schatz?“
„Danke Paps. Du, ich muss dann wieder. Ruf mich an, falls Dir was dazu einfällt. Bussi.“
Sie ging zurück ins Büro. „Gibt’s schon was zum Mann mit dem Handy?“
Wenn er das Video live hochgeladen hatte, würden die Spezialisten der Cyber-Crime-Abteilung ihn ausfindig machen. Prabu, ihr IT-Alleskönner schüttelte nur kurz den Kopf, ohne den Blick von den drei Bildschirmen vor sich zu wenden. Er überprüfte die diversen Social Media Plattformen. Insgeheim zweifelte sie daran, dort fündig zu werden. Wenn es bei dieser Sache um Geld ginge, hätte man mit einem Spendenaufruf mehr Erfolg gehabt. Die Menschen sind so kurz vor Weihnachten doch immer sehr freizügig, wenn es um einen guten Zweck ging.
Marion sah fragend ihren Kollegen Stefan an, er hatte anhand des Ausweises, den der Tote bei sich hatte, dessen Identität überprüft und dafür gesorgt, dass die Angehörigen seelischen Beistand bekamen. Später würde sie selbst mit ihnen reden müssen. „Also? Wer ist der Tote?“
„Das ist ja das Komische. Für seine Familie kam sein Freitod aus heiterem Himmel. Er war Vorarbeiter bei BMW. Ist vor einem dreiviertel Jahr in Pension gegangen. Seither hatten er und seine Frau einen Hund, mit dem sie viel wandern und spazieren waren. Gerade hatten sie sich ein gebrauchtes Wohnmobil nett hergerichtet und wollten im Frühjahr ausgedehntere Touren unternehmen. Er war bei keiner Sekte. Keine Lebensversicherung. Von einer Lebenskrise keine Spur.“
Freitod, das Wort klang viel zu schön für den Anblick, den der Tote geboten hatte. Wie etwas, das ins Freie oder in die Freiheit führt. Aus diversen Seminaren wusste sie, dass Überlebende eines Suizidversuchs berichteten, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt nicht frei gefühlt haben.
Was ist mit Hypnose? Kann man damit einen Menschen zu so etwas zwingen? Ich hätte Paps fragen sollen! Sie wusste, auch bestimmte Arzneimittel können suizidaler Gedanken verursachen. Streng genommen war es auch Selbstmord, wenn ein Herzpatient seine Medikamente absichtlich nicht nimmt. Passiver Suizid.
„Chefin!“ Amra starrte sie bleich, mit schreckgeweiteten Augen, den Telefonhörer in der Hand, an. „Es ist gerade wieder passiert. Die Notrufzentrale ist dran. Landstraße 119.“

»Ruf die Polizei«, sagte er dann mit bebender Stimme zu seiner Frau, die gerade aus dem Badezimmer kam, wo sie letzte Hand an ihre Frisur gelegt hatte.
»Die Polizei? Was ist denn passiert?«
»Hast du nicht den Schuss gehört? Da hat sich vor unserer Tür einer …« Er konnte nicht weiter sprechen und musste schlucken.
»Ein Schuss?« Dorothea schüttelte den Kopf. »Da musst du dich verhört haben. Wenn hier am Sonntagmorgen ein Schuss fallen würde, wäre die ganze Nachbarschaft im Schlafanzug auf der Straße versammelt. Also beruhige dich und beeil dich, wir kommen sonst zu spät.« Während sie zur Garderobe ging, um zum Wetter und ihrer Stimmung passende Schuhe und Mantel herauszusuchen, drehte sie sich noch einmal zu ihm um.
»Wer hatte denn eigentlich geklingelt? Waren es wieder diese beiden Frechdachse von nebenan?«
Berger sah sich nicht imstande zu antworten. In Schockstarre verharrend verfolgte er, wie Dorothea sich vor dem Schuhregal bückte und ein Paar schwarze Pumps auf ihre Tauglichkeit für den heutigen Kirchgang prüfte.
Dorothea hatte recht. Draußen war es erstaunlich ruhig dafür, dass an einem friedlichen Sonntagmorgen in ihrer Straße ein Schuss gefallen war. Aber er hatte den Selbstmord doch mit eigenen Augen gesehen!
»Was stehst du da wie eine Salzsäule? Zieh dir die Schuhe an, wir müssen los!«
»Glaube mir doch, da draußen hat sich gerade jemand …«, versuchte es Berger erneut, aber ihm versagte mitten im Satz die Stimme.
»Ach Schatz, hatten den Frieder und Max Horrormasken bei ihrem Klingelstreich auf? Oder verfolgt dich ein Albtraum von heute Nacht? Muss ich mir Sorgen um dich machen?«
Dorothea reichte ihm seine dunkelgraue Übergangsjacke.
»Jetzt schauen wir mal, was da draußen vor der Tür Schreckliches sein soll, und dann zieh dir endlich deine Schuhe an!«
»Nein, nicht!«, krächzte Berger, aber da hatte sie die Tür schon aufgerissen.
»Siehst du, wie ich gesagt habe. Die Vöglein zwitschern, die Sonne scheint und außer uns braven Kirchgängern sind alle Nachbarn noch am Schlafen. Jetzt aber los!«
Bergers Entsetzen steigerte sich ins Unermessliche. War er dabei, verrückt zu werden? Der Vorgarten sah aus wie immer. Keine Männer mit seltsamen Forderungen, keine Leiche, keine Blutpfützen, nicht mal ein Hauch von rotbraunen Flecken auf den Wegplatten.
Dorothea holte seine Schuhe und drückte sie ihm in die Hand.
»Na komm, der Pfarrer wartet nicht auf uns.« Sie lächelte und gab ihn einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Was du auch immer glaubst, gesehen zu haben – es ist nicht da und ist nicht passiert. Du arbeitest einfach zu viel, da kann man sich schon mal unwohl fühlen. Der Spaziergang zur Kirche an der frischen Luft wird dir guttun.«
Mechanisch schlüpfte Berger in seine Schuhe und zog den Mantel über. Dorothea hakte sich bei ihm unter. Willenlos ließ er sich von ihr auf die Straße führen.
In der vordersten Bankreihe der spärlich besetzten Kirche tuschelten und knufften wie immer die Konfirmanden, Frieder und Max mitten dabei. Wie jeden Sonntag hatte die alte Witwe Keller Berger vor der Kirche aufgelauert, herzlich die Hand gedrückt und sich für die Organisation der zehn Jahre zurückliegenden Jerusalemfahrt bedankt. Schräg vor den Bergers saß ihr Nachbar Heinz Müller, der seit dem tödlichen Skiunfall seines Sohnes im letzten Winter fest zum Stamm der Gottesdienstbesucher aus Einsamen und Trostlosen gehörte. Pflichtmäßig fanden sich die Mitglieder des Gemeinderats, zu dem auch Dorothea gehörte, samt Familienanhängsel ein. Ihr Engagement in der Kirche kam Berger für sein Reisebüro aufgrund der Vielzahl an Gemeindeausflügen - von der Konfirmandenfahrt bis zum Kirchentagsbesuch - sehr zugute, so dass er nicht nur aus ehelichen, sondern auch aus geschäftlichen Gründen die wöchentlichen Kirchgänge in Kauf nahm. Ansonsten glaubte er weder an Gott noch suchte er Trost oder fühlte sich einsam.
Aber heute sehnte sich Berger nach einer göttlichen Eingebung, einer Erklärung dafür, was er und scheinbar sonst niemand auf der Welt gesehen und gehört hatte. Verstört vor sich hin grübelnd saß er neben seiner Frau, die sich angeregt mit dem Gemeinderatsvorsitzenden Herrn Paulsen über die bevorstehende Ausschmückung der Kirche zum Erntedankfest unterhielt.
Fing er an, verrückt zu werden? War der Selbstmord vor seiner Tür eine Halluzination gewesen? Er wollt es gerne glauben, vermochte es aber nicht, denn falls es so war, bedeutete es, dass er ernsthafte psychische Probleme hatte. Es war unmöglich, dass Dorothea und die Nachbarn den Schuss, wenn er wirklich gefallen war, nicht gehört hatten. Genauso unmöglich war es, dass innerhalb von wenigen Minuten der Selbstmörder samt Blutspuren spurlos verschwinden konnte. Berger schüttelte den Kopf. Er sollte dringend zum Arzt gehen. Vielleicht gab es eine einfache medizinische Erklärung für diese Sinnestäuschung, ein Vitaminmangel oder ein bevorstehender Burnout. Gleich morgen früh würde er sich bei seinem Hausarzt einen Termin besorgen.
Das Orgelvorspiel endete, und der Pfarrer trat an den Altar. Die Konfirmanden verstummten, Dorothea und Herr Paulsen ebenfalls. Mit einer Geste forderte der Pfarrer die Gemeinde auf, sich zu erheben. In das Knarren der Bänke und Räuspern und Husten der Gemeinde mischte sich das Quietschen der sich öffnenden Eingangstür. Aus Neugierde, wer es denn wagte, zu spät zu kommen, drehten sich die meisten Gottesdienstbesucher um. Unwillkürlich folgte Berger ihren Blicken. Fast blieb sein Herz stehen. Der verspätete Gottesdienstbesucher war der junge Mann, der heute Morgen in Begleitung des erpresserischen Selbstmörders vor seiner Haustür gestanden hatte.

Doch seine Frau antwortete nicht. „Dorothea!“, rief Berger schrill. Er lief, nach ihr rufend, in das verlassene Wohnzimmer. „Wo steckt sie nur?“, dachte Berger. Ein Gefühl von Angst stieg in ihm empor. Die Bilder des Blutnebels flackerten immer wieder in seinen Gedanken auf. Er konnte den Pistolenknall immer noch nachhallen hören. Er rannte mit sich steigernder Panik von Raum zu Raum, konnte seine Frau jedoch nicht finden. Vielleicht hatte sie den lauten Pistolenknall gehört und ist vor Angst durch die Hintertür geflohen, überlegte er.

Auf dem Weg, diese Möglichkeit zu prüfen, hörte er erneut die Klingel der Haustür. Berger ignorierte sie und lief unmittelbar zum Hinterausgang. Verwirrt stellte er fest, dass die Tür verschlossen war und der Sicherheitsriegel von innen noch eingespannt war. Seine Frau kann also nicht durch diesen Weg hinausgegangen sein, schlussfolgerte er.

Erneut ertönte die Klingel, gefolgt von einem aufdringlichen Klopfen. „Öffnen Sie die Tür, Herr Berger! Es ist dringend!“, hörte er den verbleibenden der beiden Männer rufen – den Verrückten mit dem Handy, der alles gefilmt hatte. „Verschwinden Sie!“, rief Berger. „Die Polizei ist bereits auf dem Weg!“, bluffte er. Nervös fingerte er sein Handy aus der engen Hosentasche, um seinen Bluff in die Tat umzusetzen. Seine Hände zitterten, und er brauchte eine gefühlte Ewigkeit, um das Gerät zu entsperren.

In diesem Moment klingelte sein Handy. Ein anonymer Anrufer. Panik erfasste ihn, und auch das letzte bisschen Farbe wich aus seinem Gesicht. Es vergingen einige Sekunden, bis er sich weit genug gefangen hatte, um das Gespräch entgegenzunehmen. „Dorothea? Bist du das?“, fragte er mit zitternder Stimme.

„Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Frau. Noch geht es ihr den Umständen entsprechend gut“, sagte eine verzerrte, dunkle Stimme. „W-w-wer ist da?“, stotterte Berger. „Was haben Sie mit meiner Frau gemacht?“ – „Befolgen Sie nun genau meine Anweisungen, und Ihre Frau ist in wenigen Stunden wieder zu Hause“, erwiderte der Anrufer. „Gehen Sie an die Haustür. Rufen Sie niemanden an. Jonas wird Sie zu Ihrem Ziel bringen.“ Mit diesen Worten beendete der Fremde das Gespräch.

Tiefe Panik erfasste Berger. Vor seinem inneren Auge zeichneten sich die schlimmsten Szenarien ab: Seine Frau – erschossen und blutüberströmt – in einem Kofferraum, in einer Lagerhalle oder in einer Seitenstraße abgelegt. Erneut riss ihn die Klingel aus seinen furchtbaren Gedanken. „Wir haben keine Zeit mehr!“, rief es von draußen. Langsam und wie in Trance bewegte sich Berger in Richtung Haustür. Dort angekommen schob er die Sicherheitskette zur Seite und öffnete langsam die Tür. Sein Blick fiel sofort auf die Leiche, die noch immer in ihrer Blutlache lag. Teile des Gehirns waren über den Boden verteilt. Der andere Kerl hielt weiterhin das Handy hoch und filmte, als sei nichts passiert. „Wir müssen von hier verschwinden“, sagte er fast flehend zu Berger. „Steigen Sie in den schwarzen BMW. Die Türen sind offen. Sie fahren“, befahl er knapp.

Berger bewegte sich wie ferngesteuert auf das Auto zu. Dabei bemerkte er nicht einmal, dass er direkt durch die Blutlache ging. Im Auto angekommen, sagte der Fremde: „Ich heiße Jonas. Es tut mir leid, dass Sie das durchmachen müssen. Fahren Sie in die Königsberger Allee. Dort befindet sich ein Briefkasten.“ Ein Moment, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte, verging, ehe Berger mit verzweifelter Stimme und leerem Blick antwortete: „Was soll ich an einem Briefkasten?“

„Unter dem Briefkasten befindet sich ein Umschlag für Sie“, informierte ihn Jonas. „Was für ein Umschlag? Was ist hier los? Wo ist meine Frau? Was haben Sie mit ihr gemacht?“ Die letzten Worte schrie Berger. „Ich weiß nicht, wo Ihre Frau ist“, sagte Jonas leise. „Aber ich weiß, dass Ihre Frau sterben wird, wenn Sie nicht machen, was dieser Verrückte von Ihnen verlangt. Und meine Frau wird auch sterben. Oder denken Sie, ich filme das alles freiwillig?“ Jonas wurde wütender. „Sie hätten Sven die 10.000 Euro geben sollen. Dann hätte dieser furchtbare Albtraum endlich ein Ende.“ Jonas machte eine kurze Pause und fuhr fast flüsternd fort: „Oder hätte Sven diesem armen Obdachlosen doch bloß eine Woche Unterkunft gewährt.“

Nach der Ankunft eines Streifenwagens mitsamt zweien jungen Polizisten erlebte die ruhige Straße des besseren Wohnviertels eine völlig ungewohnte, neue Situation. Zwei weitere Streifenwagen blockierten die Zugänge der Straße an beiden Enden von und ein Krankenwagen die gesamte Straße vor Bergers Grundstück. Zwei Lieferwagen der Kriminaltechnik parkten auf beiden Bürgersteigen, Absperrbänder flatterten und immer mehr Menschen bevölkerten Bergers Vorgarten.

Dies alles wurde aufmerksam durch ein bernsteinfarbenes Augenpaar beobachtet, dem nicht die kleinste Bewegung entging. Zu den ungewöhnlichen Augen gehörte ein reinweißes Fell mit schwarzen Pfoten. Beide Ohren waren ebenfalls schwarz, als hätte man sie einer schwarzen Katze abgeschnitten und dieser weißen Katze aufgesetzt. Wie bewegliche kleine Hörner zuckten und drehten sie sich zu jedem ungewohnten Geräusch und fügten die erhaltenen Informationen zu denen, die von den Augen gesammelt wurden. Niemand beachtete den putzigen Schmusetiger. Warum auch? Er lag auf dem Sims des Wohnzimmerfensters neben der Eingangstür, hoch genug über dem Rasen und somit weit genug entfernt von dem für die Menschen viel interessanteren Tatort.

Seit zwei Stunden wuselten Menschen umher, fotografierten, pinselten Grafitpulver auf alle Oberflächen zwischen Garten- und Haustür, stellten Zahlenschildchen neben potentielle Spurenträger und redeten durcheinander. Das war eine kleine Herausforderung für die schwarzen Katzenohren, denn sie wollten ja kein Wort verpassen.

Nun kamen bereits zwei Sargträger heran, denen von den Sanitätern Platz gemacht wurde, um die Leiche abzuholen. Neugierig beobachteten die Bernsteinaugen, wie sich die Sargträger abmühten, nicht in die große Lache aus Blut und Gehirnmasse zu treten und den toten, inzwischen blickdicht verpackten Körper dennoch möglichst würdevoll abzutransportieren.
«Schade eigentlich», dachte die Katze. Sie hätte diesen gelungenen Anblick noch eine Weile genießen können.
«Gar nichts gefunden? Überhaupt gar nichts?», fragte ein Mann in Zivilkleidung einen der Kriminaltechniker. Dieser schüttelte stur den Kopf.
«Keine Brieftasche, Geldbeutel, Schmuck mit Gravierungen, Tätowierungen. Nichts!» Er hob den Zeigefinger wie ein Lehrer. «Interessant ist nur, dass er keine Fingerabdrücke hat. Also keine Papillar-Linien. Die hat er sich weggeätzt. Sehr schmerzhaft.» Die Katzenohren drehten sich wie spitze Radarschüsseln zu dem Sprecher.
«Geht das denn? Also… ich meine, funktioniert das dauerhaft?», fragte der zivile Polizist. Die Antwort kam prompt und lakonisch.
«Nö. Also ja, kann man machen. Aber dann bildet sich Narbengewebe, das genauso individuell ist wie ein Fingerabdruck. Glaub aber nicht, dass wir die im System finden.» Der Zivilpolizist seufzte, die Katze schnurrte zufrieden.

Nun drehten sich erst die Ohren, dann der Katzenkopf zum Fenster hinter ihr. Im Wohnzimmer saß das verstörte Ehepaar Berger vor einem Kommissar, der sie skeptisch musterte.
«Haben Sie denn nicht gefragt, warum er das Geld braucht und warum er sich umbringen will?»
«Es ging alles viel zu schnell! Das habe ich doch alles schon erklärt.» Richard Berger wirkte genervt bei seiner Antwort. Seine Frau griff beruhigend nach seiner Hand und drückte sie.
«Sie wären doch genauso verwirrt, wenn plötzlich zwei Fremde mit so einer Forderung vor Ihrer Tür stehen.», sprang sie ihrem Mann zur Seite.

Ein Ohr der Katze kippte in Richtung Garten. Sie lauschte einen Moment, dann beschloss sie, sich dem Geschehen im Wohnzimmer näher zu widmen. Geschmeidig erhob sie sich, schubste das angelehnte Fenster mit der Pfote etwas weiter auf und sprang in den Raum. Sie spürte den kurzen Blick des Kommissars, ignorierte den Mann aber, sprang auf das Sofa und rollte sich schnurrend neben Berger zusammen. Unbewusst und ohne hinzusehen, strich Berger über ihren Rücken. Sie schnurrte lauter.

Ihre Ohren zuckten, als der Zivilpolizist das Wohnzimmer betrat und sich neben den Kommissar stellte. Es war genau der, den die Katze bereits eben im Garten gehört hatte. Er raunte etwas, was weder Berger noch seine Frau verstanden. Die Katze hörte es genau.
«Die Kollegen aus der IT haben das gerade im Darknet entdeckt. Es wurde vor wenigen Minuten online gestellt. Sie versuchen es zu sperren.» Die beiden Männer teilten sich das Headset, jeder stopfte sich einen Ohrstecker in sein Ohr. Der Kommissar starrte auf das Video, das nun abgespielt wurde. Für die Katze war es offensichtlich, dass beide zusammenzuckten, als der Schuss in ihren Ohren dröhnte.
«Verdammt!», fluchte er sehr laut.
«Sehr gut!», schnurrte die Katze und rollte sich auf den Rücken.

Als Berger sich zu ihr umdrehte, sah er, dass Dorothea zwar bereits ihr Handy in der Hand hielt, aber wie versteinert dastand und mit kalkweißem Gesicht in Richtung Haustür blickte. Sie hatte offenbar jedes Wort mitangehört - den Schuss natürlich auch. Die logische Verknüpfung von beidem war aber augenscheinlich noch zu unglaublich für sie. Er konnte ihr das nicht einmal verübeln, denn ihm ging es - trotz der blutigen Szene, die sich gerade in seine Netzhaut eingebrannt zu haben schien - ja genauso. Das alles war ein absoluter Albtraum - nur wachte er leider partout nicht daraus auf.
In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken – wer waren die beiden gewesen? Hatte er nicht einen schon mal irgendwo gesehen? Den Jüngeren sicher nicht, aber den Älteren? In seinem Gedächtnis blitzte etwas ganz vage und verschwommen auf. Egal, das musste erstmal warten.
Er lauschte, doch vor der Tür herrschte Stille. Das eben noch laute Geschrei des jüngeren Mannes war verstummt. Vermutlich war er längst auf der Flucht. Wieso sah Doro immer noch wie hypnotisiert zum Eingang und rief nicht einfach die Polizei?
Just in diesem Moment begegneten sich ihre Blicke. „Richard …“ begann sie, doch ihre Stimme versagte im selben Moment, in dem ihr die Knie nachgaben. Sie sackte, mit dem Rücken an der Wand lehnend, wie in Zeitlupe in sich zusammen und starrte ihn dann, aus einer seltsamen Kauerstellung, von unten herauf an „Woher wusste er von dem Geld?“
Berger fühlte sich, als ob ihm unerwartet ein Schlag in den Magen verpasst worden war. Woher zur Hölle wusste sie von dem Geld?
Doch ihm blieb keine Zeit über eine angemessene Reaktion nachzudenken, denn im selben Moment hörte er erneut einen Knall und spürte einen seltsam brennenden Schmerz am Oberarm. Das schmale Milchglasfenster neben der Eingangstüre zersplitterte in tausend winzige Stücke und die Kugel, die ihn am Arm gestreift hatte, schlug knapp über Dorotheas Kopf in der Wand ein. Kleine weiße Putzstückchen rieselten auf ihr dunkles Haar.
„ZUM AUTO!“ brüllte er, nun doch völlig die Fassung verlierend. Doro kam erstaunlich schnell wieder auf die Füße und erreichte sogar noch vor ihm die Feuerschutztüre, die zur Garage führte. Tür auf, beide hindurch, Tür zu. Berger schloss sie rasch ab. Der Wagen hatte sich durch die Nähe des Smartkeys in seiner Hosentasche bereits entriegelt - so schnell wie heute waren beide noch nie eingestiegen. Kurz überlegte er, ob das Versteck für das Geld auch wirklich ausreichend clever gewählt worden war, aber unterbrach diesen Gedankengang sofort wieder … er hatte jedenfalls nicht vor heute wegen zehntausend Euro zu sterben.
„SCHNALL DICH AN!“ hörte er sich – mit mehr Panik in der Stimme als ihm lieb war - schreien, während er bereits seinen Sicherheitsgurt einrastete und den Anlasser drückte. Er würde das alte, doppelflügelige Tor sicher nicht langsam per Fernbedienung aufklappen lassen, sondern hatte vor, einfach durchzubrechen. Wenn er den Schützen dabei über den Haufen fuhr, umso besser. Noch ein rascher Seitenblick auf seine Frau, die ihm zunickte, als hätte sie seine Gedanken gelesen, dann trat er das Gaspedal seines schweren SUVs (zu dessen erst kürzlichem Erwerb er sich gerade innerlich auf die Schulter klopfte) bis zum Anschlag durch.

Nadja Schade

Dorothea Berger stand wie erstarrt hinter ihrem Mann im Flur, der Mund weit offen, ihren schwarzen Mantel ordentlich über den Arm gelegt.

»Dorothea! Dein Handy!« Bergers Herz schlug wie wild in seiner Brust, er stand jedoch im Gegensatz zu seiner Frau nicht unter Schock. Sein eigenes Smartphone hatte sich beim Frühstück heruntergefahren, der Akku musste geladen werden und ein Festnetztelefon besaß das Ehepaar schon seit langem nicht mehr.
Da klopfte es laut und eindringlich an der Tür und die Stimme von Noah, ihrem erwachsenen Sohn, ertönte. Er wohnte mit seiner Familie im großen Anbau. »Papa, Mama, seid ihr in Ordnung? Was ist hier los? Ich habe die Polizei gerufen, sie ist unterwegs.«

Vermutlich hatte der beschützende Instinkt einer Mutter Dorothea aus ihrer Starre geholt. Sie stürzte an ihrem Mann vorbei und riss die Tür auf. Was auch immer sie als Nächstes zu tun gedacht hatte, sie kam nicht dazu. Ein weiterer Knall ertönte, Mutter und Sohn zucken zusammen.
Richard Berger drängte sich an ihnen und der Leiche vorbei in seinen Vorgarten. Schreie waren in einiger Entfernung zu hören, ebenso mehrere Autotüren, die zuschlugen. Und noch ein Schuss, dessen war sich Berger sicher. Sirenen heulten, wurden aber eher leiser als lauter. Die Leute auf den Straßen gerieten in Aufruhr.
Er drehte sich zu seiner Familie um und machte wilde Handbewegungen, um sie ins Haus zu scheuchen. Noah wollte gerade in Richtung seiner eigenen Familie aufbrechen, um sie holen, da kamen ihm seine Frau Judith und ihr vierzehnjähriger Sohn Max entgegengelaufen. Als alle sicher im Haus waren, verschlossen sie die Tür.

Max hielt den Anderen aufgeregt sein Handy entgegen: »Guckt auch das an! Hier läuft eine richtige Scheiße ab. Irgendeine kranke Bewegung oder sowas. TikTok und Instagram sind voll davon. Videos von Menschen, die sich reihenweise … umbringen. Und immer sind die Videos mit nur einem einzigen Hashtag versehen - #10k. Was passiert hier?«

Montagvormittag im Polizeipräsidium:
„Was wissen wir über den Toten?“, fragte Polizeihauptmeister Jensen seine Kollegin Bernstein, während er mit einem starken Kaffee versuchte die Notbeleuchtung in seinem Gehirn auf ‚normal‘ zu bekommen.
„Nicht viel. Genau genommen nichts, was irgendwie erhellend für uns wäre. Franz Leitner, 66 Jahre und pensionierter Realschullehrer. Verheiratet, hat eine erwachsene Tochter und zwei Enkelkinder. Mit Berger nicht verwandt und Berger selbst sagt, er kenne ihn nicht. Leitners Frau ist noch nicht vernehmungsfähig, aber seine Tochter sagt, er habe keine psychischen Erkrankungen, rauche nicht, trinke nicht und sei auch nicht spielsüchtig. Die Tochter ist sich sicher, dass ihre Eltern ohne Schwierigkeiten die 10.000 Euro aufbringen hätten können. Es gäbe keinen Grund, jemanden deshalb zu überfallen oder zu bedrohen.“
„Was er genaugenommen auch nicht gemacht hat.“, stellte Jensen fest und drückte mit Daumen und Zeigefinger kräftig auf seine Nasenwurzel. Das half auch manchmal beim Wachwerden. „Was wissen wir über die Pistole?“, fragte er weiter.
„Eine .45 ACP und es ist seine eigene. Er ist Sportschütze und hat eine Waffenbesitzkarte.“
Jensen drehte sich im Stuhl zum Fenster, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah gedankenverloren hinaus. „Er will 10.000 Euro von Berger, die er selber hat, und als er sie nicht bekommt, pustet er sich das Hirn weg?“
„Ja, seltsam, nicht wahr? Die Tochter beschreibt ihn als lustigen und unterhaltsamen Menschen. Passt irgendwie nicht zu einem Selbstmörder.“
Als ob Depressive nicht lustig sein könnten, dachte Jensen. „Was ist mit dem zweiten Mann?“, fragte er stattdessen, wieder zu seiner Kollegin gewandt.
„Tja, das ist merkwürdig. Von dem fehlt jede Spur. Er scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.“
„Berger sagte, dass der andere Mann die ganze Zeit über gefilmt habe. Das machte er sicherlich nicht zu seinem Privatvergnügen. Ist schon was im Netz?“
„Die Kollegen sind da dran, haben aber noch nichts gefunden.“
Eine Woche später flatterte von der Berliner Polizei folgende Meldung bei Jensen auf den Schreibtisch:
Viktor Hasselmann feierte mit einigen Freunden im Dachrestaurant des Hotel Ritz sein 25-jähriges Jubiläum als Direktor der Privatbank „Rotermund und Co“, als eine ihm fremde ältere Frau in Begleitung eines jüngeren Mannes, sich Zutritt zu seiner Veranstaltung schaffte, in dem sie fälschlicherweise behauptete, sie sei die Lehrerin seines Sohnes und müsse mit Hasselmann über diesen sprechen. Daraufhin ging Hasselmann mit ihr und dem Begleiter auf den Balkon. Dort forderte sie ihn eindringlich auf, ihr sofort 10.000 Euro zu geben, sonst würde sie vom Balkon springen. Hasselmann verweigerte ihr dies mehrmals und ihr Begleiter beschimpfte ihn daraufhin als Geizhals und Kapitalistenschwein. Als er den beiden androhte, das Sicherheitspersonal zu rufen, sprang die Frau von der Balkonbrüstung. Der junge Mann schrie: „Ein weiterer Mensch, der Opfer des Systems geworden ist!“, während er alles mit seinem Handy filmte. In dem ausbrechenden Chaos konnte der Mann unerkannt das Hotel verlassen. Der herbeigerufene Notarzt konnte nur noch den Tod der Frau feststellen.
„Na, Bernstein, fällt dir dazu etwas ein?“
„Ja,“, antwortete die Polizeibeamtin. „Alle bekloppt geworden.“
Jensen lächelte. Er war empfänglich für solche Pointen, die sein Beruf gelegentlich hervorbrachte. Dann griff er zum Telefon und wählte die Nummer des LKA.

(c) Pat Nastoll