Seitenwind 2024 beginnt! 1. Teil

Wie wirst du die Geschichte fortsetzen? Schreib, was als nächstes passiert …

Offene Enden – erster Teil

Zehntausend Euro

von Andreas Eschbach

 An einem Sonntagmorgen öffneten in einem der besseren Wohnviertel Frankfurts zwei schweigsame Männer eine schmiedeeiserne Gartentür, durchquerten den Vorgarten und klingelten. An der Tür prangte ein Schild aus Messing, in das der Name R. Berger graviert war.
 Richard Berger und seine Frau Dorothea, die sich gerade für den Kirchgang fertig machten, sahen einander verwundert an, als sie es klingeln hörten. Um diese Zeit kam normalerweise niemand.
 Berger zog den Knoten seiner neuen Krawatte fest, die goldfarbene Eurozeichen auf grünem Grund zeigte – ein Geschenk seiner Frau, ein liebevoll-spöttischer Kommentar zu seinen erfolglosen Abenteuern an der Aktienbörse –, und sagte: »Ich schau mal nach, was los ist.«
 Er ging zur Tür. Durch den Spion erspähte er zwei alltäglich aussehende Männer, die Jeans und Jacken aus Lederimitat trugen und ernst dreinblickten. Sie sahen nicht aus wie Missionare und auch nicht wie Vertreter, eher wie Vater und Sohn.
 Vorsichtshalber legte er die Sicherheitskette vor, ehe er öffnete. Es roch feucht. In der Nacht hatte es geregnet, man witterte den nahenden Herbst.
 »Sie wünschen?«, fragte er.
 Der jüngere der beiden Männer hielt sein Smartphone vor sich, schien alles zu filmen. Der andere, älter und graubärtig, sagte: »Guten Tag. Bitte geben Sie mir zehntausend Euro, sonst muss ich mich umbringen.«
 »Was?«, entfuhr es Berger.
 Richard Berger, sei an dieser Stelle erwähnt, war Inhaber eines Reisebüros und hatte es zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Er war jedoch nicht das, was man reich nennen konnte, jedenfalls nicht in Frankfurt. Dass dem nicht so war, bewies schon der Umstand, dass man ohne Weiteres von der Straße bis an seine Haustüre gelangte.
 Der bärtige Mann wiederholte seine Forderung: »Ich brauche zehntausend Euro. Wenn Sie mir die nicht geben, bringe ich mich um.«
 Richard Berger fühlte eine eigenartige Verblüffung. Das hier, sagte er sich, konnte nicht wirklich passieren. Und selbst falls doch, falls es ernst gemeint und kein Streich der Versteckten Kamera war, fand er sich außerstande, zu lachen. Mit so etwas machte man keine Witze.
 Hier ging etwas Ungutes vor sich, sagte sich Berger. Trug dieser Mensch womöglich einen Sprengstoffgürtel unter der Jacke, um sich in der Art eines Selbstmordattentäters vor seinem Haus in die Luft zu sprengen?
 Er fühlte die Türklinke hart und kalt in seiner Hand. Würde er es schaffen, die Tür rechtzeitig zuzuschlagen? Und wenn, war sie stabil genug, um seine Frau und ihn vor einer Explosion zu schützen?
 Er sah den anderen an, den mit dem Smartphone. »Filmen Sie das?«, fragte er. »Wozu? Was soll das alles?«
 »Geben Sie ihm zehntausend Euro«, sagte der Mann mit dem Smartphone. »Sie haben das Geld, und er braucht es.«
 Richard Berger schüttelte den Kopf. »Sie sind ja verrückt. Wie stellen Sie sich das vor? Ich kann doch nicht irgendjemandem einen Haufen Geld geben, nur weil er an meiner Türe klingelt. Und mir droht!«
 »Ich brauche zehntausend Euro«, beharrte der andere Mann, der, wie Berger bemerkte, nun regelrecht zitterte. »Wenn Sie mir keine zehntausend Euro geben, bringe ich mich um.«
 Berger entfuhr ein unwilliges Schnauben und der Satz: »Machen Sie, was Sie wollen, aber machen Sie es bitte draußen auf der Straße, okay?«
 Er zuckte zusammen, als der Mann daraufhin eine Pistole aus der Jackentasche riss, sich ihren Lauf in den Mund steckte und abdrückte. Der Schuss war lauter, als Berger es erwartet hätte, der Pistolenschüsse nur aus Fernsehkrimis kannte. Eine Art rötlich-graue Wolke sprühte aus dem Hinterkopf des Mannes, dann fiel dieser leblos nach hinten und hinab auf den Plattenweg, der vom Vorgartentor bis zu den Treppen vor der Haustüre führte. Blut breitete sich auf den Platten aus.
 Der Mann mit dem Handy hatte alles gefilmt. Jetzt richtete er das Objektiv auf Berger und schrie: »Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!«
 Berger tat, was er, wie er sich sagte, schon längst hätte tun sollen: Er schloss die Tür.
 »Ruf die Polizei«, sagte er dann mit bebender Stimme zu seiner Frau.


Postet hier ab Sonntag, den 24.11. um 16:00 Uhr, wie die Geschichte weitergeht …

Der Journalist

Der Anruf erreichte Christian Pfeiffer in der Büroküche der Redaktion. Er sah auf das Display seines Tastentelefons. Es war nicht die Nummer von Maria. Milde enttäuscht legte er das Gerät auf die Küchenzeile. Wahrscheinlich ein Spamanruf. Alle wichtigen privaten Nummern hatte er eingespeichert und berufliche Anrufe gingen auf sein Dienst-Handy ein, auf diese ebenso teure wie fragile Mischung aus Glas und Aluminium. Mitglieder der Online-Redaktion mussten jederzeit online sein, hatte man ihm gesagt. Pfeiffer schüttelte den Kopf. Die Online-Redaktion. Das würde er Magnus nie vergeben. Online-Redaktion und das nach all den Jahren.
Er griff die Packung Kaffeepulver und füllte damit eine vergilbte Filtermaschine, ohne Löffel und nach Augenmaß. Hauptsache stark. Das Handy klingelte nervtötend, er blockte den Anruf ab und kümmerte sich weiter um sein Lebenselixier. Sein Kaffee war keine Kunst, er war ein Instrument, eine Medizin und in dieser Haltung unterschied sich Pfeiffer von seinen neuen Kollegen, die aus der braunen Suppe ein Lifestyle-Produkt machten. Wer keinen Flat-White trank, war outdated, das hatte er schnell begriffen. Um sein eigenes Outdated-Sein trotzig zu unterstreichen, hatte Pfeiffer deshalb vor drei Monaten die kleine Filtermaschine mitgebracht. Sie war ein Symbol des alten Geistes, eine Verbündete aus Zeiten, da in der Redaktion der Kaffee literweise getrunken worden war und die Konferenzräume den kalten Odeur von harter Arbeit und Zigarettenrauch verströmt hatten. Pfeiffer betätigte den Knopf und die Maschine röchelte los. Ein Anachronismus wie er selbst, Abgrenzung von der Generation Siebträger mit ihren Ungetümen aus Chrom.
Das Telefon klingelte erneut. Er nahm das Handy und hielt es unschlüssig in der Hand. Vielleicht doch Maria, die von einer neuen Nummer aus anrief, aber nein, das war unwahrscheinlich. Obwohl.
»Pfeiffer«, meldete er sich.
»Ich weiß«, antwortete eine Männerstimme. Sie klang tief und selbstsicher. »Christian Pfeiffer vom Frankfurter Generalanzeiger. Onlineredaktion, FGZ.NET. Gehen Sie zu Ihrem Rechner.«
»Wer sind Sie? Woher haben Sie meine Privatnummer?« Der Kaffee lief tröpfchenweise durch.
»Das tut nichts zur Sache, Christian Pfeiffer. Aber ich habe da etwas für Sie. Eine große Story. Interessiert? Dann gehen Sie zu ihrem Rechner.«
Pfeiffer hob die Augenbrauen. Klang nach einem Wichtigtuer, womöglich ein Scherzanruf seiner neuen Kollegen. Seiner ›Kolleg*Innen‹, wie sie selber sagten. Andererseits, dachte er, sollte kein Journalist auflegen, wenn jemand von einer großen Story sprach, am wenigsten er selbst. Und immerhin war der Kaffee fast durchgelaufen.
»Also gut, warten Sie einen Augenblick«, sagte er, schob sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr und goss sich das braune Glück in einen Pott.
»Beeilen Sie sich, wir haben beide nicht viel Zeit. Sehen Sie in Ihre Emails.«
Pfeiffers Augenbrauen wanderten noch weiter Richtung Stirn, er nahm den Kaffee und ging ins Großraumbüro, nein, in den Coworking-Space. Er setzte sich an seinen Lieblingsplatz, direkt nebem dem Fenster und mit Ausblick auf den langgezogenen Europagarten. Die Bäume, die rings um dieses grüne Rechteck angeordnet waren, trugen erste herbstlich gelbe Blätter. Eine Oase inmitten grauen Steins.
Er war allein, als er den Bildschirm anschaltete und sich anmeldete. Im Coworking-Space gab es an einem Sonntagvormittag keine Coworker, die waren unterwegs oder saßen im Homeoffice. Er öffnete das Email-Programm. Neben zahllosen ungelesenen Nachrichten ploppte die Mitteilung einer neuen Mail auf, Absender qvu61039[at]kasor.com. Eine Wegwerf-Adresse, darin ein Link zu einem Cloudspeicher.
»Sie wollen, dass ich auf einen unbekannten Link von einer Spam-Adresse klicke?«
Die Stimme am Telefon lachte leise. »Ich bin kein nigerianischer Prinz, der Ihnen 3 Millionen Dollar überweisen will. Sie werden ein Video herunterladen. Glauben Sie mir, Sie werden es nicht bereuen.«
Einen Moment zögerte Pfeiffer. Wie ironisch, wenn ausgerechnet er, der vom großen Magnus in die Online-Redaktion strafversetzt worden war, einen Virus herunterlud. Aber eine Story war eine Story. Er klickte. Ein kurzer Download, das Virenprogramm blieb stumm, dann öffnete sich ein Video. Eine gute Minute lang, aufgenommen im Hochkant-Format, wie diese ganzen grässlichen Social-Media-Schnippsel. Leicht verwackelt sah er ein Haus, zwei Männer schritten darauf zu, einer unsichtbar hinter der Kamera und ein älterer Graubart. Sie klingelten und nach kurzem Warten wurde die Tür eine Handbreit geöffnet. Das Bild zoomte auf den verdutzten Hausbesitzer. Ein rundliches Gesicht mit fliehendem Haaransatz war im Türspalt zu erkennen, dazu ein Sonntagsanzug und eine lächerliche Krawatte, die ihm vom Hals baumelte. Pfeiffer erkannte goldene Euro-Zeichen auf grünem Grund, als hielte der Hausherr sich für den Wolf of Euro-Wallstreet. Dann schwenkte die Kamera auf den Alten. Es folgte ein Dialog, ein absurdes Gespräch.
»Geben Sie ihm zehntausend Euro«, hörte Pfeiffer plötzlich die Stimme seines Anrufers auf dem Video. »Sie haben das Geld und er braucht es.«
Ihm wurde der Mund trocken, er ahnte, worauf dieses Video hinauslief, wusste es, bevor er den Schuss hörte und das Blut sah.
»Wo ist das aufgenommen worden? Und wann?« Seine Stimme war ruhig, professionell, jahrzehntelang trainiert, die freie Hand hatte automatisch nach Kugelschreiber und Block gegriffen.
»Das werden Sie erfahren«, sagte die Anruferstimme. Dieselbe, die auf dem Video den Hausbesitzer anschrie. »Doch zuerst tun Sie mir einen Gefallen. Laden Sie das Video auf dem Social-Media-Account Ihrer Zeitung hoch. Den Hashtag überlasse ich Ihnen, Christian Pfeiffer.«
»Sie sind verrückt!«
»Nein. Und sie haben zwei Minuten. Die Zeit läuft.«
»Auf keinen Fall«, sagte Pfeiffer mit aller Endgültigkeit, zu der er fähig war.
»Ich dachte mir, dass Sie so reagieren. Doch es ist wichtig, dass jeder Mensch die Chance hat, Zeuge zu sein. Noch eine Minute und fünfundfünfzig Sekunden.«
»Sagen Sie mir, wer Sie sind.«
»Später. Zuerst etwas anderes. Wenn Sie in exakt 110 Sekunden das Video nicht hochgeladen haben, wird sich noch eine Person erschießen. Ihre Entscheidung, Christian Pfeiffer.«
Auf dem Computer-Bildschirm war das Ende des Videos als Standbild zu sehen. Der Grauhaarige mit einem roten Loch, wo vorher sein Mund gewesen war, inmitten einer Blutlache. Pfeiffer spürte, wie sein Atem schneller ging, wie der Magen sich zusammenkrampfte.
»Wer? Wo?«
»Das sind gute Fragen, wenn man noch eine Minute und vierzig Sekunden Zeit hat«, sagte die Stimme im Telefon. »Blicken Sie doch mal aus dem Fenster, direkt hinunter zur Straße vor dem Europapark. Sehen Sie die Frau im roten Mantel?«
Er stand auf, spähte hinab und suchte die Straße ab. Sein Atem erzeugte einen kleinen Kondensbeschlag auf der Scheibe. Dann fand er sie, eine Frau, roter Mantel, schwarze Haare. Sie verharrte steif in aufrechter Pose und erinnerte Pfeiffer an ein Mannequin.
»Sehen Sie genau hin«, sagte die Stimme. »Sie braucht ihre Hilfe, sonst lebt sie nur noch exakt 84 Sekunden. Doch lassen Sie mich nachhelfen.«
Einen Augenblick später hob die Frau zögerlich ihren Kopf, sah den Bürotower hinauf, in dem Pfeiffer stand. Ihr Blick schien über die Glasfassade zu gleiten und blieb an ihm hängen. Sie sah ihn an, die Wangen bleich. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Maria«, keuchte er.
»Oho, sie haben sie erkannt!«, sagte die Stimme. »Dann genießen Sie noch eine Minute lang den Anblick oder laden Sie das Video hoch.«
»Sofort«, antwortete Pfeiffer, »alles, was sie wollen.« Er öffnete den Browser, gab die Website ein. Unendlich langsam baute sie sich auf. Er tippte den Accountnamen, verschrieb sich, klickte mit der Maus an die falsche Stelle. Das Passwort, er kannte es, hatte es sich irgendwo aufgeschrieben, obwohl das verboten war. Wo war der verdammte Zettel? Er brauchte es nie, Posts setzten die jungen Kollegen ab, nicht er.
»45 Sekunden.«
»Ich mache es, ich mache es«, schrie er in den Hörer.
Bei 30 Sekunden fand er den Zettel. Bei zwanzig hatte er das Passwort eingegeben.
»Wo lädt man hier ein Video hoch, Scheiße, verfluchte Scheiße«, murmelte er.
»Sind Sie kein Online-Redateur, Christian Pfeiffer?«, fragte die Stimme höhnisch. »15 Sekunden.«
Er fand den richtigen Knopf auf der Website bei 12 Sekunden. Bei fünf Sekunden schob er die Datei vom Download-Ordner in den Browser.
Bei einer Sekunde war das Video hochgeladen und er drückte auf veröffentlichen.
Bei null hörte er den Schuss.
»Bedauerlich«, sagte die Stimme im Telefon. »Ihr Journalisten kümmert euch nicht um die Probleme der Menschen. Und wenn ihr es doch tut, dann nur aus Eigennutz und zu spät.«
Pfeiffer fiel das Handy aus der Hand, es prallte auf den Schreibblock, hüpfte zur Seite und blieb neben dem Kaffeepott liegen, der stumm vor sich hin dampfte.

Die Polizei brauchte keine zehn Minuten, um nach dem Anruf vor Ort zu sein. Es war nicht wie im Kino. Sie kamen nicht mit unzähligen Streifenwagen und Blaulicht. Zwei dunkle SUVs mit abgetönten Scheiben fuhren zügig vor, hielten vor dem Haus und fünf Männer in Zivilkleidung stiegen aus. Zwei von ihnen trugen Sakkos, die anderen drei Rollkragenpullover, dunkle Cargo-Hosen und Waffenholster am Gürtel.
Richard Berger spähte durch den Spion an der Haustür. Er hatte sich nicht getraut die Tür erneut zu öffnen. Der junge Mann stand immer noch neben dem Toten, nach wie vor hatte er das Smartphone in der Hand. Er machte keine Anstalten wegzulaufen, auch nicht, als zwei der Polizisten ihn an die Seite führten und ein weiterer sich über den Toten beugte.
Berger löste sich von dem Spion in der Tür und schaute Dorothea an.
»Die Polizei ist da«, sagte er. »Alles wird gut.«
Dorothea sagte nichts. Es klopfte an der Tür. Er brauchte zwei Versuche um die Tür zu öffnen, weil seine Finger so sehr zitterten, dass er die Türkette nicht sofort lösen konnte. Zwei Männer um die vierzig standen davor. Berger vermied es bewusst einen Blick auf die Leiche vor seiner Haustür zu werfen. Stattdessen sah er dorthin, wo auf dem Bürgersteig der junge Mann mit dem Handy den beiden Männern, die rechts und links neben ihm standen irgendetwas auf dem Telefon zeigte. Das Video, vermutete Berger. Er ist verrückt. Ein Psychopath, wie bei Sebastian Fitzek. Dann machte er einen Schritt zurück in den Flur und ließ die Polizisten hinein.
Die beiden Männer in dunkelblauen Sakkos stellten sich als Herr Samuel und Herr Ulrich vor und schoben Berger sanft weg von der Tür in die Wohnstube. Anders als in den Krimiserien hielten ihm nicht sofort irgendwelche Ausweise oder Marken unter die Nase. Das war nicht notwendig. Er war so froh, dass sie da waren. Herr Ulrich führte Dorothea aus dem Wohnzimmer. Vermutlich wollten sie die Zeugenaussagen getrennt aufnehmen. Das hatte er mal gelesen.
»Können wir uns hinsetzen?«, fragte Herr Samuel und deutete auf den Tisch neben dem Kamin. Richard Berger mochte die Stimme. Sie zitterte nicht und war bestimmt, aber freundlich. »Erzählen Sie mir, was aus Ihrer Sicht passiert ist.« Und das tat er.
Herr Samuel schwieg, während Berger das grauenvolle Erlebnis bis zum Ende nacherzählte.
»Warum haben Sie ihm die zehntausend Euro nicht gegeben?« Herr Samuel sah ihn mit ausdruckslosem Gesicht an. Ein Verhörgesicht, kam es Berger in den Sinn.
»Was? Warum sollte ich? Ich bin doch nicht verrückt!«
»Aber jetzt haben Sie einen toten Mann vor der Haustür liegen.«
»Haben Sie mir eigentlich zugehört? Die standen plötzlich vor der Tür und verlangten Geld.«
»Haben Sie denn überhaupt zehntausend Euro hier?«
»Na ja, schon, aber…«
»Warum haben Sie so viel Geld im Haus?«
Sein Herz pochte so stark, dass es schmerzte. »Das ist doch nicht der Punkt. Es ist ja mein Geld.« Er konnte ihm ja schlecht sagen, dass es Schwarzeinnahmen aus diversen Busreisen waren. »Für den Fall der Fälle. Blackout. Kaputte Geldautomaten. So was.«
»Hätten Sie ihm tausend Euro gegeben?«
»Nein! Natürlich nicht, das ist absurd.«
»Hundert?«
»Hören Sie auf damit.«
»Hätten Sie ihm hundert Euro gegeben?«, fragte Herr Samuel erneut.
»Nein. Nicht einmal zehn. Natürlich nicht.«
»Sie hätten also einen Mann für zehn Euro sterben lassen?«
»Ich konnte doch nicht wissen, dass er sich erschießt.« Berger ballte seine Finger so fest zu Fäusten, dass es schmerzte.
»Aber er hat es Ihnen gesagt.«
»Quatsch.« Er zögerte. »Also, ja schon, aber…«
»Und Sie haben ihn dazu aufgefordert«, sagte Herr Samuel.
»WAS? Wie kommen Sie auf so etwas? Jetzt reicht es allmählich. Sie tun ja so, als hätte ich ihn umgebracht.«
»Herr Berger, Sie haben ein Problem.« Herr Samuel holte ein Smartphone aus der Sakkotasche, legte es auf den Tisch und startete eine App. Plötzlich hörte Richard Berger seine eigene Stimme. ‘Machen Sie, was Sie wollen, aber machen Sie es bitte draußen auf der Straße, okay?’ Dann folgte der Schuss. »Es wird wohl nicht einfach, sich aus dieser Sache herauszureden. Sie sagten, Sie waren auf dem Weg zur Kirche?«
Richard Berger wurde schlecht. Gerne würde er sich jetzt übergeben und dann einfach hinlegen und schlafen. Dann würde all das vorbei sein, wenn er wieder wach wurde. »Ja. Zum Gottesdienst. Wir gehen jeden Sonntag. Wir sind Christen.«
»Es ist nicht sonderlich christlich einen Menschen wegen zehn oder hundert Euro sterben zu lassen. Kennen Sie das Matthäus Evangelium?«
»Er wollte zehntausend Euro«, flüsterte Berger. »Zehn. Tausend. Euro.«
»Sie sagten, Sie hätten ihn für weniger sterben lassen.«
»Das ist nicht wahr.«
»Nochmals sage ich Euch: eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als das ein Reicher in den Himmel kommt. Matthäus 19.24, Herr Berger.«
»Sie verdrehen alles. Sie zitieren die Bibel, anstatt mir zu erklären, was hier eigentlich los ist. Was für Polizisten seid Ihr eigentlich?«
»Das ist eine gute Frage, Herr Berger. Eine starke Frage! Aber ich habe auch noch eine Frage, die im Augenblick erheblich wichtiger ist: Wie sehr lieben Sie Ihre Frau?«

(c) michel

Berger starrte aus dem Fenster. Der Mann mit dem Handy entfernte sich schnellen Schrittes, während seine Frau, Dorothea, zum Hörer griff und mit kurzen, abgehackten Sätzen erklärte, was passiert war.

»Die Polizei ist auf dem Weg.«

»Gut«, war alles, was er herausbrachte. Noch immer geschockt von der Szene, die sich gerade vor seinen Augen abgespielt hatte, setzte er sich auf die alte Schuhtruhe, die hinter der Haustür stand. Der metallische Geruch des Blutes hatte sich in seiner Nase festgesetzt, genauso wie das Bild des explodierenden Schädels. Richard hatte kurz das Gefühl, sich übergeben zu müssen.

Berger hatte schon vieles erlebt. Frankfurt war ein gefährliches und oft auch sonderbares Pflaster, aber das…? Innerlich war er aufgewühlt, nach außen hin versuchte er jedoch, gefasst zu wirken. Er sog tief die Luft ein, atmete zweimal, dreimal tief ein und aus. Zählte in Gedanken bis fünfzig, ehe er sich seiner Frau zuwandte, die ein Nervenbündel war. Dorothea weinte. Ihre blauen Augen schwammen in Tränen. Blass und zitternd saß sie da, in ihrem mausgrauen Chanel-Kostüm.

»Ich habe dir gesagt, es wird etwas Schlimmes passieren. Mein Traum… erinnerst du dich? Du hättest dich nie auf diesen Handel einlassen dürfen… niemals. Es war unrecht.« Sie bekreuzigte sich und murmelte ein leises Gebet.

»Jetzt beruhige dich. Das hat nichts mit mir zu tun. Was immer gerade auch passiert ist, hat keinen Bezug zu meiner Person. Das waren zwei Wahnsinnige…«

In diesem Moment hasste er seine Frau. Ihre Frömmigkeit, das ewiges Geplapper über Karma, böse Omen und Träume hing ihm gewaltig zum Hals heraus.

»Das Blut, ich habe es gesehen… es quoll aus unserem Haus. Überall waren Krähen und Dunkelheit…«

»Verflucht, Dorothea, halt den Mund! Es ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt für deine esoterischen Spinnereien!« Berger wurde lauter und schlug mit der Hand gegen den Türrahmen.

»Du hättest ihm das Geld geben sollen, als Ausgleich für das, was du getan hast. Es holt uns ein. Möge Gott uns helfen.«

»Reiß dich zusammen!«, brüllte er. »Die Polizei wird jeden Moment hier sein. Also tue mir einen Gefallen und verhalte dich einmal wie ein normaler Mensch und nicht wie eine hysterische Gans.«

Er lockerte seine Krawatte und goss zwei Fingerbreit Whiskey in ein Glas. Seine Hände zitterten. Er stellte das Glas für einen kurzen Moment ab und starrte in den antiken, goldgerahmten Spiegel, der über der Bar hing, nur um festzustellen, dass sich winzige Blutspritzer auf seinem Gesicht befanden.
@Bommel/Username

Dorothea starrte ihren Mann an, die Lippen bleich, die Hände wie zum Gebet vor die Brust gepresst. »Was… was ist passiert, Richard?«, flüsterte sie und sank sie auf einen der Stühle in der Diele.

Richard Berger griff selbst nach seinem Handy, das immer auf der kleinen Kommode im Flur lag. Er zitterte und konnte sich kaum an die Notrufnummer erinnern? 112? Nein 110! Sein Daumen traf nur mit Mühe die erste Eins. Noch bevor er die zweite eingeben konnte, vibrierte das Gerät. Eine Push-Nachricht von Instagram poppte auf dem Bildschirm auf: »Wie kannst du sowas tun, du Schwein?!!«

Berger stockte. Es brummte erneut. Eine weitere Mitteilung. Und noch eine. Benachrichtigungen fluteten sein Display, und bevor er wieder über die Polizei nachdenken konnte, öffnete er mit bebenden Fingern die Instagram-App. Alles in ihm war taub. Auf seinem Account – der, wie er sofort begriff, gehackt worden war – hatte jemand ein Video hochgeladen. Das Video. Ein Zusammenschnitt. Der bärtige Mann in Großaufnahme: »Ich brauche zehntausend Euro … sonst muss ich mich umbringen.« Dann Richard: »… machen Sie es bitte draußen«. Wieder der Mann, der sich die Pistole in den Mund steckt, der Schuss, die graue Wolke, das Blut. … Als nächstes ein Zoom auf Richards Krawatte. Das grün-goldene Accessoire, das ihm Dorothea an diesem Morgen grinsend überreicht hatte, dominierte den Bildschirm. Die Kamera verweilte unbarmherzig auf den glänzenden Eurozeichen, die unvorteilhaft über seinen Bauchansatz fielen, während der Filmer schrie: »Sie Kapitalist! Sie Schwein!«. Der Clip war betitelt mit »Er ließ ihn sterben – für Geld!«

Berger konnte den Blick nicht von der Szene lösen. Die Kommentare unter dem Video waren brutal:

»Ein Symbol für seine Gier!«,
»Unfassbar! Wie kannst du sowas tun?«,
»Die Krawatte sagt alles – wie herzlos kann ein Mensch sein?«,
»Reich und geizig – typisch!«,
»Ekelhaftes Monster!«,
»Westend-Bonze!«

Dorothea trat hinter ihn, um auf das Display zu sehen. »Oh Gott«, flüsterte sie. »Sie werden … oh Gott, Richard!«

Er wollte etwas sagen, doch das Handy vibrierte erneut. Diesmal eine Direktnachricht. Ein anonymer Absender. Die Nachricht war kurz, fast beiläufig:

»Jetzt sind es 20.000 Euro. Zahle, oder es geht weiter.«

»Das … «, fing Richard an, dann fehlten ihm die Worte.

Ein weiterer Kommentar erschien unter dem Clip. Er war wie als Antwort auf die anderen von Richards eigenem Account verfasst worden: »Kommt doch ihr neidischen Habenichtse! Ich wohne in der Rosenhardtallee 12!«

»Richard, was steht da?«, fragte Dorothea mit brüchiger Stimme.

Er sah sie an, zögerte. »Nichts. Nur Spam.«

»Richard, was steht da?«. Jetzt hatte sie geschrien. Er zeigte ihr stumm das Display.

Dorothea schüttelte entsetzt den Kopf. »Die Polizei! Ruf endlich die Polizei, Richard!«, flehte sie.

Er nickte und tippte erneut die Nummer ein, doch wieder wurde er unterbrochen. Diesmal von lauten Stimmen vor der Haustür. Er sah seine Frau an, die blass und panisch wirkte. »Was jetzt noch?«

Langsam näherte er sich der Tür und spähte durch den Spion. Draußen stand ein Reporterteam. Ein Mann mit einer Schulterkamera, eine Frau mit Mikrofon. An der Straße parkte ein Kleinwagen mit dem Logo eines bekannten Fernsehsenders. Eines für Trash-TV bekannten Fernsehsenders.

»Das ist unmöglich«, murmelte Berger. Das Video war erst vor wenigen Minuten hochgeladen worden. Wie konnten sie so schnell hier sein? Wussten sie vorher Bescheid? War das alles ein perfide eingefädelter Plan?

Die Frau klopfte energisch an die Tür. »Herr Berger! Wir sind live auf Sendung. Was sagen sie dazu, dass sich ein Mann heute Morgen vor Ihrer Haustür ihretwegen das Leben genommen hat?«

Berger wich zurück. »Das ist ein Albtraum«, flüsterte er.

Jetzt benutzte die Reporterin ihre Faust. Die Schläge klangen dumpf auf dem Holz. So musste es sich im inneren eines Sarges anhören, wenn er zugenagelt wird. »Herr Berger, die Menschen wollen Antworten!«

Plötzlich vibrierte das Handy in seiner Hand wieder. »50.000 Euro. Die Uhr läuft. Willst du noch mehr Blut?«

In der Ferne hörte er Sirenen, die näherkamen.

© writers_headroom /Sebastian Steffens

»Das habe ich bereits getan.« Dorothea kam mit besorgter Miene auf ihn zu. »Sie werden gleich hier sein«, fügte sie hinzu. Ihr Blick wanderte durch das Fenster neben der Haustür hinaus in den Vorgarten. »Was waren das für Män…« Ihr Blick erstarrte, als das Gesicht des Burschen mit dem Smartphone an der Glasscheibe erschien. Plötzlich hatte sie einen Ausdruck in den Augen, den Richard noch nie bei ihr gesehen hatte. Ohne ein weiteres Wort ging sie an ihm vorbei und öffnete die Haustür.

»Levi? Was zum Henker…« Sie entdeckte den Leichnam am Fuße der Treppenstufen. Die immer größer werdende Blutlache unter seinem geborstenen Schädel. Entsetzt hielt sie sich eine Hand vor den Mund und schloss die Augen.

»Seit wann bist du so zimperlich, Sonja?« Die Worte des Burschen brannten in ihren Ohren wie Säure. Es war also so weit.

»Sonja? Wieso, nennt er dich Sonja?«

Halt die Klappe, Richard. Ich muss nachdenken.

»Kennst du diesen Kerl etwa?«

Die Frage war durchaus berechtigt. Niemand in Frankfurt wusste, dass sie einst auf diesen Namen getauft worden war. Abgesehen von der Beamtin, die ihren neuen Pass ausgestellt hatte, nachdem sie Richard geheiratet hatte. Sollte das unscheinbare Mütterchen sie womöglich … Sie verwarf den Gedanken. Die Zeit drängte. Sie musste handeln. Und zwar schnell.

Ich werde dir später alles erklären. Versprochen.

»Willst du uns nicht vorstellen, Sonja?«

Dorothea fuhr herum, in einer so raschen und doch geschmeidigen Bewegung, als hätte sie es schon tausend Mal getan. Sie entriss Levi das Smartphone, schob Richard mit der anderen Hand zurück ins Gebäude und verriegelte die Tür. Ein schneller Blick auf das Smartphone, bestätigte ihr, was sie befürchtet hatte. »Scheiße.«

Richard hielt es nicht mehr aus und packte sie an den Schultern. »Dorothea, was um Gottes Willen ist hier los?«

»Mit Gottes Willen hat das ganz sicher nichts zu tun.«

»Dorothea!«

Noch bevor er ihren Namen vollendet hatte, hatte sie sich aus seiner Umklammerung befreit und das Smartphone auf den Boden geschleudert. Das Case zersprang, Glassplitter flogen umher und verteilten sich über die Fliesen. »Es war ein Life-Stream. Ist dir klar, was das bedeutet?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht.«

Richard starrte sie mit offenem Mund an. Sah ihr zu, wie sie sich abwandte und die Treppe, je zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben eilte. Was war das für ein Ton? Nie zuvor hatte sie so mit ihm gesprochen, seitdem sie sich im Kibbuz kennen und lieben gelernt hatten. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Oder doch nicht?

Er folgte ihr in das Zimmer, in dem sie schlief, weil er so furchtbar schnarchte und sie kein Auge zubekam und sah sie in einer engen, schwarzen Jeans vor dem Spiegel stehen. In einer Jeans? Ihr unscheinbares Blümchenkleid lag achtlos auf dem Teppich. Ihr Haar hatte sie zu einem Zopf nach hinten gebunden. Über ihrem Busen spannte sich ein ärmelloses Top. Richard traute seinen Augen nicht. Von zwei Mal Wirbelsäulengymnastik pro Woche konnte sie doch niemals so einen Körper bekommen haben. Sie sah aus wie … wie Lara Croft.

»Schnapp dir die Koffer«, rief sie ihm zu und deutete mit einem Nicken zum Bett. Auf dem tatsächlich zwei Koffer lagen, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Dann öffnete sie den Spiegelschrank, ließ ihren Arm zwischen einem Stapel Pullover verschwinden und zog ein Schulterholster mit zwei Pistolen hervor.

Richards Augen wurden noch größer, als sie die Waffen in Windeseile überprüfte, sie wieder zurück in die Halfter schob und sich Selbige um die Schultern warf. Die Pistolen verschwanden unter einem Blazer. Dorothea sah beinahe wieder normal aus. Beinahe.

»Wer … bist du?«, stammelte er.

Dorothea ging auf ihn zu, umfasste sein Gesicht mit beiden Händen und gab ihm einen Kuss. »Vertraue mir einfach«, sagte sie. »Schnapp dir die Koffer. Wir müssen los.«

Dorothea Berger stand mit bleichem Gesicht im Wohnzimmer und blickte mit vor Angst und Entsetzten weit aufgerissenen Augen durch die geöffnete Zimmertür zu ihrem Mann. „Was ist passiert?“

„Er hat sich erschossen! Der Mann hat sich einfach in den Kopf geschossen!“ Richard zitterte am ganzen Körper. Ein saurer, stechender Geschmack von aufsteigender Magensäure machte sich in seinem Mund breit.

Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen und sie zuckten erschrocken zusammen, als es an der Haustüre klopfte. „Bitte machen Sie auf. Bitte!“ Die Stimme gehörte eindeutig dem jungen Mann mit dem Smartphone. „Rufen Sie nicht die Polizei. Sie sind in großer Gefahr.“

„Verschwinden Sie! Die werden gleich hier sein.“ Berger hatte sich ein wenig gefasst und wirkte jetzt entschlossener. „Hauen Sie ab!“

„Das kann ich nicht. Meinen Vater konnte ich nicht retten, aber jetzt droht Ihnen das gleiche Schicksal.“

„Wollen Sie uns etwa auch erschießen?“

„Nein, bitte lassen Sie mich rein, um Ihnen alles zu erklären.“

Berger schaute hinüber zu seiner Frau, die noch immer im Wohnzimmer stand und langsam den Kopf schüttelte. „Nein, Richard. Tu das nicht.“ Ihre Worte waren leise, kaum zu verstehen.

Er drehte sich zur Haustüre um, die Sicherheitskette war noch eingehängt. Vorsichtig öffnete er die Tür und spähte durch den schmalen Spalt nach draußen. Vielleicht war das alles ja doch nur ein grausamer Scherz und die beiden fremden Besucher standen jetzt lachend im Vorgarten. Aber da war niemand, der lachte. Der ältere Mann lag in einer immer größer werdenden Blutlache und der andere hockte weinend auf der Treppe. „Er war mein Vater. Dieses miese Schwein hat ihn auf dem Gewissen und Sie hätten ihn retten können.“

Richard Berger konnte seinen Blick nicht von der Leiche wenden. Er hatte noch nie einen Toten gesehen, erst recht nicht einen mit einem zerfetzten Kopf.

„Er hat uns gezwungen.“ Der junge Mann war aufgestanden und schaute Berger mit geröteten Augen an. „Und jetzt muss ich Sie dazu zwingen.“

„Was soll das heißen? Wozu wollen Sie uns zwingen?“

„Unsere Rollen einzunehmen.“

Richard wollte schnell die Türe schließen, aber da stand schon ein Fuß des fremden Mannes im Spalt.

„Sie haben überhaupt keine Wahl, Herr Berger. Wir hatten auch keine.“

Richard Berger bekam Panik und er versuchte, den Fuß wegzutreten, aber der junge Mann schob seine Schulter in den Spalt. „Sie wollen doch nicht, dass Ihrer Tochter und Ihren beiden Enkelkindern etwas zustößt.“

„Sie mieses Schwein wollen mir drohen? Haben Sie nicht schon genug angerichtet?“

„Bitte hören Sie mir zu. Nicht ich bedrohe Sie, sondern dieser Mann, der meine Familie in seiner Gewalt hat. Er kam heute Morgen zu uns in die Bäckerei und legte die Waffe, ein Handy und einen Zettel auf die Theke. Er forderte meinen Vater und mich auf, zu Ihnen zu fahren.“

„Wieso zu uns?“

„Keine Ahnung. Ihr Name und Ihre Adresse standen auf dem Zettel. Wir sollten hierherkommen und Sie dazu auffordern, zehntausend Euro zu zahlen. Er gab uns dafür sechzig Sekunden Zeit, bevor er meine gesamte Familie tötet. Ich musste diese ganze Scheiße filmen, damit dieser Bastard live sehen konnte, ob wir seine Forderung erfüllten. Er sagte: Wenn ihr versagt, muss dein Vater sich umbringen. Entweder er, oder deine ganze Familie.“ Tränen liefen über das Gesicht des jungen Mannes.

Er zuckte zusammen, als das Handy in seiner Hand klingelte. Hastig ging er ran. „Was ist mit meiner Frau und meinen Kindern? Sind sie okay? Mein Vater hat alles versucht, aber Berger wollte nicht zahlen. Also hat er, mein Gott, er hat sich erschossen.“ Er hörte eine Weile schweigend zu, dann reichte er das Telefon an Berger. „Er will Sie sprechen.“

Richard trat einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände.

„Bitte, es ist wichtig. Wichtig für Sie.“

Er nahm widerwillig das Handy entgegen, hielt es ans Ohr und hörte eine dunkle Stimme. „Guten Morgen, Herr Berger. Herzlichen Glückwunsch, Sie sind Teilnehmer der zweiten Runde unseres kleinen Spiels. Sie nehmen jetzt die Waffe sowie das Smartphone und gehen sofort mit Ihrer Frau los. Sie dürfen sich sogar aussuchen, bei wem Sie das Geld abholen. In dieser Runde erhöht sich der Einsatz auf zweimal zehntausend Euro.“

„Warum sollte ich das tun?“, fragte Richard entrüstet.

„Weil Sie ihre Tochter und Ihre süßen Enkelkinder lieben.“

Richard spürte, wie seine Muskeln versagten. Seine Beine wollten ihn nicht länger tragen. Er sank auf die Knie und sein Verstand wollte ihn verlassen.

Der Fremde fuhr ungerührt fort. „Sie haben Glück, Herr Berger. In der zweiten Runde verlängert sich auch Ihre Zeit. Sollte Ihnen jedoch innerhalb von zwei Minuten nicht gelingen, jemanden zur Zahlung zu überzeugen, stirbt Ihre Familie. Sie haben aber die große Chance, Ihr Leben dagegen einzutauschen. Ach ja, Ihre geehrte Frau Gattin wird alles mit dem Handy aufnehmen und dafür sorgen, dass ich live dabei sein kann. Möge die zweite Runde beginnen!“

(C) Koebes / Helmut Jakob

»Och nee, net schon widder einer. Ich habb doch gleich Feierabend.« Elfriede Mehrsen legte unsanft den Hörer auf. »Ich habb doch de Nina versproche, dass mer aufm Lohrberch Drache steige lasse.«

»Was ist denn los, Kollegin?« Kommissar Teudnach hatte gerade den Raum betreten und machte sich für den Dienstantritt bereit.

»Ach, widder so en Selbstmörder. Klingelt bei Leut, will Geld, kricht keins und schießt sich e Kuchel in de Kopp. Das is schon de dritte dies Woch. Un mir ham noch nix rausgekricht.«

Teudnachs Interesse war geweckt. Bis gestern war er mit einem anderen Fall beschäftigt gewesen, den er aber erfolgreich abschließen konnte. Diese Selbstmorde klangen vielversprechend.

»Wenn Sie wollen, übernehme ich den Fall. Ich bin gerade frei. Geben Sie mir einfach die Akten und ich schau mir das an.«

»Mensch, Teudnach. Das is echt… Nina is dir uff ewich dankbar. Ehrlich. Un ich auch! Hier haste alles. De Notruf von ewe is uffgezeichnet, die Kolleche vom Streifedienst sin schon vor Ort.« Elfriede Mehrsen legte zwei schmale Aktenmappen auf den Tisch und rauschte mit einem fröhlichen »Tschüss, macht’s gut, bis mosche« aus dem Büro.

Teudnach antwortete nicht. Er war schon in die Akten vertieft. Drei Männer. Drei Selbstmorde. Alle nach dem gleichen Muster. Und alle in besserer Lage in Sachsenhausen. Gut. So gab es immerhin keine Revierstreitigkeiten. Er hörte sich das Telefonat mit Dorothea Berger an. Irgendwie klang ihre Stimme seltsam. Er konnte es nicht wirklich benennen, aber sein Gefühl trog ihn nur selten.

»Na, dann schauen wir uns das doch mal genauer an«, sagte er leise zu sich selbst und stand auf.

Anachronica/Sigrid Heinz

10.000 Euro, die Zweite

Etwa zur gleichen Zeit im circa 250 km entfernten Dortmunder Süden öffnete sich ein weiß lackiertes, mit Blumen verziertes Gartentor. Hinein traten ein junger Mann und eine ältere Frau mit kurzen weißen Haaren. Sie gingen den säuberlich gepflasterten Weg zur Haustür eines großen alleinstehenden Einfamilienhauses hoch.

Drinnen machte Cordula Meier gerade ihr tragbares Digitalradio an und stellte es auf den Sims über der Gästetoilette. Sofort füllten Schlagerklänge das Gäste-WC der Kramers. Cordula Meier zog sich die pinken Gummihandschuhe an und nahm die Sprühflasche mit dem Badreiniger in die eine und den WC-Reiniger in die andere Hand. Sie ärgerte sich immer noch, dass das Ehepaar Kramer sie ausgerechnet heute, am Sonntag, gefragt hatte, ob sie zum Putzen käme. Es hatten sich ganz spontan wichtige Geschäftskunden angekündigt. „Auf’n Sonntach, pff, wer arbeitet denn an’nem Sonntach?“, schnaubte sie in Ruhrpottdeutsch. Doch dann schüttelte sie den Kopf. Sie arbeitete ja auch heute. Wenigstens bezahlten die Kramers sie großzügig. Sonst hätte sie die Stelle wahrscheinlich schon längst aufgegeben. Sie beugte sich gerade leicht nach vorne, um WC-Reiniger ins Klo zu kippen, als es an der Tür klingelte. Sie stutzte. Das Ehepaar Kramer war nicht da, weil sie auf dem Weg nach Essen waren – dort gab es ihrer Meinung nach die beste Konditorei im ganzen Ruhrgebiet. Schließlich wollten sie ihren Gästen nur das Beste auftischen. Cordula stellte den WC-Reiniger zur Seite, behielt aber, ohne weiter darüber nachzudenken, den Badreiniger in der Hand. Sie ging zur Haustür und warf einen Blick auf den kleinen Bildschirm, der auf Augenhöhe an der Wand neben der Tür hing. Es standen zwei Personen vor dem Haus. Ein junger Mann und eine ältere Frau. Der Mann sah unscheinbar aus, mit einer Jeansjacke und -hose, sein Gesichtsausdruck war neutral, fast schon teilnahmslos. Die Frau hatte harte Gesichtszüge, versuchte sie jedoch hinter einem leichten Lächeln zu verbergen. „Wat’n seltsames Paar“, murmelte sie, öffnete die Tür trotzdem und sah, dass die weißhaarige Frau im gleichen Moment ein teuer aussehendes Smartphone hochnahm, so als würde sie die ganze Situation filmen. Beim näheren Hinsehen sah sie auch gar nicht so alt aus. Vielleicht Anfang 50.

„Ja?“

„Guten Tag. Bitte geben Sie mir zehntausend Euro, sonst muss ich mich umbringen“, sagte der Mann, während die Frau still blieb und sie seltsam lächelnd ansah.

Cordula sah verständnislos zwischen den beiden hin und her.

„Wolln’se mich auf’n Arm nehmen? Mit so wat macht man keine Witze.“

„Bitte geben Sie mir 10.000 Euro. Wenn Sie es nicht tun, bringe ich mich um“, wiederholte der Mann unbeirrt.

Cordula wusste nicht, ob sie Angst haben oder lachen sollte, so surreal wirkte das Ganze. Ihr Körper entschied sich offensichtich für ein ganz anderes Gefühl: nackte Wut. Sie war zu alt für solche Scherze.

„Getz hörn se mia ma’ zu, ich hab keine Zeit für so’nen Mist. Erstens sin’ solche Witze geschmacklos! Und zweitens: Selbst, wenn ich wollte, könnt’ ich Ihnen keine 10.000 Euro geben. Ich hab nämlich keine. Meine Rente reicht gerade mal für die Miete und Essen für ’nen halben Monat. Meinen’se denn, ich würde auf’nen heiligen Sonntag fremde Häuser putzen, weil mir dat so’ne Freude macht? Ich bin 66, meine Arthrose wird immer schlimmer und ich bin gerade dabei ein Gästeklo zu putzen, in dat mein Bad wahrscheinlich zwei Mal reinpassen würde. Und Sie kommen mir mit so wat?“ Dann wandte sie sich an die Frau. „Und wat machen Sie denn da überhaupt? Filmen ’se das ganze etwa? Is’ dat irgendein neuer Internet-Trend? Meinen’se nich, Sie sind zu alt für geschmacklose Internetstreiche? Leute zuhause zu überfallen und Ihnen zu drohen … Also echt. Sie ham doch nicht mehr alle Latten am Zaun.“

Die Frau und der Mann schienen unberührt ob Cordulas Ausbruch, woraufhin Cordula tatsächlich etwas Angst bekam, dass diese zwei Vögel an der Tür es ernst meinen könnten.

„Ich an Ihrer Stelle würde ihm das Geld geben“, sagte die Frau ruhig. „Sonst bringt er sich hier und jetzt um.“

„Sind’se taub? Ich sachte, ich hab kein Geld. Belästigen’se jemand anderen oder kommen’se wieder, wenn die Kramers da sind“, sagte Cordula bestimmt.

Doch die beiden rührten sich nicht vom Fleck. Stattdessen sah Cordula, wie der Mann hinter seinen Rücken griff und eine Pistole aus seinem Hosenbund zog. Cordulas Augen wurden groß und bevor sie groß darüber nachdachte, hob sie reflexartig den Arm mit dem Badreiniger und sprühte dem Mann mitten ins Gesicht. Zum ersten Mal sah sie eine Gefühlsregung bei ihm, schmerzverzerrt und schreiend ließ er die Waffe fallen und fasste mit beiden Händen an seine Augen. Dann drehte sich Cordula zu der Frau und sprühte auch ihr Badreiniger ins Gesicht, woraufhin sie fluchend und schreiend ihr Smartphone fallen ließ. Cordula bückte sich, für ihr Alter überraschend schnell und wendig, und hob die Waffe mit ihrer freien behandschuhten Hand auf. Besser, die Bekloppten hatten keine Waffe mehr in Griffnähe. Dann knallte sie die Tür so fest zu, wie sie konnte. Sie lehnte sich mit dem Rücken dagegen und merkte, wie ihre Knie nachgaben und sie zu Boden sank. Ihr ganzer Körper zitterte. ‚Wat genau war dat denn gerade?‘, fragte sie sich. In dem Moment hörte sie aus dem Gästebad Roland Kaiser Santa Maria singen. Cordula lachte hysterisch, dann rappelte sie sich auf und suchte das Telefon, um die Polizei zu rufen. Als sie den Notruf wählte, wusste sie nicht, dass zeitgleich in 12 anderen deutschen Großstädten dieselbe Art von Notruf einging. Nur gab es überall sonst jeweils einen Toten.

Stefan Pfeiffer erschrak, als das Funkgerät einen schrillen Signalton von sich gab. Zum ersten Mal war der Polizeianwärter nicht mehr stiller Beobachter auf dem Rücksitz, sondern saß neben seinem Ausbilder auf dem Beifahrersitz. Heute war er für den Funkverkehr zuständig. Er drückte die entsprechende Taste und sprach ins Mikrofon: „Hier Wagen Null-Sechs?“ Dann räusperte er sich unauffällig, denn er hatte ein wenig heiser geklungen.
„Hier Zentrale. Etwa vierhundert Meter von Ihrem Standort wurde ein Drei-Neunzehn gemeldet. Übernehmen Sie?“
Hauptmeister Schröder nickte, deshalb drückte Stefan wieder auf die Mikrofontaste und bestätigte: „Hier Wagen Null-Sechs, wir übernehmen.“
Sie fuhren mit Blaulicht, aber ohne Martinshorn, durch die sonntäglich leeren Straßen des Wohnviertels zur Zieladresse. Der Hauptmeister fragte: „Pfeiffer, wissen Sie, was uns erwartet?“
Er versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen, als er antwortete: „Die Drei bedeutet ziemlich hohe Dringlichkeit, die Neunzehn steht für einen Todesfall im Zusammenhang mit Schusswaffen, aktuell keine Schüsse. Brauchen wir Verstärkung?“
„Wir sehen uns die Sache erstmal an, aber halten Sie Ihr Funkgerät bereit. Kommen Sie damit zurecht? Wenn wir Verstärkung brauchen, dann nicht erst, nachdem der Anwärter die Bedienungsanleitung durchgelesen hat.“
„Ja. Kein Problem.“ Er hatte geübt, bis ihm jeder Ausrüstungsgegenstand an seinem Gürtel vertraut war. Doch gleich würde er ein Schusswaffenopfer sehen. Darauf war er nicht vorbereitet, wurde ihm bewusst. Das konnte er nicht üben wie Funkgespräche. Ihm wurde flau im Magen.
Am Ziel war die Einfahrt durch ein Gittertor versperrt, deshalb parkten sie den Streifenwagen am Straßenrand und betraten das Grundstück durch die Gartentür.
Ein Mann in Jeans und Lederjacke hämmerte mit der Faust an die geschlossene Haustür und schrie: „Sie haben ihn umgebracht! Dafür lasse ich Sie bluten! Ich hab alles auf Video, alles!“ Von ihm unbeachtet lag der Tote vor der Eingangstreppe, daneben eine Pistole.
Der Hauptmeister lief sofort zum herumschreienden Zeugen, deshalb steuerte Stefan die Pistole an. Lieber hätte er mehr Abstand zur Leiche gehalten, der man schon auf den ersten Blick ansah, dass jede Hilfe zu spät kam. „Tief durchatmen“, murmelte er vor sich hin, „du wolltest doch zur Polizei. Gerade dann, wenn es schlimm steht, werden wir Polizisten gebraucht.“
Vor der Pistole angekommen, zögerte er und überlegte. Sollte er die Waffe vom Boden aufheben und sicherstellen – natürlich mit Einweghandschuhen und Plastikbeutel – oder den Tatort unverändert lassen? Seinen Ausbilder konnte er jetzt nicht fragen, der war beschäftigt. Stefan hörte zu, wie Schröder dem Zeugen mit ruhiger Stimme einfache Anweisungen gab, und erkannte die Deeskalationstaktik aus dem Lehrbuch. Doch der Zeuge brüllte Schröder weiter an, beruhigte sich nicht, setzte sich nicht hin, nannte seinen Namen nicht.
Stefan entschied, sich nicht einzumischen, und stellte sich still zwischen den Zeugen und die Waffe.
Schröder fragte nun – immer noch vorbildlich ruhig – nach der Videoaufnahme. Daraufhin schwenkte der Zeuge sein Smartphone und schrie: „Der Kapitalist hat ihn umgebracht, dafür lasse ich ihn bezahlen! Das wird ihm noch leidtun! Mit dem Video kriege ich ihn dran!“
Stefan schluckte. Was er beim Zeugen wahrnahm, war nicht mehr nur Wut, sondern auch Genugtuung. Diese Zurschaustellung von Triumph machte Stefan noch stärker zu schaffen als das Blut, das neben ihm in den Rasen sickerte.
Langsam beruhigte sich sein Magen wieder, während Schröder und der Zeuge um das Smartphone stritten. Schröder bat mehrmals sehr sachlich um dieses Beweismittel, der Zeuge weigerte sich lauthals, es herauszugeben. Jetzt brüllte er: „Ich gebe Ihnen mein Smartphone nicht! Und Sie haben auch gar kein Recht, es zu nehmen! Nicht ohne richterlichen Beschluss!“
Das stimmte, dachte Stefan, ohne richterlichen Beschluss durften sie höchstens bei Gefahr im Verzug ein Smartphone beschlagnahmen. Doch dass der Zeuge so gut über seine Rechte Bescheid wusste, machte ihn nicht vertrauenerweckender. Warum weigerte er sich, ihnen das Video zu zeigen? Hatte er vor, die Aufnahme zu manipulieren? War in dieser Situation tatsächlich Gefahr im Verzug?
Wie zur Antwort auf diesen Gedanken hörte er Schröder sagen: „Wegen Gefahr im Verzug ordne ich hiermit an, dass Sie das Smartphone an mich herausgeben.“
Der Zeuge brüllte wieder los, diesmal Beschimpfungen gegen die Polizei. So plötzlich, dass Stefan gar nicht reagieren und mithelfen konnte, legte Schröder dem Zeugen Handschellen an und riss ihm das Smartphone aus der Hand. „Hier, Pfeiffer.“ Stefan nahm das Smartphone entgegen, dann zog Schröder den sich wehrenden Zeugen ein paar Schritte von ihm weg auf die Rasenfläche.
Schröder senkte seine Stimmhöhe unter dem Geschrei des Zeugen noch etwas tiefer und blieb für Stefan verständlich, als er ihm Anweisungen gab: „Pfeiffer, Sie schildern der Zentrale die Lage; sagen Sie, dass der Fall eher was für die Kripo ist als für uns. Die Spurensicherung wird gebraucht und die Kripo soll entscheiden, ob sie sofort übernimmt oder ob wir beide noch die Hausbewohner befragen sollen. Falls wir weitermachen sollen, würde ich den Guten hier gern abholen und auf die Wache bringen lassen zum Feststellen der Personalien.“
Sagte er – und zog den Zeugen noch weiter weg. Stefan war erstaunt, dass ihm so eine wichtige Aufgabe übertragen wurde, und entschlossen, dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen. Das Funkgerät in der rechten Hand, das Zeugenhandy in der linken, stellte er sich neben die Pistole und erstattete der Zentrale bericht.
Danach rief er seinem Ausbilder zu: „Ich soll warten; sie melden sich gleich zurück, haben sie gesagt.“
Er sah auf das Smartphone in seiner Hand. Eingeschaltet, nicht gesperrt. Stefan kannte das Modell. Es wären nur ein paar Berührungen auf dem Touchdisplay nötig, um das Video aufzurufen. Aber er durfte das Video nicht anschauen. Die Gefahr, dass der Zeuge das Beweismittel vernichten könnte, war gebannt; für alles Weitere war ein richterlicher Beschluss erforderlich. Kein Zeitdruck, keine Gefahr mehr im Verzug – keinerlei Entschuldigung, den Richter zu übergehen und Rechtsstaatsprinzipien zu verletzen.
Sein Blick huschte kurz zum Toten, zu dem, was von dessen Kopf noch übrig war.
Es war seine Pflicht, sich an die Regeln zu halten, es war seine Pflicht, abzuwarten – und doch, er wollte mehr tun als nur warten.
Beinahe wie unabsichtlich bewegte sich sein linker Daumen über das Display. Da war die Übersicht der Videos. Eins der Vorschaubilder zog sofort seine Aufmerksamkeit auf sich, es zeigte fast formatfüllend ein Männergesicht voller Verzweiflung, am unteren Bildrand war ein Stück vom Pistolenlauf zu sehen.
Stefan drückte den Play-Button.
Der Lauf der Pistole schob sich in den Mund. Stefan widerstand dem Impuls, die Augen zu schließen, zwang sich, hinzusehen – ein Knall – jetzt wollte ihm der Mageninhalt hochkommen, aber er kämpfte dagegen an und schaffte es, nicht zu erbrechen. Schon war das Video vorbei. Er sah wieder den Toten an, starrte auf dessen Kinn. Für einen Moment war Stefans Kopf wie leergefegt. Dann drehte er sich hastig um, und sein Frühstück ergoss sich über einen Hortensienbusch, der in einem Blumenkübel neben der Eingangstreppe stand. Der Bart! Der Tote hatte einen grauen Bart.
Das Video zeigte den Tod eines anderen Mannes!

(C) _Corinna (Pseudonym/Username)

„Die Polizei? Wieso das denn?“, fragte Dorothea verwundert.

„Tu es einfach“, verlangte Richard.

Sie tat wie geheißen, rief die Polizei und dann warteten sie. In der Zwischenzeit wechselten die beiden Eheleute kein Wort. Dorothea konnte im Blick ihres Mannes deutlich erkennen, dass dieser nicht zum Reden aufgelegt war. Es dauerte aber nicht lange, bis die Polizei vor Ort eintraf. Das erneute Läuten an der Tür ließ Richard erschrocken zusammenfahren. Diesmal war es Dorothea, die die Tür öffnete und die Beamten herein bat.

„Sind Sie sicher, dass Sie uns und keine Sanitäter brauchen?“, fragte einer der Beamten, beim Anblick Richards, der ausdruckslos in die Leere starrte.

„Mein Mann war diesbezüglich sehr präzise“, gab sie zurück.

„In Ordnung, weswegen sind wir denn hier?“, wollte derselbe Beamte wissen.

„We… Wegen… Leiche… Haustür“, stammelte Richard.

„Eine Leiche vor Ihrer Haustür?“, kombinierte der Beamte.

„Ja“, seufze Richard.

Die Polizisten und auch Dorothea blickten sich wortlos und nach Erklärungen suchend an. Sie waren gerade erst durch die Haustür gekommen. Da war niemand. Weder lebendig noch tot. Keine Spur von irgendwelcher Gewalt, keine Blutspritzer, absolut nichts. Ein gepflegter Vorgarten mit sauberem Pflaster.

„Verzeihen Sie die Frage“, begann der zweite Polizist, „aber wie kommen Sie darauf, dass vor Ihrer Haustür eine Leiche liegen würde?“

„Hat sich erschossen… einfach so“, Richard brachte die Worte nur mit sichtbarer Mühe hervor.

„Wer hat sich erschossen?“, erkundigte sich der Polizist.

Einfühlsam erfragten die beiden Beamten die vollständigen Geschichte und hörten Richard geduldig dabei zu. Ihren Gesichtern konnte man aber deutlich ansehen, dass sie seinen Verstand immer mehr in Zweifel stellten. Ein erwachsener Mann, angeblich kurz davor in die Kirche zu fahren, mit dieser geradezu absurden Krawatte, an dessen Haustür jemand wegen 10.000€ Suizid begeht während ein jüngerer Mann das Ganze filmte?

„Haben Sie einen Schuss gehört?“, wandte sich der Polizist wieder an Frau Berger.

„Nein, da war nichts. Und ehrlicherweise hat es auch nicht geklingelt. Als mein Mann zur Tür ging, dachte ich zwar ich hätte es überhört. Soll ja durchaus schon vorgekommen sein, aber einen Pistolenschuss kann man wohl kaum überhören.“

„Okay, ich fasse kurz zusammen“, reflektierte der Beamte laut, „wir haben keine Leiche, keine Waffe, keine Mordspuren und einen Schuss, den nur ein einziger Mensch gehört hat? Nachbarn sind neugierig, die wären doch längst hier aufgetaucht, wenn sie etwas gehört hätten.“

„Ich bin nicht verrückt“, echauffierte sich Richard.

„Natürlich nicht Liebling“, beruhigte Dorothea ihren Mann, „ich bin sicher die beiden Polizeibeamten werden sich jetzt in der Nachbarschaft umhören und die Ermittlungen aufnehmen, ist es nicht so meine Herren? Ich begleite Sie noch kurz nach draußen.“

Die Polizisten hatten den Wink mit dem Zaunpfahl sofort begriffen und folgten Dorothea nach draußen. Kaum fiel die Haustür hinter ihnen ins Schloss, zeigte Dorothea den Beamten ihr Handy. Die Beamten staunten nicht schlecht.

»Hab ich schon, die sind gleich da.« Dorothea drängte sich an ihm vorbei. »Lass mich mal hin!« Sie riss die Tür wieder auf und brachte das Kunststück fertig, den Toten völlig zu ignorieren.
»Was auch immer Sie hier abziehen, schön, dass Sie alles gefilmt haben«, sagte sie zu dem Mann mit Smartphone, der sich gerade zum Gehen wandte. »So ist der Tatbestand der Nötigung lückenlos dokumentiert, das gibt ein paar Jahre Urlaub auf Staatskosten.«
Zu ihrer Überraschung schien ihn das nicht im Mindesten zu beunruhigen.
»Sagen Sie mal«, meinte er stattdessen, und sein Tonfall bekam etwas Lauerndes. »Ihr Mann hat sich ja geweigert, zu bezahlen, wie ist es mit Ihnen? Hätten Sie …«
»Natürlich nicht! Wie ich schon sagte, das ist Nötigung. Ihre überaus geschmacklose Aktion wird Ihnen noch sehr leid tun.«
Daraufhin begann der seltsame Besucher zu lachen und Dorothea fühlte, wie ihr die Situation entglitt. Dieser Kerl hatte etwas an sich, eine Ausstrahlung von Skrupellosigkeit und Gefahr, die weit über alles hinausging, was sie jemals erlebt hatte.
»Die einzigen, die etwas bedauern werden, sind Sie beide«, sagte er. »Sie ahnen noch nicht einmal, wie sehr.« Er stockte kurz, als näherkommende Sirenen zu hören waren; Polizei und Notarzt würden in wenigen Augenblicken eintreffen.
»Dann werde ich mich fürs Erste empfehlen.« Er deutete eine Verbeugung an und steckte sein Smartphone weg. »Aber keine Sorge, wir sehen uns wieder. Bald.« Mit zügigen Schritten, doch ohne jede Hast ging er zurück zur Straße und war gleich darauf aus Dorotheas Blickwinkel verschwunden.
»Und was machen wir jetzt? Das Ganze ist so absurd, das glaubt uns doch kein Mensch«, jammerte ihr Mann. »Du hättest gar nicht erst mit dem Typ reden sollen.«
Dorothea zog die Schultern hoch. »Ich wollte ihn zumindest so lange beschäftigen, bis die Verstärkung eintrifft«, meinte sie. »Hat leider nicht geklappt, aber egal.« Sie verschwieg, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nie so entsetzliche Angst gehabt hatte wie in den letzten paar Minuten.

»Grundgütiger Himmel!«, platzte es aus Kommissar Markus Weltmann heraus, als er einen ersten Blick auf den Toten warf. »Ich fasse es nicht, das ist doch … «
»Genau, das ist, besser gesagt, das war Professor Weingartner.« Kriminalassistent Mührich wirkte sichtlich blass um die Nase und schluckte schwer. Man merkte ihm an, dass er noch nicht lange beim Morddezernat Dienst tat.
Dorothea Berger gab gerade ihre Aussage zu Protokoll und bekam Mührichs letzten Satz zufällig mit. »Sie kennen diesen Mann?«, wunderte sie sich.
»Oh ja, wir sind uns erst neulich begegnet«, bestätigte der Kommissar und schob dabei seinen Kaugummi von einer Seite auf die andere. Furchtbare Angewohnheit, fand Dorothea und fragte sich im nächsten Moment, warum ihr das ausgerechnet jetzt auffiel.
»Vor dem Haus des Professors ist kürzlich genau das Gleiche passiert wie heute bei Ihnen«, führte Weltmann weiter aus. »Dieselbe haarsträubende Geldforderung, dann der Selbstmord und ein Begleiter, der alles filmt und dann spurlos verschwindet. In dem Fall vor zwei Wochen ist Professor Weingartner derjenige gewesen, der uns benachrichtigt hat – und heute ist er plötzlich das Opfer.«

© Yoro/Mary Jahn

Dorothea starrte die Tür an. Sie zitterte am ganzen Leib.
»Lass es bleiben!«
Langsam hob Bergers Frau ihren Arm.
»Ich warne dich, Dorothea! Denk nicht einmal daran, die Tür zu öffnen. Jetzt ruf endlich die Polizei an!«
Sie ließ den Arm wieder sinken und wankte zur Nische neben der Garderobe. Ein kurzer Blick über die Schulter, hin zu ihrem Mann. Dann drückte sie die Tasten auf dem grünen Telefon, das aussah wie ein Relikt aus den Tagen als die mobile Kommunikation den Steinreichen vorbehalten war. Moderne Technik im Vintage-Mantel. 1 – 1. »Null oder zwei?«
»Herrgott nochmal!« Richard verlor die Geduld. »Mach schon! Schnell!«
Draußen heulten Sirenen auf. Nun war es Richard, der überlegte, ob er die Tür öffnen sollte. Ein Klirren aus der Küche nahm ihm die Entscheidung ab. Das Ehepaar rührte sich keinen Millimeter. Jemand war in ihr Haus eingedrungen.
»Das ist der Mann mit dem Smartphone«, flüsterte Richard. Nie zuvor hatte er solche Angst gehabt. Seine Frau blieb stumm, hörte ihn noch nicht einmal und legte den Hörer zurück auf die Gabel. In Zeitlupe. Mit der anderen Hand fasste sie sich entsetzt an den Mund.
Die Schritte des Eindringlings wurden lauter. Er kam näher. Stopp! Es musste sich um mehrere Personen handeln. Ein Bein kam hinter dem Türrahmen im Flur zum Vorschein, ein weiteres Bein, ausgestellt, wieder Flüsterstimmen. Ausgestreckte Arme, der Lauf einer Pistole, direkt auf das Ehepaar gerichtet. Dorothea stellte das Atmen ein.
»Die Personen im Haus leben!«, sagte der Mann mit der Waffe zu seinem Kollegen.

Susanne Kowalsky

Offenen Enden – zweiter Teil

10.000 Euro

von Bernhard Mosner

«Aus! Aus! Aus!» Eine schrille Stimme hinter Dorothea, die im richtigen Leben Margit Winterfeldt hieß, ließ sie zusammenzucken. Jetzt schon das zweite Mal nach dem Schuss eben, von dem sie allerdings wusste. Sie drehte sich um und sah Helmut Schröder auf sich zukommen. Neben ihm lief seine Assistentin Helene mit undurchdringlicher Mine und einem roten Klemmbrett in der Hand.

«Kinders, wir drehen hier einen Tatort und nicht der große Blonde mit dem schwarzen Schuh», dabei ruderte er kräftig mit dem Armen herum. Und zu Helene gewandt: «Kümmere Dich um die Requisite». Helene nickte.

Richard, oder besser gesagt Thomas Murnau, war bereit, den Angriff zu erwidern: «Helmut, was erwartest Du von uns, wir drehen diese Szene jetzt das dritte Mal! Und ja, nur falls Du es noch nicht weißt: Sie ist bescheuert!».

Hartmuts Mine wurde kalt. Thomas und auch alle anderen am Set wussten, warum. Der Tatort durfte nicht wieder von allen zerrissen werden. Er musste ein Erfolg werden und er, der Regisseur, würde dafür sorgen. Und genau das machte Thomas wütend, daran gab es keinen Zweifel, noch war schließlich er der Hauptdarsteller der Folge, zumindest bis Anna Janneke die Bühne betreten würde. Margit blickte über ihre Schulter, sah zu, wie sich Igor oder Dimitri, den Namen wusste sie nicht mehr, langsam aufrichtete und das Kunstblut von der Jacke wischte. Er war Russe und sprach kaum Deutsch, musste er auch nicht, denn viel Text wurde von ihm nicht erwartet. Als er stand, befreiten ihn zwei Mädchen von etwas, was wie Hackfleisch aussah, während ein weiterer Helfer mit einem Schlauch das Blut von den Platten spritzte.

Draußen wurde es nochmal laut, als Männer durcheinanderriefen, man solle doch endlich die Scheinwerfer ausschalten und das Set wieder in einen Zustand versetzten, mit dem man die Szene wiederholen könne.

Der Regisseur sah Thomas und Margit kampflustig an. Mittlerweile hat sich auch Sascha zu den beiden gestellt, das Handy noch in der Hand.

«Mach endlich das blöde Ding aus, du filmst ja noch.», knurrte Thomas ihn an und wandte sich dann an Helmut.

«Das ganze Script ist doch idiotisch! Welche Zuschauer nimmt uns denn ab, dass zwei Männer vor der Tür stehen, zehntausend Euro fordern, ich dann sage, ey Jungs hab‘ ich aber nicht und dann sich einer der beiden erschießt während der andere filmt?».

Die beiden sahen sich in die Augen. Dem Regisseur war die Anspannung anzumerken, als er zuerst Thomas und dann Margit ansah.

Er hob an, wollte was sagen, aber Thomas war schneller.

«Alleine schon diese bescheuerte Krawatte, grün mit goldenen Eurozeichen.» Sein Tonfall glitt ins Alberne, während er mit der Krawatte wedelte, wie es Oliver Hardy in seinen Filmen immer machte.

Als Thomas fertig war, bemerkten sie die Ruhe in der Villa. Igor oder Dimitri war gereinigt und hatte eine neue schwarze Kunstlederjacke an. Alle am Set betrachteten die Auseinandersetzung zwischen dem Regisseur und seinen drei Darstellern.

Helmut richtete langsam auf, drückte seinen Rücken durch und sein Blick wurde hart. Er dreht sich um, betrachtete alle einzeln. Dann sagte er leise:

«Leute, wir machen hier einen Job, verdammt noch mal. Und ich erwarte von allen das Beste. Und wenn das nicht reicht, dann eben mehr. Und ich verspreche Euch, wir drehen diese Szene so lange, bis sie mir gefällt. Was ihr von der Szene oder dem Drehbuch haltet, das ist mir tatsächlich scheißegal. Und jetzt fangt endlich an zu arbeiten und hört auf so dumm zu glotzen.»

Er dreht sich um und ging Richtung eines Tisches auf dem eine Kaffeemaschine, daneben Tassen, Milch und Zucker standen. Seine Assistentin folgte ihm wie immer stumm, als gehöre sie gar nicht dazu.

«Was für ein arrogantes Arschloch.» Thomas konnte nicht anders. Und wenn er nicht den Job dringend gebraucht hätte, dann wäre er längst geflohen. Margit erwiderte nichts. Thomas‘ Meinung, Helmuts Charakter betreffend, waren hier viele. Margit sah ihn an, ihr Blick sagte ihm, komm, probieren wir es einfach nochmal, dann ist es eh‘ Mittag.

Thomas nickte stumm. Sie kannten sich seit Jahren und waren ein eingespieltes Team. Igor oder Dimitri war gereinigt und wurde zusammen mit Sascha vor die Tür gestellt. Die Scheinwerfer wurden angeschaltet.

Im Hintergrund rief jemand die Szene aus. Dorothea und Richard wechselten, wie in dem Versuch zuvor, den einstudierten Text, dann ging er zur Tür. Es folge der gleiche Wortwechsel mit den beiden Männern vor der Tür. Dann der Schuss. Margit schrak zusammen, er war deutlich lauter, als in der angeblich miserablen Szene zuvor. Igor oder Dimitri sackte in sich zusammen und fiel auf den Plattenweg. Plötzlich war eine unheimlich Stille in der Villa, nur Helene schrie wie am Spieß. Der Regisseur Helmut Schröder saß zusammengesunken in seinem Stuhl. Blut tropfte auf den Boden. Diesmal war es kein Kunstblut.

„Meine schönen Blumen“, jammerte Herr Berger und befreite den zerfledderten Chrysanthemenstrauch aus den Tonscherben. Er hoffte, dass sie sich in einem neuen Topf und mit frischer Erde erholen würden. An den Stufen vor der Haustür klopfte er die alte Erde von den Wurzeln und stellte sein Pflänzchen hinein in den Flur, neben die beiden leblosen Körper.

„Warum hast du nicht einfach die Polizei gerufen?“, fragte er seine Frau, als er nach dem Besen griff und die Platten fegte.
„Damit die hier mit Blaulicht auftauchen?“ Energisch bearbeitete sie den Blutfleck mit der Scheuerbürste. „Das Maul würden die sich zerreißen, die ganze Gemeinde. Sei du froh, dass ich uns das erspart hab.“

Er hielt inne und betrachtete seine Frau. Selbst in Putzhandschuhen neben dem blutgetränkten Eimer sah sie in ihrem Sonntagsmantel tadellos aus. Nicht eine Strähne war ihr in dem Durcheinander aus dem Haarknoten gerutscht. Sie wirkte ruhig und besonnen. Eiskalt, dachte er liebevoll und war erleichtert, dass sie die Lage im Griff hatte.

„Bloß nirgends anlehnen“, hatte sie gesagt, als wäre es das Alltäglichste der Welt, einen Toten nach dem anderen hinein in den Hausflur zu zerren. „Ich will keine Flecken auf meiner Tapete.“

Und während er darüber nachdachte, wer die beiden waren und wofür sie zehntausend Euro gebraucht hatten, ließ Dorothea sich nicht aus der Ruhe bringen. Die ausdruckslos vor sich hinstarrenden Augen schienen sie nicht zu verfolgen und auch der beißende Blutgeruch brachte nur ihn zum Würgen.

„Hör auf, sie zu betrauern“, mahnte sie, als Herr Berger anmerkte, einer der Männer könne in Not gewesen sein. „Die waren es, die unseren Sonntag gestört und dich erpresst haben. Was, wenn der Kerl das Video überall herumgezeigt hätte? Das sind Sünder, die vermisst keiner.“

Erleichtert über ihre Worte verdrängte er den Gedanken, dass Kinder oder eine Frau auf die beiden warteten und nahm sich vor, für die Männer ein Vaterunser zu beten. Dann überlegte er, was sie den Nachbarn sagen sollten.

„Sie werden wissen wollen, warum wir nicht in der Messe waren“, sagte er und blickte besorgt hinüber zur Kirche. Ein regennasser Kiesweg zweigte exakt gegenüber ihres Hauses von der Straße ab und führte entlang der Gräber zur noch geschlossenen Kirchentür. Das Läuten der Glocken mahnte zur Eile. Nach der Kommunion folgten nur Schlussgebet und Segen.

„Zieh die aus“, befahl Frau Berger und nestelte an seiner neuen Krawatte herum. Nur, weil deren Grün farblich nicht zu ihren lachsfarbenen Pumps gepasst hatte, waren sie an diesem Sonntag so spät fertiggeworden, dass sämtliche Nachbarn bereits in der Kirche und nicht mehr zu Hause gewesen waren, als der Schuss gefallen war. Dunkelrote Sprenkel zierten jetzt die goldfarbenen Eurozeichen.

Am Ende gab Frau Berger den Versuch auf, ihren Gatten davon zu befreien, und schob ihn samt Handschuhen und blutigem Eimer über die frisch geputzte Türschwelle ins Haus.

Genau in dem Moment, als gegenüber die Kirchentür aufschwang und der Pfarrer gefolgt von der Gemeinde heraustrat, setzte sie ihr gewinnendes Lächeln auf und schritt durch den Vorgarten durch die schmiedeeiserne Gartentür.

Doch statt wie sonst nach der Messe endlos mit den Nachbarn zu tratschen, würden die Bergers diesen Sonntag damit zubringen, zwei Leichen samt Handy, Video und Waffe verschwinden zu lassen. Und einen neuen Blumentopf, den mussten sie auch wieder auf dem Balkon über der Haustür aufstellen.

„Was hast du getan, Richard?“

„Nichts. Ruf die Polizei. Mach einmal das, was ich dir sage, Dorothea.“, zischte Richard und hielt mit Knie und Schulter die Tür in ihrem Rahmen.

Draußen schrie der junge Mann etwas, was Richard nicht verstehen konnte. Dabei donnerte dieser einen einzelnen gekonnten Faustschlag gegen die Haustür. Damit setzte er ein Zeichen, einen Punkt am Satzende. Einen Schlussstrich, dachte Richard. Diese Geschichte war für ihn jetzt vorbei und er war an der Reihe das nächste Kapitel zu schreiben. Du bist dran, dachte Richards Bauch. Ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn, meinte er doch bis eben noch, die Sache würde sich gleich aufklären.

„Hast du angerufen?“

Dorothea hielt verkrampft den Telefonhörer vor ihrer Brust.

„Wir können doch Harald anrufen, der ist doch bei der Polizei?“

„Harald ist tot.“ Herrgott, seit dreißig Jahren, dachte er.

Dorothea kramte in ihren Hosentaschen, holte ein zerknülltes Taschentuch hervor und weinte leise in den letzten trockenen Zipfel. Richard Berger, sonst geduldig, wie ein Elefant, packte seine kleine Frau bei den Schultern und schob sie aus dem Flur ins Wohnzimmer. Unter seinen Fingern spürte er jedes einzelne Kleidungsstück, welches sie sich Schicht für Schicht über ihr an Osteoporose erkranktes Skelett gezogen hatte. Jede Lage ein Schutzpanzer. Dazwischen mit Luft aufgefüllt, bis sie aussah, wie ein silbergraues Chinchilla Weibchen. Je fester Richard ihre aufgepolsterten Schultern umgriff, umso mehr fühlte er ihren inneren Kern. Sanft schloss er die Wohnzimmertür, überhörte dabei das leise Schluchzen und wählte die Notrufnummer der Polizei. Dabei lugte er vorsichtig durch das Flurfenster neben der Haustür. Der junge Mann mit dem Smartphone war nicht zu sehen und ein hüfthoher, akkurat geschnittener Buxbaum versperrte den Blick auf den Boden im Eingangsbereich. Das Telefon hatte ein Freizeichen, aber bei der Polizei nahm niemand ab. Ein Band schaltete sich ein und eine Frauenstimme ertönte.

„Sie haben den Notruf der Polizei gewählt. Haben sie einen Notfall, dann drücken sie die eins. Haben sie eine Frage oder möchten sie persönlich mit jemanden sprechen, dann drücken sie die zwei. Für alle anderen Anliegen bleiben sie bitte in der Leitung. Sie werden zum nächsten freien Mitarbeiter durchgestellt.“

Es erklang eine kreischende Frauenstimme und ein poppiger Sound. Richard drückte die eins und taxierte weiter den Eingangsbereich.

„Leider sind alle unsere Leitungen belegt. Wir bemühen uns, ihren Anruf so bald wie möglich entgegenzunehmen. Bitte haben sie noch einen kleinen Augenblick Geduld. Bleiben sie in der Leitung, ihr Anruf ist uns wichtig.“

Richard wechselte das Ohr und sah kurz auf die Armbanduhr.

Irgendetwas huschte am Buxbaum vorbei. Auf allen vieren.

„Schön, dass sie noch in der Leitung sind. Haben sie Lust auf Veränderung? Wie wäre es mit einer Ausbildung bei der Polizei?“ Richard blickte auf seine karierten Pantoffeln und die krummen Beine. „Bei Interesse rufen sie uns doch gerne an oder folgen sie uns, für nähere Informationen zu den Stellenangeboten, auf Facebook oder Instagram.“

Mariah Carey löste Whitney Houston ab.

„Leider sind alle unsere Leitungen belegt oder sie rufen außerhalb unserer Sprechzeiten an. Diese sind, montags bis freitags von sieben bis achtzehn und von zwanzig bis zweiundzwanzig Uhr. Am Sonnabend und am Sonntag zwischen zehn und zwölf Uhr und an jedem ersten Wochenende im Monat zusätzlich von fünfzehn bis achtzehn Uhr. Vielen Dank für ihr Verständnis.“

Mit einem Knacken wurde das Telefonat beendet. Ungläubig sah Richard auf den Hörer. Er war sprachlos. Ganze siebeneinhalb Minuten hatte er in der Warteschleife gehangen. Wütend knallte er den Telefonhörer auf die Ladestation. Plötzlich sprang der Anrufbeantworter an. Anfänglich war nichts zu hören, außer ein leises Kratzen oder Schaben. Im Hintergrund hörte man eine Bundesstraße. Dann ein Räuspern.

„Ich bin es.“ Eine raue Männerstimme war zu hören, die wohl länger nicht mehr gesprochen hatte.

„Richard, bist du noch da?“, rief Dorothea aus dem Wohnzimmer.

„Darf ich wieder rauskommen?“

„Nein!“, schrie Richard.

© EffEss bei Papyrus

Ein Wecker schrillte in die Stille hinein.
Berger öffnete die Augen und starrte an die Decke. Was zum …?
Sein Kopf ruckte herum. Seine Frau lag neben ihm und erwachte mit einem tiefen Atemzug. »Machst du mal den Wecker aus«, murmelte sie und drehte sich auf die andere Seite.
Berger drückte auf die Taste und das Geräusch verklang. Er blickte zum Fenster. Regentropfen liefen langsam an der Scheibe herab. Das Licht war diesig. Er holte tief Luft und rieb sich mit den Händen über das Gesicht.
Ein Traum. Es war nur ein Traum gewesen!

»Unglaublich!« Seine Frau schnaubte und trank einen Schluck Kaffee. Die Zeitung lag vor ihr auf dem Küchentisch.
»Was denn?«, fragte Berger. Sie waren beide bereits für die Arbeit angezogen und tranken wie jeden Morgen gemeinsam ihren Kaffee.
»Na diese Anzeige hier«, sagte sie und tippte mit einem manikürten Finger auf den Text. »‘Sichern Sie sich Ihre Zukunft mit nur 10.000 Euro Einmalerlag‘ – Wie soll das denn bitte funktionieren? Bei all den Teuerungen und …«

Berger hörte nicht mehr zu. Der letzte Schluck Kaffee brannte sich seinen Weg durch seine Kehle hinunter in den Magen. Vor seinem geistigen Auge sah er den Mann auf den Platten vor dem Haus verbluten.

»Schatz? Ist dir nicht gut?« Die Finger seiner Frau legten sich um seinen Arm. Ihr Blick war besorgt.
»Nein …«, krächzte er, »alles gut!«
»Bist du sicher? Du bist ganz blass.«
Er räusperte sich. »Ja, alles gut!« Er stand auf und stellte seine Tasse in die Spüle. »Ich muss los. Bin spät dran.« Er küsste sie flüchtig auf Wange, eilte in den Flur, schlüpfte in seine Schuhe und griff nach seinem Mantel.
»Nimm am Heimweg bitte Milch mit«, sagte seine Frau hinter ihm.
»Ja, mach ich.« Er klemmte sich seine Tasche unter den Arm und öffnete die Tür.
Kein Blut auf den Platten. Kein toter Mann. Berger atmete tief durch und ging zu seinem Auto.

Der Gebrauchtwagenhändler neben seinem Reisebüro montierte gerade ein Schild auf einen Wagen: Gebrauchtwagen. Neuwertig. Nur 10.000 Euro!
Berger starrte auf das Schild. Nur ein Zufall, sagte er sich, nur ein dummer Zufall!

Der restliche Tag verging ohne weiteren Zwischenfall. Ohne weitere Hinweise. Gegen Abend wagte Berger es, durchzuatmen. Es war doch nur ein böser Traum. Er schloss das Reisebüro ab, kaufte die Milch, die seine Frau hatte haben wollen und fuhr heim. Das Abendessen verlief ereignislos.

Gerade, als er sich fürs Bett bereit machte, kratzte etwas an der Haustür. Bergers Herz begann zu klopfen. Plötzlich hatte er den Traum wieder im Kopf. Langsam schlich er in den Flur. Ein Zettel lag auf dem Boden unter dem Briefschlitz. Er hob ihn auf und las. Sein Gesicht wurde aschfahl, seine zitternden Hände ließen das Blatt fallen. Es landete auf dem Boden. Die krakeligen Buchstaben waren ein wenig vom Regen verwaschen.

Am Sonntag werden Sie 10.000 Euro brauchen!

(c) A. Bogott-Vilimovsky

„Kunstblut …“, stellte Henrike Berger fest, die im weißen Wegwerfeinteiler über der roten Pfütze im Vorgarten der Bergers kniete und Proben entnahm.
Sie blickte zu dem über ihr stehenden, massigen Mann auf: „Sieht beeindruckend echt aus, auch die Hirnmasse. Da wollte wirklich jemand mit seiner Performance überzeugen. Wie geht es dem Ehepaar?“
„Der alte Mann steht komplett unter Schock, sie sind beide drin und werden gerade von unserem Psychologen betreut. Wir haben bisher nur die Aussage seiner Frau, die aber selber nichts gesehen hat.“ Kommissar Stark half der Kriminaltechnikerin mit einem beherzten Griff unter die Achselhöhle wieder auf die Beine.
„Die Kollegen von der Streife, die hier als erstes eintrafen, haben mit einer kopflosen Leiche gerechnet, fanden aber nur diese unschöne Pfütze und ein komplett verstörtes, älteres Ehepaar vor“, setzte er seine Ausführungen fort. „Von den Tätern keine Spur, die vermeintliche Leiche hatte es dann doch recht eilig, von hier wegzukommen.“
„Apropos eilig, ich mache hier mal weiter, bevor es wieder anfängt zu regnen. So gern ich auch Ihrer sonoren Stimme lausche, aber das hier duldet keinen Aufschub. Sie dürfen sich auf meinen Bericht freuen!“ Henrike lächelte ihn frech an und entfernte sich wieder in Richtung der blutigen Steinplatten.
Peter Stark blickte zum Himmel, überprüfte kurz die Wettervorhersage auf ihren Wahrheitsgehalt und setzte sich dann schwerfällig in Bewegung, um seine Arbeit zu machen.

Richard und Dorothea Berger wirkten wie bemitleidenswerte Miniaturausgaben ihrer selbst, wie sie da nebeneinander auf einem grotesk großen Brokatsofa saßen. Vor sich, auf einer schweren, schwarzen Schiefertischplatte, zwei weiße Porzellantassen mit dampfendem Tee.
Mit einem knappen „Dankeschön“ schickte Kommissar Stark den Polizeipsychologen aus dem Raum und sah sich um. Links eine schwere Schrankwand, die ein für seine Begriffe gerade noch gesundes Maß an Reisesouvenirs und Dekoschnickschnack beherbergte. Vor allem Elefanten: Indische und afrikanische, verewigt in Stein, Holz und Plüsch. Auf vielen Fotos nur die beiden, Richard und Dorothea. Gemeinsam in jungen Jahren beim Bergsteigen, vor Glück strahlend im Hochzeitsgewand und immer wieder einzeln posierend vor berühmten Bauwerken. Was jedoch fehlte, waren Bilder von Kindern, von jungen Familien, die in einem Fotostudio in die Kamera lächeln.

„Es tut mir sehr leid, was Ihnen …“, begann er, doch bevor er seinen Satz beenden konnte, schoss der alte Herr Berger vom Sofa in die Höhe und sah ihm mit einem vom Blitz der Erkenntnis getroffenen Blick fest in die Augen.
„Ich kenne den Mann“, stellte er erstaunt fest und liess sich sogleich wieder neben Dorothea fallen, der der Schreck über den plötzlichen Ausbruch ihres Mannes deutlich anzusehen war.

Richard Berger stand wie erstarrt am Fenster. Trotz eiskalter Hände, lief ihm der Schweiß übers Gesicht und in die Augen. Die Gardine hielt er einen kleinen Spalt weit beiseite, um die Geschehnisse vor seinem Haus zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Mit der anderen Hand tupfte er sich mit der Krawatte den Schweiß von der Stirn.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hielt ein Streifenwagen vor seinem Haus, gefolgt von einem schwarzen Rolls-Royce. „Ein Leichenwagen?“, wunderte sich Berger. „So schnell?“

Zwei Polizisten stiegen aus dem Streifenwagen und zogen ihre Waffen, um die Umgebung zu sichern. Auf der Beifahrerseite des Royce stieg eine Frau aus, die jedoch weder wie eine Bestatterin noch wie eine Polizistin wirkte. Ihr langer, roter Mantel fiel dramatisch über ihre Schultern und erinnerte an ein Magiergewand – vielleicht wegen der Kapuze oder dem auffälligen Emblem auf der Brust.

„Wer ist das denn?“, murmelte Berger zu sich selbst und hörte dabei seine Halsschlagader pochten.

„Schauen wir uns um.“, befahl die Frau, und während sich die uniformierten Polizisten vorsichtig dem reglosen Körper näherten, ging sie mit entschlossenen Schritten auf das Haus zu.

Berger öffnete die Tür einen Spalt, die Sicherheitskette war immer noch vorgelegt. „Ja?“

„Herr Berger?“ fragte die Frau mit einer Stimme, die Autorität ausstrahlte. Sie hob einen Ausweis in die Höhe. „Kriminalkommissarin Lydia Winter. Haben Sie die Polizei verständigt?“

Richard Berger nickte wortlos, obwohl eigentlich Dorothea den Anruf getätigt hatte. Durch den Türspalt konnte er direkt auf den toten Körper im Vorgarten blicken: er war immer noch da – ausgebreitet wie ein durch Krähen aufgerissener Müllsack.

„Machen Sie bitte die Tür auf, aber bleiben Sie im Haus“, wies Winter ihn an.

Als Berger die Tür öffnete, gab sie den Beamten mit einem Nicken das Signal, ihn zu durchsuchen. Mit bestimmter Stimme fragte sie: „Dürfen meine Kollegen das Haus betreten, um nach dem Rechten zu sehen?“ Überrumpelt nickte Berger nur.

„Haben Sie draußen irgendetwas verändert oder angefasst, bevor wir kamen?“, hörte er die Kommissarin fragen.

„Nein“, antwortete er mit brüchiger Stimme. „Ich habe direkt die Tür geschlossen und gewartet. Mehr nicht.“

„Gut.“ Ihre Augen schienen ihn einen Moment zu durchleuchten, als wolle sie etwas in ihm lesen.

In der Zwischenzeit waren weitere Wagen eingetroffen. Berger sah zu, wie Männer in Schutzoveralls umher wuselten. In einiger Entfernung kamen Schaulustige, die von der Polizei zurückgedrängt wurden.

„Was genau ist passiert?“ holte die Kommissarin Berger aus seinen Gedanken zurück.

Berger schilderte bildlich den Vorfall: die Drohung, den Schuss und die Anklagen des Mannes mit dem Handy. Winter hörte ihm aufmerksam und schweigend zu. Doch bevor er seine Erzählung beenden konnte, rief einer der Männer von draußen: „Kommissarin?“

Lydia Winter blickte zurück und, als er sie zu sich winkte, ging zu ihrem Kollegen hinüber. „Was haben Sie?“

„Wir haben ein Smartphone gefunden, direkt neben der Leiche“, erklärte der Mann und hielt das Gerät hoch. „Ich glaube, es ist immer noch entsperrt. Und darauf ist ein Video gespeichert.“

Auch Richard Berger trat näher und spähte der Kommissarin über die Schulter, als sie das Smartphone an sich nahm und mit dem Zeigefinger auf den Play-Button tippte.

Das Video begann zu laufen. Es zeigte sein Haus, gefilmt aus der Perspektive der beiden Männer, die auf den Eingang zuschritten. Der jüngere der beiden hielt die Kamera im Selfie-Modus, während er in die Linse sprach:
„Wir sind jetzt auf dem Weg zu Richard Berger“, erklärte er und zeigte auf den bärtigen Mann neben sich. „Dieser Mann wurde von ihm bei einem Aktiengeschäft um zehntausend Euro betrogen. Er braucht das Geld aber für eine lebensrettende Operation. Heute holt er sich zurück, was ihm zusteht.“

Anschließend entwickelte sich die Szene genau so, wie Berger es der Kommissarin geschildert hatte – bis auf ein entscheidendes Detail. Der bärtige Mann sprach deutlich hörbar in die Kamera: „Geben Sie mir meine zehntausend Euro zurück. Wenn Sie es nicht tun, bringt mich das um.“

Dann schwenkte die Kamera zum jüngeren Mann, der mit eindringlicher Stimme bekräftigte: „Geben Sie ihm zehntausend Euro. Sie haben es, und er braucht es.“

Auf dem Bildschirm sah Berger sich selbst ungehalten brüllen: „Sie sind ja verrückt. Wie stellen Sie sich das vor? Ich kann doch nicht irgendjemandem einen Haufen Geld geben, nur weil er an meiner Türe klingelt.“

Plötzlich änderte das Video seine Richtung. Die Aufnahme zeigte, wie Berger eine Schusswaffe zog, sie auf das Gesicht des bärtigen Mannes richtete und abdrückte. Der Knall war auf dem Video ohrenbetäubend. Der bärtige Mann sackte zusammen, und die Kamera fiel zu Boden, während das Bild schwarz wurde. Zu hören war nur noch: „Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!“. Die Videoaufnahme lief anscheinend weiter, bis der Polizist sie unterbrochen hatte.

Berger starrte auf das Smartphone, seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Das… das ist eine Lüge! Das bin ich nicht! Das ist ein manipuliertes Video!“ Seine Stimme überschlug sich, während er sich umständlich rechtfertigte: „Ich hatte keine Waffe! Ich habe noch nie eine Waffe besessen! Das ist so nicht passiert!“

Lydia Winter ließ das Smartphone langsam sinken. Die Überraschung stand ihr förmlich im Gesicht.

Doch Berger fuhr herum und stürmte ins Haus „Meine Frau!“, rief er, als hätte er plötzlich die rettende Idee. „Dorothea kann bezeugen, dass ich keine Waffe hatte! Sie hat alles gesehen, sie hat alles mitangesehen!“

„Dorothea!“ rief er nach oben, seine Stimme überschlug sich vor Panik. „Dorothea, bitte komm runter! Wo bist du?“

Doch das Haus blieb still.

(K)ein Klacks

»Herr von Eschenbach?» Ich zuckte zusammen, als ich meinen Namen hörte, und sah zu Anna. Sie lächelte freundlich, aber ich wusste, dass sich hinter diesem hübschen Gesicht eines typischen Wiener Mädels der messerscharfe Verstand ihres Vaters befand. »Der Herr Professor lässt bitten!«
Ich erhob mich und ging in den Raum hinter der schalldicht gepolsterten Tür. Doktor Froid saß wie immer in seinem Fauteuil, ein Bein über das andere gelegt, sein schwarzes Notizbuch und den Füller in der Hand. Trotz der Hitze im Raum trug er seinem dreiteiligen Anzug und ein blütenweißes Hemd mit Vatermörder. Er grüßte mit einem Lächeln hinter dem Knebelbart und ein stummes Nicken wies zum Sofa, das er in seiner antiquierten Sprache Ottoman nannte. Ich wusste, was ich zu tun hatte.
Nachdem ich mir die Schuhe ausgezogen hatte, legte ich mich hin, steckte ein Kissen unter meinen Nacken und begann langsam bis dreißig und wieder zurück zu zählen, wie er es mich gelehrt hatte, und versuchte den Strand von Livorno zu visualisieren. Es gelang nicht.
»Können wir Äneas?«, fragte er.
Ich nickte stumm.
»Ich habe Ihren Text erhalten und ihn aufmerksam gelesen«, begann er, »und obwohl meine Kenntnisse über Literatur doch eher bescheiden sind, finde ich ihn höchst bemerkenswert!«
Er ließ eine kurze Pause entstehen, als ob er nun auf eine Gegenfrage von mir warten würde, aber ich schwieg weiter. Die stand ja ohnehin schon in dem Mail, dass ich ihm geschrieben hatte. Dieser Traum, der mich seit Wochen quälte und mir keine Ruhe gab, weder am Tag noch in der Nacht.
»Wobei ich aber gar nicht diese absurde Situation meine, die Sie in ihren Text schildern«, fuhr er schließlich fort, »sondern die überaus interessanten Archetypen, die wir darin finden, sowie die aussagekräftige Symbolik.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich nun. Es tat mir schon leid, ihm diesen Textentwurf geschickt zu haben, als ich auf Senden gedrückt hatte, aber jetzt war es passiert und nun musste ich wohl oder übel da durch.
»Nun ja, das Ehepaar Berger in Ihrer Geschichte, das sind ganz deutlich Ihre Eltern, Äneas. Machen wir uns nichts vor. Hier stimmt einfach alles, was ich auch aus den bisherigen Sitzungen von Ihnen weiß. Das kleinbürgerliche Milieu, der sonntägliche Kirchgang, sogar die Eurozeichen auf der Krawatte des Mannes – ein deutlicher Hinweis auf den Schwerpunkt des finanziellen Erfolges, den ihr Vater Zeit Ihres Lebens so hervorkehrte und der sie, wie sie selbst schon oft zugaben, bis zur Weißglut reizte.«
Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss und meine Hände zu zittern begannen. Ja, er hatte recht, aber war es wirklich das, was ich geträumt und schließlich geschrieben hatte?
»Ich hasse meinen Vater aber nicht so sehr, dass ich ihm das, was ich hier beschrieb, vergönnt wäre.«
»Das will ich Ihnen gerne glauben, Äneas. Aber was Sie hassen, ist eben diese Kleinbürgerlichkeit, die sie nun in ihrem Text sinnbildlich und systematisch zerstören.«
»Zehntausend Euro wären für meinen Vater ein Klacks!«, platzte ich heraus.
»Oh, es geht in ihrem Traum gar nicht um Geld, mein Lieber«, erklärte Professor Froid weiter, „Das Geld ist hier nur stellvertretend für etwas anderes, das für Sie viel wichtiger ist, als ihren Vater um eine solche Lappalie zu erleichtern!“
„Und um was, bitte?“
Der Professor ließ sich wieder etwas Zeit, in der Hoffnung, ich würde selbst draufkommen. Aber mein Ich weigerte sich noch immer die Realität zu akzeptieren.
„Um Anerkennung!“, sagte er schließlich, „schlicht und einfach um Anerkennung. Etwas das Sie, wie Sie seit der ersten Sitzung immer wieder betonen, angeblich nie von ihm bekamen. Oder nicht in jenem Ausmaß, indem Sie es sich wünschten.“
Ich erwiderte nichts. Etwas drückte mir den Hals zu, Ich spürte, wie sich eine Träne aus meinem Augenwinkel löste und langsam Richtung Mundwinkel floss.
„Und deswegen lassen Sie ihn in Ihrem Traum – und später in dem Text, woraus, so wie ich Sie kenne, Ihr neuer Roman entstehen soll – auf peinlichste Weise vorführen. Der Suizident in Ihrer Geschichte, das ist nämlich niemand anderer als Sie selbst. Und damit das alles auch seine volle Wirkung entfaltet, verleihen Sie dem Ganzen öffentliche Aufmerksamkeit, in dem Sie es von einer dritten Person filmen und ins Internet hochladen lassen. Ganz klar: Sie wollen, dass alle Welt weiß: Dem berühmten Bestsellerautor Äneas von Eschenbach wird von allen Respekt und Wertschätzung entgegengebracht, nur nicht vom eigenen Vater!“
Nun flossen mir aus beiden Augen Tränen. Mit einem tiefen Schluchzen setzte ich mich auf. Professor Froid hielt mir ein Stofftaschentuch, auf das seine Initialen gestickt waren, hin.
„Nehmen Sie ruhig“, sagte er, „Es ist sauber. Anna hat es sogar gebügelt.“
Ich schnäuzte mich kräftig hinein, suchte nach einer Ablage dafür, fand keine und steckte es einfach in meine Hosentasche. Bei der nächsten Sitzung würde ich es ihm wiederbringen. Gewaschen und gebügelt natürlich.
„Sie haben recht“, sagte ich, als ich mich beruhigt hatte. „Als ich das letzte Mal meine Eltern besuchte, fand ich im Bücherschrank meines Vaters das Gesamtwerk meiner beiden Kontrahenten Florian Witzik und Franz Schützling. Von mir hingegen hatte er nur mein Erstlingswerk „Die Judas-DVD“. Nur dieses eine, nichts sonst.“
Professor Froid machte sich einige Notizen und nickte bedeutungsvoll. „Dann haben wir ja eine Menge aufzuarbeiten in den nächsten Sitzungen.“
Ich nickte stumm und schniefte noch einmal auf. „Und was mache ich jetzt mit diesem Text?“
Der Professor zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung“, sagte er, „Ich gebe solche Traumaufzeichnungen immer meinen Studenten als Lehrbeispiele.“
Okay, dachte ich, gar keine schlechte Idee. Dann hatte ich endlich die Story, die ich dem Literaturforum Daktylus versprochen hatte und mit der ich ohnehin schon eine Woche in Verzug war. Mal sehen, was die damit anfangen konnten.

(C) Gschichtldrucker / Christian Luksch