An einem Montagmorgen schloss Anton Taler den Deckel seines Laptops und rieb sich geistesabwesend mit der Hand über die Stirn. Das angepinnte Schild an seinem Hemd war das einzige, was frisch und akkurat an ihm saß. Er kniff sich in die Nasenwurzel und wünschte seine rasenden Gedanken zur Hölle, die ihm die zweite schlaflose Nacht in Folge beschert hatten.
Sein Handy klingelte und er fuhr so heftig zusammen, dass der Laptop beinahe von seinem Schoß rutschte. Es war noch nicht einmal hell und schon belästigte man ihn wieder.
Geistesabwesend griff er nach dem Knoten seiner Krawatte und zerrte daran, als könne er dadurch die plötzliche Enge in seiner Kehle lindern.
»Was?«, blaffte er in den Lautsprecher und ballte die Hand um den roten Stoff.
»Der Geier ist gelandet.«
Taler hätte das Handy am liebsten gegen die Wand geschmettert. Was erlaubte der Kerl sich eigentlich? »Sparen Sie sich Ihre geschmacklosen Witze und sagen Sie mir, was Sie herausfinden konnten.«
»Unser Robin Hood hat den Köder direkt nach seiner kleinen Showeinlage weggebracht, ganz wie von Ihnen verlangt.«
»Die Spurensicherung?«
»Hat lediglich die Blut- und Gehirnreste vom Boden kratzen können.«
Taler atmete tief durch.
»Das Video ist ein voller Erfolg, Chef.«
»Das weiß ich selbst.«
»Die Medien werden über nichts anderes berichten.«
Talers Blick zuckte zu dem leeren Sparschwein auf dem Sideboard und er biss die Zähne fester zusammen.
»Suchen Sie mir beim nächsten Mal ein zahlungswilligeres Opfer aus, Anster.«
»Wie Sie wünschen, Chef.«
Taler legte auf, erhob sich von seinem Stuhl und ging auf die Tür zu seiner Linken zu. Für einen Moment schloss er die Augen, versuchte sich für das Bild zu wappnen, das ihn gleich erwarten würde.
Er drückte die Klinke hinunter und lehnte seine Schulter leicht gegen das Türblatt. Dann trat er ein. Im dämmrigen Schein des Nachtlichts blickte er auf die zierliche Gestalt hinab, die friedlich in ihrem Bett schlief. Wäre da nicht das stetige Piepen, das den Eindruck von heiler Welt in Sekundenbruchteilen zu Nichte machte.
Zu viele Schläuche, zu blasse Haut, zu hohe Rechnungen.
Taler trat einen Schritt zurück und zog die Tür wieder hinter sich ins Schloss. Dann griff er nach der Aktentasche neben dem Esszimmertisch.
»Du gehst schon?«, fragte eine verschlafene Stimme aus Richtung des Badezimmers.
»Tut mir Leid Schatz, es gab wieder einen Mord«, sagte er mit ernster Stimme zu seiner Frau.
Dorotheas Blick war auf die weiß lackierte Haustür genagelt.
„Was war das für ein Knall?“, ihre eigene Stimme klang ihr fremd und hohl.
„Ruf die Polizei an!“, wiederholte Richard. Seine Frau rührte sich nicht. Sie hielt immer noch den roten Lippenstift in der Hand, der bei dem Schuss einen Strich über die rechte Wange verursachte.
Er würde sie selbst anrufen müssen. Unter dem Flurspiegel auf dem antiken Sideboard lag ihr Smartphone und wartete darauf, seinen Platz in ihrer Handtasche zu finden. Seine zittrigen Finger griffen danach, tippten auf eins, eins, null und anschließend auf den grünen Hörer. Das Gerät blieb stumm. Ungläubig gab er die Notrufnummer erneut ein.
„Dein Handy funktioniert nicht!“, seine Worte kamen stoßweise und abgehackt. Mit großen Schritten durchmaß er den Flur und betrat das feudale Wohnzimmer. Vor der roten Brokat-Tapete befand sich ein beiges Biedermeiersofa mit zwei passenden Ohrenbackensesseln. Auf dem Intarsien-Tischchen, welches daneben seinen Platz hatte, lag Richards Mobiltelefon. Seine zittrigen Finger bedienten die Notrufapp, die seit seinem Herzinfarkt installiert war. Auch dieses Gerät brachte keine Verbindung zustande. Richard Berger gehörte noch zu einer Generation, die über ein Festnetztelefon verfügte. In einer kleinen Nische neben dem schweren Eichenbücherregal stand das Relikt aus längst vergangenen Tagen. Genau für solche Momente hatte er darauf bestanden, es zu behalten. Sollten einmal alle Satelliten ausfallen, so hatte er seiner Frau erklärt, würde er immer noch telefonieren können. Ungläubig sah er auf den Hörer.
„Es geht nicht“, presste er hervor.
Dorothea hatte sich gefangen und folgte ihrem Mann. Ihre Aufmerksamkeit galt nun nicht mehr ihm, sondern dem großen Wohnzimmerfenster, welches die ganze Südseite einnahm. Sie trat bis auf ein Meter heran. Dort standen zwei junge Fremde in Jeans und Kunstlederjacken, hielten ihre Handys hoch und filmten in den Raum hinein.
Energisch griff sie nach dem Jalousie-Band und zog daran. Doch der Blickschutz wollte nicht nach unten gleiten. Jemand hatte einen Besenstiel zwischen Boden und dem Jalousie-Kasten eingeklemmt und verhinderte das Bedienen der Apparatur. Ein weiterer Mann, mit einem Smartphone, das er auf Frau Berger richtete, trat an die Fensterfront.
„Was ist hier los?“, schrie sie, so laut sie konnte. Richard sah zu ihr auf, nahm sie an der Schulter und zog sie in den Flur hinaus. Kleine Schweißperlen rannten über seine gelblich-weiße Stirn, verfingen sich in den Wimpern, ehe sie brennend in seine Augen schlüpften. Der Geruch von dem eingelegten Sauerbraten, den seine Frau für das Sonntagsessen vorbereitet hatte, erzeugte nun Übelkeit. Er atmete flach, ignorierte den Essensduft und schloss die Wohnzimmertür, um die Blicke der Fremden auszusperren.
„Geh nach oben und sperr dich ins Bad ein!“, forderte er seine Frau auf.
„Und was machst du? Denk an dein Herz. Du darfst dich nicht aufregen.“, Dorotheas Stirn zog sich zusammen und bildete steile Falten zwischen den Augen.
Behutsam strich sein Handrücken ihre errötete Wange.
„Ich passe auf mich auf. Geh hoch. Ich komme sofort nach. Die Handys werden sicherlich gleich wieder funktionieren“, Richard schenkte ihr ein gezwungenes Lächeln, ehe er sich zur Küche begab. Am Fenster standen Fremde, nicht die Besucher, die geklingelt hatten und auch nicht die, die vor dem Wohnzimmerfenster filmten. Diese hier waren ebenfalls mit schwarzen Kunstlederjacken bekleidet und hielten ihre Kameras in das Hausinnere. Herr Berger machte sich nicht die Mühe, zum Jalousie-Band zu gehen, er konnte gut den Rechen erkennen, der dort eingespreizt war. Ausgerechnet diese Woche hatte seine Frau die Gardinen zur Reinigung gebracht. Sonst würde er diese zuziehen und der Spuk hätte ein Ende. Mit Schwung zog er den Griff, ehe die Küchentür lautstark ins Schloss fiel. Tief zog er die Luft in die Lungen, bevor er geräuschlos, kaum wagend, die Füße aufzusetzen, ins Gästebad schlich. Das letzte Fenster im Erdgeschoss. Es war still. Das stetige Summen der Klimaanlage war ebenso verstummt wie das Brummen des Kühlschrankes. Der Strom im Haus war ausgefallen. Einzig die eigene Atmung war noch zu hören. Über ihm wurde leise eine Tür geschlossen, ehe man das Geräusch von einem Schlüssel vernahm, der gedreht wurde.
Sein Blick wanderte erneut zu dem Fenster. Es war höher eingebaut worden als die anderen, um den Besuchern dieses Raumes Privatsphäre zu gewähren. Es war unter der Decke angebracht und war kaum einen halben Meter hoch. Um keinen Laut zu erzeugen, zog er seine Slipper aus und stieg auf den Toilettensitz. Langsam lösten sich seine Fersen von dem Untergrund, um ein paar Zentimeter gutzumachen. Gerade als seine Finger den kalten Sims suchten, um sich daran hochzuziehen, durchbrach ein Knall die Stille. Jemand hatte sein Handy auf die Scheibe gepresst.
Erschrocken fuhr er zurück, griff ins Leere, rutschte von dem glatten Toilettendeckel und stürzte zu Boden. Er ignorierte den stechenden Schmerz in seinem Knie und zog sich an dem kleinen Holzkästchen, welches mit weißen Handtüchern bestückt war, hoch.
„Sie haben ihn umgebracht! Schwein! Sie haben ihn umgebracht! Kapitalist“, ein Sprechchor, der von allen Seiten kam und stetig wiederholt wurde, drang in das gepflegte, gutbürgerliche Haus mit seinem Sonntagsbratengeruch.
Richard Berger beließ seine Schuhe in der Toilette und rannte in den Flur, um auch diese Tür zu schließen. Nur das wenige Licht, das von der Treppe herunterkam, verhinderte die vollkommene Dunkelheit.
Seine rechte Hand glitt auf seine linke Brustseite. Diese wurde immer enger, bis er das Gefühl hatte, jemand würde darauf sitzen und jegliche Luft hinauspressen. Zu dem Schmerz kam die Angst, eine allumfassende, eine, die das ganze Sein einnahm und kaum das Atmen zuließ. Ein Rauschen erfasste seinen Kopf und tauchte seine Umwelt in nebligen Schwaden. Die schweißnasse Hand glitt in seine Hosentasche und zog eine kleine Dose hervor. Er fingerte daran herum, bis er das Behältnis geöffnet hatte und eine rote Perle hervorholte, die er in den Mund schob und eilig zerbiss. Es dauerte nur einige, aber ewige Sekunden, bis die Nitroglyzerinkapsel ihren Dienst tat und die Brust wieder freigab. Er atmete und zog die Luft tief ein. Der Vater im Himmel würde doch noch auf ihn warten müssen. Der Sprechchor riss nicht ab. Es schienen immer mehr Stimmen dazuzukommen, begleitet von rhythmischen Klopfen. Die Besucher hämmerten mit ihren Fäusten auf Tür und Fenster ein.
Er stolperte die Stufen hinauf. Auf allen vieren erreichte er das obere Stockwerk. Keuchend setzte er sich mit dem Rücken zum Badezimmer auf den Boden und betätigte erneut, erfolglos die Notrufapp.
Dorothea nahm das Telefon und musste tatsächlich einen Moment darüber nachdenken, ob sie jetzt 110 oder 112 wählen musste. Ihre Hände zitterten. Richard hatte gesagt, sie solle die Polizei rufen – also das war doch 110. Ach du liebe Güte, jetzt vertippte sie sich auch noch dreimal bei den einfachen Zahlen. Sie war einfach so aufgeregt. Sie hatte schon viele Krimis gesehen, aber dass sich jemand vor ihrer eigenen Haustür eine Kugel durch den Kopf jagte – daran hätte sie im Traum niemals gedacht. Dass so etwas in ihrem Leben passieren sollte!
„Muss man denn alles selber machen?“, schrie Richard und im gleichen Moment riss Richard ihr das Telefon aus der Hand. Doch da meldete sich bereits die Polizei.
„Hier Richard Berger, Drosselweg 7 in Frankfurt. Ich möchte einen Mord melden. Nein, einen Selbstmord. Die Leiche liegt vor meiner Tür, und der Zeuge, der alles gefilmt hat, scheint sein Sohn zu sein. Ich werde versuchen, ihn festzuhalten, damit er nicht wegläuft und die Ermittlun-gen erschwert.“
Am anderen Ende wurde ihm bestätigt, dass sofort ein Streifenwagen zu ihnen herausgeschickt werde. Für Richard war die Sache damit erst einmal erledigt.
Dorothea stand mit offenem Mund da und schaute den Mann an, mit dem sie schon fast 30 Jahre verheiratet war, als wäre er ein Außerirdi-scher.
„Kaltschnäuzig!“ entfuhr es ihr.
„Was hast du gesagt?“ Richard sah sie erstaunt an.
„Ich wusste nicht, dass du so kaltschnäuzig sein kannst.“, sagte Dorothea, noch immer am ganzen Leib zitternd. „Da liegt vor unserer Tür ein toter Mann, das Blut läuft über die Steine in unserem Vorgarten, und du meldest einen Selbstmord, legst auf, und dann ist für dich die Sache erledigt – oder wie?“
„Mein Gott, Dorothea! Wir kommen sowieso zu spät in die Kirche. Am besten gehen wir gar nicht erst hin. Außerdem braucht die Polizei uns jetzt hier als Zeugen. Was soll ich denn machen? Soll ich wegen eines Wildfremden in Tränen ausbrechen?“
Dorothea setzte sich hin. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ihre Finger nestelten nervös an ihrem Rock, als ob sie dringend eine Beschäftigung brauchten, um sich nicht die Haare auszureißen. Sie hatten das Gefühl, verrückt zu werden. Ihre ganze Welt war aus den Fugen geraten.
War das Richard? Der Mann, der einst so charmant war, intelligent, einfühlsam und zudem auch noch so gut aussah, dass sie sich sofort Hals über Kopf verliebt hatte – reagierte in einer solchen Ausnahmesituation eiskalt.
War ihr Alltag mit ihm, dem Geschäft, den Kindern, den Enkelkindern so eintönig geworden, dass sie so abgestumpft war, um nicht mehr zu merken, mit wem sie das Leben teilte?
Sie wagte kaum aufzuschauen, denn wenn sie es tat, würde ihr Blick aus dem Fenster und den Toten vor der Tür fallen. Dieser Gedanke jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. Doch sie brauchte nicht hinzu-sehen. Das, was sie gesehen hatte, war jetzt unauslöschlich auf ihrer Netzhaut eingebrannt. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich nie wieder ein Auge zu machen würde, ohne dieses Bild des Grauens vor sich zu sehen. Ihr wurde bewusst, dass sie einen Schock erlitten hatte.
Dorothea hörte in der Ferne den dumpfen Klang von Sirenen, die stetig näherkamen und lauter wurden. Die Polizei war unterwegs. Ihre Gedanken wirbelten wie Tornados durch ihren Kopf, sie überschlugen sich regelrecht. Sie schaute hinüber zu ihrem Mann, der auf dem Sofa saß und emotionslos, ja man könnte sagen, gelangweilt auf sein Handy starrte. Dorothea fühlte, wie sich eine unbändige Wut in ihr aufbaute und sich den Weg aus ihrem Bauch nach oben bahnte.
„Du bist ein Monster“, zischte sie schließlich leise, noch stets bemüht, das aufkommende Gefühl unter Kontrolle zu halten.
„Und was soll ich deiner Meinung nach tun?“, fragte er sie, ohne den Blick von seinem Handy zu heben. „Die Polizei wird das schon regeln.“
„Das ist nicht normal, Richard! Da liegt ein Mensch tot vor unserer Tür, und du – du …“
Ein leises Geräusch ließ sie verstummen. Es klang wie ein Schluchzen. Sie sprang auf und ging zum Fenster. Am Rand des Vorgartens sah sie den Jungen neben der Leiche seines Vaters sitzen. Sein Gesicht in seinen Händen vergraben, wurde sein Körper von einem Weinkrampf ge-schüttelt. „Mein Gott“, murmelte sie, „der ist ja mal höchstens 17 Jahre alt.“ Das Handy, womit er angeblich gefilmt hatte, lag achtlos neben ihm.
„Da ist der Junge!“, rief sie. „Der Zeuge! Er sitzt da draußen, ganz allein.“
Richard stand langsam auf und kam herüber. „Lass ihn. Die Polizei ist gleich da.“
„Lass ihn?“, fuhr sie ihn an. „Er ist ja fast noch ein Kind, Richard! Er hat gerade seinen Vater sterben sehen!“, und dann: „Ich werde versuchen, ihn festzuhalten, damit er nicht wegläuft und die Ermittlungen erschwert. Was sollte das denn? Wolltest du dich damit wichtigmachen? Du schaust ja nicht einmal nach, ob er überhaupt noch da ist!“
Keine Antwort!
Die Sirenen waren jetzt lauter, die Polizei würde jeden Moment eintreffen. Doch in Dorotheas Kopf drehte sich alles nur um die letzten Worte des Mannes: „10.000 Euro oder ich bringe mich um.“
Sie drehte sich zu Richard um, der nun mit verschränkten Armen im Wohnzimmer stand und emotionslos aus dem Fenster schaute.
„Richard … was hat er gemeint? Warum wollte er 10.000 Euro von dir?“
Richard zuckte zusammen, als habe sie ihn bei irgendetwas ertappt. „Ich weiß es nicht, Dorothea. Vielleicht war er einfach verrückt. Solche Leute sagen vieles, bevor sie … na ja …“
„Nein!“ Dorotheas Stimme wurde schrill. „Er hat dich direkt angesehen, Richard. Was hat er gemeint? Du weißt genau, wovon er gesprochen hat.“
Nun wurde Richard nervös. Er fuhr sich durch die Haare, eine seiner typischen Gesten, wenn er in einer stressigen Situation verkehrte.
„Es ist kompliziert. Das versteht du nicht.“
Dorothea war so überrascht, dass ihr die Luft wegblieb. „Was verstehe ich nicht? Was verheimlichst du mir?“ Ihre Stimme überschlug sich.
Bevor Richard antworten konnte, ertönte das Klingeln an der Tür. Zwei Polizeibeamte standen draußen, ein Mann und eine Frau, beide mit ernsten Gesichtern. Dorothea öffnete.
„Guten Abend, Frau …?“
„Dorothea Berger. Das ist mein Mann Richard.“
„Ich bin Kriminalkommissarin Ilona Becker und das ist mein Kollege Axel Brandt. Wir haben Ihren Anruf erhalten. Können Sie uns schildern, was passiert ist? Mein Kollege wird die Zeugenaussagen zu Protokoll nehmen, ich werde mich derweil um den Jungen kümmern.“ Damit kehrte sie ihnen den Rücken zu und ging zu dem am Boden kauernden Jungen.
Dorothea warf Richard einen vielsagenden Blick zu, doch er schwieg. Also begann sie dem Polizisten zu erzählen, so gut sie konnte, was geschehen war – der Schuss, die Drohung des Mannes, seine letzten Worte.
„10.000 Euro oder ich bringe mich um?“ fragte der Polizist, der nun Richard ins Visier nahm. „Kannten Sie den Mann, Herr Berger?“
Richard zögerte eine Sekunde zu lange. „Nein … nicht wirklich. Ich habe ihn vielleicht einmal zufällig irgendwo gesehen, aber ich wüsste nicht wo und bei welcher Gelegenheit. Und außerdem: warum sollte er 10.000 Euro von mir verlangen?“
Dorothea fühlte, wie erneut die Wut in ihr aufstieg. „Er hat dich angeschrien, Richard. Direkt vor unserer Haustür. Ich hatte schon den Eindruck, dass er dich kennt! Warum sollte er bei einem Wildfremden klingeln und so viel Geld fordern?“
„Dorothea, das reicht jetzt!“ Richard drehte sich abrupt zur Polizei. „Der Mann war offensichtlich verzweifelt. Ich habe keine Ahnung, wovon er gesprochen hat.“
Der Polizist blickte skeptisch, sagte aber nichts weiter. Er machte sich einige Notizen und erklärte dem Ehepaar, dass sie sich weiterhin zur Verfügung halten müssten. Dann ging er hinaus und sicherte den Tatort. Seine Kollegin hatte inzwischen die Spurensicherung und eine Psychologin für den traumatisierten Jungen angefordert.
Nachdem die Polizei alle Formalitäten geklärt und die Leiche abtransportiert hatte, griff Richard sofort nach einer Flasche Wein.
„Das war’s, Dorothea. Wir können jetzt nichts mehr tun.“
Doch Dorothea hatte genug. „Nein, Richard. Das war’s noch lange nicht.“ Sie ging entschlossen ins Schlafzimmer und begann zu suchen. In seinem Schreibtischschubladen, in den Unterlagen. Es musste etwas geben, das erklärte, wer dieser Mann war und warum er sich vor Richards Augen getötet hatte.
Schließlich fand sie einen Umschlag, versteckt unter einem Stapel alter Kontoauszüge. Als sie ihn öffnete, stockte ihr der Atem.
Berger schloss die Tür zweimal ab und atmete tief durch. Er drehte sich um und taumelte ins Wohnzimmer. „Ruf die Polizei!“, rief er – nun weitaus energischer. Dorothea stand neben dem alten Eichenschrank, die Ohrringe für besondere Anlässe in ihrer linken und das Telefon in der rechten Hand. „Ruf an!“, schrie er sie an und hielt im nächsten Moment inne. Er blickte seine Frau an und erschrak abermals. Dorothea stand zitternd vor der Hausbar. Sie blickte verwirrt auf das Smartphone, danach zu ihm. Tränen rannen ihr die Wangen herunter. Schluchzend streckte sie ihm das Gerät entgegen. Ihre Augen glänzten. Jetzt erst vernahm er den Klingelton. Die vertraute Melodie erschreckte ihn. Hannes – das kann nicht sein. Berger nahm mit zitternden Händen das Telefon entgegen, schaute auf das Display und erstarrte. Hannes – Hannes. Wie kann das sein? Dorothea taumelte in Richtung Sessel, stolperte, fiel fast hin - und schaffte es gerade noch auf den Sitz. Sie saß da und wimmerte.
Berger starrte auf das Display - das Bild seines Sohnes, dazu die wohlbekannte Melodie. Bach – wie sehr liebte er Bach. Wie konnte das sein. Mit zitternden fingern versuchte er den grünen Hörer auf dem Display zu berühren. Es gelang nicht sofort. Als er schaffte, führte er das Smartphone zum Ohr. Er konnte nur ein ersticktes „Ja?“ von sich geben. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Schwester? …Schwester?!
Ein junge Frau um die dreißig kam herangeeilt. Sie stürzte ins Zimmer, verschaffte ich einen Überblick und ging schnellen Schrittes in das Krankenzimmer.
„Es ist schon wieder geschehen!“ rief Dorothea Berger der Frau in weiß zu. Schwester Alma schaute zu Boden. Der Patient Berger lag dort, Arme und Beine von sich gestreckt. Er schwitzte stark. Dazu hatte er sich eingenässt. Sie roch Fäkalien. Sein Körper zuckte nahezu rhythmisch – der Blick war angsterfüllt, nahezu panisch. Berger schaute an die Decke und schien irgendetwas zu beobachten – voller Panik. Die Krankenschwester Alma drückte ihren Pieper. Eine Minute später waren sie da. Zwei baumgroße Pfleger eilten in das Patientenzimmer. Hinter ihnen betrat ein etwas kleinerer, älterer Mann den Raum, wie Schwester Alma in weiß gekleidet. „Frau Berger, ich möchte Sie bitten, den Raum zu verlassen. Ihr Mann benötigt unsere Hilfe und Ruhe.“
Zwei Stunden wartete Dorothea Berger im unansehnlichen Wartezimmer der Elisabethklinik. Schäbig war es hier. Es fiel ihr auf, aber es war ihr egal. Die durchgesessenen Stühle hatte sie schon oft gesehen – auch den zerkratzten Tisch, an dem eine Ecke abgestoßen war. Wie oft hatte sie hier schon gesessen? Die ausgelegten Zeitschriften waren abgegriffen und zerfleddert. Dazwischen Flyer von Selbsthilfegruppen und Blutspendeorganisationen. In der Ecke stand hinter einer alten Holzkiste eine alte Murmelbahn für Kinder. Was haben Kinder an diesem Ort zu suchen?
Mit ihren fünfundvierzig Jahren sah Dorothea mittlerweile mindestens zwanzig Jahre älter aus. Die Sorge um ihren Mann und andere Schicksalsschläge hatten sie einige Jahre an Lebenszeit gekostet. Sie dachte nicht mehr daran, sich zu pflegen, nicht mehr daran auf ihr Äußeres zu achten. Es war absolut irrelevant geworden. Hatte sie heute schon etwas gegessen?
Die Uhr an der Wand tickte unerträglich laut. Sie hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen.
Drei Männer hatte sie in ihrem Leben verloren. Erst ihren Vater, der vor zehn Jahren einfach nicht mehr aufwachte. Dann war Hannes weg, ihr geliebter Sohn. Alles war gut - bis er an die falschen Leute geriet. Die Drogen, die Diebstähle – die Schulden. Seit seinem Tod verlor sich auch ihr Mann, nach und nach – der Mann, der nun ein paar Meter von ihr weg, einen Kampf kämpfte, der scheinbar nicht zu gewinnen war.
„Frau Berger?“, hallte es dumpf an ihr Ohr. Sie öffnete die Augen und blickte auf. Sie hatte Probleme ihr gegenüber zu erkennen. Nach und nach gewöhnten sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse.
„Guten Abend, meine Name ist Neuhoff – Dr. Neuhoff. Ich behandle seit zwei Wochen ihren Mann. Er schläft jetzt. Wir mussten da etwas nachhelfen. Sein Herz - die Aufregung könnte etwas zu viel für ihn sein. Wir haben ihm etwas zur Beruhigung gegeben und etwas, damit er durchschlafen kann. In den letzten Nächten hatte er ein paar Probleme damit, zur Ruhe zu kommen.“
Dorothea seufzte: „Was ist mit Dr. Klein? Hat er ihn aufgegeben? Möchte er Richard nicht mehr behandeln?“
Der Arzt setzte sich auf einen Stuhl neben Dorothea und beugte sich nach vorn. „Nein, er hat nicht aufgegeben. Er hat mich hinzugezogen, mich um Rat befragt. Ich habe ihren Mann kennengelernt, mit ihm einige Gespräche geführt. Schlussendlich habe auch ich versucht, ihn von seinen Schuldgefühlen zu befreien. Wie Herrn Klein ist es auch mir bis jetzt nicht gelungen. Ich werde es weiter versuchen. Wir haben allerdings das Gefühl, dass ihr Mann sich immer mehr aufgibt. Sein Zustand ist als kritisch zu betrachten. Ihn hat nicht nur der Lebensmut verlassen. Irgendetwas ist in ihm geschehen. Nach seinem letzten Anfall berichtete er davon, dass er seinen Sohn gesehen habe“. Dorothea schluckte. Sie ahnte, was als Nächstes kommen sollte. „Herr Doktor…“, versuchte sie ihn zu unterbrechen.
„Frau Berger, es deutet alles darauf hin, dass ihr Mann den Tod – das Sterben ihres Sohnes immer und immer wieder durchlebt.“
„Ich verstehe nicht, Herr Doktor. Richard war nicht dabei, als Hannes starb. Wir haben doch gemeinsam von seinem Tod erfahren. Als sie damals anriefen… wir haben noch nicht einmal das Video gesehen - Das Schwein hat den feigen Mord sogar gefilmt."
„Frau Berger, das ist mir bewusst. Durch Gespräche, die ich mit ihrem Mann führte und durch die Aufzeichnungen von Dr. Klein wird mir einiges klar. Ihr Mann Richard sieht sich als Hauptschuldigen am Mord an ihrem Sohn. Die Schuld hat sich so sehr in ihm manifestiert, dass es mittlerweile wahnhaft geworden ist. Seit seiner Aufnahme in unserer Abteilung, kam es immer häufiger zu Anfällen, Flashbacks und Wahnvorstellungen. Ihr Mann erlebt den Tod ihres Sohnes immer wieder – immer wieder anders.“
Dorothea schaute ihn eine gefühlte Ewigkeit schweigend an. Dann stand sie auf und verließ den Raum.
Sie drehte sich noch einmal um und sagte „Er hätte ihm doch nur das Geld geben müssen.“
Der Psychiater saß noch eine Weile einfach nur da und überlegte, wie er seinem Patienten und somit auch dieser unglücklichen Frau helfen konnte. Er blickte auf die alte Uhr. Tik tok tik tok tik… Im nächsten Moment wurde abrupt aus seinen Gedanken gerissen. Schreie - Getöse. Irgendetwas zerbrach ganz in der Nähe. Neuhoff sprang auf, rannte aus dem Wartezimmer in Richtung des Patientenzimmers 116. …
Von Kiki T. Lee
…
„Mann, war das ein cooler Start“, murmelte Joe stolz. Er keuchte, war noch nie so schnell gerannt. „Jetzt geht’s erst richtig los. Mein Plan ist genial! Und die Bullen habe ich auch abgehängt. Geiler Tag!“
Erst nach Einbruch der Dunkelheit entschlüpfte er dem Dach der schützenden Brücke und kletterte die Böschung hoch. Er hatte Kohldampf.
In seinem Lieblingsimbiss war von nichts anderem die Rede, als von Eddy, der sich - angeblich in Lederklamotten – eine Kugel in den Kopf gejagt hatte.
„Echt?“, fragte er möglichst interessiert.
Biggi schob ihm den Döner über die Theke und bestätigte: „Aber voll! Bier? Schnäpschen? Auf den Schock … Geht aufs Haus.“
„Nee, jetzt nicht. Ich muss noch … Egal.“
Von hinten haute ihm Georg, die Saufnase, auf den Rücken, rief: „Was musst du denn schon? Hast du Verpflichtungen. Ha ha, da lach‘ ich doch. Hey wir feiern hier, nehmen Abschied. Biggi, ein Bier und nen Korn für Joe!“
Obgleich Joe es eilig hatte, oder gerade deswegen, wollte er nicht auffallen, griff zum Glas und leerte es auf einen Zug. „Der Schnaps ist für dich Georg. Hau rein! Bis die Tage … Danke Biggi.“
Unterwegs grübelte er. Ich muss flink sein, damit mein Plan aufgeht. Geil, dass es sich so schnell herumspricht. Er legte einen Zahn zu. Jetzt ist Frank dran.
Den fand er glücklicherweise in seinem Hauseingang. Er kniete sich hin und rüttelte ihn wach.
„Bist du besoffen? Ich will pennen!“ Frank schlug den fremden Arm weg und zog sich die stinkende Decke übers Gesicht.
„Ich bin’s, Joe. Hey Bro, du kannst dir nen Fuffi verdienen. Ist das cool?“
„Hä? Ja, aber nicht jetzt.“
„Nee“, sagte Joe, „aber gleich morgen früh. Los, pennste bei mir, sonst verschläfste. Komm, ich helf‘ dir!“
„Scheiße, was macht man nicht alles für nen Fuffi“, beschwerte sich Frank und kramte die wichtigsten Sachen zusammen.
Unter Joes Brücke angelangt, zeigte er seinem neuen Freund Frank echte Lederklamotten, sagte großzügig: „Für dich! Kannste morgen gleich anprobieren. Dann pfeifen dir die Ladys hinterher, wetten?“
Frank lachte verschämt. Ihm hatte noch nie eine Lady hinterhergepfiffen. Würde eine echte Lady so etwas überhaupt tun? Egal.
Zum Einschlafen erzählte ihm Joe, was heute passiert war, wunderte sich nicht, dass sein Kumpel noch nichts davon gehört hatte, der Obereigenbrödler.
„Krass!“, bestätigte Frank. „Und wer war das, der mit der Kugel?“
„Keine Ahnung“, log Joe. „Aber das ist unsre Chance! Kapierst du?“
Frank kapierte nicht.
„Pass auf, wir machen in aller Frühe, noch bevor die Leute zur Arbeit gehen, das gleiche. Was meinst du, wie schnell die ihre Kohle rausrücken. Oder glaubst du, die haben Bock auf ein Blutbad vor der eigenen Haustür? Die drücken uns die Knete in die Hand und sind froh, wenn wir verschwinden. Easy!“
„Und wieso krieg ich dafür nur nen Fuffi?“
„Weil das mein Plan ist. Okay, ich geb dir nen Hunni. Wir ziehen das eh mehrmals durch. Summiert sich. Und?“ Er langte rüber und klopfte auf Franks Decke. „Hand drauf!“
Frank überlegte kurz. Dann fragte er: „Hast du überhaupt eine Waffe?“
Joe zog den Arm zurück, antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Klaro! Ich hab sogar mehrere.“
„Echt jetzt?“
„Nee“, sagte Joe beruhigend, „ich hab nur eine. Die funzt zwar nicht, macht aber nix. Das wissen die ja nicht.“
„Wieso überfällst du nicht ne Bank?“
„Hä? Mit meiner Nummer können wir überall und nirgends auftauchen, verstehste?“
„Also“, wiederholte Frank, „du filmst und ich bin der mit der Waffe, ja?“
„Genau!“, bestätigte Joe. „Du siehst gefährlicher aus. Da pinkeln die sich in die Hosen.“
Frank holte tief Luft, blies sie hörbar aus und reichte Joe die Hand.
Während Frank schnarchte, sann Joe vor sich hin. Heute hatte es mit den 10 000 nicht geklappt. Aber morgen, garantiert! Und er war eine Nervensäge losgeworden. Hatte Eddy vorher gezeigt, dass die Knarre nicht geladen war, und das heimlich nachgeholt.
Erpressen wollte er Bergers, zusätzlich, mit dem Handy-Video. Aber das war bei genauerer Betrachtung gar nicht nötig. Ha – easy! In wenigen Stunden würde den Druck erhöhen. Okay, es gibt noch ein Opfer, na und? Wer würde Frank schon vermissen? Nicht mal Biggi und die Jungs im Schnellimbiss. Falls doch, erheben wir kurz das Glas, auf Frank – und jut is.
Joe drehte seinem Gast den Rücken zu. Frank stank. Joe war, bis zur Scheidung, etwas Besseres gewohnt und gewesen. Mit den 10 000 Euronen, nahm er sich vor, würde er umgehend nach Spanien fahren, seine Alte suchen und sich rächen. Genau!
…
Von Kiki T. Lee
Draußen löste sich ein etwas verdutzter Geist von seinem Körper. Mit leisem Entsetzen betrachtete er den blutigen Matsch an der Stelle, wo sich sein Kopf befunden hatte. Etwas, das ein Auge gewesen sein könnte, rollte auf den Kanaldeckel am Straßenrand zu. Gleich würde es durch einen der Schlitze fallen und im Abgrund für immer verschwinden. Diese Vorstellung erfüllte ihn mit Unbehagen. Er wollte das nicht. Immerhin war es ein Teil von ihm, er brauchte es noch … Oder nicht? Der dazugehörige Kopf machte im Augenblick nicht den Eindruck, als wäre er noch gebrauchsfähig. Ringsum Gewebefetzen, sehr viel Blut, dazwischen diese schleimige Masse; in der Umgebung verstreut ein paar Zähne sowie jede Menge undefinierbarer, äh … Dinge.
Gebremst von einem Bonbonpapier, blieb das Auge kurz vor dem Gully liegen. Auch wenn es ihn vorwurfsvoll anzublicken schien, auf eine glanzlose und unheilvolle Weise, weil er es gewagt hatte, seinen Kopf zu verlieren, spürte er tiefe Erleichterung.
Moment – sein Kopf? Wer war er? Wo war er?!
»Schöne Schweinerei«, hörte er eine kaum vernehmbare Stimme hinter sich. Überrascht drehte er sich um. Ein schmächtiges Wesen, in einen schmuddeligen Umhang gehüllt, stützte sich auf eine ziemlich abgenutzte Sense. Aus dem Dunkel der Kapuze drang ein Zungenschnalzen, wie er es von seiner Mutter kannte, wenn er was angestellt hatte. Sofort meldete sich sein schlechtes Gewissen.
»Ähm …«, setzte er zu seiner Verteidigung an, doch die Gestalt im Umhang unterbrach ihn mit einer abwehrende Handbewegung und wies mit der desolaten Sense nach unten.
Dort umrundete der Mann mit dem Smartphone äußerst gründlich das Ergebnis seiner Tat, filmte jeden Blutspritzer und jedes noch so kleine Detail auf dem besudelten Weg vor dem Haus. Das Auge am Gully hatte der Kerl noch nicht entdeckt, stellte er mit schadenfroher Befriedigung fest.
»War das nötig?«, kam es von dem Wesen im Umhang. Mit leisem Vorwurf blickte es auf die Überreste des Menschen, der er einmal war.
Oh nein! War!
Auf einmal wurde ihm die ganze Tragweite dieser Umstände bewusst. Müsste jetzt nicht eigentlich alles vorbei sein? Endlich Ruhe – Existenzängste und Beziehungsprobleme ade, schlimme Erkrankungen: Schnee von gestern, keine Geldsorgen oder nervige Zeitgenossen mehr, kein Spinat … »Bist du der Tod?«, flüsterte er.
»Nicht ganz.« Ein wenig verlegen schob der andere seine Kapuze vom Kopf. Unter vielen Narben blitzten zwei rabenschwarze Augen aus einem blutjungen Gesicht zu ihm herüber. »Ich bin die Aushilfe. In Teilzeit, gewissermaßen …«
»Wie bitte?«
»Na ja, Gevatter Tod ist zur Zeit enorm ausgelastet. Krankheiten, Selbstmordattentate, Kriege, Naturkatastrophen, Unfälle nicht zu knapp. Da musste ich eben einspringen …«
»Aushilfe?«, unterbrach er heftig. Hatte er nicht einmal den echten und wahrhaftigen Tod verdient? Ärger stieg in ihm hoch …
»Nicht!«, zischte der Aushilfs-Tod und schaute sich dabei hastig um. »Negative Gefühle locken sie herbei. Und eins kann ich dir garantieren: Die willst du nicht bei dir haben!«
Kurz dachte er an sein vermurkstes Leben und den ebenso vermurksten Tod. Warum war nicht endlich alles zu Ende? Was geschah hier mit ihm? War es das, was er wollte? Eine Existenz in diesem ungebetenen Nicht-Leben?
In der Ferne bemerkte er wabernde Dunkelheit, die sich auf eigenartige Weise näherte. Licht blitzte darin auf. Ein Gewitter? Die Realität, zumindest die, in der sich sein Körper befand, verschwamm allmählich, als ziehe sie sich hinter einen milchigen Schleier zurück.
»Oh nein!«, kam es erstickt von seinem Begleiter. Auch er hatte die Dunkelheit bemerkt. »Sie sind bereits im Anmarsch.«
»Blaulicht«, erkannte der Verstorbene. »Das wird die Polizei sein. Die sind bei so etwas immer prompt zur Stelle.«
»Das blaue Licht meine ich nicht«, drängte der junge Aushilfs-Tod. »Dazwischen. Das rote Glühen.«
»Oh.«
»Wir sollten hier verschwinden. Und zwar schnell!«
Nur zu gern. Verdammt! Sein Lebensende schien auch nicht einfach zu werden. Unter diesen Umständen hätte er auf die zehntausend Euro ohne Zögern verzichtet. Er fröstelte.
(c) Musenkuss
„Nein! Das machen wir nicht!“ Dorothea stand hinter ihrem Mann und lauschte. Als Richard rief: „Ruf die Polizei“, hatte sie schon längst einen Entschluss gefasst. „Aber warum nicht? Da liegt ein Toter!“, fassungslos sah er seine Frau an. „Eben. Darum“, meinte sie, drehte sich um und ging ins Wohnzimmer. Mit einer Wolldecke in der Hand kam sie wieder. Er zitterte. „Komm, du musst dich hinlegen.“ Richard war seit langem klar, dass es besser war, auf seine Frau zu hören, also protestierte er nicht weiter, seufzte und rollte sich auf dem Sofa ein. Sie brachte ihm eine Tablette, er schluckte brav, stierte an die Wohnzimmerdecke.
Dorothea lugte durch den Spion an der Eingangstür. Niemand zu sehen. Sie atmete tief durch und ging hinaus. Wie sündhaft! Dieser Rowdy hatte sich doch tatsächlich eine Kugel in den Kopf gejagt. Oh, Gott. Die Nachbarn sind hoffentlich noch beim Selbigen in der Kirche. Die dichte Ligusterhecke versperrte unerwünschte Blicke, trotzdem, der Körper musste weg! Der alte Fahrradschuppen fiel ihr ein. Sie überlegte kurz, holte von drinnen den Schlüssel und ein Laken. Lieber Gott murmelte sie, bitte verzeih, aber ich muss das tun. Sie durchsuchte die Taschen in seiner Jacke. Keine Brieftasche, kein Ausweis, kein Handy. Mist. Noch ein Stoßgebet und sie fasste ihm in die Hosentasche. Ein Brief, voll mit Zahlen und Formeln. Sie steckte sich das Papier ein, breitete das Laken über den Mann und bekreuzigte sich. Schon besser! Sie suchte eine Weile im Garten und kam mit einer Schubkarre wieder. Es dauerte, bis sie es geschafft hatte, den Körper darauf zu hieven. Er war zum Glück nicht allzu schwer. Arme und Beine hingen rechts und links, als sie schlingernd zum Schuppen fuhr. Sie ließ ihre Fracht drin stehen, schloss ab und lief zurück. Grau im Gesicht, das Haar wirr.
Jetzt den Fleck auf dem Weg! Hektisch rannte sie rein, holte Eimer, Salz und eine Bürste. Mit Salz geht Blut überall raus! Sie schüttete die ganze Tüte auf die blutige Stelle und schrubbte, bis ihr die Arme wehtaten.
„Frau Berger? alles in Ordnung?“ Die Stimme gehörte Frau von Hummeln, die Nachbarin. Diese eingebildete Gans hatte ihr gerade noch gefehlt! „Schönen Sonntag wünsch ich Ihnen. Ja, alles gut, ich habe nur meinen Mülleimer umgeschmissen, ich Dummerchen“. „Ach, ja“?, meinte die von Hummeln misstrauisch. „Waren Sie schon bei der Messe? Habe Sie nicht gesehen!“ „Nein, waren wir nicht, meinen Mann geht es nicht gut, er hat sich hingelegt. Schöne Grüße an den Gatten“. Sie winkte, kehrte ihr den Rücken zu und putzte weiter. Frau von Hummeln schüttelte empört den Kopf, lief aber endlich weiter. Dorothea atmete auf. Sie war durchgeschwitzt bis auf die Unterwäsche. Wenigstens war jetzt der Plattenweg sauber! Sie schlich ins Haus. Richard schnarchte friedlich auf dem Sofa.
Sie duschte, wollte sich nur kurz ausruhen und schlief ein. Draußen dämmerte es bereits, als sie aufschrak. Was hatte sie getan? War sie übergeschnappt? Ihr wurde übel. Was, wenn der andere Mann das Video ins Netz gestellt hatte? Sie nahm den Laptop und öffnete mit zitternden Fingern ihr Mailfach. Nichts! Richards Reisebüro! Auch nichts! „Thea? Was machst du?“, fragte Richard gähnend. „Na, was wohl!“ ,fauchte sie zurück. „Ich schaue, ob der zweite Mann seine Drohung wahr gemacht hat!“ „Oh, und ist was im Netz?“ „Nein, überhaupt nichts! Andererseits, was soll man darauf sehen? Du hattest doch die Kette vor der Tür, oder?“ Richard war baff. „Stimmt, da sieht man vielleicht nicht viel, aber was machen wir mit dem Toten?“ „Der liegt im Fahrradschuppen.“ „Waas? Wie haast du?“
„Komm. Wir müssen sehen, was wir mit dem anfangen“. Draußen war es ungemütlich, Regen peitschte ins Gesicht. Dorothea ging vor und sah, dass etwas nicht stimmte. Der Schuppen war offen. Sie schrie leise auf. Die Schubkarre samt Leiche war verschwunden.
Dorothea ließ das Ende ihres Schals los. Kaschmir und Seide, ein Geschenk ihrer Mutter. Zum ersten Mal, seit sie ihn bekommen hatte, strich sie nicht ihrem persönlichen Ritual folgend über die Linien in dem Muster des kriminell weichen Stoffs. Kriminell – das war das Wort des Augenblicks. Das war ein Schuss gewesen, keine Frage. Erschreckend, wenn man nicht daran gewöhnt war. Wie Richard. Er war von der Tür zurückgetreten. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, seine Hände bebten. Er hatte sie zu Fäusten geballt, doch nützen tat es nichts. Immerhin war er unverletzt.
„Die Polizei?“, wiederholte sie, „Was ist dort draußen geschehen?“
„Der Mann hat sich erschossen“, sagte er seltsam dumpf, „Zehntausend Euro wollte er. Sein Kopf … der andere hat gefilmt.“
„Hat er das?“, antwortete sie mit einer weiteren Frage. Die Antwort kannte sie natürlich. Sie hatte ihn schließlich gehört.
Sie kam den Flur hinunter, die Absätze ihrer Schuhe klickten auf dem hellen Stein. Richard stand ihr im Weg. Da er keine Anstalten machte, sich zu bewegen, schob sie ihn sanft beiseite.
„Thea“, sagte er kaum hörbar, „Die Polizei. Ruf die Polizei.“
Sie beugte sich vor und brachte ein Auge vor den Türspion. Draußen sah sie einen Mann auf dem Boden liegen. Eine Lache roter Flüssigkeit breitete sich von dem Ort, wo sein Kopf sein musste, aus. Er verdreckte die Travertinplatten, die sie erst vorgestern hatte kärchern lassen. Ein junger Mann in falscher Lederjacke filmte mit seinem Android-Abklatsch von dem reglosen Körper zu ihrer Haustür und zurück.
Ein erneuter Knall, wesentlich leiser diesmal, brachte sie dazu, sich umzudrehen. Richard starrte bewegungslos auf das Telefon, das mit abgesprungener Akkuabdeckung zwischen ihnen auf den Steinfliesen lag. Er musste es von der Kommode genommen und darin versagt haben, die Polizei anzurufen. Seine Finger zitterten noch stärker als zuvor.
„Er hat mich gefilmt“, presste er durch zusammengekniffene Lippen hervor.
Violett schimmerten sie, darüber standen feine Schweißperlen auf der weißen Haut.
„Schatz“, sagte sie und bemühte sich um eine Tonlage, die weder zu sanft, noch zu hart war. Irgendwie musste sie ihn zur Vernunft bringen. „Die Polizei ist nicht das, was wir brauchen.“
Sie bückte sich, hielt dabei die Enden ihres Schals mit einer Hand an die Brust gepresst, und sammelte mit der anderen das Telefon und das dazugehörende Plastikstück vom Boden. Sie setzte es zusammen und stellte es zurück in die Aufladestation. Es piepte. Richard sah sie an. Sie sah ihn an. Ohne ihren Blick zu lösen, zog sie ihr Smartphone aus der Tasche ihres Mantels. Kalt lag es in ihrer Hand. Ihr Daumen schwebte über der biometrischen Entriegelung.
„Nein“, sagte er, die Stimme ein kaum hörbares Flüstern, „Du hast es versprochen, Thea. Nie wieder.“
Sie sah ihm in die Augen. „Willst du ruiniert werden? Dann rufe ich die Polizei. Oder ich wähle die andere Nummer. Ihre Nummer.“
Richard leckte sich über die Lippen. Leckte sich den Schweiß von der Haut. „Was wird sie diesmal für ihre Hilfe verlangen?“
Sie legte den Kopf schief. „Lass es uns herausfinden. Wenn du es wagst.“
In der Ferne schlugen die Kirchturmglocken.
Offene Enden - Teil 2
Der junge Mann draußen starrte einen langen Augenblick auf die geschlossene Haustür.
„Scheiße“, murmelte er und blinzelte irritiert.
Er schaute auf sein Handy. Mit einem zornigen Hieb tippte er einmal darauf, so heftig, dass es ihm beinahe aus der Hand fiel, dann steckte er es in die Jackentasche. Er beugte sich über den Toten, wand ihm die Pistole aus der Hand und ließ sie in seiner anderen Tasche verschwinden.
Die Tür hinter ihm öffnete sich leise wieder einen Spalt. Für einen Moment traf sich sein Blick mit dem spähenden Auge des Geizkragens.
„Die Polizei ist schon unterwegs“, hörte er eine zitternde Frauenstimme weiter drinnen im Flur rufen.
Er drehte sich um und fing an, den Gartenweg weg vom Haus zu laufen.
„Er haut ab!“ Der Geizkragen riss jetzt die Haustür weit auf. „Bleib stehen!“, schrie er ihm wütend hinterher.
Doch er war schon aus dem Gartentor und rannte weiter, die Straße hinunter.
Immer wieder sah er sich um. Als er sicher war, dass ihm der Andere nicht folgte, verlangsamte er seine Schritte und atmete durch. Niemand außer ihm war auf der Straße. Hinter schmiedeeisernen Zäunen und Backsteinmauern, im Grün gepflegter Siedlungsgärten versteckten sich sonntagsstille Häuser.
Weiter vorne kam ihm ein Auto entgegen. Der Fahrer hielt sich streng an die Tempo-30 Beschränkung. Als der Wagen an ihm vorüberfuhr, schien das Paar im Inneren für einen Augenblick eine Diskussion zu unterbrechen, um ihn mit einem kurzen Seitenblick zu taxieren. Dann stritten sie weiter, und das Auto verschwand hinter einer Kurve.
Er erreichte die Kreuzung und bog nach links ab. Nach dem Eckgrundstück folgte der verlassene Parkplatz eines lokalen Nahversorgers. Nur ein einzelner Wagen parkte dort direkt neben der Ausfahrt: ein weißer Kleinbus mit getönten Scheiben.
Er ging zur Fahrertür. Das Fenster glitt herunter. Eine Frau mit Sonnenbrille blickte auf ihn herunter.
„Das war überhaupt nichts!“, zischte er vorwurfsvoll. „Wir müssen uns etwas ganz anderes einfallen lassen!“
Die Frau blickte kurz über ihre Schulter. „Wieso?“, fragte sie leise.
Bevor er antworten konnte, schreckten sie beide hoch, als vorne an der Kreuzung ein Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene vorbeiraste.
„Wir sollten weg von hier.“
Der Motor sprang an, er hastete zur Beifahrerseite und warf sich auf den Sitz. Die Frau gab Gas und lenkte den Bus zügig aus dem Parkplatz, nach links, weg von der Siedlung.
Als sie ein Stück gefahren waren, holte der junge Mann tief Luft und drehte sich nach hinten.
„Kein Grund zur Beunruhigung“, rief er fröhlich in den Fahrgastraum, wo sieben alte bärtige Männer saßen, bekleidet mit Jeans und Kunstlederjacken, und ihn zitternd vor Angst anstarrten.
(c) jona meergrund
„Ich denke nicht, dass ich das tun werde.“ Dorothea sah ihn mit kalten Augen an.
„Was?“ Richard öffnet den Mund, sein Arm bewegte sich wie ferngesteuert gen Haustür, als müsse er ihr nochmal deutlich machen, was gerade dort draußen geschehen war.
„Du solltest mir jetzt genau zuhören, Liebster“, sagte Dorothea mit leiser Stimme. Sie strich mit der Hand über ihre Perlenkette, die sie jeden Sonntag zum Kirchgang anlegte.
„Das da draußen, das war nur der Anfang. Es werden weitere folgen, jeden Sonntag einer. Täglich grüßt das Murmeltier, ach nein, wöchentlich!“ Sie lachte auf, und setzte hinzu:
„So lange, bis Du es verstanden hast, du raffgieriges Schwein.“
Richards Augen weiteten sich. So hatte er seine Frau in 32 Jahren Ehe noch nie sprechen gehört.
„Oh guck nicht so“, zischte sie. „Ich weiß von Deinen Spekulationen an der Börse – von den erfolgreichen, wohlgemerkt. Ich habe Deine Konten auf den Bahamas entdeckt, in der Schweiz, und wo noch überall. Was hattest Du damit vor – LIEBSTER?“ Das Kosewort lang gezogen, wie Zuckerguss, mit Blei versetzt.
„Ich weiß nicht, wovon Du redest, Dorothea! Seit damals habe ich nichts mehr mit Aktien gemacht, das weißt Du doch!“ Richards Stimme zitterte. Was wusste sie wirklich?
„Sei doch vernünftig, wir müssen die Polizei verständigen!“
Doch seine Frau sah ihn nicht an. Sie war zur Tür gegangen, und linste durch den Spion nach draußen. Sie dreht sich mit einem süffisanten Lächeln zu ihm um.
„Und was willst Du denen sagen? Hier ist nie etwas passiert.“
Richard schob sie zur Seite, guckte durch den Spion. Nichts. Er riss die Tür auf. Der Vorgarten lag makellos vor ihm. Keine Leiche. Der Plattenweg, auf dem sich noch Momente zuvor eine Blutlache ausgebreitet hatte, sauber. Nicht der kleinste Fleck auf dem Gras oder der Hecke. Hätten da nicht Schädelsplitter und Gehirnmasse sein müssen?
„Was zur Hölle…?“
Dorothea, stand am Fuß der Treppe. Ihr Gesicht war bleich, ihre Hände umfassten das Geländer so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
„Er hat es wirklich getan“, flüsterte Dorothea, mehr zu sich selbst als zu ihrem Mann. „Er hat es wirklich getan.“
Berger sagte nichts. Sein Atem ging flach, sein Gesicht war aschfahl.
„Er hat sich umgebracht“, sagte er schließlich mechanisch, als versuchte er, die Worte zu begreifen. „Vor unserer Tür. Vor meiner Tür.“
„Was hast du getan?“ fragte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
„Ich… ich habe nichts getan!“ stieß er hervor. „Der Mann war verrückt! Er hat sich selbst umgebracht!“ Er schluckte schwer. „Es ist nicht meine Schuld“, murmelte er. „Es ist nicht meine Schuld.“
„Er wollte dich überzeugen“, sagte Dorothea leise und hob langsam den Kopf. Ihre Augen waren feucht, und ihre Stimme zitterte. „Er wollte nur, dass du zuhörst. Und jetzt… ist er tot.“
Seine Frau sah ihn lange an, ihre Augen voller Tränen, aber auch voller Vorwurf. „Du hast ihn nicht einmal erkannt, oder?“
Er blinzelte verwirrt, trat näher an sie heran. „Wovon redest du?“
„Das war Herbert Meinhardt“, sagte sie, ihre Stimme brüchig. „Er war früher dein Freund. Und du hast ihn nicht einmal erkannt. Du hast nicht einmal hingesehen. Nicht auf ihn, nicht auf das, was er wollte. Alles, was du gesehen hast, war jemand, der dir deine Ruhe stören wollte.“
Bergers Gedanken wirbelten durcheinander, Chaos aus Unglauben und einer Spur von Angst. Die Pistole – das musste doch eine Attrappe gewesen sein, hatte er noch gedacht. Ein Drohmittel, ein letztes Mittel, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber jetzt lag Herbert draußen vor der Tür und der Knall hallte noch immer in seinem Kopf nach. Bevor er sich fangen konnte, stürmte seine Frau an ihm vorbei. Ihre Bewegung brach die Starre, die ihn gefangen hielt.
„Dorothea, bleib hier“, schrie er sie an, doch sie öffnete die Tür mit einem Knarren und lief hinaus.
Plötzlich fiel Berger ein, dass die Polizei noch nicht informiert wurde. Er fischte aus seiner Hosentasche sein Smartphone heraus. Seine Hände zitterten so stark, dass er das Gerät fast fallen ließ. Er musste sich konzentrieren, um die Notrufnummer zu wählen.
„Polizei… bitte, Sie müssen kommen“, stammelte er, sobald die Stimme am anderen Ende antwortete. Seine Worte überschlugen sich. „Ein Mann… ein Mann hat sich vor meinem Haus erschossen. Er… er liegt hier. Es ist Blut überall.“
„Bleiben Sie ruhig, Können Sie mir Ihre Adresse nennen?“ fragte die Stimme. Sie klang ruhig, fast monoton, als sei ein toter Mann vor der Haustür etwas Alltägliches.
Er gab die Adresse durch, hastig, atemlos. Bitte beeilen Sie sich“, fügte er hinzu, bevor die Verbindung unterbrochen wurde.
Nun trat er an die Türschwelle und sah hinaus.
Die Sonne, die zaghaft durch die aufreißenden Wolken brach, warf einen blassen. gebrochenen Strahl auf die Szenerie und enthüllte nur gnadenlos die Details des Todes. Der zerfetze Körper lag schwer und reglos auf den kalten Platten, eingefasst von einer dunkel glänzenden Blutlache. Dorothea kniete sich daneben, ihre Schultern bebten, und er wusste, dass sie weinte. Neben ihr hockte der junge Mann, der vorhin gefilmt hatte. „Ich wusste nicht, dass er es wirklich tun würde. Ich dachte, es ist eine Show!“, schluchzte er.
Berger wurde übel und er wandte sich ab. Bald wird schon die Polizei kommen und all dem ein Ende setzen, versuchte er sich zu beruhigen.
Von draußen drang Dorotheas Stimme herein, ein heiseres Flüstern voller Schmerz. „Kevin, wie konnte das passieren?“
„Das ist es, was passiert ist“, hörte Berger Kevins Stimme, auf einmal bebend vor Wut. „Das ist, was geschieht, wenn Gier und Ignoranz einen Mann zerbrechen. Herbert Meinhardt ist tot, und ihr alle solltet wissen, warum.“ Offensichtlich filmte er wieder.
Als endlich die Sirenen ertönten, ein auf- und abschwellender Klang, der das Unausweichliche ankündigte, drehte sich Berger wieder um und trat hinaus.
Das blaue Licht der Einsatzwagen tanzte über die Wände des Hauses, über die Pflastersteine, die Stufen, und beleuchtete den leblosen Herbert in unregelmäßigen Rhythmen. Es war, als würde die Szene in kurzen, unbarmherzigen Blitzlichtern eingefroren sein – die Reste des weißen Bartes, getränkt in tiefem Rot, daneben die Pistole.
Die Reifen des ersten Polizeiwagens kamen mit einem kurzen, scharfen Quietschen zum Stehen. Zwei Beamte stiegen aus, ihre Bewegungen geübt, aber schwer, als hätten sie schon zu viele solcher Einsätze erlebt.
„Dritter Selbstmord am heutigen Sonntag“, murmelte der eine, ein älterer Mann mit scharfen Zügen, während er sich dem Körper näherte. Seine Kollegin, jünger, mit ernster Miene, folgte ihm. Sie blieben kurz stehen, einen Moment lang regungslos, wie um die Szene zu erfassen, bevor sie sich an die Arbeit machten.
„Was ist passiert?“ fragte die jüngere Beamtin und sah Berger an, Ihre Stimme war ruhig, aber der Druck darin war unmissverständlich.
Berger brauchte einen Moment, bevor er antworten konnte. „Er… er hat sich erschossen. Einfach so. Vor meinem Haus.“
„Haben Sie ihn gekannt?“ fragte die Beamtin weiter, während der ältere Polizist sich neben Markus kniete und dessen Puls überprüfte, obwohl klar war, dass jede Hilfe zu spät kam.
„Ja. Nein. Ich… ich wusste nicht, wer er war, bis…“ Seine Worte brachen ab, und er schluckte schwer.
„Herbert Meinhardt“, sagte eine andere Stimme, klar und fest. Dorothea, den Blick auf den Polizisten gerichtet. „Er war ehemaliger Professor, ein Aktivist und ein sehr guter Freund von mir“
Die Polizisten tauschten einen Blick. Der ältere der beiden seufzte, ließ Herberts Hand sanft zurück auf den Boden sinken und stand auf. „Schon wieder ein Aktivist“, murmelte er bedrückt.
„Ja“, antwortete seine Kollegin. „Alle innerhalb von dreißig Minuten. Und immer das Gleiche. Ein Aktivist, ein Protest, ein verzweifelter letzter Schritt. Was für ein verdammter Sonntag!“ Sie betrachtete den Tatort, hielt kurz inne, als sie bemerkte, dass ihr Gespräch mit dem Handy aufgenommen wird.
„Was tun Sie hier?“, fragte sie scharf, während sie Kevin das Handy aus der Hand riss. „Filmen Sie das alles?“
Dieser starrte sie mit weiten Augen an, sichtlich erschrocken. „Die Welt muss wissen, was passiert ist!“
„Hören Sie zu!“, erwiderte die Polizistin, ihre Stimme eisig. „Sie haben keinen Anstand, diesen Moment zu filmen. Das ist kein Schauspiel, das ist ein Mensch. Geben Sie mir das Handy!“
Mit einem Ruck nahm sie ihm das Gerät ab und steckte es in ihre Tasche.
„Die Welt wird sowieso alles erfahren“, schrie Kevin „Es ist alles bereits im Netz!“
Dorothea betrat gerade den Flur, der zur Türe führte.
«Was hast du gemein…»
Ihre Worte erstarben, als sie das bleiche Gesicht ihres Mannes sah, der mittlerweile mit dem rücken an der Tür lehnte. Mit einem Hauch seiner Stimme sagte er wieder, dass seine Frau die Polizei Hollen solle. Diese blinzelte und war nicht fähig, sich zu bewegen. Für ein paar Sekunden starrten sie sich an, ein hämmern an der Türe holte Richard wieder in die Gegenwart. Immer noch das Bild des armen Mannes vor Augen. Gerade als er auf das Festnetz Telefon zusteuert, damit er die Polizei rufen konnte. Schwang die Türe krachend und splitternd auf. Instinktiv stellte sich Richard schützend vor seine Frau. Diese schrie in einem Ton, auf den er selten von ihr gehört hat. Der Mann mit dem Handy der vorhin alles aufgezeichnet hatte, kahm mit gezogener Waffe auf das Ehepaar zu und blicket sich schnell um. Deutete ihnen in das Wohnzimmer dessen Türe gleich das Erste neben dem Eingang wahr. Berger fasste nach seiner Frau, um sie weiter mit dem Körper zu schützen. Und bewegte sich mit ihr imm rücken auf die Türe zu. Im Wohnzimmer wies der Mann, sie an sich auf das Sofa zu setzen. Welches mit Schonbezügen und gehäkelten Deckchen bestückt war. Als Dorotha sass meinte der Mann kalt.
«Hol dein Opfer rein, damit deine Frau seiht, was du getan hast.»
Richard wechselte einen vielsagenden Blick mit seiner Frau, welche auch kreideweiss wurde und am ganzen Körper zu zittern schien. Richard Wuste das er jetzt für ihrer aller leben strack sein musste, er musste die Ruhe bewahren ganz egal wie. Der Mann sah die beiden an und die Waffe, die er immer noch auf sie zielte, wanderte zum Kopf seiner Frau. Dorothea starrte auf den Lauf der Waffe und schien nicht zu begreifen was gerade passiert.
«Wirts bald du Geizhals hol ihn rein und schliess die Tür!»
Bluffte der Mann, zögernd machte sich Richard auf den weg zur Eingangstüre. Mit einem Schauer und sah er auf den leblosen Körper vor der Türe. Als er ihn an den Füssen packte, um ihn hinein zu zeihen, musste er sich fast übergeben. Ja er liebte Krimis doch eine Leiche, eine richtig echte Leiche, die sogar noch warm war. War dann doch zu viel. Er war doch nur ein kleiner Besitzer eines Reisebüros. Das aufregendste, was er in seinem Leben und dem seiner Frau je vorgefallen war das sie einen Koffer auf einem Spanien-Trip verloren hatten. Als er die Leiche hereingezogen hatte, betrachtete er die blutige Spur und musste unwillkürlich darüber nachdenken, was es seiner Frau doch für Arbeit bereiten würde, das Blut wieder aus dem teuren Teppich zu waschen. Schnell schüttelte er den Kopf über sich selber. Der Mann ist gerade vor seinen Augen gestorben, hat sich mit einer Waffe das Leben genommen. Da ist ein Teppich doch Nebensache. Schaltete er sich, kopfschüttelnd. Um sich von dem schockierenden Bild abzulenken wendete er sich der Eingangstüre zu. Mit zwei schritten, bei denen er tunlichst versuchte die Leiche, weder zu berühren, noch sie anzusehen war er neben der Türe. Als er das Schloss und die Kette so betrachtet, dachte er wieder, das es viel kosten, wird diese zu ersetzen. Ein erstickter angsterfüllter Seufzer lies ihn wieder in das hier und jetzt treten. Auch die Leiche dieses armen Mannes wurde ihm wieder bewusst. Genau wie die rote Schleifspur, die in einer Pfütze aus rot-schimmernder Flüssigkeit endet. Bevor er weiter darüber nachdenken konnte und sich doch noch übergab, schloss er die Türe, so gut es ging. Dann eilte er zurück in das Wohnzimmer. Krampfhaft überlegend wie er sich und seine Frau aus dieser misslichen Lage befreien könne. Dorotha sass unüblich für sie auf dem Sofa mit angezogenen Füssen. Sie kauerte förmlich in ihrem eigenen Haus, in dem sie sich sicher fühlen sollte. Der Mann mit der Waffe, der immer noch alles aufzunehmen schien. Deutete Richard, dass er sich zu seiner Frau Sezen sollte, was er auch tat. Krampfhaft überlegte er, wie er den Mann überwältigen könne, doch da er schon lange nichts mehr für seine firniss getan hat, bezweifelte er, das ihm das gelingen würde, ohne das jemand dabei sterben würde. Ja seine Frau hat ihn immer wieder in den letzten Jahren angehalten wieder etwas mehr auf seine Gesundheit zu achten und mehr Sport zu treiben. Doch er schob es immer wieder auf die lange back. Da riss ihn seine Frau aus seinen Gedanken.
«Hören sie mal junger Mann, darf ich wenigstens für uns einen Kaffee machen? Wir hatten noch kein Frühstück und sie sehen aus als könnten sie auch einen gebrauchen.»
Wie vom Blitz getroffen starte Richard seine Frau an. Diese hatt sich anscheinend etwas gefangen und blinzelte ihren Mann an. Sie wahren schon lange verheiratetet, mehr als dreissig Jahre verheiratet und kannten sich schon so gut, dass Worte nicht zwingend nötig wahren. Richard wollte bei dem blitzen, das er in den Augen seiner Frau sah schon den Kopfschütteln. Doch der Kerl mit der Waffe blaffte.
«Gehen sie, und wehe sie machen eine falsche Bewegung dann wird ihr Mann das büssen.»
Blinzelns sah er den Mann an und merkte erst jetzt, das er anscheinend kalt hat. Auch wen draussen die Herbstsonne gerade aufging, so war es durch die Nacht so kalt das die Wasserstellen und Pfützen so wie die Pflanzen eis gebildet hatten. Richards Frau liebte ihre Krimis mehr als er. Am Anfang sah er sie, ihr zuliebe an. Bis er sich damit abfand und sie auch auf eine Art und Weise zu mögen begann. Seine Frau ist so begeistert von ihnen, dass sie selbst jedes Buch verschlingt, das um Krimis geht. Er befürchtete das sie ihr wissen aus den filmen und Büchern jetzt auch hier anwenden will. Doch das hier war kein Film oder buch. Es war die schreckliche Realität. In ihrem Flur lag eine Leiche, auf ihrem Sessel sass ein Mörder der sie mit einer Waffe bedrohte. Doch seine Frau stand auf und ging in die Küche. Welche schräg gegenüber des Wohnzimmers liegt. Wie selbstverständlich stieg seine Frau über den Toten. Richard konnte sich nur vorstellen, wie es wirklich seiner Frau dabei ging. Sie war eigentlich eine eher zartbesaitete Frau, die nie auch nur etwas Böses dachte. Daher erstaunte ihn auch das verhalten seiner Frau so sehr. Summend machte sie sich daran den Kaffee zu zubereiten. Nach dem Klappern zu urteilen richtete sie auch noch ein gewohntes Frühstück her das aus etwas Brot und – da Sonntag, etwas zopf bestand. Dazu etwas Marmelade für sie und aufschnitt mit käse für ihn. Jetzt hatt auch Richard wieder etwas Mut, den Mut der Verzweiflung und wendete sich an den Mann.
«Mein Junge warum machen sie das? Mann kann alles auch anders lösen. Legen sie die Waffe nieder und wir vergessen das alles.»
«Schnauze! Ich bin nicht ihr Junge und ich habe nichts getan. Sie sind an seinem Tod schuld. Sie kapitalistischer Arsch!»
Richard zuckte um des Ausbruches zusammen. Doch das Summen seiner Frau gab ihm neuen Mut. Er wollte sie beschützen, den er wusste, sie würde etwas Dummes versuchen.
«Es tut mir leid, wen ich ihren Unmut errege. Doch weder sind wir reich noch beuten wir jemanden aus. Ich besitze ein kleines Unternehmen, das um sein Überleben kämpft.»
«Und doch hast du und deine Kleine einen Mercedes vor dem Haus, das auch dir gehört! Also wen es euch schlecht gehen soll was sollen dann die sagen die nichts haben?! Was ist mit denen, wo Tod mehr wert sind als lebend? Oder mit denen die selbst fürs Sterben zu wenig haben?»
Schreite er ihn an. Richard mustert seinen Ausbruch und das Gesicht des Mannes lief rot vor Wut an. Bei sich dachte er, dass dahinter noch mehr stecken musste als nur Geld zu erpressen doch wie sollte er dahinterkommen? Er hatte das Gefühl das dies der weg zum Überleben und der Freiheit sei. Da betrat seine Frau das Wohnzimmer, in der Hand das grösste Tablett das sie haben. Welches vollgestellt war mit einem ehrlichen Frühstück. Das sie auf dem Wohnzimmertisch, der aus den sechzigern stammte und aus einem hellen Holz gemacht war, ausbreitete. Die Tassen füllt sie mit herrlich duftendem Kaffee und stellte jedem eine hin. Die Erste ganz wie sie es sonst auch bei geschätzten Gästen machte unserem ungebetenem gast reichend. Als sie ihrem Mann die Tasse hinstellte, konnte er ein wissendes Funkeln in ihren Augen ausmachen. Es war keine Angst, solch ein Funkeln hatte er selten in ihren Augen gesehen und verstand langsam.
Es blieb bedrohlich still. Erstaunt blickte sich Berger um. Hatte Dorothea sich versteckt, während er von Kriminellen bedroht wurde? Oder war sie vor Schreck kollabiert? So schnell es sein schmerzendes Kniegelenk zuließ, lief er, sich am frisch polierten Stahlgeländer abfedernd, die Holztreppe hinauf. Vielleicht müsste er doch das Kniegelenk operieren lassen, wie es dieser Orthopäde mit den Dollarzeichenpupillen vorgeschlagen hatte. Im Schlafzimmer lagen noch das von ihm abgewählte dunkelrote viel zu enganliegende Kleid und die altmodische beige Bluse mit den kleinen lila Blumensträußchen wild übereinander auf dem Bett. Die Schranktür stand offen und mehrere Schuhpaare, die hinsichtlich ihrer Eignung für ein makelloses Äußere geprüft worden waren, lagen verstreut vor dem großen Spiegel. Rasch ging Richard ins angrenzende Badezimmer, dort empfing ihn nur ein noch in der Luft liegender Duft nach einem blumigen Parfüm, das die fröstelnde Leere geisterhaft umgab. Er rannte auf den Balkon, ins benachbarte Gästezimmer, stieg mühsam wieder die Treppe hinab und schaute in die Räume im Erdgeschoss, ohne eine Spur von Dorothea zu finden. Es blieb nur noch der Keller. Berger stand zögert an der Tür, hinter der die Treppe nach unten führte. Was war mit dem Mann mit der Lederjacke an der Tür? Für einen Moment hatte er ihn verdrängen können. Er konnte keinen Laut mehr hören außer dem bekannten ständigen Hintergrundgeräusch vorbeifahrender Autos. Was, wenn er da unten auf ihn wartete? Mit der Waffe an der Schläfe seiner Frau, die er festhielt. Er musste die Polizei rufen. Er schaute in seinem Lesesessel nach seinem Handy, lief zur Küchenzeile. Wie so oft war es nicht auffindbar. Mit dem schnurlosen Telefon könnte er es anrufen. Das lag auf seinem Schreibtisch, aber es war leer. Wie oft hatte er Dorothea aufgefordert, dass sie das Handy nach ihren langen Telefonaten mit ihrer Freundin Ute wieder in die Ladestation stellen sollte. Verzweifelt sackte Berger auf seinen Schreibtischstuhl und versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Er knetete seine Krawatte zwischen den Fingern, die Eurozeichen flogen hin und her, während im Hintergrund das Geräusch eines Martinshorns auftauchte. Wahrscheinlich hatten die neugierigen Nachbarn schon die Polizei gerufen. Ihm fiel ein, dass sie ihm vor ein paar Tagen stolz berichtet hatten, dass sie an diesem Wochenende unterwegs zu ihrer Tochter sein und deren Professur feiern wollten. Er lauschte, ob sich das Geräusch des Rettungsfahrzeuges nähern würde. Es schien aber eher leiser zu werden. Angst ließ seinen Puls in seinen Ohren laute dumpfe Schläge trommeln. Wo war das verdammte Handy? Er musste jetzt wissen, ob Dorothea im Keller war. Er ging in die Küche, suchte nach einer geeigneten Waffe und entschied sich für das Santokumesser, das bislang wegen seiner potenziellen Gefährlichkeit bei normalen Küchenarbeiten unbenutzt geblieben war. Sich damit stärker fühlend öffnete er die Tür zum Keller, schaltete das Licht ein und lief Stufe für Stufe hinab. Ein raschelndes Geräusch ließ ihn wie angewurzelt stehenbleiben. Stille. Hatte er es sich nur eingebildet? War es wieder die grau-weiße Mischlingskatze des Nachbarn, die sich Zutritt verschafft hatte? Langsam stieg er die Stufen der Wendeltreppe weiter hinab. Als er mit weit vorgestrecktem Kopf in den Kellerflur schauen konnte, nahm er als erstes die geöffnete Tür zur Garage wahr. Diese blieb normalerweise immer abgeschlossen. Eine zweite Tür stand ebenfalls offen, sie führte zu einem kleinen Weinkeller mit privater Bar. Er schlich sich zur Garage vor und schob langsam die angelehnte Tür mit dem Fuß auf. Als diese scheinbar stoppte, zuckte er zusammen und umklammerte den Griff des Messers mit beiden Händen. Es geschah nichts. Er stieß mit der Fußspitze nochmals an die Tür, jetzt öffnete sie sich ohne Widerstände vollständig. Er konnte den Raum komplett einsehen. Das Tor stand offen. Kühle Luft wehte herein und wedelte ein paar schmutzig-bunte Herbstblätter auf dem Boden umher. Sein silberner EQB stand unversehrt an seinem Platz. Der rote Audi R8 seiner Frau war hingegen weg. Dorothea schien davon gefahren zu sein. Wieso hatte er nichts davon gehört? Ihm fiel ein, dass sie heute Morgen von der Tankstelle frische Brötchen geholt hatte, sicher hatte sie ihr Auto von dem Haus stehen lassen, da sie noch in die Kirche wollten. Warum stand das Tor aber noch auf? Auch wenn er nichts verstand, so spürte er jetzt, dass Dorothea nicht mehr im Haus war. Er schloss die Tür und drehte den noch steckenden Schlüssel herum. Er machte sich jetzt nicht die Mühe, nachzusehen, ob der Audi noch vor dem Tor stand, auch eine Flucht nach draußen, an die er einen Moment gedacht hatte, schloss er aus, den etwas ganz anderes Beunruhigendes musste er sofort abklären. Zunächst schlich er sich an der Wand entlang zum Sauna – und Fitnessraum, öffnete die Tür, blickte herein und schloss sie wieder. So machte er es mit dem Wäschekeller und dem Vorratsraum, bis er das Gefühl hatte, dass sich niemand versteckt hielt. Dann widmete er sich dem Weinkeller. Berger schaltete das Licht an. Sofort suchte sein Blick die Wand ab. Berger stieß einen Fluch aus. Verdammt, die Geheimtür stand offen. Niemand, nicht mal Dorothea, kannten das Versteck hinter der großen Weinfassatrappe, in der die von grünem LED-Licht beleuchteten Gläser untergebracht waren. Der Weinkeller war sein privater Bereich. Die Decke war sehr aufwändig wie ein halb offenes Weinfass gearbeitet. An den Wänden hingen große und kleine in dunkle Bilderrahmen eingefasste Poster und Informationsblätter über Wein, Weinherstellung, Weinsorten. Davor standen zahlreichen Weinregale gefüllt mit überwiegend dunklen Flaschen. Einige Weine waren in einem Kühlregal untergebracht. Am Anfang ihrer Ehe hatte er oft mit Dorothea an dem in der Mitte des Raumes stehenden dunklen Bartisch gesessen, der als besonderen Clou eine durchsichte Tischplatte besaß, die den Blick auf ein Fach mit auserwählten Weinflaschen und Etiketten freigab. Sie hatten gemeinsam Weinsorten getestet, gescherzt, sich geküsst und auch einige Male wilden Sex gehabt. In den letzten Jahren waren sie nur noch selten gemeinsam hier unten, Dorothea zog es vor, gemütlich auf dem Sofa ein Glas Wein zu trinken und einen Film anzusehen. Es war zu anstrengend geworden sich in die Augen zu schauen. Alles im Raum schien unberührt, außer das beiseitegeschobene Weinfass. Er blickte durch die halbhohe Wandtür auf die in der Kammer dahinterstehenden Kisten. Im ersten Moment schien nichts zu fehlen. Er legte das Messer neben sich und holte den Tresor heraus, der verschlossen war. Dann den Ordner mit seinen wichtigsten Unterlagen. Etwas hatte er wie die Dinge darin in seinem Leben weit hinten versteckt. Er zog die Kiste davor weg, aber er konnte den blau-weiss gestreiften Geschenkkarton nicht mehr finden. War es nicht die richtige Stelle? Er riss alle Kisten der Reihe nach raus, bis die Kammer komplett leer war. Wo war nur dieser verdammte Karton? Wie oft hatte er sich vorgenommen, alles zu verbrennen. Er verstand sich selbst nicht, warum er die letzten Reste seiner Identität aufgehoben hatte. Vielleicht, so suchte er nach einer Entschuldigung vor sich selbst, war es noch die einzige Verbindung zu seinem alten Leben, das er eigentlich nie hatte aufgeben wollen. Hatte Dorothea es gefunden? Wann hatte sie ihm die Schlüssel entwendet und warum hatte er das nicht bemerkt? Er dachte an die vergangene Woche mit ihr. Ja, Dorothea war auffallend ruhig gewesen. Zumindest schien es ihm jetzt so. Sie hatten auch kaum gestritten. Hatte sie da bereits einen Plan geschmiedet? Er setzte sich neben die Tür auf den Boden und lehnte sich an die kühle Wand. Erstaunt nahm er ein weiteres Gefühl wahr. Da war so etwas wie Erleichterung. Hatte er sich etwa, ohne es sich bislang eingestehen zu wollen, danach gesehnt, wieder er selbst zu werden? Aber dann würde man ihn auch verurteilen. Nicht alles war allein seine Schuld. Der Gedanke daran ließ alles wieder lebendig werden. Der Streit, das schreiende Baby. Sein Freund, der unter der Chemotherapie immer weniger wurde und in diesem weißen Krankenhausbett mit kahlem Schädel lag. Es war seine Familie, trotz allem. Er musste sie verlassen, verleugnen. Und doch sehnte er sich nach ihnen. Trotz der vielen Jahre. Wer war aber noch am Leben von Ihnen? Mindestens zwei würde er nie wieder sehen. Über seine Schuld daran wollte er nicht nachdenken. Lohnte es sich dann wirklich, alles aufzudecken? Dieser Karton war seine Lebensader und konnte ihn gleichzeitig komplett zerstören. Es erschien ihm das Bild der beiden Männer vor der Tür. Nein, das konnte, das durfte nicht sein! Er rechnete in Gedanken. Erleichtert ergab seine Kalkulation, dass Robert jetzt 18 sein müsste, der Mann war älter.
Es klingelte an der Tür. Einmal, zweimal. Vor Schreck zuckte er zusammen. Er nahm das Messer wieder in die Hand und hievte sich nach oben. „Polizei! Machen Sie die Tür auf! Wir verschaffen uns sonst Zutritt!“ Sie werden mich verhaften. Was soll ich nur tun? Ich hätte meinen Anwalt anrufen sollen. Wenn er aber etwas gelernt hatte im Leben, dann, sich unschuldig zu stellen. Er rief laut: „Ja, Moment, ich kann nicht so schnell, ich mache auf!“ Er legte das Messer in die Schublade zu den Schlüsseln und Sonnenbrillen und öffnete die Tür, in der Erwartung, sofort überwältigt zu werden. Zwei Polizisten, ein kleiner dicker älterer Mann mit rundlichem Gesicht und eine mittelalte Frau mit schwarzen langen Haaren schauten ihn an. Er blickte hektisch auf den Weg. Dort lag zu seinem großen Erstaunen kein Toter. Er konnte auch das Blut nicht entdecken. Hatten die vielen Herbstblätter dort schon gelegen? Die Polizisten zeigten ihre Marke. „Können wir reinkommen? Wir müssen Ihnen etwas mitteilen.“ Er ließ die Beiden eintreten und ging vorweg ins Wohnzimmer. Sie setzten sich an den großen Holztisch. Der Mann öffnete eine Mappe mit einem Notizblock und fing an zu schreiben. Die Frau führte das Gespräch: „Sie sind Herr Richard Berger?“ Er bestätigte. „Können Sie uns bitte noch ihren Ausweis zeigen?“ Berger griff in seine Hosentasche, um sein schwarzes Portemonnaie hervorzuholen. Er klappte es auf und blickte durch das durchsichtige Fach in sein Gesicht als etwa 20jähriger. „Thomas Schedler. Geboren 18.8.1962.“ Schnell klappte er das Etui wieder zu. Die Polizistin beobachtete ihn mit fragendem Blick. Mit maximaler Kraft versuchte er seine Stimme zu kontrollieren und so langsam und ruhig wie möglich zu sprechen: „Oh, leider ist der Ausweis nicht hier drin.“ „Aber Sie müssen doch wissen, wo ihr Ausweis ist?“ „Ich bitte um Entschuldigung, ich bin etwas aufgeregt durch ihre Anwesenheit. Ich habe einen Führerschein, genügt das? Ich müsste sonst nochmal ins Arbeitszimmer gehen.“ Die beiden Polizisten sahen sich an. „Nein, es ist ok, geben sie mal her.“, antwortete die Polizistin leicht irritiert. Obwohl sie eine solche Situation sicher schon hunderte Male erlebt hatte, schien ihr hier etwas anders zu sein. Berger zog den Führerschein heraus und reichte diesen zu ihr rüber. Dabei glitt wieder sein Blick über das Passbild seines jungen Ichs. Die Polizistin setzte indessen fort: “Ihre Frau hatte einen Autounfall. Ein paar hundert Meter von hier. Sie hat einem Transporter die Vorfahrt genommen. Sie hat selbst schwer verletzt überlebt, aber der Beifahrer ist tot. Wir wissen noch nicht, wer es war. Können Sie uns etwas darüber sagen, wohin und mit wem ihre Frau unterwegs war?“
»Warum soll ich die Polizei rufen, Liebling?«, drang die verwunderte Stimme von Dorothea zu ihm durch.
Richard drehte sich langsam zu seiner Frau um. Er fühlte sich steif und leer, während der Pistolenschuss in seinem Kopf wiederhallte, den harten Griff der Türklinke noch immer umklammernd.
»Da hat sich gerade jemand erschossen. Weil ich ihm keine zehntausend Euro geben wollte«, hörte Berger sich selbst sagen. Seltsam, wie kühl ihm diese Worte über die Lippen gingen, dabei war ihm doch gerade etwas unvorstellbar Schreckliches widerfahren.
Dorotheas Augen wurden groß, sie sah geschockt aus und zugleich blitzte ein Hauch von Unglauben aus ihren grünen Augen hervor. Richard wunderte es nicht, er glaubte es ja selbst nicht. Er starrte seiner Frau hinterher, die mit unsicheren Schritten auf das Haustelefon zuging, um den Notruf zu wählen. Richard selbst hatte darauf bestanden, ein Telefon Zuhause zu haben, so eines hatte er seit seiner Kindheit schließlich immer gehabt.
Richard beobachtete, wie seine Frau in das Telefon sprach und dabei einen befangenen Gesichtsausdruck machte. Ihre Worte drangen nur in Fetzen zu ihm durch, denn sein Kopf war vernebelt, als wäre er Teil der roten Sprühwolke geworden, die aus dem Hinterkopf des Mannes geflogen war. Das sei kein Scherz, konnte er vernehmen und wie Dorothea die Adresse durchgab.
Nachdem sie aufgelegt hatte, kam Dorothea mit langsamen weichen Schritten auf ihn zu. Ihre Finger lösten seine Hand vorsichtig von der Türklinke, die er noch immer zu umklammern schien. »Richard, Liebling, hör mir zu«, hörte er sie sagen und ihre grünen Augen blickten intensiv in seine. »Hilfe ist unterwegs. Komm, wir setzen uns erst einmal hin.«
Die Kühle in Berger ließ nach und wich einem grauenhaften Gefühl der Erkenntnis dessen, was er soeben erlebt hatte. Sein Körper begann zu zittern und die Übelkeit, die sich seinen Hals hochschob, konnte er nur mühsam zurückdrängen. Mit weichen Beinen folgte er Dorothea, stetig vor sich hinmurmeld, er sei kein Kapitlist und kein Mörder, er habe niemanden umgebracht. Seine Frau begleitete ihn zum Sofa. Mit schwerer Seele ließ er sich hineinsinken.
Dann ging Dorothea in die Küche, um Richard ein Glas Wasser zu holen. Auf dem Rückweg schaute sie durch den Türspion. Was sie dort sah, machte sie betroffen. Vor der Haustür sah sie ihren von Blumen gesäumten Plattenweg, der sich unschuldig und farblos grau bis zum Vorgartentor erstreckte.
(c) Kini
„Moin Schröder!“ Kriminalkommissarin Hilke Petersen war keine Frau von vielen Worten. Sie nickte ihrem Kollegen grüßend zu, warf einen schnellen Blick über die Szenerie im Wohnzimmer und ging erst einmal in Richtung Küche, um sich ein Glas Wasser zu besorgen. Sie hatte noch nicht gefrühstückt und war ungefähr so gut gelaunt wie ein Bär, der aus dem Winterschlaf geweckt wurde.
Die Küche sah aus wie die Bilder in Architectural Digest, viel Edelstahl, Sichtbeton, ein paar putzige Dekoartikel und riesige Fenster in Richtung Vorgarten der Bergerschen Villa. Vor dem Haus bauten die Kollegen von der Spurensicherung gerade das weiße Partyzelt auf, als ein Übertragungswagen von RTL um die Ecke fuhr. Woher zum Teufel, wussten die schon wieder, was passiert war? Sie warf einen mürrischen Blick nach draußen und trank das halbe Glas leer, bevor sie zurück ins Wohnzimmer ging.
Herr Berger saß zusammengesunken auf der Couch und war nicht mehr ganz so blass um die Nase. Der Notarzt hatte ihm schon etwas zur Beruhigung gespritzt und das Haus wieder verlassen. Ihr Kollege Schröder saß ihm gegenüber. In seinem schäbigen Anzug wirkte er wie ein harmloser Rentner und noch schläfriger als sonst. Hilke ließ sich auf einen Sessel fallen. Zu niedrig, zu rutschig, Lehne zu schräg. Mit einer Größe von 1,85 Meter saß sie am liebsten auf Barhockern. Sie stand wieder auf und griff sich einen von den scheußlichen Schwingsesseln von der Essgruppe. Solange sie nicht zu viel wippte, würde ihr auch nicht schlecht werden.
Frau Berger kam aus dem ersten Stock herunter, nahm sich einen Kaffee von dem Tablett auf dem Couchtisch und setzte sich neben ihren Mann. Schröder begann das Gespräch wie immer mit den Personalien. Hilke seufzte innerlich und fing an mit dem Ende von ihrem Zopf zu spielen. Das konnte dauern. Schröder reichte ihr unauffällig eine Papiertüte. Das wird doch nicht etwa … Hilke öffnete die Tüte mit möglichst wenig Rascheln und sah ihren Tag plötzlich in einem deutlich besseren Licht. Zwei Bissen von dem Franzbrötchen später und ihre Augen hatten sich an das schreiende Pink von Frau Schröders Chanel Kostümchen gewöhnt.
„Sie sind Frau Dorothea Berger? Kriminalhauptkommissar Schröder. Das ist meine Kollegin Kriminalkommissarin Petersen. Sie haben die Polizei verständigt, richtig? Wie geht es Ihnen? Fühlen Sie sich in der Lage, uns ein paar Fragen zu beantworten?“
Frau Berger nickte energisch. Hilke schöpfte Hoffnung, dass sie vor Mitternacht wieder zuhause sein könnte.
„Gut. Dann fangen wir ganz am Anfang an. Was haben Sie von dem Vorfall mitbekommen?“
Frau Berger schaute konzentriert Richtung Kollege Schröder. Sie wirkte deutlich lebendiger als ihr Ehemann, aber das konnte auch daran liegen, dass sie weniger direkt beteiligt war.
„Nicht besonders viel. Ich war gerade noch in der Küche, als jemand geklingelt hat, mein Mann hat die Tür geöffnet und ich habe nur gehört, dass er mit jemandem gesprochen hat, aber nicht genau, was gesagt wurde. Dann gab es einen lauten Knall, die Tür ist ins Schloss gefallen und mein Mann hat gesagt, dass ich die Polizei rufen soll. Das habe ich dann auch sofort gemacht. Und bis die Beamten eingetroffen sind, habe ich den Vorgarten beobachtet. Also heimlich, durch die Küchenfenster.“
„Haben Sie die beiden Männer gesehen?“
„Ja. Aber es kam dann noch ein Dritter dazu. Und zu zweit haben sie die Leiche auf so eine Plane gelegt, über den Weg auf die Straße gezerrt, mit Blutspur hinter sich und alles und dann in so einen Lieferwagen gewuchtet. Und dann waren sie weg. Das hat keine zwei Minuten gedauert. Ich habe auf die Uhr geschaut.“
„Können Sie die Männer beschreiben?“
„Also, der Tote war älter, grauer Bart. Jeans, billige Lederjacke. Der junge Mann mit dem Handy war ähnlich angezogen, glattrasiert, kurze dunkle Haare. Aber der Dritte …“ Frau Berger machte eine dramatische Pause.
„Der Dritte?“ Schröder klang noch sehr geduldig. Hilke hatte inzwischen das ganze Franzbrötchen vertilgt und war in großzügiger Stimmung.
„Der Dritte trug so eine ganz komische Kutte. Total schwarz. Also, wie so eine Art Mönchsgewand. Aber mit Umhang. Wie in so `nem Fantasyfilm. Und da war auf der Rückseite ein Symbol drauf, so wie Runen, so Striche, mit Winkeln und Haken. Aber ich kenne mich da nicht aus.“
Schröder warf Hilke einen beredten Blick aus den Augenwinkeln zu. Nicht schon wieder diese Knalltüten. Sie machte mental eine Notiz. Jetzt würde sie noch alles für eine Tasse Tee geben. Eigentlich hasste sie Sonntagseinsätze. Alles passierte grundsätzlich genau während ihrer Laufeinheiten und sie trug noch ihre durchgeschwitzten Trainingsklamotten. Aber immerhin war sie satt und ihr Blutzuckerspiegel näherte sich der optimalen Leistungszone.
„Ist Ihnen an dem Lieferwagen irgendetwas aufgefallen?“
„Also abgesehen von der Farbe, das war so ein dreckiges-Grau, könnte ich schwören, dass es ein Elektroauto war. Ich habe nämlich keinen Motor gehört, als sie weggefahren sind. Rechts hatte es eine Schiebetür und hinten eine Klappe. Nummernschild konnte ich leider nicht sehen. Aber ich habe es mit dem Handy gefilmt.“ Frau Bergers Stimme klang triumphierend.
Herr Berger nuschelte etwas.
„Was haben Sie gesagt, Herr Berger?“
„Sie filmt immer alles was auf der Straße passiert. Sie hat ja sonst nichts zu tun.“
Schröders Gesicht verlor kurzfristig seinen verschlafenen Ausdruck.
„Haben Sie auch eine Überwachungskamera im Vorgarten, Herr Berger?“
„Ja, aber die ist außer Betrieb. Letzte Woche kam so eine fragwürdige E-Mail von dem Provider, dass es technische Probleme gibt. Und das haben die bis heute nicht in den Griff bekommen. So ein Saftladen.“ Mit diesen Worten bekam Herr Berger endlich wieder etwas Farbe ins Gesicht.
Um 10:23 schrieb Anonymus:
Seht euch dieses Exemplar unserer verdorbenen Gesellschaft an. Nicht einmal ein verzweifelter Mann, der keinen anderen Ausweg als den Selbstmord sieht, kann das Herz dieses Kapitalisten erweichen. Video ist unten verlinkt (nichts für Leute, die kein Blut sehen können!) Wieso sind solche Menschen immer noch auf freiem Fuß?
Berger klickte mit zitternden Fingern auf das Video. Eine anonyme Nummer hatte ihm den Link zu diesem Forum vor wenigen Minuten geschickt. Das Video zeigte die schrecklichen Geschehnisse, die vor einer halben Stunde in Bergers Vorgarten passiert waren. Zum Glück hatte jemand Bergers Gesicht unkenntlich gemacht. Das Video endete mit den Worten. „Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!“, allerdings war ein Stimmverzerrer angewendet worden.
Andere Forumsmitglieder posteten wie verrückt Kommentare:
Jan schrieb:
Scheiße, das ist verdammt heftig. Was für ein Arschloch“
Carol schrieb:
„@Jan, da kann ich dir zur zustimmen. Wie kann man nur so einen verzweifelten Menschen im Stich lassen? Man hätte doch zumindest versuchen müssen, ihm zu helfen!“
Anonymus schrieb:
„Ihr habt alle total Recht! Solche Menschen sollten für ihre Grausamkeiten bezahlen!“
Die Worte begannen sich vor Bergers Augen zu drehen und verschwammen in den Tränen, die ihm über die Wangen rollten. Als er die Augenlider zusammenpresste, um den Text nicht mehr sehen zu müssen, tauchte wieder das Bild des toten Mannes auf. Er bekam es einfach nicht mehr aus dem Kopf. Die leblosen Augen, das Geräusch beim Aufprall auf die Gehwegplatten und das viele Blut, das sich in seinem Vorgarten ausbreitete. All das hatte er nicht sehen und hören wollen, aber er hatte auch nicht wegsehen können.
Irgendwann waren die Polizei und der Rettungswagen gekommen. Der Mann, der gefilmt hatte, war allerdings schon weg. Wenig später war der Leichenwagen nachgekommen.
Während die Leute draußen ihre Arbeit erledigten, hatte Berger die Nachricht von einem anonymen Absender bekommen. Eine Nachricht mit einem Link, der ihn zu dem Forum führte, in dem der Unbekannte das Video des Selbstmords gepostet hatte. Ein Forum, in dem alle User gegen ihn hetzten.
Immerhin wussten sie nicht, wer er war!
Hinter sich hörte er schwere Schritte. Er drehte sich um und sah einen Polizisten mit grimmiger Mine ins Zimmer treten.
„Sie sind Herr Berger, nehme ich an?“
„Ja, der bin ich!“ Bergers Stimme brach beinahe, als er sprach.
„Ich bin Komissar Stettner. Ich müsste Ihnen und ihrer Frau einige Fragen stellen.“
„Aber natürlich, setzen Sie sich doch bitte!“
Berger deutete auf das mit Kunst-samt bezogene Sofa und ließ sich selbst in den dazu passenden, grünen Sessel fallen. Dann rief er in den Flur: „Dorothea, komm bitte mal, mein Schatz! Die Polizei will uns sprechen!“
Dorothea kam kurz darauf ins Wohnzimmer. Sie trug immer noch ihr Kirchenkleid. Ihre Haare fielen ihr in langen, schwarzen Wellen über die Schulter. Wenn man ihr verweintes und aufgedunsenes Gesicht nicht gesehen hätte, wäre nicht aufgefallen, dass hier gerade etwas Schreckliches passiert war.
Der Kommissar begann sie über den genauen Ablauf der Geschehnisse zu befragen. Wie spät es gewesen sei, als die Männer geklingelt hatten, ob außer ihnen noch jemand im Haus gewesen war, und natürlich, ob sie die beiden Männer erkannt hatten.
Richard und seine Frau beantworteten die Fragen so genau, wie sie konnten, allerdings kannte keiner von ihnen den Toten oder seinen Begleiter. Auch die Polizei konnte oder wollte noch keine Auskunft über die Identität des Selbstmörders geben.
Irgendwann, als der Kommissar keine Fragen mehr hatte, platzte Richard dann doch noch mit einer Neuigkeit heraus. „Es… Es gibt da etwas, was ich noch nicht erzählt habe. Mir wurde ein Link geschickt von einer anonymen Person.“
Sowohl der Kommissar, als auch seine Frau schauten Richard überrascht an.
„Ein Link? Haben sie ihn geöffnet, Herr Berger?“
„Ja, ich war noch so durcheinander von all den schrecklichen Geschehnissen, dass ich nicht klar denken konnte.“
„Herrgott, jetzt spann uns nicht so auf die Folter!“, rief seine Frau ungeduldig. „Wo führt er hin?“
Anstatt einer Antwort hielt er dem Kommissar wortlos sein Handy hin. Dieser runzelte nachdenklich die Stirn, als der das Video und das Forum sah.
Langsam scrollte er in den Beiträgen nach unten und las Nachrichten voller Hass und Wut.
Richard, der auch mitlesen wollte, stand auf und schaute Stettner über die Schulter. Seit seinem letzten Besuch waren hunderte Posts hinzugekommen. Als er sie überflog, wurde ihm ganz schlecht. Es ging darum, alle Kapitalisten zu töten, den Verantwortlichen zu lynchen. Eine Nachricht forderte dazu auf, den Namen des „bösen Kapitalisten im Video“ zu nennen, damit man ihm seiner gerechten Strafe zuführen konnte.
Als Richard allerdings den letzten Post sah, blieb ihm vor Angst das Herz stehen.
Anonymus schrieb:
„Ich habe etwas besseres als seinen Namen. Ich weiß, wo er wohnt!“
„Was ist denn, Richard? Ich hab dich nicht verstanden.“
Dorothea trat aus der Küche.
„Vor der Tür liegt ein Toter, ruf die Polizei!“ Richard presste den Rücken neben der Garderobe an die Wand,die Augen weit aufgerissen.
Hochgezogene Augenbrauen, kühler Blick. „Ich kann mit deinen morbiden Scherzen wenig anfangen. Wer war das eben? Ich hab dich reden hören.“
„Er wollte 10000 Euro von mir oder sich umbringen.- er hat sich umgebracht!“ stammelte ihr Mann.
Dorothea riss, ohne zu zögern die Eingangstür auf und trat auf die Schwelle.
„Was soll das? Willst du mich erschrecken? Manchmal weiß ich nicht, was in deinem Kopf vorgeht! Da ist nichts.“ Allerdings lag da doch etwas Weißes auf dem Boden. Sie hob es auf.
Dorothea kehrte in die Diele zurück und hielt einen schweren Umschlag aus Büttenpapier in der Hand. Sie drehte ihn hin und her. Er war zugeklebt und es stand nur Richards Name darauf - mit einer weiblichen, geschwungenen Handschrift. Er duftete sogar zart nach irgendetwas Blumigen. Ihr durchdringender Blick richtete sich auf ihren Mann.
Richard hatte es die Sprache verschlagen. Vorsichtig schob er sich an die Tür und linste um die Ecke. Der Fußabterter, die Pflasterplatten…alles sauber.
Sein Kopf war völlig leer.
Er hörte ein reißendes Geräusch hinter sich. Seine Frau hatte den Brief aufgerissen.
Sie las laut vor:
Sehr geehrter Herr Berger,
jetzt wissen Sie, dass ich es ernst meine.
Sollten Sie die 10.000 Euro nicht besorgen und sich weiter Ihrer Verantwortung entziehen,werde ich mich umbringen. Die Videos gehen dann an alle Internetplattformen und Nachrichtensender. – In Ihrem Namen.
Kim
Dorothea hob den Kopf. Der Blick des Ehepaares. tarf sich Seiner fast panisch ihrer eher verwirrt als ängstlich.
„Siehst du!“ und „Wer zum Teufel ist Kim, Richard?“ kam gleichzeitig.
Schon als beide jünger waren, noch kein Geld hatten und Dorothea noch arbeitete, hatte Berger rückhaltlos ihre Geistesgegenwart bewundert. Einmal, er wusste es noch genau, es musste 2005 gewesen sein, hatte ein älterer Herr das Gleichgewicht auf dem U-Bahnsteig verloren und war ins Gleisbett gestürzt. Die Bahn war angekündigt und man konnte ihre Scheinwerfer bereits die Tunnelwände entlang kriechen sehen. Alle, auch er selbst, waren wie mineralisiert, gelähmt vor Entsetzen, unfähig sich zu rühren. Dorothea hatte von allen am schnellsten reagiert, war ohne zu zögern hinab gesprungen und hatte dem Mann aufgeholfen. Das löste auch die Erstarrung der Anderen . Alle griffen zu, so dass der Unfall ohne Verletzungen abging. Hinterher hatte sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht gepustet und ihn von der Seite angelächelt . Gott, dieser Blick, wie hatte er sie in diesem Moment geliebt.
“Auf keinen Fall”, rief Dorothea, in einem Ton, der ihn sofort an ihren damaligen Sprung erinnerte. “Wir brauchen das Handy. Was macht er. Schau raus, Ist er noch da?”
Berger öffnete einen Spalt breit die Tür. Der junge Mann, dem nun die Tränen über das Gesicht liefen, stand haltlos zitternd, das Handy in der gesenkten Hand auf der Treppe vor dem Haus. Wut und Zorn waren namenloser Verzweiflung gewichen. Eben drang ein furchtbares Schluchzen aus seinem Inneren und sein ganzer Körper wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Berger bekam einen trockenen Mund: “Ja, er ist noch da.” “Hol ihn rein”, Dorothea wedelte mit den Händen, “rasch.”
Fast hätte es gefehlt und sie hätte mit dem Fuß aufgestampft. Berger kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut. Er öffnete die Tür und blickte sichernd rechts und links die Strasse hinunter . Niemand schien etwas bemerkt zu haben. Der Sonntag scherte sich nicht um die Tragödie, die sich vor dem Hause Berger abspielte. Sonnenlicht fiel durch die Blätter der Birke im Bergerschen Vorgarten und zeichnete kleine tanzende Schatten auf den Rasen. Gegenüber setzte Herr Müller eben sein Auto rückwärts auf die Straße. Frau Müller verließ in Rock und Sommermantel das Haus. Sie bemerkte Berger und winkte kurz herüber, bevor sie in den Wagen stieg. Die Müllers fuhren ab und die Straße lag da, sonntäglich verschlafen wie zuvor. Dorothea drängte sich an ihrem wie erstarrt da stehenden Ehemann vorbei: “Worauf wartest du, Herrgott." sie schob den jungen Mann ins Haus, was dieser widerstandslos mit sich geschehen ließ und drückte ihn hinunter ihn auf die Sitzbank, die sie im letzten Jahr angeschafft hatten, da Herr Berger, nach einem Bandscheibenvorfall Schwierigkeiten hatte, sich die Schuhe zu binden. Dem jungen Mann rutschte das Handy aus der Hand. Immer noch wurde er von Weinkrämpfen geschüttelt. Dorothea hob es rasch auf und ließ es in ihre Manteltasche gleiten. “Und jetzt hol den Anderen.”
“Wie, ich? Wie denn.” “Mein Gott, zieh ihn halt herein. In zwei Stunden kommen die Kinder. Bete, dass sie nicht früher kommen. Was für ein Schlamassel.” “Du weißt, ich habe es im Rücken. Der wiegt mindestens 80 Kilo. Ich schaff´ das nicht. Ich müsste ihn die Stufen hinauf ziehen.”
“Du hast recht.” Dorothea überlegte. “Bring ihn erstmal hinter die Büsche… Dann können wir uns später um ihn kümmern. Eines nach dem Anderen.” Berger öffnete die Haustür. “Und vergiss die Pistole nicht”, rief sie ihm noch hinterher. “Und nun zu uns…”, dachte sie. „Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.“
Erst jetzt bemerkte sie, wie jung er war, höchstens zwanzig. Sie hängte ihren Mantel an die Garderobe. Als sie einen Wimpernschlag später mit einem Glas Wasser in der Hand um die Ecke kam, hatte der jungen Mann seine Verzweiflung abgeschüttelt wie eine zu klein gewordene Haut und wühlte ebenso hektisch wie erfolglos in den Manteltaschen herum. Er machte einen Satz auf sie zu, drängte sie an die Wand, das Glas splitterte auf den Boden. “Mist”, dachte Dorothea. Sein Unterarm drückte auf ihre Kehle. “Wo ist das Telefon”, schrie er sie an, “gib´ es zurück! Du Kapitalistenhure!”
…
Diese entsetzliche Geschichte war an jenem Sonntagmorgen eigentlich schon alles, an was sich Berger erinnern konnte. Er träumte selten, in seiner Jugend gar nicht. Jedoch in diesem Jahr passierte es zum wiederholten Male, dass die Dinge, die ihm in der Nacht im Schlaf erschienen waren, besonders plastisch und nahezu erschreckend real wirkten.
Nun lag er keuchend in seinem ginstergelben Seidenpyjama auf dem Ehebett. Schweiß stand auf der Stirn, das Gesicht glänzte. Die leichte Sommerdecke hatte er auf die Seite zu seiner Frau herübergeschoben. Die war längst aufgestanden und bereitete in der Küche das Frühstück vor. Das Schnurren und Glucksen der Kaffeemaschine tönte hinauf bis ins Schlafzimmer.
Im Garten zwitscherten die Amseln, die Septembersonne blitzte durch die Vorhänge, Berger wirkte von der Nacht deutlich mitgenommen. So etwas war ihm, seit er denken konnte, noch nicht widerfahren. Bisher hatte es sich um vergleichbar banale Ereignisse gehandelt, die in seinen Träumen auftauchten. Einmal war er nackt in der U-Bahn gefahren. Ein anderes Mal hatte ihm seine Angestellte, die Fernreise-Expertin Susanne Grabowski, im Büro den Stinkefinger gezeigt. Als er dann protestierte, kam der Auszubildende herein – Dennis dieser Schwachmat. Der Vollidiot öffnete die Hose und urinierte ihm vor seinen Augen auf den Schreibtisch.
Schon damals war Berger wegen dieser läppischen Traumgeschichte schweißnass aufgewacht. Er konnte sich kaum erklären, warum sein Hirn nächtens so einen Bockmist zusammenreimte. Am folgenden Tag in der Arbeit lief dann alles wie gewohnt. Weder ein Stinkefinger noch eine offene Hose begegnete ihm. In der Mittagspause, sein gesamtes Personal saß wie immer gegenüber beim Billig-Chinesen, inspizierte er akribisch seinen Arbeitsplatz. Er schnüffelte am Schreibtisch und prüfte im Gegenlicht, ob etwaige Flüssigkeiten über die Resopaloberfläche gespritzt worden waren. Alles schien in Ordnung, dennoch ließ ihm die Sache vorerst keine Ruhe.
Einen Monat später, es muss im Juni gewesen sein, träumte Berger erneut Absurdes. Er saß mit Dorothea in der Kirche bei der Messe, als der Pastor ihn aufforderte, einen Choral anzustimmen. Die anderen Kirchgänger starrten todernst zu ihm herüber; er zögerte, Hitze stieg in sein Gesicht. «Steh auf und sing schon!», zischte seine Frau. Mühsam rappelte er sich hoch, bewegte seine Lippen, aber nicht der leiseste Ton wollte aus seiner Kehle hervorkommen. Und dann sah er es: Alle zeigten mit der Hand auf ihn, begannen zu lachen. «Deine Zähne, Richard, deine Zähne», zeterte Dorothea. Bergers Finger strichen über seinen geöffneten Mund, nicht einen einzigen Zahn hatte er mehr in der Kauleiste.
Berger fühlte sich bereits damals, an jenem Junimorgen, wie gerädert. Am selben Tag suchte er in der Mittagspause einen Buchladen auf, blätterte in einem Lexikon für Traumdeutung herum. Aus den Erklärungen zu den Stichworten ‚Nacktheit‘,‚Urin‘, ‚Stinkefinger‘ und ‚Zahnausfall‘ ergab sich eine klare Diagnose: Er litt unter Versagensängsten!
Das schien keine Überraschung zu sein. Denn seit der weltweiten Finanzkrise wuchsen in seinem Reisebüro die Existenzsorgen nahezu täglich. Der Kredit über hundertfünfzigtausend, den er zu Firmengründung aufgenommen hatte, sollte im kommenden Jahr zuzüglich der Zinsen zurückgezahlt werden. Aber anstatt die notwendige Summe nach und nach anzusparen, fehlten Berger mittlerweile zusätzliche zehntausend Euro auf dem Geschäftskonto. Mit den monatlichen Einnahmen konnte er knapp das Personal, die Fixkosten und die Steuer bezahlen. Wenn Dorothea nicht sämtliche Flüge und Zimmerbuchungen ihres Pharma-Konzerns über ‚Bergers Traumreisen‘ abgewickelt hätte, dann wären die Lichter in seinem Büro längst erloschen. Sich selbst gönnte er schon seit einer Ewigkeit nichts mehr. Der Laden rutschte zusehends tiefer in die Miesen. Sein letzter Rettungsanker hieß ‚Aktiendepot‘, welches sich leider wegen der Bankenkrise, wie ein zu heiß gewaschener Wollpullover auf ein Miniaturformat zusammengeschrumpelt hatte. Berger war finanziell am Ende. Auch wenn er sich täglich mit dem protzigen 350-PS-AMG-Mercedes aus der Einfahrt seines beachtlichen Einfamilienhaus-Anwesens herauskatapultierte und mit Vollgas ins Pleitebüro in die Vorstadt brauste. Das Auto kostspielig geleast, die Mini-Firma hochverschuldet, das Haus bis unters Dach beliehen – Berger war auf dem besten Weg in die Insolvenz. Dorothea ahnte von allem nichts, sie hatte von finanziellen Dingen keinen Schimmer, er im Grunde aber auch nicht. Jedoch konnte er passabel schauspielern und mimte zuhause gerne den Unbeschwerten.
Der Duft von frisch geröstetem Toast drang bis ins Ankleidezimmer vor, als Berger sich die Krawatte wickelte. Er entschied sich für die beruhigende Hellblaue. Er schmunzelte, denn so eine Grüne wie in seinem Traum besaß er gar nicht. Im Begriff den Kleiderschrank wieder zu schließen, fiel ihm die goldene Anstecknadel mit der Form des Eurozeichens auf, sie thronte auf dem Samt einer verstaubten Smokingfliege. Sein Chef bei der TUI hatte ihm das grässliche Ding kurz nach der Euro-Einführung überreicht, wegen der fetten Abschlüsse, die er für den Konzern getätigt hatte. Ja, ja, damals war noch alles in Ordnung gewesen. ‚Überflieger‘ hatten sie ihn genannt, er würde mal ganz groß rauskommen, prophezeiten die Kollegen, irgendwann stände er als TUI-CEO zur Debatte und so weiter. Mit vierzig meinte er plötzlich, sein eignes Ding machen zu müssen – auch die Big Player der Branche waren ja mal klein gestartet. Wenn er geahnt hätte, dass er selbst nach fast zehn Jahren immer noch in der Frankfurter Vorstadt eine Drei-Mann-Reisebüro-Klitsche betreiben würde und um jeden Cent kämpfen müsste, dann wäre er wahrscheinlich gleich in Richtung Dubai abgehauen. Dort boomte jedenfalls die Touristikbranche.
Die Euro-Krawattennadel hatte angeblich ein Frankfurter Juwelier aus purem Gold gefertigt. Berger wägte ab, wann er das Schmuckstück zu Geld machen würde. Mehr als hundertfünfzig würde es nicht bringen. Erstaunt nahm er zur Erkenntnis, mit welchem Einfallsreichtum sein Unterbewusstsein die Ängste des Alltags in seinen nächtlichen Traum kolportiert hatte. Die Einstecknadel mutierte zu einer Krawatte mit goldenen Eurozeichen. Und die fehlenden Zehntausend trieben einen armen Schlucker dazu, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Alles gipfelte in einem surrealen Horrorszenario, das ihm die eigene Aussichtslosigkeit drastisch aufzeigte. Selbst der filmende Mann besaß für ihn eine tiefere Bedeutung: Er stand stellvertretend für die anklagende Öffentlichkeit, vor der Berger sein Pleitedasein zu verstecken versuchte.
Das i-Tüpfelchen hatte allerdings Heiner, sein bester Freund, beigesteuert. Zum Fünfzigsten beglückte ihn dieser mit einer Tarentino-DVD-Edition. Unter der Woche, als Dorothea auf Dienstreise in Kasachstan unterwegs war, zog sich Berger Abend für Abend einen Film nach dem anderen hinein. Zwei Nächte zuvor staunte er über die Brutalität in ‚Pulp Fiction‘, den hatte er bis dato noch nie gesehen. Daher wunderte es ihn kaum, dass in seinem Traum die Gehirnmasse grausamst wie üppig durch die Gegend spritzte.
Er schob sanft die Schiebetür des Kleiderschranks zu, schlenderte ins Badezimmer, putzte die Zähne, glättete die Frisur mit Kamm und Haargel – und spähte schließlich aus dem Fenster auf die Straße. Nicht ein einziger Mensch weit und breit, die Nachbarn lagen sonntags zu dieser Zeit noch im Bett. Mit einer gewissen Genugtuung registrierte Berger, dass keine zwei Typen mit Lederimitatjacken vor seinem Haus standen. Seine Frau rief nach ihm, der Tisch wäre gedeckt und alles stünde bereit, um neun wollten sie in der Kirche sein.
Sie saßen gemeinsam in der Küche, tranken Kaffee mit Sprühsahne, aßen Toast mit Butter und Himbeermarmelade. Dorothea trug noch den Morgenmantel, sie machte sich immer erst nach dem Frühstück frisch.
Vor einigen Monaten hatte Berger die Zeitung abbestellt, genauer gesagt er hatte sie umbestellt. Als Abonnent wurde ihm die Gelegenheit unterbreitet, die ‚Frankfurter Allgemeine‘ zukünftig digital lesen zu können, obendrein gab es ein nagelneues iPad gratis – der letzte Schrei der Technik aus den USA. Trotz klammer Haushaltslage hatte er das teure Angebot angenommen. Dies führte allerdings dazu, dass die Bergers am morgendlichen Frühstückstisch nun keine Zeitung mehr teilen konnten, wie sie es seit Jahren nahezu täglich praktiziert hatten.
Während er auf dem digitalen Glastäfelchen herumwischte, begnügte sich Dorothea damit, aus einem gewaltigen Stapel von alten Restzeitungen weitgehend ungelesene Exemplare für sich zu entdecken. Berger stierte kauend auf die sinkenden Aktienkurven, die ihm sein Tablet so formidabel aus der Börsenredaktion präsentierte.
«Hast du gewusst, dass im Juni der ehemalige Trainer von Eintracht Frankfurt gestorben ist?», fragte Dorothea in eine verknitterte Zeitung starrend.
«Nein, habe ich nicht gewusst. Bis vor zwei Jahren habe ich geglaubt, Eintracht Frankfurt wäre ein Trachtenverein. Du weißt doch, Fußball ist überhaupt nicht mein Thema, da kenne ich mich null Komma null aus.»
«Darum geht es mir auch nicht. Der Name ist irgendwie komisch.»
«Wieso, welcher Name ist komisch?»
«Der von dem verstorbenen Trainer»
«Wie heißt der denn?»
«Er hieß ‚Berger‘.»
«Seit wann ist ‚Berger‘ ein komischer Name? So heißen wir doch auch! Wenn du den Namen jetzt komisch findest, hättest du mich besser nicht heiraten sollen.»
«Wie lautet denn der Name deines Auszubildenden?»
«Hä? Was ist das schon wieder für eine Frage?»
«Nun sag schon!»
«Dennis – so heißt der Blödmann.»
«Nein, ich meine den Nachnamen!»
«Den Nachnamen? Hölzenbein – Dennis Hölzenbein – der Name passt eigentlich ganz prima zu dem Vollpfosten. Oder hast du daran etwas auszusetzen?»
«Nein gar nicht – hier steht nur diese seltsame Überschrift im Sportteil aus dem Juni.»
«Was ist daran seltsam? Nun rück schon raus mit der Sprache!»
«Grabowski und Hölzenbein reisen zur Beerdigung Bergers»
«Bitte was?»
«Ja, genau das steht hier, deine Angestellte heißt doch Grabowski oder etwa nicht?»
Berger legte das iPad aus der Hand, stand auf, kurvte um den Küchentisch und blickte wortlos über die Schulter seiner Frau in die Zeitung. Tatsächlich, in einer knappen Meldung berichtete die FAZ, dass Bernd Hölzenbein und Jürgen Grabowski, beide WM-Helden von 1974 und Sportrepräsentanten der Frankfurter Eintracht, zum Begräbnis des verstorbenen Trainers Jörg Berger gereist waren.
«Eine gruselige Namensgleichheit – oder etwa nicht?», fragte Dorothea und sah ihn dabei an, als hätte er soeben den Fährmann am Styx bezahlt, der ihn in Bälde in das Reich der Toten überstellen würde.
«Ein blöder Zufall, außerdem sind es ja andere Vornamen», konterte Berger.
«Das wäre ja der Gipfel, wenn die Vornamen auch noch übereinstimmen würden, dann wärst du höchstwahrscheinlich tot.»
Damit hatte sich das Frühstück erledigt, nicht nur der Stimmung wegen. Während seine Frau ins obere Stockwerk verschwand, um sich für den Kirchgang zurechtzumachen, stand er eine Weile konsterniert in der Küche, bis er entschied, das Geschirr in die Spülmaschine einzuräumen. Den Küchentisch hatte er just mit einem feuchten Tuch von den Toastkrümmeln und Kaffeeflecken befreit, als es an der Haustür klingelte. Sein Puls beschleunigte, sein nächtlicher Traum grüßte ihn wie ein unheilbringendes Déjà-Vu. Hatte er diese Szene nicht schon einmal exakt so erlebt? Verdattert trocknete er sich die Hände am karierten Geschirrtuch und wirkte wie eingefroren, als Dorothea aus dem Badezimmer herunterrief: «Gehst Du zur Tür? Jemand hat geklingelt.»
Zögerlich und lautlos schlich Berger in die Diele, näherte sich vorsichtig dem Hauseingang, spähte durch den Türspion. Er erschrak so sehr, dass er wie von einem Faustschlag getroffen zu Boden sank. Am ganzen Körper zitternd saß er auf den kalten Natursteinfliesen, kaute nervös an den Fingernägeln. Berger wollte es kaum wahrhaben: Vor seinem Haus standen zwei Männer in Lederimitatjacken, einer von Ihnen telefonierte mit einem Smartphone.
Was sollte er nun tun, fragte er sich verzweifelt. Bloß nicht die Tür öffnen, das war das Einzige, das ihm unverrückbar festzustehen schien.
Die Klingel tönte erneut, Dorothea keifte aus dem Schlafzimmer: «Was ist los? Gehst du nun hin oder nicht? Sonst mache ich es!»
Berger blickte ehrfürchtig zum Treppenaufgang, auf dem seine Frau im nächsten Augenblick zu Erscheinen drohte. Dann starrte er zum schmiedeeisernen Schlüsselbrett hinüber, das gleich neben dem Eingang an der Wand hing. Sein Schlüssel fehlte, wo hatte er ihn gelassen?
Die Tür konnte er gar nicht öffnen – ohne den Hausschlüssel. Nachts wurde das Haus immer bis zum Anschlag verriegelt. Dorothea bestand darauf, sie könne sonst nicht beruhigt schlafen, seit Jahren wurde ihm das eingebläut.
Mühsam zog er sich an der kalten Türklinke hoch und äugte ein weiteres Mal durch den Spion. Der Smartphone-Typ hatte das Telefonieren eingestellt, filmte mittlerweile die Fassade des Hauses. Sein graubärtiger Kollege strich mehrmals mit beiden Händen über das Gesicht. Sympathisch sieht anders aus, sagte sich Berger.
Wie eine aufgescheuchte Heuschrecke sprang er plötzlich zur Garderobe herüber, suchte fieberhaft nach dem Schlüssel. Nicht, dass er ihn versehentlich am vergangenen Abend außen an der Haustür hatte stecken lassen, als er vom Wochenendeinkauf heimgekehrt war. Dieses Missgeschick passierte schon einmal ein paar Wochen zuvor. Dorothea hatte ihm daraufhin die Hölle heiß gemacht.
Es klingelte abermals. «Was ist los, bist Du taub? Ich komme jetzt runter und mache selbst auf!», brüllte seine Gattin. Berger hörte bereits ihre entschlossenen Schritte im Flur des oberen Stockwerks. In seiner Verzweiflung griff er nach Dorotheas Handtasche am Garderobenhaken, um ihren Hausschlüssel zu verwenden – denn irgendetwas musste er unternehmen.
Berger staunte nicht schlecht, als ihm die knallrote, kalbslederne Designertasche bleischwer aus den Händen glitt und dumpf auf dem Dielenboden aufschlug. Er bückte sich, zog den endlos langen Reißverschluss auf und hielt fassungslos den Atem an. Ein blankes Rohr, ein Stück Edelstahl mit der Aufschrift ‚Smith & Wesson‘ bleckte ihm aus dem türkisen Stofffutter entgegen. Berger bugsierte einen mächtigschweren Revolver hervor, legte ihn behutsam auf die Steinfliesen. Seit wann trug seine Ehefrau eine Waffe bei sich? Von Neugier und Entsetzen angestachelt, durchwühlte er nochmals die Tasche und entdeckte neben einer Packung mit zwanzig Schuss Munition auch ein unverschlossenes, braunes Kuvert. Darin steckten zwanzig 500-Euro-Scheine – exakt zehntausend Euro.
Für jeden Schuss ein Schein, dachte Berger, als es zum vierten Male klingelte und Dorothea wutentbrannt die Treppe hinunterstolperte.
…
Die bebte auch, und war ganz offensichtlich außerstande, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen.
»Ruf - die - Polizei!«, wiederholte Richard Berger. Er hielt den Rücken an die Eingangstür gepresst, als rechnete er jeden Augenblick damit, dass aufgebrachte Horden sein Heim stürmen könnten, herbeigerufen durch den unverzüglich in die sozialen Medien hochgeladenen Selbstmord-Clip.
»Ich kann nicht« flüsterte seine Frau. Ihre Stimme war gespenstisch dünn, als ob sie jeden Augenblick anfangen würde, hysterisch zu schreien.
Richard Berger brach der Schweiß aus. Bereits die Vorstellung, sich mit dem Rücken von der Tür zu lösen, die ihm irgendwie auch Halt gab, forderte ihm fast unmenschliche Kraft ab.
In diesem Augenblick machte es »Puff«.
Es war ein leises Geräusch, fast unscheinbar, doch da sich gleichzeitig in der Mitte des Raumes eine kleine grüne Wolke bildete, die sich dann schnell ausbreitete, riss es Richard und Dorothea Berger aus ihrer Erstarrung.
»Huch«, sagte seine Frau, und bevor Richard Berger das Groteske der Situation auch nur annähernd erfassen konnte, schälte sich aus dem dunstigen Grün ein bezipfelter Zwergenschuh, und gleich darauf ein zweiter.
Richard Bergers Mund klappte auf, und wieder zu. Seine Frau sah zum Erbarmen aus, aber Richard hatte nur Augen für die grüne Wolke, aus der jetzt zwei kurze Beine sichtbar wurden , dann ein kleiner, lederbekleideter Rumpf, und sofort noch eine Mütze, die jeder norwegischen Zwergengeschichte Ehre gemacht hätte, mit Rentiermotiven, und Zopfmustern. Als der kleine Kopf sich hob, sah Richard Berger zwei blanke Knopfaugen, schwarz wie die Nacht, die ihn über einer fast knuffig anmutenden, leicht rötlichen Kartoffelnase merkwürdig scharf ansahen.
Richard Bergers Mund öffnete sich, langsam und zitternd.
Doch bevor er noch das erste Wort herausbringen konnte, stieg hinter dem ersten Zwerg ein zweiter aus der Wolke. Er glich dem ersten wie ein Ei dem anderen - mit einem winzigen Unterschied: Seine Nase schimmerte leicht bläulich. Er fragte:
»Und? Sind sie fertig?«
Ärgerlich drehte der erste Zwerg den Kopf: »Nun hetz doch nicht. Ist doch klar, dass die beiden gerade ein bisschen überfordert sind."
Der zweite Zwerg maulte ein bisschen, hielt sich jedoch zurück.
Die beiden Zwerge reichten dem Herrn des Hauses gerade mal bis zum Knie. Richard Berger wäre allerdings keine Sekunde lang auf die Idee gekommen, sich deswegen überlegen zu fühlen. Er spürte, wie ihm der Schweiß die Schläfen herabrann, und diese winzige Wahrnehmung von Körperlichkeit ermöglichte es ihm plötzlich, Kontakt zur Realtiät zu bekommen. Er öffnete den Mund:
»Was …«
Der Zwerg mit der roten Nase sah mit einem schiefen Grinsen hinüber zu seinem blauen Gefährten, nickte zufrieden und drehte sich dann wieder Richard Berger zu.
»Wir…« verbesserte er, und fuhr nach einer winzigen Pause fort:
»Wir sind Ihre Alternative!.«
»Ich verstehe nicht …« brachte Richard Berger heraus.
Wieder nickte der Zwerg. »Kein Wunder«, sagte er, »ist ja auch gerade ein bisschen viel auf einmal.«
Er holte tief Luft.
»Lassen Sie mich erklären … «, fuhr er fort.
Der Rotnasige räusperte sich, machte eine etwas skurril anmutende Bewegung mit seiner Hand, schnipste, und mitten im Raum materialisierte sich eine zweite Wolke. Sie war hell blau.
Dorothea Berger, die immer noch stocksteif neben der Garderobe stand, hickste.
Sofort trat der zweite Zwerg neben sie und nahm sie fürsorglich bei der Hand. Merkwürdigerweise schien Dorothea Berger das zu beruhigen, denn sie hielt still.
Unterdessen breitete sich die hellblaue Wolke rasch aus. In der Mitte wurde sie transparent, und Richard Berger sah Berge, weiße Wölkchen, eine Sennhütte, wie er sie aus dem letzten Urlaub in Oberbayern kannte, und ein paar Kühe.
Um dem ganzen die Krone aufzusetzen, klappte aus dem unteren Rand der Wolke jetzt eine Treppe heraus.
Richard Berger traten fast die Augen aus dem Kopf.
»Wir, …«, wiederholte der Zwerg mit der roten Nase jetzt noch einmal,
»… wir sind Ihre Alternative. Wollen wir?«
Einladend hielt er Richard Berger seine Hand hin, während sein Gefährte mit der blauen Nase Dorothea Berger bereits Richtung Treppe bugsierte.