Offene Enden – zweiter Teil
Zehntausend Euro
„Richard?“, entgegnete seine Frau, die bereits im Flur stand, mit vor Schreck geweiteten Augen, „ist alles in Ordnung?“
„Ruf die Polizei, Dorothea“, entgegnete er erneut mit Nachdruck und steuerte beinahe schon von allein auf den Stahlschrank im Wohnzimmer zu, wo er sein Jagdgewehr aufbewahrte. Dies war die einzige Reaktion, die ihm sein Verstand derzeit zeigte.
Seine Frau war jedoch vollkommen verunsichert. Anstatt zum Telefon zu gehen und die Polzeit zu rufen, stellte sie weitere Fragen: „Was ist los, was war das für ein Knall?“
Richard hielt kurz inne, drehte sich seiner Frau zu und packte sie an den Schultern. Dann atmete er einmal tief ein und wieder aus. Um eine ruhige Tonlage bemüht, sagte er: „Bitte, Liebes, vor unserer Haustür hat sich gerade ein Mann selbst erschossen. Ruf die Polizei an.“
Seine Frau schwieg zunächst, während sie versuchte, diese Information zu verarbeiten. Dann jedoch überwand sie den Schreck, setzte einen ernsten Gesichtsausdruck auf und nickte. Anschließend verließ sie den Flur in Richtung Küche, wo ihr Handy lang.
Als Richard kurz darauf seinen Weg fortsetzen wollte, begann er, seine eigene Schockreaktion noch einmal zu überdenken. Was tat er hier eigentlich und was zur Hölle wollte er mit dem Jagdgewehr? Ja, der Mann hatte eine Waffe, jedoch ist Richard zu keiner Zeit direkt bedroht worden. Selbst wenn! Wollte er mit dem Jagdgewehr etwa wild um sich schießen wie in einem schlechten Western?
Das war absurd. Er konnte sich noch nicht mal richtig daran erinnern, wie das Ding überhaupt funktionierte. Er hatte den Waffenschein und die Waffe nur, weil sein Vater vor 16 Jahren darauf bestanden hatte, dass er an dessen Hobby teilnahm. Seit der bestandenen Prüfung lag es unbenutzt im Schrank.
Richard schüttelte sich und versuchte, den Schock zu verdrängen, um einen logischeren Schluss zu fassen. Die beiden Männer waren offensichtlich psychisch krank und brauchten Hilfe. Einer von ihnen hatte sich in seinem Wahn sogar selbst getötet. Oder? Hatte er sich wirklich in den Kopf geschossen oder war es am Ende nur ein Streifschuss? Es war alles so furchtbar schnell gegangen. Plötzlich kam ihm seine erste Reaktion, die Tür zuzuschlagen, vollkommen lächerlich vor. Vielleicht war der Mann gar nicht tot, sondern verletzt und brauchte Hilfe!
Mit diesem Gedanken drehte er auf dem Absatz um und ging zur Tür zurück. Als er nach der Klinke griff, hörte er Dorothea bereits in der Küche telefonieren. In dem Moment, in dem er die Türklinke berührte, drückte er sie sofort nach unten und öffnete diese, um der Furcht keine Chance zu geben, ein Argument vorzutragen.
Auf dem Plattenweg am Ende der kleinen Treppe lang immer noch rücklings der ältere Mann. Der obere Teil seines Schädels endete in einer breiigen Masse und eine Blutpfütze breitete sich rings um seinen Kopf aus. Ihm konnte man definitiv nicht mehr helfen.
Auch wenn er bereits geahnt hatte, was ihn erwartete, überkam ihn bei dem Anblick Übelkeit und er zwang sich, den Blick abzuwenden. Stattdessen suchte er in seinem Vorgarten nach dem anderen Mann, von dem jedoch nichts zu sehen war. Sein Blick blieb schließlich an etwas auf dem Boden hängen:
Ein Smartphone!
„Richard? Bist du etwa da draußen?“, hörte er unvermittelt Dorotheas Stimme hinter sich.
Schnell drehte er sich um, zog die Tür hinter sich zu und erwiderte: „Bleib im Haus, das willst du nicht sehen!“
„Komm bitte wieder nach drinnen!“, flehte seine Frau, wobei ihr die Sorge deutlich anzuhören war, „die Polizei ist in zehn Minuten hier, die können sich dann um alles kümmern.“
„Einen Moment, ich komme gleich rein. Warte drinnen, Dorothea!“, antwortete er knapp.
Natürlich hatte seine Frau recht. Er sollte nicht hier draußen rumrennen. Nicht nur, dass der andere Mann erneut auftauchen und ihm gefährlich werden könnte, zudem war sein Vorgarten ja jetzt irgendwie ein Tatort. Er sollte zurück ins Haus gehen und auf die Polizei warten – aber er konnte nicht.
Sein Blick war nach wie vor auf das Smartphone gerichtet. Die Situation war so verworren. Warum hatte sich der Mann erschossen, wieso wollte er die 10.000 Euro von ihm und warum hatte der andere diesen Wahnsinn auch noch gefilmt, nur um dann doch sein Handy liegen zu lassen? So viele Fragen: Er musste mehr wissen!
Noch bevor er richtig darüber nachdenken konnte, ging er die Treppe hinab, machte einen großen Schritt an der Leiche vorbei und bewegte sich auf das Smartphone zu. Dort angekommen blickte er auf das auf dem Rücken liegende Gerät hinab und erschrak.
Der Mann hatte gar nicht gefilmt. Auf dem Display lief eindeutig ein Videoanruf. Richard sah genauer hin und erkannte die Silhouette einer Person. Eine Silhouette, die sich leicht nach vorn beugte. Er riss die Augen weit auf, als ihm klar wurde, dass die Übertragung nach wie vor aktiv war.
Seine Neugier bezwang sein Unbehagen und ohne Rücksicht darauf, dass es sich um ein Beweismittel handeln könnte, hob er das Gerät auf. Er sah sich das Bild genauer an, doch die Person, vermutlich ein Mann, saß in einer so überbelichteten Perspektive, dass lediglich ein Schemen zu sehen war.
„Ihre Gier hat diesen Mann umgebracht, Herr Berger“, Richard hätte vor Schreck beinahe das Telefon fallen lassen. Nicht wegen der unerwarteten Stimme, die aus dem Gerät kam. Viel mehr, weil diese Stimme ihn mit seinem Namen ansprach.
„Was? Nein!“, protestierte Richard.
Diesen Vorwurf wollte er nicht auf sich sitzen lassen: „Der Mann hat sich selbst umgebracht. Ich kann doch keinem dahergelaufenen Typen einfach ohne Grund 10.000 Euro geben!“
„Ach nein?“, fragte die Stimme mit einem bösartigen Unterton, „als Thorsten Liebel vor drei Monaten 11.200 Euro von Ihnen haben wollte, haben Sie nicht NEIN gesagt und sie ihm mit Freuden gegeben. Sie können also sehr wohl. Ihnen ist die Chance darauf, Ihr Vermögen zu mehren, lediglich wertvoller als ein Menschenleben.“
Richard lief es eiskalt den Rücken hinunter, als der Unbekannte nicht nur den Namen seines Investmentbankers nannte, sondern auch die genaue Summe, welche ihm Richard damals gegeben hatte, um in sein vermeintlich todsicheres Aktiengeschäft zu investieren. Woher wusste dieser Kerl das alles? Nun bekam er es doch mit der Angst zu tun.
Als er gerade überlegte, das Handy einfach fallen zu lassen und zurück ins Haus zu gehen, sprach die Stimme erneut. Dieses Mal klang sie jedoch wesentlich zorniger: „Ihr Kapitalistenschweine widert mich an. Diese ganze Stadt ist krank und ihre Moralvorstellungen sind vollkommen verkümmert. Sie setzten Tausende einfach aus Gier und Leichtsinn in den Sand, während in anderen Stadtteilen Leute auf der Straße leben und verhungern. Heute werden Sie eine Lektion lernen, Herr Berger. Heute werde ich Ihnen zeigen, wie lächerlich Ihr ach so wertvolles Geld im Vergleich zu einem Menschenleben ist. Im Anschluss an dieses Gespräch werde ich auf dieses Gerät einen Namen und eine Adresse senden. Sie haben dann sechs Stunden Zeit, diese Person dazu zu bringen, Ihnen 10.000 Euro ohne eine Gegenleistung zu überlassen. Wenn Sie das nicht schaffen, müssen Sie sich umbringen. Rufen Sie diese Nummer an und übertragen entweder das eine oder das andere.“
Richard kniff die Augen zusammen und ein plötzlicher Zorn überkam ihn. Wütend entgegnete er: „Seid ihr denn alle vollkommen wahnsinnig geworden, wieso sollte ich so etwas Dämliches tun? Ich werde das Smartphone der Polizei übergeben und denen können Sie dann Ihre Verrücktheiten erzählen!“
Anstatt einer Antwort schwenkte der Kamerawinkel auf dem Display herum. Nun waren die Lichtverhältnisse besser und man sah deutlich eine auf einem Stuhl gefesselte junge Frau.
„Selin!“, entfuhr es Richard schockiert und sein Herz setzte für einen Moment aus, als er die weinende und um ihr Leben flehende Frau als seine Tochter identifizierte.
„Sechs Stunden, Herr Berger“, fuhr die Stimme nun ruhig fort, „entweder erhalte ich einen Videoanruf mit einem der beiden beschriebenen Ereignisse von Ihnen, oder Ihre Tochter wird den Preis für Sie bezahlen. Wenn Sie irgendjemandem hiervon erzählen, stirbt sie ebenfalls. Nun erfahren Sie am eigenen Leib, wie es ist, wenn man mit einem Kapitalisten über den Wert eines Lebens verhandeln muss.“