Seitenwind 2024 beginnt! 1. Teil

Der Mann mit dem Handy drehte sich um und verließ fluchtartig den Garten. Beinahe wäre er über das Gartentor gestolpert. Der Knopf in seinem Ohr piepte. « Ihr habt es versaut » sagte die Stimme, « der Ereignishorizont hat sich nicht verändert! Du bist der nächste Versuch. Wir brauchen die 10.000 EUR von einem der reichen Ärsche, Du fährst jetzt zu Christian Martinsen, dem Piloten »

« Wer war das? » fragte Dorothea und zog sich ihren Kaschmirmantel an, « Wozu brauchen wir die Polizei? »
Richard griff zu seinem iphone und wählte die Nummer 110. « Vor unserer Tür liegt ein Verrückter. Er hat sich umgebracht » keuchte er ins Telefon.
Wenige Minuten später brach der Vorhof der Hölle im Vorgarten der Bergers aus. Mehrere Polizeiwagen parkten kreuz und quer auf der Straße. Der mit eingeschalteter Sirene angebrauste Rettungswagen fuhr leise und unverrichteter Dinge wieder davon und machte dem Team der forensischen Abteilung platz.
« Kannten Sie Ihn? fragte Polizeihauptkommissar Ackermann und fischte seinen zerknitterten Noitzblock aus seinem grauen Staubmantel, den er achtlos über den Thonetstuhl mit Ratengepflecht, in der Küche der Bergers geworfen hatte.
Das Gespräch war wenig ergiebig und Nils Ackermann verließ mit der inzwischen eingetroffenen Kollegin Claudia Wolfinger das Haus.
Der Leichnahm lag, mit den Füßen noch auf dem Eingangspodest, auf dem schmalen Plattenweg.
Ackermann öffnete die Jacke des Toten und schreckte zurück. « Alle weg hier! » schrie er und zerrte seine Kollegen vehement zurück ins Haus.
« Was haben Sie gemacht? » schrie er und deutete auf den Zettel in seiner Hand.

(c) Cocolinacool Cornelia

»Ruf die Polizei«, sagte er dann mit bebender Stimme zu seiner Frau. Er blinzelte, als könne er die Bilder zurückdrängen, die sich in seine Netzhaut eingebrannt hatten. Die blutige Wolke, der fallende Körper, das Rot auf den Platten. Es war so schnell gegangen, ganz anders als in einem der Kriminalfilme, die er so gern ansah.
Und jetzt war es still. Keine dramatische Musik, kein weiteres Klingeln, kein Klopfen. Kein Wort von seiner Frau. Müsste sie nicht längst am Telefon sein?
»Dorothea«, rief er über die Schulter, brachte es noch nicht über sich der Tür – und damit den grausigen Ereignissen von eben – den Rücken zuzuwenden. »Dorothea?«
Ein leises Geräusch antwortete. Das Knarzen der Dielen, wenn sich jemand darüber bewegte.
Jetzt fuhr er doch herum, in der sinnlosen Angst, dass ihm der Mann mit der Kamera irgendwie gefolgt war und sich an ihn herangepirscht hatte. Aber es war nur seine Frau, die stumm im Flur stand und ihn anstarrte. Ihre Sonntagsbluse war schief geknöpft und sie war leichenblass im Gesicht. Kein Wunder, sie musste unter Schock stehen, so wie er.
»Ruf die Polizei«, wollte er wiederholen, doch seine Stimme versagte.
Denn Dorothea hatte den Zeigefinger gehoben. Der Blick ihrer geweiteten Augen war auf ihn gerichtet. Nicht ängstlich, sondern anklagend. Sie zeigte auf ihn.
»Ich wusste es«, sagte sie heiser. »Ich wusste, dass du dich so entscheiden würdest.«

(K)ein Klacks

»Herr von Eschenbach?» Ich zuckte zusammen, als ich meinen Namen hörte, und sah zu Anna. Sie lächelte freundlich, aber ich wusste, dass sich hinter diesem hübschen Gesicht eines typischen Wiener Mädels der messerscharfe Verstand ihres Vaters befand. »Der Herr Professor lässt bitten!«
Ich erhob mich und ging in den Raum hinter der schalldicht gepolsterten Tür. Doktor Froid saß wie immer in seinem Fauteuil, ein Bein über das andere gelegt, sein schwarzes Notizbuch und den Füller in der Hand. Trotz der Hitze im Raum trug er seinem dreiteiligen Anzug und ein blütenweißes Hemd mit Vatermörder. Er grüßte mit einem Lächeln hinter dem Knebelbart und ein stummes Nicken wies zum Sofa, das er in seiner antiquierten Sprache Ottoman nannte. Ich wusste, was ich zu tun hatte.
Nachdem ich mir die Schuhe ausgezogen hatte, legte ich mich hin, steckte ein Kissen unter meinen Nacken und begann langsam bis dreißig und wieder zurück zu zählen, wie er es mich gelehrt hatte, und versuchte den Strand von Livorno zu visualisieren. Es gelang nicht.
»Können wir Äneas?«, fragte er.
Ich nickte stumm.
»Ich habe Ihren Text erhalten und ihn aufmerksam gelesen«, begann er, »und obwohl meine Kenntnisse über Literatur doch eher bescheiden sind, finde ich ihn höchst bemerkenswert!«
Er ließ eine kurze Pause entstehen, als ob er nun auf eine Gegenfrage von mir warten würde, aber ich schwieg weiter. Die stand ja ohnehin schon in dem Mail, dass ich ihm geschrieben hatte. Dieser Traum, der mich seit Wochen quälte und mir keine Ruhe gab, weder am Tag noch in der Nacht.
»Wobei ich aber gar nicht diese absurde Situation meine, die Sie in ihren Text schildern«, fuhr er schließlich fort, »sondern die überaus interessanten Archetypen, die wir darin finden, sowie die aussagekräftige Symbolik.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich nun. Es tat mir schon leid, ihm diesen Textentwurf geschickt zu haben, als ich auf Senden gedrückt hatte, aber jetzt war es passiert und nun musste ich wohl oder übel da durch.
»Nun ja, das Ehepaar Berger in Ihrer Geschichte, das sind ganz deutlich Ihre Eltern, Äneas. Machen wir uns nichts vor. Hier stimmt einfach alles, was ich auch aus den bisherigen Sitzungen von Ihnen weiß. Das kleinbürgerliche Milieu, der sonntägliche Kirchgang, sogar die Eurozeichen auf der Krawatte des Mannes – ein deutlicher Hinweis auf den Schwerpunkt des finanziellen Erfolges, den ihr Vater Zeit Ihres Lebens so hervorkehrte und der sie, wie sie selbst schon oft zugaben, bis zur Weißglut reizte.«
Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss und meine Hände zu zittern begannen. Ja, er hatte recht, aber war es wirklich das, was ich geträumt und schließlich geschrieben hatte?
»Ich hasse meinen Vater aber nicht so sehr, dass ich ihm das, was ich hier beschrieb, vergönnt wäre.«
»Das will ich Ihnen gerne glauben, Äneas. Aber was Sie hassen, ist eben diese Kleinbürgerlichkeit, die sie nun in ihrem Text sinnbildlich und systematisch zerstören.«
»Zehntausend Euro wären für meinen Vater ein Klacks!«, platzte ich heraus.
»Oh, es geht in ihrem Traum gar nicht um Geld, mein Lieber«, erklärte Professor Froid weiter, „Das Geld ist hier nur stellvertretend für etwas anderes, das für Sie viel wichtiger ist, als ihren Vater um eine solche Lappalie zu erleichtern!“
„Und um was, bitte?“
Der Professor ließ sich wieder etwas Zeit, in der Hoffnung, ich würde selbst draufkommen. Aber mein Ich weigerte sich noch immer die Realität zu akzeptieren.
„Um Anerkennung!“, sagte er schließlich, „schlicht und einfach um Anerkennung. Etwas das Sie, wie Sie seit der ersten Sitzung immer wieder betonen, angeblich nie von ihm bekamen. Oder nicht in jenem Ausmaß, indem Sie es sich wünschten.“
Ich erwiderte nichts. Etwas drückte mir den Hals zu, Ich spürte, wie sich eine Träne aus meinem Augenwinkel löste und langsam Richtung Mundwinkel floss.
„Und deswegen lassen Sie ihn in Ihrem Traum – und später in dem Text, woraus, so wie ich Sie kenne, Ihr neuer Roman entstehen soll – auf peinlichste Weise vorführen. Der Suizident in Ihrer Geschichte, das ist nämlich niemand anderer als Sie selbst. Und damit das alles auch seine volle Wirkung entfaltet, verleihen Sie dem Ganzen öffentliche Aufmerksamkeit, in dem Sie es von einer dritten Person filmen und ins Internet hochladen lassen. Ganz klar: Sie wollen, dass alle Welt weiß: Dem berühmten Bestsellerautor Äneas von Eschenbach wird von allen Respekt und Wertschätzung entgegengebracht, nur nicht vom eigenen Vater!“
Nun flossen mir aus beiden Augen Tränen. Mit einem tiefen Schluchzen setzte ich mich auf. Professor Froid hielt mir ein Stofftaschentuch, auf das seine Initialen gestickt waren, hin.
„Nehmen Sie ruhig“, sagte er, „Es ist sauber. Anna hat es sogar gebügelt.“
Ich schnäuzte mich kräftig hinein, suchte nach einer Ablage dafür, fand keine und steckte es einfach in meine Hosentasche. Bei der nächsten Sitzung würde ich es ihm wiederbringen. Gewaschen und gebügelt natürlich.
„Sie haben recht“, sagte ich, als ich mich beruhigt hatte. „Als ich das letzte Mal meine Eltern besuchte, fand ich im Bücherschrank meines Vaters das Gesamtwerk meiner beiden Kontrahenten Florian Witzik und Franz Schützling. Von mir hingegen hatte er nur mein Erstlingswerk „Die Judas-DVD“. Nur dieses eine, nichts sonst.“
Professor Froid machte sich einige Notizen und nickte bedeutungsvoll. „Dann haben wir ja eine Menge aufzuarbeiten in den nächsten Sitzungen.“
Ich nickte stumm und schniefte noch einmal auf. „Und was mache ich jetzt mit diesem Text?“
Der Professor zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung“, sagte er, „Ich gebe solche Traumaufzeichnungen immer meinen Studenten als Lehrbeispiele.“
Okay, dachte ich, gar keine schlechte Idee. Dann hatte ich endlich die Story, die ich dem Literaturforum Daktylus versprochen hatte und mit der ich ohnehin schon eine Woche in Verzug war. Mal sehen, was die damit anfangen konnten.

(C) Gschichtldrucker / Christian Luksch

Dorothea Berger hatte lauschend in der Tür zwischen Diele und Wohnbereich verharrt, um herauszufinden, mit wem sich ihr Mann unterhielt. Sehen konnte sie niemanden, denn wegen der vorgelegten Sicherheitskette ließ sich die Haustür nur einen Spalt breit öffnen. Doch jetzt stand ihr Mann vor der geschlossenen Tür mit einem Ausdruck im Gesicht, als wäre er dem Leibhaftigen begegnet.

»Wer war das, Rich? Und was war das für ein furchtbarer Knall?«

»Du sollst die Polizei rufen! Da hat sich eben ein Kerl direkt vor unserer Tür erschossen und sein Kumpel hat alles gefilmt!« Mit einem leisen Aufschrei des Entsetzens löste sich Dorothea aus ihrer Erstarrung.

Vor Richard Bergers Augen lief die absurde Szene wieder und wieder in Dauerschleife ab. Er fühlte sich entsetzlich hilflos. Wie verhielt man sich in einer solchen Situation? Er ging in die Küche, wo seine Frau mit dem Handy stand und gerade in harschem Tonfall sagte: »Entschuldigung, das weiß ich auch nicht! Sie sollten sich lieber selbst einen Eindruck verschaffen!«

Berger schwankte. Das Bild der explodierenden Blutwolke hinter dem Selbstmörder hatte sich in seine Netzhaut geätzt. Wie ein gefällter Baum war der Graubärtige nach hinten gekippt. Er löste seinen Krawattenknoten und den obersten Kragenknopf, schluckte und ging ins Bad. Gerade rechtzeitig, denn plötzlich wurde ihm übel und er übergab sein, noch vor Kurzem in häuslicher Harmonie genossenes, Sonntagsfrühstück der Kanalisation.

Während er sich anschließend Gesicht und Hände wusch, blickte er in sein Spiegelbild über dem Waschbecken. Wie wenige Augenblicke unser Leben im Nullkommanichts komplett verändern, dachte er. Als er sich heute früh rasiert hatte, hatte ihn das Spiegel-Ich eines immer noch attraktiven Mittvierzigers angeschaut, der wieder vor Lebenslust, Zukunftsperspektiven und kreativer Ideen sprühte, trotz seiner, durch Fehlinvestitionen verursachten, finanziellen Verluste. Jetzt erinnerten ihn die glanzlosen Augen erneut an Richard, den Loser, und seine unrühmliche Vergangenheit. Wie hatte der jüngere Typ ihn tituliert? Ausbeuter. Kapitalist. Schwein! Und was sollte diese Geldforderung? Zehntausend Euro. Brachte man sich dafür um? Vielleicht hatte der Typ Mietrückstände und ihm drohte die Obdachlosigkeit. Oder benötigte die Summe für eine lebensrettende Operation eines Angehörigen. Warum ausgerechnet diese Summe? Verlangten ›normale‹ Erpresser nicht üblicherweise sehr viel mehr? An irgendetwas erinnerte ihn der Betrag, aber in seiner momentanen Verwirrung gelang es ihm nicht, den Gedanken festzuhalten.

Neuerlich wurde sich Berger der Absurdität des Geschehens bewusst. Ob der, der das gefilmt hatte, noch immer da draußen war? Und wenn er das Video veröffentlichte? Was könnte das beweisen, außer dass Richard das Opfer ist und nicht der … Tote. Er hielt die Endgültigkeit, die dieser Tatsache zugrunde lag, kaum aus. Und was sollte er selbst der Polizei erzählen – kein Wort würde man ihm glauben. Er konnte es kaum selbst. Lauter Fragen, keine Antworten. Hoffentlich würde die Polizei eine Erklärung finden. Dorothea klopfte an die Tür.

»Liebling, alles in Ordnung? Kann ich dir helfen, Rich?«

Richard Berger schloss den Kragenknopf und begann seine Krawatte zu richten, als er es bemerkte. Wieder drohte er aus dem Gleichgewicht zu geraten, denn er war sich zu einhundert Prozent sicher, am Morgen die Krawatte mit den goldenen Euro-Zeichen angelegt zu haben. Hatte Dorothea nicht sogar noch spitz bemerkt, dass sie das Muster unangemessen für den Gottesdienst fand? Warum nestelte er aber jetzt an einem zwar ebenfalls grünen, aber gestreiften Schlips herum? Oder hatte er einfach vergessen, dass er sie gewechselt hatte? Was, zum Teufel, ging hier vor?

»Ich bin okay, Schatz«, log er und öffnete zögerlich die Tür, »wann kommen die Polizei und der Notarzt? Hat jemand gesagt, was wir bis dahin tun sollen?«

»Aber Rich, was ist denn bloß los mit dir, wirst du krank? Du stehst ja komplett neben dir! Warum sollte denn die Polizei kommen? Ich will ja nicht drängen, aber wir sollten jetzt los, wenn wir noch rechtzeitig zur Kirche wollen.«

Richard Berger fühlte sich tatsächlich hundeelend und verstand die Welt, zumindest seine eigene, nicht mehr. Er zog sich mechanisch fertig an und wappnete sich gegen den Anblick, der sich ihm und Dorothea gleich bieten musste, als er die Haustür öffnete.

Frau Hagedorn, die ältere Witwe, die in derselben Straße, nur wenige Grundstücke weiter wohnte, und die von den meisten Anwohnern hinter vorgehaltener Hand ›The Observer‹ genannt wurde, ging mit ihrem adipösen Dackel auf dem Bürgersteig an Bergers Gartentor vorüber und winkte ihnen grüßend zu. Doch von den beiden Fremden, nicht einmal von dem toten, war weit und breit nichts zu sehen!

Berger brach kalter Schweiß aus. Auf wackeligen Beinen ging er die paar Stufen hinunter auf den Plattenweg. Und da sah er ihn: Einen großen dunkelroten, feucht glänzenden Fleck, den das in den Sandstein gesickerte Blut hinterlassen hatte.

Die Polizei war so schnell da, als hatte sie am Imbiss der Nachbarstraße nur auf ihren Einsatz gewartet. Es hielten drei Streifenwagen. Der Filmende nahm ihr Auftauchen noch auf und schien dann vor ihnen zu fliehen. Aber Richard sah, wie der Mann nochmal sein Handy zum Namensschild schwenkte, mit dem Finger strafend in seine Richtung wies und zur Kamera sprach. Dann war der Verrückte verschwunden.
„Abschirmen!“, rief einer der Polizisten in sein Funkgerät. „Schnell jetzt!“ Die Polizisten arbeiteten jedenfalls viel eiliger, als der Notarzt. Sie sicherten die Straße und das geschmiedete Tor. Der Tote hatte keinen Vorrang. Einige Beamte verteilten sich im Garten, als wollten sie das Haus vor einen unbekannten Feind beschützen. Ein Beamter mit Halbglatze wedelte sie rückwärts in das Haus.
„Polizeioberkommissar Parlow. Wir müssen jetzt schnell sein!“, begrüßte er sie.
„Wir haben mit dem Tod des Mannes nichts zu tun, er …“
Der Kommissar unterbrach ihn unwirsch. „Wissen wir. Geld oder Selbstmord. Sie sind der dritte Fall, diese Woche in Deutschland.“
„Wie bitte?!“
„Ein Trend auf TicFlop und Finstergram. Aber darum geht es jetzt nicht.“
Er starrte den Polizisten fassungslos an. „Da liegt ein Toter vor meiner Haustür!“,schrie er fast. „Sie sagten es wäre meine Schuld! Wie kann es nicht darum gehen?“
Der Polizist wedelte erneut mit dem Finger vor seinem Gesicht. „Stop!“
„Höre ihn doch mal zu, Schatz!“, mahnte ihn jetzt auch noch seine Frau.
Nur mühsam zwang er sich zur Ruhe. Immerhin war der Kopf des bärtigen Fremden genau vor seinen Augen wie ein Kürbis explodiert, in dem jemand seinen Silvesterböller gezündet hatte. Seine Schuld? Von wegen! Eine ungewisse Empörtheit erfasste ihn.
Das Funkgerät vom Oberkommissar knisterte. „Zwei Verdächtige aus nördlicher Richtung. Süden noch frei.“
Kommissar Parlow nestelte nervös an seiner Halbglatze, als suche er Haare, die er noch raufen könnte. Dann wies er zur Frau.
„Suchen sie sich und ihren Mann ein paar Sachen zusammen. Sie müssen hier weg, können sie irgendwo hin? Ländlich und einsam bevorzugt? Und ist ihr Haus feuerversichert?“
Richard stockte der Atem. Er sah, wie seine Frau losstürmte, um eine Reisetasche aus der Kammer zu holen. Von der Nervosität des Kommissars angesteckt, stopfte sie panisch Kleidung in die Tasche.
„Nehmen sie auch wichtige Papiere mit!“
„Wieso sagen sie das?!“ Seine Stimme klang selbst ihn seinen Ohren schrill.
„Vier Verdächtige. Süden noch frei“, klang es aus dem Funkgerät. Es waren doch erst wenige Momente vergangen.
„Hören Sie zu“, begann Parlow erneut. „Der Selbstmord ist der Startschuss einer … Verfolgung.“
„Verfolgung?“
„Auf TicFlop. Fotos von ihnen, 5€. Kleidung, die sie am Leib tragen 50€. Das steigert sich dann bis 5000€. Natürlich muss es gefilmt werden. Einmal bekommen die Beteiligten das Geld, aber auch die Familie des Toten. Damit rechtfertigen sie diese Aktion.“
„Das klingt mir mehr nach einer Jagd!“
„Nunja, aber …“
„Was muss man denn für 5000€ machen?“
„Illegales“, wich ihm Parlow aus.
„Wie viele beteiligen sich daran?! Das ist doch Wahnsinn!“
„Hören Sie! Die meisten Menschen dort draußen sind kluge Köpfe, vor denen sie sich keine Sorgen machen müssen. Aber es gibt auch ein paar nicht so kluge Menschen. Gelangweilte Menschen. Normalerweise würden diese Leute nicht auffallen. Aber das Internet verbindet sie miteinander …“
„Können wir nicht zum Polizeirevier? Nehmen Sie diese Leute fest!“
Der Oberkommissar lächelte nervös. „Wir sind eine große Stadt mit einem kleinen Revier. Sie da drin zu beschützen würde es regelrecht lahmlegen. Erst bei echten Übergriffen können wir handeln. Damit das anders läuft, als die andere Male müssen sie weg. Kennen sie einen Ort?“
„Meine Mutter wohnt auf dem Land. 40 Minuten von hier, verschlafener Ort, kein Netz“, rief seine Frau aus dem Hintergrund. Sie schien die Sache viel schneller zu akzeptieren als er.
„Perfekt“, meinte Parlow.
„Im Norden sechs Verdächtige. Süden, zwei Verdächtige“, raunte es aus dem Funkgerät. „Die Typen im Süden lassen eine Drohne steigen.“
„Wir müssen jetzt los. Auch wenn es unüblich klingt. Fahren sie bitte Ihren Privatwagen.“
„Lola?“, rief er ins Funkgerät. „Du fährst bei ihnen mit und nimmst ihre Aussage auf! Wir eskortieren euch zur Stadtgrenze!“
Er verließ das Haus. Sah Gesichter am Zaun. Blicke von Fremden, die ihn zornig anstarrten, deren Gesichter er aber nie gesehen hatte.
Er setzte sich ans Steuer. Seine Hände waren schweißnass. Seine Frau und die im Funk benannte Lola, eine Polizeimeisterin „L. Walther“, setzten sich nach hinten.
Wurde er jetzt wirklich eskortiert? Aus der Stadt? Als hätte er tatsächlich einen Mord verübt.
Sie hörten das Summen der Drohne, die tief über den Rasen vorbeischwebte und ein Videoschnipsel von ihm aufnahm.
„Ein 5€er für das Internet“, sagte er mit bitterer Stimme. Dann startete er den Motor.

„Bist du sicher?“, fragte Dorothea Berger.

Energisch drückte Hannes auf Pause.
„Himmel, Arsch und Wolkenbruch!“, donnerte er.
„Was ist denn nun wieder?“, erklang Tinas Stimme aus der Küche.
„Vergiss es, vergiss es einfach!“ Hannes knallte die Fernbedienung auf den Couchtisch.
„Wovon zum Geier redest du?“ Tina lugte durch die Küchentür und es hätte eigentlich nur ein großes gelbes Fragezeichen über ihrem Kopf gefehlt.
„Wir werden uns diesen Schwachsinn nicht anschauen.“ Anklagend deutete er auf den Fernseher, von wo Richard Bergers Gesicht ihn wie eine Mischung aus Karl Dall und einer beliebigen Horrorfilmpanikattacke anstarrte.
„Maik hat gesagt, der Film sei genial“, meinte Tina und stemmte die Hände in die Hüfte, wie sie es immer tat, wenn sie nicht vorhatte nachzugeben.
„Dann hat Maik eine Schraube locker.“ Diesen Kampf würde er nicht verlieren.
„Und das willst du nach nicht mal zehn Minuten beurteilen können, ja?“ Da war jetzt auch noch die kleine senkrechte Falte zwischen ihren Augenbrauen. Verflucht.
„Mal ehrlich …“, sagte er, weil seine einzige Chance darin bestand faktische Überzeugungsarbeit zu leisten. „Da kommt einer an deine Tür, verlangt Geld und droht damit, sich selbst umzubringen. Soweit theoretisch in Ordnung. Merkwürdiger Plan, aber in Ordnung. Aber in dem Moment, wo er das Geld nicht bekommt, erschießt er sich? Wem nutzt denn das? Selbst, wenn er dazu gezwungen wurde, was hätte irgendwer davon? Das ist einfach dermaßen sinnfrei. Dafür kann es am Ende nur eine völlig an den Haaren herbeigezogene Auflösung geben und auf sowas habe ich einfach keinen Bock.“ Zur Bestärkung seiner Worte verschränkte Hannes demonstrativ die Arme.
Tina hingegen legte den Kopf schräg und setzte ein schelmisches Lächeln auf.
„Was steht da?“ Sie zeigte auf den Bildschirm.
„Zehntausend Euro?“ Das war der Titel und der machte es keinesfalls besser.
„Da drunter…“
„Ab 16“ Blut, Gehirnmasse, kein Wunder.
„Daneben!“ Hannes gewann den Eindruck, dass Tina etwas ungehalten wurde.
„Mystery-Thriller?“
„Eben!“, sagte Tina mit einer Bestimmtheit, als hätte er soeben den Sinn des Lebens entschlüsselt.
„Und?“ Er verstand es nicht.
„Bedeutet, dass diese Geschichte noch eine sehr düstere und vermutlich übernatürliche Wendung nehmen wird.“
„Meinst du?“, fragte er zweifelnd.

„Ganz bestimmt!“, sagte Richard Berger.

Richard Berger stand wie erstarrt am Fenster. Trotz eiskalter Hände, lief ihm der Schweiß übers Gesicht und in die Augen. Die Gardine hielt er einen kleinen Spalt weit beiseite, um die Geschehnisse vor seinem Haus zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Mit der anderen Hand tupfte er sich mit der Krawatte den Schweiß von der Stirn.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hielt ein Streifenwagen vor seinem Haus, gefolgt von einem schwarzen Rolls-Royce. „Ein Leichenwagen?“, wunderte sich Berger. „So schnell?“

Zwei Polizisten stiegen aus dem Streifenwagen und zogen ihre Waffen, um die Umgebung zu sichern. Auf der Beifahrerseite des Royce stieg eine Frau aus, die jedoch weder wie eine Bestatterin noch wie eine Polizistin wirkte. Ihr langer, roter Mantel fiel dramatisch über ihre Schultern und erinnerte an ein Magiergewand – vielleicht wegen der Kapuze oder dem auffälligen Emblem auf der Brust.

„Wer ist das denn?“, murmelte Berger zu sich selbst und hörte dabei seine Halsschlagader pochten.

„Schauen wir uns um.“, befahl die Frau, und während sich die uniformierten Polizisten vorsichtig dem reglosen Körper näherten, ging sie mit entschlossenen Schritten auf das Haus zu.

Berger öffnete die Tür einen Spalt, die Sicherheitskette war immer noch vorgelegt. „Ja?“

„Herr Berger?“ fragte die Frau mit einer Stimme, die Autorität ausstrahlte. Sie hob einen Ausweis in die Höhe. „Kriminalkommissarin Lydia Winter. Haben Sie die Polizei verständigt?“

Richard Berger nickte wortlos, obwohl eigentlich Dorothea den Anruf getätigt hatte. Durch den Türspalt konnte er direkt auf den toten Körper im Vorgarten blicken: er war immer noch da – ausgebreitet wie ein durch Krähen aufgerissener Müllsack.

„Machen Sie bitte die Tür auf, aber bleiben Sie im Haus“, wies Winter ihn an.

Als Berger die Tür öffnete, gab sie den Beamten mit einem Nicken das Signal, ihn zu durchsuchen. Mit bestimmter Stimme fragte sie: „Dürfen meine Kollegen das Haus betreten, um nach dem Rechten zu sehen?“ Überrumpelt nickte Berger nur.

„Haben Sie draußen irgendetwas verändert oder angefasst, bevor wir kamen?“, hörte er die Kommissarin fragen.

„Nein“, antwortete er mit brüchiger Stimme. „Ich habe direkt die Tür geschlossen und gewartet. Mehr nicht.“

„Gut.“ Ihre Augen schienen ihn einen Moment zu durchleuchten, als wolle sie etwas in ihm lesen.

In der Zwischenzeit waren weitere Wagen eingetroffen. Berger sah zu, wie Männer in Schutzoveralls umher wuselten. In einiger Entfernung kamen Schaulustige, die von der Polizei zurückgedrängt wurden.

„Was genau ist passiert?“ holte die Kommissarin Berger aus seinen Gedanken zurück.

Berger schilderte bildlich den Vorfall: die Drohung, den Schuss und die Anklagen des Mannes mit dem Handy. Winter hörte ihm aufmerksam und schweigend zu. Doch bevor er seine Erzählung beenden konnte, rief einer der Männer von draußen: „Kommissarin?“

Lydia Winter blickte zurück und, als er sie zu sich winkte, ging zu ihrem Kollegen hinüber. „Was haben Sie?“

„Wir haben ein Smartphone gefunden, direkt neben der Leiche“, erklärte der Mann und hielt das Gerät hoch. „Ich glaube, es ist immer noch entsperrt. Und darauf ist ein Video gespeichert.“

Auch Richard Berger trat näher und spähte der Kommissarin über die Schulter, als sie das Smartphone an sich nahm und mit dem Zeigefinger auf den Play-Button tippte.

Das Video begann zu laufen. Es zeigte sein Haus, gefilmt aus der Perspektive der beiden Männer, die auf den Eingang zuschritten. Der jüngere der beiden hielt die Kamera im Selfie-Modus, während er in die Linse sprach:
„Wir sind jetzt auf dem Weg zu Richard Berger“, erklärte er und zeigte auf den bärtigen Mann neben sich. „Dieser Mann wurde von ihm bei einem Aktiengeschäft um zehntausend Euro betrogen. Er braucht das Geld aber für eine lebensrettende Operation. Heute holt er sich zurück, was ihm zusteht.“

Anschließend entwickelte sich die Szene genau so, wie Berger es der Kommissarin geschildert hatte – bis auf ein entscheidendes Detail. Der bärtige Mann sprach deutlich hörbar in die Kamera: „Geben Sie mir meine zehntausend Euro zurück. Wenn Sie es nicht tun, bringt mich das um.“

Dann schwenkte die Kamera zum jüngeren Mann, der mit eindringlicher Stimme bekräftigte: „Geben Sie ihm zehntausend Euro. Sie haben es, und er braucht es.“

Auf dem Bildschirm sah Berger sich selbst ungehalten brüllen: „Sie sind ja verrückt. Wie stellen Sie sich das vor? Ich kann doch nicht irgendjemandem einen Haufen Geld geben, nur weil er an meiner Türe klingelt.“

Plötzlich änderte das Video seine Richtung. Die Aufnahme zeigte, wie Berger eine Schusswaffe zog, sie auf das Gesicht des bärtigen Mannes richtete und abdrückte. Der Knall war auf dem Video ohrenbetäubend. Der bärtige Mann sackte zusammen, und die Kamera fiel zu Boden, während das Bild schwarz wurde. Zu hören war nur noch: „Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!“. Die Videoaufnahme lief anscheinend weiter, bis der Polizist sie unterbrochen hatte.

Berger starrte auf das Smartphone, seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Das… das ist eine Lüge! Das bin ich nicht! Das ist ein manipuliertes Video!“ Seine Stimme überschlug sich, während er sich umständlich rechtfertigte: „Ich hatte keine Waffe! Ich habe noch nie eine Waffe besessen! Das ist so nicht passiert!“

Lydia Winter ließ das Smartphone langsam sinken. Die Überraschung stand ihr förmlich im Gesicht.

Doch Berger fuhr herum und stürmte ins Haus „Meine Frau!“, rief er, als hätte er plötzlich die rettende Idee. „Dorothea kann bezeugen, dass ich keine Waffe hatte! Sie hat alles gesehen, sie hat alles mitangesehen!“

„Dorothea!“ rief er nach oben, seine Stimme überschlug sich vor Panik. „Dorothea, bitte komm runter! Wo bist du?“

Doch das Haus blieb still.

Offene Enden – zweiter Teil

Zehntausend Euro

„Richard?“, entgegnete seine Frau, die bereits im Flur stand, mit vor Schreck geweiteten Augen, „ist alles in Ordnung?“

„Ruf die Polizei, Dorothea“, entgegnete er erneut mit Nachdruck und steuerte beinahe schon von allein auf den Stahlschrank im Wohnzimmer zu, wo er sein Jagdgewehr aufbewahrte. Dies war die einzige Reaktion, die ihm sein Verstand derzeit zeigte.

Seine Frau war jedoch vollkommen verunsichert. Anstatt zum Telefon zu gehen und die Polzeit zu rufen, stellte sie weitere Fragen: „Was ist los, was war das für ein Knall?“

Richard hielt kurz inne, drehte sich seiner Frau zu und packte sie an den Schultern. Dann atmete er einmal tief ein und wieder aus. Um eine ruhige Tonlage bemüht, sagte er: „Bitte, Liebes, vor unserer Haustür hat sich gerade ein Mann selbst erschossen. Ruf die Polizei an.“

Seine Frau schwieg zunächst, während sie versuchte, diese Information zu verarbeiten. Dann jedoch überwand sie den Schreck, setzte einen ernsten Gesichtsausdruck auf und nickte. Anschließend verließ sie den Flur in Richtung Küche, wo ihr Handy lang.

Als Richard kurz darauf seinen Weg fortsetzen wollte, begann er, seine eigene Schockreaktion noch einmal zu überdenken. Was tat er hier eigentlich und was zur Hölle wollte er mit dem Jagdgewehr? Ja, der Mann hatte eine Waffe, jedoch ist Richard zu keiner Zeit direkt bedroht worden. Selbst wenn! Wollte er mit dem Jagdgewehr etwa wild um sich schießen wie in einem schlechten Western?

Das war absurd. Er konnte sich noch nicht mal richtig daran erinnern, wie das Ding überhaupt funktionierte. Er hatte den Waffenschein und die Waffe nur, weil sein Vater vor 16 Jahren darauf bestanden hatte, dass er an dessen Hobby teilnahm. Seit der bestandenen Prüfung lag es unbenutzt im Schrank.

Richard schüttelte sich und versuchte, den Schock zu verdrängen, um einen logischeren Schluss zu fassen. Die beiden Männer waren offensichtlich psychisch krank und brauchten Hilfe. Einer von ihnen hatte sich in seinem Wahn sogar selbst getötet. Oder? Hatte er sich wirklich in den Kopf geschossen oder war es am Ende nur ein Streifschuss? Es war alles so furchtbar schnell gegangen. Plötzlich kam ihm seine erste Reaktion, die Tür zuzuschlagen, vollkommen lächerlich vor. Vielleicht war der Mann gar nicht tot, sondern verletzt und brauchte Hilfe!

Mit diesem Gedanken drehte er auf dem Absatz um und ging zur Tür zurück. Als er nach der Klinke griff, hörte er Dorothea bereits in der Küche telefonieren. In dem Moment, in dem er die Türklinke berührte, drückte er sie sofort nach unten und öffnete diese, um der Furcht keine Chance zu geben, ein Argument vorzutragen.

Auf dem Plattenweg am Ende der kleinen Treppe lang immer noch rücklings der ältere Mann. Der obere Teil seines Schädels endete in einer breiigen Masse und eine Blutpfütze breitete sich rings um seinen Kopf aus. Ihm konnte man definitiv nicht mehr helfen.

Auch wenn er bereits geahnt hatte, was ihn erwartete, überkam ihn bei dem Anblick Übelkeit und er zwang sich, den Blick abzuwenden. Stattdessen suchte er in seinem Vorgarten nach dem anderen Mann, von dem jedoch nichts zu sehen war. Sein Blick blieb schließlich an etwas auf dem Boden hängen:

Ein Smartphone!

„Richard? Bist du etwa da draußen?“, hörte er unvermittelt Dorotheas Stimme hinter sich.

Schnell drehte er sich um, zog die Tür hinter sich zu und erwiderte: „Bleib im Haus, das willst du nicht sehen!“

„Komm bitte wieder nach drinnen!“, flehte seine Frau, wobei ihr die Sorge deutlich anzuhören war, „die Polizei ist in zehn Minuten hier, die können sich dann um alles kümmern.“

„Einen Moment, ich komme gleich rein. Warte drinnen, Dorothea!“, antwortete er knapp.

Natürlich hatte seine Frau recht. Er sollte nicht hier draußen rumrennen. Nicht nur, dass der andere Mann erneut auftauchen und ihm gefährlich werden könnte, zudem war sein Vorgarten ja jetzt irgendwie ein Tatort. Er sollte zurück ins Haus gehen und auf die Polizei warten – aber er konnte nicht.

Sein Blick war nach wie vor auf das Smartphone gerichtet. Die Situation war so verworren. Warum hatte sich der Mann erschossen, wieso wollte er die 10.000 Euro von ihm und warum hatte der andere diesen Wahnsinn auch noch gefilmt, nur um dann doch sein Handy liegen zu lassen? So viele Fragen: Er musste mehr wissen!

Noch bevor er richtig darüber nachdenken konnte, ging er die Treppe hinab, machte einen großen Schritt an der Leiche vorbei und bewegte sich auf das Smartphone zu. Dort angekommen blickte er auf das auf dem Rücken liegende Gerät hinab und erschrak.

Der Mann hatte gar nicht gefilmt. Auf dem Display lief eindeutig ein Videoanruf. Richard sah genauer hin und erkannte die Silhouette einer Person. Eine Silhouette, die sich leicht nach vorn beugte. Er riss die Augen weit auf, als ihm klar wurde, dass die Übertragung nach wie vor aktiv war.

Seine Neugier bezwang sein Unbehagen und ohne Rücksicht darauf, dass es sich um ein Beweismittel handeln könnte, hob er das Gerät auf. Er sah sich das Bild genauer an, doch die Person, vermutlich ein Mann, saß in einer so überbelichteten Perspektive, dass lediglich ein Schemen zu sehen war.

„Ihre Gier hat diesen Mann umgebracht, Herr Berger“, Richard hätte vor Schreck beinahe das Telefon fallen lassen. Nicht wegen der unerwarteten Stimme, die aus dem Gerät kam. Viel mehr, weil diese Stimme ihn mit seinem Namen ansprach.

„Was? Nein!“, protestierte Richard.

Diesen Vorwurf wollte er nicht auf sich sitzen lassen: „Der Mann hat sich selbst umgebracht. Ich kann doch keinem dahergelaufenen Typen einfach ohne Grund 10.000 Euro geben!“

„Ach nein?“, fragte die Stimme mit einem bösartigen Unterton, „als Thorsten Liebel vor drei Monaten 11.200 Euro von Ihnen haben wollte, haben Sie nicht NEIN gesagt und sie ihm mit Freuden gegeben. Sie können also sehr wohl. Ihnen ist die Chance darauf, Ihr Vermögen zu mehren, lediglich wertvoller als ein Menschenleben.“

Richard lief es eiskalt den Rücken hinunter, als der Unbekannte nicht nur den Namen seines Investmentbankers nannte, sondern auch die genaue Summe, welche ihm Richard damals gegeben hatte, um in sein vermeintlich todsicheres Aktiengeschäft zu investieren. Woher wusste dieser Kerl das alles? Nun bekam er es doch mit der Angst zu tun.

Als er gerade überlegte, das Handy einfach fallen zu lassen und zurück ins Haus zu gehen, sprach die Stimme erneut. Dieses Mal klang sie jedoch wesentlich zorniger: „Ihr Kapitalistenschweine widert mich an. Diese ganze Stadt ist krank und ihre Moralvorstellungen sind vollkommen verkümmert. Sie setzten Tausende einfach aus Gier und Leichtsinn in den Sand, während in anderen Stadtteilen Leute auf der Straße leben und verhungern. Heute werden Sie eine Lektion lernen, Herr Berger. Heute werde ich Ihnen zeigen, wie lächerlich Ihr ach so wertvolles Geld im Vergleich zu einem Menschenleben ist. Im Anschluss an dieses Gespräch werde ich auf dieses Gerät einen Namen und eine Adresse senden. Sie haben dann sechs Stunden Zeit, diese Person dazu zu bringen, Ihnen 10.000 Euro ohne eine Gegenleistung zu überlassen. Wenn Sie das nicht schaffen, müssen Sie sich umbringen. Rufen Sie diese Nummer an und übertragen entweder das eine oder das andere.“

Richard kniff die Augen zusammen und ein plötzlicher Zorn überkam ihn. Wütend entgegnete er: „Seid ihr denn alle vollkommen wahnsinnig geworden, wieso sollte ich so etwas Dämliches tun? Ich werde das Smartphone der Polizei übergeben und denen können Sie dann Ihre Verrücktheiten erzählen!“

Anstatt einer Antwort schwenkte der Kamerawinkel auf dem Display herum. Nun waren die Lichtverhältnisse besser und man sah deutlich eine auf einem Stuhl gefesselte junge Frau.

„Selin!“, entfuhr es Richard schockiert und sein Herz setzte für einen Moment aus, als er die weinende und um ihr Leben flehende Frau als seine Tochter identifizierte.

„Sechs Stunden, Herr Berger“, fuhr die Stimme nun ruhig fort, „entweder erhalte ich einen Videoanruf mit einem der beiden beschriebenen Ereignisse von Ihnen, oder Ihre Tochter wird den Preis für Sie bezahlen. Wenn Sie irgendjemandem hiervon erzählen, stirbt sie ebenfalls. Nun erfahren Sie am eigenen Leib, wie es ist, wenn man mit einem Kapitalisten über den Wert eines Lebens verhandeln muss.“

Kurze Zeit später standen Richard Berger und seine Frau am Küchenfenster und beobachteten, wie der erste Streifenwagen vorfuhr. Die Polizeibeamten stiegen aus, bahnten sich durch die dichte Traube herbeigeeilter Nachbarn einen Weg zum Gartentor und betraten den Vorgarten, in dem der jüngere Mann immer noch neben dem Toten stand und das Geschehen um sich herum mit dem Handy filmte.
Dorothea war ganz blass geworden. Ihre Hände hatten zu zittern begonnen, nachdem sie die Polizei angerufen hatte. Inzwischen bebte sie am ganzen Körper.
Richard selbst war zwar ebenfalls zutiefst erschüttert, konnte sich keinen Reim auf das Geschehen machen, doch schien ihm die heftige Reaktion seiner sonst so gelassenen Frau seltsam.
Die Beamten näherten sich der Eingangstür, Richard stand schon dahinter und legte gerade die Hand auf die Klinke, um sie hereinzulassen, da flüsterte Dorothea mit deutlicher Panik in der Stimme: »Nicht! Warte! Lass sie noch nicht rein. Ich muss dir erst noch etwas Wichtiges erzählen.«
Richard drehte sich irritiert zu ihr herum.
»Ich kenne den Toten«, gestand Dorothea leise und blickte zu Boden. Richard traute seinen Ohren nicht.
»Ich bin wahrscheinlich verantwortlich dafür, dass er das Geld brauchte.« Pause. Es klingelte an der Tür. »Aber er dachte, du wärst schuld.«

Nach der Ankunft eines Streifenwagens mitsamt zweien jungen Polizisten erlebte die ruhige Straße des besseren Wohnviertels eine völlig ungewohnte, neue Situation. Zwei weitere Streifenwagen blockierten die Zugänge der Straße an beiden Enden von und ein Krankenwagen die gesamte Straße vor Bergers Grundstück. Zwei Lieferwagen der Kriminaltechnik parkten auf beiden Bürgersteigen, Absperrbänder flatterten und immer mehr Menschen bevölkerten Bergers Vorgarten.

Dies alles wurde aufmerksam durch ein bernsteinfarbenes Augenpaar beobachtet, dem nicht die kleinste Bewegung entging. Zu den ungewöhnlichen Augen gehörte ein reinweißes Fell mit schwarzen Pfoten. Beide Ohren waren ebenfalls schwarz, als hätte man sie einer schwarzen Katze abgeschnitten und dieser weißen Katze aufgesetzt. Wie bewegliche kleine Hörner zuckten und drehten sie sich zu jedem ungewohnten Geräusch und fügten die erhaltenen Informationen zu denen, die von den Augen gesammelt wurden. Niemand beachtete den putzigen Schmusetiger. Warum auch? Er lag auf dem Sims des Wohnzimmerfensters neben der Eingangstür, hoch genug über dem Rasen und somit weit genug entfernt von dem für die Menschen viel interessanteren Tatort.

Seit zwei Stunden wuselten Menschen umher, fotografierten, pinselten Grafitpulver auf alle Oberflächen zwischen Garten- und Haustür, stellten Zahlenschildchen neben potentielle Spurenträger und redeten durcheinander. Das war eine kleine Herausforderung für die schwarzen Katzenohren, denn sie wollten ja kein Wort verpassen.

Nun kamen bereits zwei Sargträger heran, denen von den Sanitätern Platz gemacht wurde, um die Leiche abzuholen. Neugierig beobachteten die Bernsteinaugen, wie sich die Sargträger abmühten, nicht in die große Lache aus Blut und Gehirnmasse zu treten und den toten, inzwischen blickdicht verpackten Körper dennoch möglichst würdevoll abzutransportieren.
«Schade eigentlich», dachte die Katze. Sie hätte diesen gelungenen Anblick noch eine Weile genießen können.
«Gar nichts gefunden? Überhaupt gar nichts?», fragte ein Mann in Zivilkleidung einen der Kriminaltechniker. Dieser schüttelte stur den Kopf.
«Keine Brieftasche, Geldbeutel, Schmuck mit Gravierungen, Tätowierungen. Nichts!» Er hob den Zeigefinger wie ein Lehrer. «Interessant ist nur, dass er keine Fingerabdrücke hat. Also keine Papillar-Linien. Die hat er sich weggeätzt. Sehr schmerzhaft.» Die Katzenohren drehten sich wie spitze Radarschüsseln zu dem Sprecher.
«Geht das denn? Also… ich meine, funktioniert das dauerhaft?», fragte der zivile Polizist. Die Antwort kam prompt und lakonisch.
«Nö. Also ja, kann man machen. Aber dann bildet sich Narbengewebe, das genauso individuell ist wie ein Fingerabdruck. Glaub aber nicht, dass wir die im System finden.» Der Zivilpolizist seufzte, die Katze schnurrte zufrieden.

Nun drehten sich erst die Ohren, dann der Katzenkopf zum Fenster hinter ihr. Im Wohnzimmer saß das verstörte Ehepaar Berger vor einem Kommissar, der sie skeptisch musterte.
«Haben Sie denn nicht gefragt, warum er das Geld braucht und warum er sich umbringen will?»
«Es ging alles viel zu schnell! Das habe ich doch alles schon erklärt.» Richard Berger wirkte genervt bei seiner Antwort. Seine Frau griff beruhigend nach seiner Hand und drückte sie.
«Sie wären doch genauso verwirrt, wenn plötzlich zwei Fremde mit so einer Forderung vor Ihrer Tür stehen.», sprang sie ihrem Mann zur Seite.

Ein Ohr der Katze kippte in Richtung Garten. Sie lauschte einen Moment, dann beschloss sie, sich dem Geschehen im Wohnzimmer näher zu widmen. Geschmeidig erhob sie sich, schubste das angelehnte Fenster mit der Pfote etwas weiter auf und sprang in den Raum. Sie spürte den kurzen Blick des Kommissars, ignorierte den Mann aber, sprang auf das Sofa und rollte sich schnurrend neben Berger zusammen. Unbewusst und ohne hinzusehen, strich Berger über ihren Rücken. Sie schnurrte lauter.

Ihre Ohren zuckten, als der Zivilpolizist das Wohnzimmer betrat und sich neben den Kommissar stellte. Es war genau der, den die Katze bereits eben im Garten gehört hatte. Er raunte etwas, was weder Berger noch seine Frau verstanden. Die Katze hörte es genau.
«Die Kollegen aus der IT haben das gerade im Darknet entdeckt. Es wurde vor wenigen Minuten online gestellt. Sie versuchen es zu sperren.» Die beiden Männer teilten sich das Headset, jeder stopfte sich einen Ohrstecker in sein Ohr. Der Kommissar starrte auf das Video, das nun abgespielt wurde. Für die Katze war es offensichtlich, dass beide zusammenzuckten, als der Schuss in ihren Ohren dröhnte.
«Verdammt!», fluchte er sehr laut.
«Sehr gut!», schnurrte die Katze und rollte sich auf den Rücken.

»Nein«, antwortete Dorothea mit einer überraschend kräftigen Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

Richard Berger wandte sich erstaunt um und starrte ungläubig zu seiner Frau, die nun ebenfalls ein Handy auf ihn gerichtet hielt. Ihre Augen starrten an ihm vorbei auf das Handydisplay, so wie Menschen es normalerweise tun, wenn sie ein Video aufnehmen.

»Dorothea, was machst du da?!« Seine Worte klangen mehr wie eine entsetzte Feststellung, weniger wie eine Frage. Berger spürte, wie seine Knie nachgaben, aber es hatte in seinem Leben weiß Gott schon einige schlimme Situationen gegeben, in denen er gelernt hatte – ja, lernen musste – Fassung zu bewahren. »Was geht hier vor? Kennst du diese Verrückten etwa?«

Dorothea nickte langsam und trat näher an ihren Mann heran, das Handy nach wie vor auf ihn gerichtet. »Es ist ein Spiel, Richard.«

»Ein Spiel? Bist du verrückt? Ich ruf jetzt die Polizei.« Mit hastigen Schritten ging er zu dem altmodischen Festnetztelefon, das seit Jahren auf dem Tischchen neben der Eingangstür stand und monatliche Rechnungen heraufbeschwor, obwohl es kaum benutzt wurde. Er hob den Hörer ab, begann 1-1-2 zu wählen und murmelte währenddessen laut genug, damit sie es hören musste: »Vor unserer Haustür liegt ein Toter. Und du erzählst mir was von einem Spiel.«

»Er ist nicht tot, Richard.«

Irritiert nicht nur von der Tatsache, dass Dorothea ihn erneut beim Vornamen nannte – das tat sie normalerweise nur, wenn sie sich Streit hatten – sondern mit welcher Gelassenheit sie auf dieses entsetzliche Erlebnis reagierte, ließ Berger den Hörer wieder sinken. Sie musste unter Schock stehen. Er wandte sich zurück zur Eingangstür und schaute durch den Spion. Tatsächlich waren beide Männer verschwunden. Lediglich die Pfütze mit dem Kunstblut — Berger hoffte inständig, dass es Kunstblut war — erinnerte an den Vorfall vor wenigen Minuten. Hoffentlich war der Fleck von der Straße aus nicht sichtbar, dachte Berger und sah die neugierigen Nachbarn vor sich, bei denen schon Panik ausbrach, wenn man am falschen Wochentag die Mülltonnen an die Straße stellte. Sogleich schüttelte er den Kopf über diese völlig absurden Gedanken. Wahrscheinlich stand auch er unter Schock.

Ehe er etwas sagen oder fragen konnte, erklärte Dorothea mit unerschütterlicher Stimme, als würde sie ihm die Nachrichten vorlesen: »Ziel des Spiels ist es, jemand völlig Fremden dazu zu bringen, einem Geld zu geben. Man darf ihn aber weder bedrohen noch ihm von dem Spiel erzählen. Wer das schafft, darf die 10.000 Euro behalten. Alles wird gefilmt und läuft als Livestream.«

Während Dorothea ihm das Spiel, dessen Sinn Berger nicht erkannte, beschrieb, öffnete sie einhändig ihren Laptop. Sogleich erschien eine Website, auf der Berger unzähligen Fenster sah, in denen fremde Menschen ungläubig in die Kamera starrten und wie er versuchten zu begreifen, was mit ihnen geschah. Blinkende Botschaften lockten mit Dollarzeichen, aber verursachten bei Berger einen Schwindel.

»Einige versuchen es mit Betteln oder großen Versprechungen, andere mit dem Enkeltrick. Lächerlich.« Dorothea schnaubte. Berger hörte seiner Frau, die ihm plötzlich wie eine Fremde vorkam, mit weit aufgerissenen Augen zu.

»Manche versuchen, ihren Opfern heimlich eine Nachricht zuzustecken, andere wiederum haben sich vorher abgesprochen,« fuhr sie fort. »Aber jeder wird genau durchleuchtet. Betrug ausgeschlossen. Von mehreren Tausend Teilnehmern sind nur noch 140 dabei. Die anderen haben schon aufgegeben.«

Bergers Gedanken fuhren weiter Karussell.

»Du bist doch verrückt geworden, bei so etwas mitzumachen. Wir wollten gerade zur Kirche gehen, danach noch im Park spazieren und ins Café. Wie jeden Sonntag. Was soll das ganze?« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

»Ach, vergiss doch das Café, Richard, wo eh nur alte Leute hocken und darauf warten, dass wieder ein Tag vergeht.« Dorothea schien nun tatsächlich zornig zu werden.

»Das ist doch alles Wahnsinn.«

»Wahnsinn wäre, die Chance nicht zu ergreifen. Du weißt, wie es um unsere Finanzen steht. Außerdem bist doch sonst nicht abgeneigt.«

Er wusste natürlich, worauf sie anspielte.

»Okay, wir versuchen es,« seufzte er. »Also, zu wem gehen wir und wie wollen wir einen völlig Fremden davon überzeugen, uns 10.000 Euro zu geben?«

Dorotheas Gesicht hellte sich auf und sie hakte sich bei ihm unter. »Das überlegen wir uns unterwegs. Aber vorher nimm bitte diese schreckliche Krawatte ab.«

Dorothea Berger stand wie erstarrt hinter ihrem Mann im Flur, der Mund weit offen, ihren schwarzen Mantel ordentlich über den Arm gelegt.

»Dorothea! Dein Handy!« Bergers Herz schlug wie wild in seiner Brust, er stand jedoch im Gegensatz zu seiner Frau nicht unter Schock. Sein eigenes Smartphone hatte sich beim Frühstück heruntergefahren, der Akku musste geladen werden und ein Festnetztelefon besaß das Ehepaar schon seit langem nicht mehr.
Da klopfte es laut und eindringlich an der Tür und die Stimme von Noah, ihrem erwachsenen Sohn, ertönte. Er wohnte mit seiner Familie im großen Anbau. »Papa, Mama, seid ihr in Ordnung? Was ist hier los? Ich habe die Polizei gerufen, sie ist unterwegs.«

Vermutlich hatte der beschützende Instinkt einer Mutter Dorothea aus ihrer Starre geholt. Sie stürzte an ihrem Mann vorbei und riss die Tür auf. Was auch immer sie als Nächstes zu tun gedacht hatte, sie kam nicht dazu. Ein weiterer Knall ertönte, Mutter und Sohn zucken zusammen.
Richard Berger drängte sich an ihnen und der Leiche vorbei in seinen Vorgarten. Schreie waren in einiger Entfernung zu hören, ebenso mehrere Autotüren, die zuschlugen. Und noch ein Schuss, dessen war sich Berger sicher. Sirenen heulten, wurden aber eher leiser als lauter. Die Leute auf den Straßen gerieten in Aufruhr.
Er drehte sich zu seiner Familie um und machte wilde Handbewegungen, um sie ins Haus zu scheuchen. Noah wollte gerade in Richtung seiner eigenen Familie aufbrechen, um sie holen, da kamen ihm seine Frau Judith und ihr vierzehnjähriger Sohn Max entgegengelaufen. Als alle sicher im Haus waren, verschlossen sie die Tür.

Max hielt den Anderen aufgeregt sein Handy entgegen: »Guckt auch das an! Hier läuft eine richtige Scheiße ab. Irgendeine kranke Bewegung oder sowas. TikTok und Instagram sind voll davon. Videos von Menschen, die sich reihenweise … umbringen. Und immer sind die Videos mit nur einem einzigen Hashtag versehen - #10k. Was passiert hier?«

Drei Stunden später hockte Berger im sterilen, viel zu hellen Vernehmungsraum der örtlichen Polizei und nippte noch immer zitternd am schlechtesten Kaffee, der ihm jemals untergekommen war. Die vielen Worte, die er eben gegenüber der jungen Beamtin zu Protokoll gegeben hatte, wiederholten sich wieder und wieder in einzelnen Bruchstücken in seinem Kopf. Ebenso wie das Bild des Mannes, den die Polizei in einem Leichensack aus seinem Garten getragen hatte. „Ich habe soetwas noch niemals gesehen. Ich meine, er hat einfach abgedrückt. Wer macht sowas?“, stammelte er und stellte die Tasse vor sich auf den zerkratzten Tisch. „Ich hätte … ich hätte es ihm vielleicht einfach geben sollen. Das Geld, meine ich. Ich hätte …“

„Sie haben keinen Fehler gemacht, Herr Berger. Die Situation war außerordentlich belastend.“ Die Beamtin tippte irgendwas in ihren Computer und klang sehr sachlich, als sie das sagte. War sie sich denn nicht der enormen Tragweite dieser Sache bewusst? War ihr nicht klar, dass da wirklich ein Mensch in seinem Garten gestorben war?

„Konnten Sie den anderen denn bereits fassen?“, fragte Berger mit brüchiger Stimme. „Den mit dem Handy, der alles gefilmt hat? Sie … Sie sorgen doch dafür, dass die Aufnahmen nicht veröffentlich werden, oder?“

„Nein, die Fahndung läuft noch und wir behalten die gängigen Kanäle im Blick. Bislang wurden keine Aufnahmen im Zusammenhang mit dem Vorfall veröffentlicht. Wir behalten aber alles im Blick und werden natürlich sofort reagieren, wenn irgendwo irgendwas hochgeladen wird. Und Sie melden sich bitte sofort, wenn Sie sich an irgendwelche weiteren Details erinnern oder den Mann, der Sie gefilmt hat, noch einmal sehen.“

Berger nickte. Rosenthal ebenfalls. „Wir danken für Ihre Mithilfe. Es tut mir sehr leid, dass Ihnen das heute widerfahren ist, aber wir werden unser Bestes tun, um den Fall so schnell wie möglich aufzuklären.“

Sie erhob sich und begleitete Berger und seine Frau, die auf dem Flur wartete und von ihrem Kollegen Schmidt vernommen worden war, zum Ausgang. Beide warteten an der Tür, bis das Ehepaar in den grauen VW gestiegen und hinter der großen Linde an der Kreuzung verschwunden war.

„Wieder dieselbe Geschichte. Ich hab deinen Bericht gelesen“, murmelte Rosenthal und verschränkte nachdenklich die Arme vor der Brust. „Sie passt haargenau zu den anderen. Wie zur Hölle ist das möglich?“

Schmidt zog die Schultern hoch und schnalzte mit der Zunge. „Wir haben vier Schaufensterpuppen mit Kopfschuss in der Leichenhalle liegen. Vier Männer in etwa demselben Alter, die allesamt Stein und Bein schwören, dass diese Puppe keine Puppe, sondern ein Kerl war, der sich vor ihren Augen eine Knarre in den Mund gesteckt und abgedrückt hat. Noch dazu in Begleitung eines weiteren Mannes, von dem es absolut keine Spur gibt. Alles, was wir also haben, sind vier Puppen, etwas Kunstblut und vier absolut übereinstimmende Aussagen von sehr zuverlässigen Männern, die der Meinung sind, Augenzeuge eines Mordes gewesen zu sein. Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht.“

Offene Enden – zweiter Teil

Zehntausend Anzeigen

Von Markus Westbrock

Polizeihauptmeister Peter Müller war trotz seiner bald dreißig Dienstjahre überrascht. An die Wochenenddienste hatte er sich gewöhnt und sogar Freude daran gewonnen, sonntagsvormittags eine ruhige Kugel zu schieben. Das hatte ihn zwar seine Ehe gekostet, doch dafür nicht sein Nervenkostüm. Die Laufkundschaft war an den Vormittagen der Wochenenden in der Regel überschaubar – im Gegensatz zu den Abendschichten, in denen alkoholisierte Partygänger gerne mal ausrasteten.

Heute war alles anders.

Auf seinem Bildschirm im Chefbüro, das er am Wochenende nutzen durfte, weil die Vorgesetzten diese Dienste mieden, blinkte eine auffällige Meldung und wies darauf hin, dass die Telefonzentrale des Notrufs drastisch überlastet war. Bereitschaftskräfte der Landesreserve mussten mobilisiert werden. Darum kümmerte sich die Leitstelle selbst. Ihn interessierte viel mehr der Grund.

Er eilte hinunter in das Großraumbüro des Bezirksdienstes und staunte schon wieder. Nur einer der acht Schreibtische war besetzt, es sollten laut Wochenenddienstplan drei sein. Er näherte sich seinem Kollegen Heinz Schröder, der soeben den Telefonhörer auflegte. Müller fragte ihn:

»Sag mal, was ist denn los? Da oben bekomme ich gar nichts mit!«

»Setz Dich ruhig wieder an Deinen Platz hier unten, Frankfurt dreht durch! Es liegen inzwischen über hundert Selbsttötungsmeldungen vor. Alle in Tateinheit mit räuberischer Erpressung.«

Aus der Ruhe bringen ließ sich Müller davon nicht. »Ich bin mir sicher, dass der Spruch ‹Geld oder Leben› früher mal anders gemeint war. Vielleicht brauchen wir keine Hundertschaft der Landesbereitschaft, sondern von den Typen mit den weißen Turnschuhen?«

Schröder verzog das Gesicht, um auszudrücken, dass er momentan für Humor nicht empfänglich war. Bevor er etwas antworten konnte, klingelte wieder sein Telefon und er nahm ab.

Müllers Diensthandy vibrierte. Er entfernte sich ein paar Meter zu seinem eigentlichen Schreibtisch und meldete sich.

»Chef, ich brauche Dich sofort hier vorne!«, rief seine Kollegin Lena, die so jung war, dass sie am Empfang sitzen musste.

»Du sollst mich doch nicht so nennen«, sagte er vorwurfsvoll und machte sich auf den Weg. »Ich bin so gut wie da.« Er beendete das Telefonat und öffnete die Tür zur Wirklichkeit.

Der Empfangsraum bot einigen Beamten Platz und diese waren rund um die Uhr besetzt. Jetzt standen alle vier um einen fünften Mann herum, den Müller nicht kannte, der jedoch innerhalb des Schutzbereiches stand. Der Unbekannte hatte blonde Haare und blaue Augen, die aus schmalen Strichen herausblickten. Er trug eine dunkelblaue Brille und wandte sich sofort an Müller.

»Sind Sie hier der Chef?«

»Nur sonntags in der Früh und wer sind sie?«

»Konrad Teckel, Abteilung Cyberkriminalität.«

»Ah, geht es um den beschlagnahmten Computer in der Steuerhinterziehungsaffäre von letzter Woche? Es ist zeitlich gerade etwas ungünstig.«

»Nein. Ich bin hier, weil es bei ihnen gerade so ungünstig ist. Ich kenne den Grund und wir ermitteln ab hier gemeinsam.«

»Äh. Erklären Sie es mir oben im Büro.«

Die enttäuschten Gesichter seiner Kollegen ignorierend, führte er Teckel in die Räumlichkeiten seines Chefs. »Also, dann mal raus mit der Sprache, was geht da draußen vor sich?«

»Ich zeige es ihnen«, antwortete Teckel und schloss sein Notebook, das er aus seiner Aktentasche holte, an den großen Fernseher an. Nach wenigen Sekunden sah Müller das übliche Hintergrundbild der hessischen Polizei, bis sich ein Browser öffnete und eine Seite zeigte, die ihn verwirrte.

Unter der Überschrift »Geld oder Leben?« blinkten die Worte »Wettannahme geschlossen. Projekt läuft und wird ausgewertet!« In der nächsten Zeile waren Zähler zu sehen: »Geld: 84 # Leben: 2511« – Ein Fortschrittsbalken, wie Müller ihn von Downloads kannte, stand aktuell bei ca. einem Viertel, hatte demnach noch 75% vor sich.

Der Rest der Seite, die reichlich nach unten zu scrollen war, zeigte viele kleine Fenster, die entweder einen Videolivestream übertrugen oder nur Standbilder abgelaufener Videos waren, auf die man ein Eurozeichen oder ein christliches Kreuz gezeichnet hatte.

»Verstehe ich das richtig? Das Ganze ist ein Wettspiel, das gerade live stattfindet und ins Scheiß-Internet übertragen wird?«, brauste Müller auf, der nun doch am Ende seiner Geduld angekommen war.

»So sieht’s aus«, antwortete Teckel, »Der Betreiber der Seite ist nicht so schnell zu ermitteln, die Daten kommen aus der ganzen Welt und geroutet wird sie über Russland, Südkorea und China.«

»Und wie retten wir jetzt die 7000, die noch übrig sind?«

Sie rührte sich nicht. Ihr Gesicht bleich wie eine Wand.
„Doro!“, rief er. „Dorothea! Die Polizei!“
Sie starrte ihm entgegen, als spräche er die falsche Sprache.
Berger drängte sich an ihr vorbei, hastete zum Telefon und riss den Hörer aus der Station. Kaum hatte er den Notruf gewählt, kam Bewegung in seine Frau.
„Hat er sich erschossen?“, fragte sie.
„Hast du doch gesehen“, sagte er aufgebracht.
„Nein.“
„Was heißt hier nein?“
„Du hast die Kette vorgelegt, die Tür war nicht weit genug offen, du standest davor. Ich habe überhaupt nichts gesehen.“
„Du glaubst mir nicht? Dann schau doch selbst…“
Es knackte in der Leitung. Eine freundliche Stimme meldete sich. „Notrufzentrale, wie kann ich ihnen helfen?“
„Ja, Richard Berger hier. Bitte schicken sie einen Streifenwagen. Vor meiner Haustür hat sich ein Verrückter erschossen.“ Er gab die Adresse durch und beantwortete einige Fragen, dabei beobachtete er, wie Dorothea die Sicherheitskette aushakte und ihre Hand auf die Türklinke legte.
Sollte er dazwischen gehen? Sie vor diesem grauenhaften Anblick bewahren, der zweifellos auf sie wartete? Aber sie glaubte ihm nicht. Sie musste das mit eigenen Augen sehen.
Dorothea drückte die Klinke, sattes Schmatzen der Gummidichtungen, die kühle Morgenluft bahnte sich ihren Weg herein gespickt mit herbstlichem Moder und einer metallischen Unternote, die Berger augenblicklich mit dem verspritzten Blut assoziierte.
Er wappnete sich.
Dorothea wankte, dann drehte sie sich zu ihm um. In ihren Augen lag ein Entsetzen, das er nie zuvor darin gesehen hatte.
Berger sah hinaus. Er keuchte. „Glaubst du mir jetzt?“
Wortloses nicken.
„Und wo ist der Typ mit dem Smartphone?“

Das Mobiltelefon klingelte nun schon zum wiederholten Male an diesem frühen Sonntagmorgen und Kommissar Benjamin Freese, ahnte bereits, dass etwas Ungeheuerliches auf seine imposante Stadt der Hochfinanz zurollte. Er joggte am Mainufer entlang, fummelte fahrig an dem winzigen Zipper seines atmungsaktiven Funktionsshirts herum und schaffte es gerade noch rechtzeitig, das Gespräch anzunehmen. Gedankliche Notiz an sich selbst: Das Shirt taugt nichts.
„Bist du schon auf dem Weg?“, fragte sein Partner Sven Meining am anderen Ende der Leitung.
„So schnell bin ich nun auch nicht“, schnaufte er. „Ich habe noch etwa anderthalb Kilometer.“
„Ok, aber vergiss die Dusche wir brauchen dich hier. Dringend.“
„Irgendein Update?“
„Das kann man so sagen. Es ist schon der vierte Anruf.“
„Wie meinst du das?“
„Na, der vierte Fall. Alle nach demselben Muster.“
Benjamin blieb abrupt stehen, warf einen Blick auf die Uhr. Fassungslos stellte er fest: „Seit deinem ersten Anruf sind doch gerade mal zwanzig Minuten vergangen.“
„Ich sage ja, es ist dringend. Wir erwarten noch mehr.“
„Was haben die Kollegen vor Ort festgestellt?“
„Die gehen uns gerade aus. Bei dem vierten Tatort waren wir noch nicht. Bekannt ist bisher, dass sie immer zu zweit sind. Eine jüngere Person etwa Anfang bis Mitte zwanzig filmt das Geschehen. Laut der Augenzeugen kann diese sowohl männlich als auch weiblich sein. Hier scheint also das Alter von Bedeutung zu sein, nicht das Geschlecht. Der ältere Täter…“, er stockte. „Die ältere Person bringt die Forderung vor. Diese ist bisher ausschließlich männlich. Die verlangte Summe beläuft sich immer auf genau zehntausend Euro. Wird das Geld nach der dritten Anfrage nicht gezahlt, kommt es zum Suizid.“
„Das ist verrückt“, sagte Benjamin. „Wer ist hier Täter und wer ist das Opfer?“ Ihm mäanderten diverse andere Fragen durch den Kopf, deren Beantwortung allerdings davon abhingen, wie zügig er an einem der Tatorte war. „Gib mir…“, er richtete seinen Blick in die Ferne. „Ich laufe so schnell ich kann. Holst du mich ab?“
„Bin schon unterwegs“, sagte Sven und drückte das Gespräch ab.
Benjamin wischte sich mit dem Ärmel über die verschwitzte Stirn, dann sprintete er los, wohlwissend, dass dies ebenfalls einem Suizid glich. Seine Gedanken kreisten um den Fall. Was bringt einen Menschen dazu, sich selbst umzubringen? Die Person sieht keinen anderen Ausweg – das funktioniert nur durch psychischen Druck. Damit nicht genug, sich obendrein dabei filmen zu lassen, setzt die komplette Situation in ein abstrakteres Bild. Wenn jemand filmt, dann doch nur, um einen Beweis in der Hand zu haben. Für wen? Was passiert mit der Aufnahme? Wo ist das Motiv? Da muss mehr hinterstecken als auf den ersten Blick erkennbar. Und warum so viele?
Der Teerweg schien kein Ende zu nehmen, sein Atem brannte ihm in der Lunge, Seitenstechen stellte sich ein. Er presste eine Hand gegen den Schmerz. Verdammt, ich sollte öfter laufen gehen – oder gar nicht, führte er den Gedanken fort. Ich bin zu alt für die Scheiße.

Als Benjamin Freese keuchend um die Ecke bog, seine schmucke Doppelhaushälfte in Sichtweite, brach er beinahe zusammen. Ächtzend klappte er nach vorn, die geballten Fäuste fest in die Seiten gestemmt. Es fehlte nicht viel und er hätte sich übergeben. Gut, dass er nicht gefrühstückt hatte.
Sven Meining hatte den schwarzen Dienstwagen bereits vor dem Haus geparkt und wartete auf ihn.
Benjamin brannte darauf, wenigstens seine Klamotten zu wechseln, wenn ihm schon keine Zeit für eine Dusche blieb. Und Deo, eine Tonne Deo, oder zwei.
Kaum zehn Minuten später ließ er sich auf den Beifahrersitz fallen und zog die Tür zu, die mit einem satten Geräusch einrastete. Das Wageninnere füllte sich mit einer Duftmischung aus Mountain breeze, Schweiß und Ungeduld.
Sein Kollege zögerte keine Sekunde, startete den Motor und trat auf den Pin. „Wohin zuerst?“, fragte er. „Willst du bei Eins beginnen, oder den nächstgelegenen Tatort anfahren? Mappe liegt im Handschuhfach.“
Benjamin holte sie heraus und schlug sie auf. Sie ruhte auf seinen Knien, während er die zugegeben, mehr als dürftigen Informationen aufsaugte wie ein Schwamm. „Konti und Berger liegen knapp beieinander. Da sollten wir zuerst aufschlagen.“
„Gut“, sagte Sven und setzte den Blinker, um an der nächsten Ampel links Richtung Westend abzubiegen.
„Gab es noch weitere Anrufe?“
„Zwei.“
Benjamin schnappte nach Luft. „Dann sind es jetzt sechs?“
„Korrekt.“
„Und alle in gut betuchten Gegenden?“
„In Zeil oder Alt-Sachsenhausen findest du sicher niemanden, der zehntausend Euro in einem Safe lagern würde.“
„Ja schon, aber wie wählen diese Leute ihre Opfer…“ Benjamin schüttelte den Kopf. „Kann es überhaupt noch verrückter werden? Wie wählen sie ihre potentiellen Geldgeber aus? Zufall? Nicht jeder, der im Nord- oder Westend wohnt, hat eine solche Summe Bargeld im Haus, geschweige denn einen Safe.“
„Tja, wenn wir das wüssten, wären wir schon einen Schritt weiter.“
„Was ist mit den Leichen? Ich gehe davon aus, dass sich alle geweigert haben zu zahlen?“
„Bisher ja. Wir haben sechs Tote, Identifizierungen laufen. Von den jeweiligen Begleitern fehlt jede Spur.“
„Sind diese Videos schon irgendwo aufgetaucht?“
„Bisher nicht, die IT arbeitet daran.“
Benjamin Freese nahm einen tiefen Atemzug. „Fassen wir zusammen: Alles was wir wissen ist, wir wissen nichts.“
„Das wird sich hoffentlich gleich ändern.“ Sven steuerte den Dienstwagen in eine breite Anwohnerstraße, gesäumt von herbstroten Ahornbäumen, darunter parkten einige Fahrzeuge. Keines davon älter als fünf Jahre. Sauber gepflasterte Garagenauffahrten zu imposanten Altstadtbauten, die in gepflegten Oasen aus schmuckem Grün ruhten.
„Konti“, sagte Sven, als er neben einer Hainbuchenhecke parkte. Vor der Auffahrt stand ein Polizeifahrzeug, Notarzt, Rettungswagen und einige Schaulustige, die trotz Aufforderung der Beamten nicht daran dachten das Feld zu räumen. Wenigstens hatte diesmal niemand ein Smartphone in der Hand.
Benjamin hatte in dieser Hinsicht schon einiges erlebt und begrüßte diesen Umstand. Erst auf den zweiten Blick wurde ihm bewusst, dass es sich bei den vermeintlich Schaulustigen allesamt um Nachbarn und damit Personen älteren Semesters handelte.
Er bahnte sich zusammen mit seinem Kollegen einen Weg Richtung Hauseingang. Ihnen kamen zwei Sanitäter mit einer Bahre entgegen, worauf die in weißes Sackleinen verpackte Leiche ruhte. Sven blieb zurück, um Informationen einzuholen.
Benjamin näherte sich der Haustür zum Konti-Anwesen. Schon von Weitem erkannte er die Blutlache. Sie hob sich dunkel vom sandsteinfarbenen Pflaster ab. Die Spurensicherung hatte kleine gelbe Marker verteilt. Er sah den eingezeichneten Umriss der Leiche, die rücklinks von der ersten Eingangsstufe auf den Weg gestürzt sein musste. Ein Kollege im vorgeschriebenen Ganzkörperkondom schoss Detailfotos vom Tatort und schien keinen Winkel auszulassen. Gewissenhaft.
Ein kurzer Gruß, einige Wortwechsel. Tathergang abgleichen. Die Informationen passten zu den Unterlagen und füllten diverse Lücken.
Benjamin wunderte sich trotz seiner langjährigen Erfahrung immer noch darüber, welchen Unterschied es doch machte, die Dinge vor Ort in Augenschein zu nehmen, statt lediglich Aktennotizen zu lesen. Nachdem er von seinen Kollegen auf den neusten Stand im Fall Konti gebracht worden war, fragte er nach einer alternativen Möglichkeit ins Haus zu gelangen, da er die Spuren nicht zerstören, aber unbedingt mit der Familie sprechen wollte.
„Gehen sie dort rechts herum, da kommen sie an einen Wintergarten. Einfach klopfen“, gab der Kollege von der Spurensicherung Auskunft.
Benjamin folgte seinem behandschuhten Fingerzeig und wanderte einem schmalen Fußweg um die Hausecke herum. Als er am hinteren Bereich angelangt war. Breitete sich vor ihm der Garten aus in seiner gesamten herbstlichen Pracht mit vorsorglich winterfest abgedecktem Pool und einem festlich geschmückten Pavillon. Es sah so aus, als habe am Vortag eine Art Gartenfest stattgefunden. Zu seiner Linken fand er den Eingang zu einem üppig bepflanzten Wintergarten. Er klopfte.

Die Tür wurde von einer schlanken Dame mittleren Alters geöffnet. Sie trug Freizeitkleidung und ihre schmalen Füße steckten in Hausschuhen. Die braunmelierten Haare waren zu einer fahrigen Hochsteckfrisur zusammengefasst. Ihr folgte ein leicht untersetzter Mann in ähnlichem Aufzug, der sie um Haupteslänge überragte und sich formvollendet als Dr. Samuel Konti vorstellte. „Meine Frau Barbara“,ergänzte er.
„Hauptkommissar Benjamin Freese.“ Sven trat neben ihn und er fügte hinzu: „Mein Kollege Kommissar Meining.“
„Bitte“, sagte Dr. Konti und ließ sie eintreten.
Der mit bunten Mosaikfliesen ausgelegte Wintergarten war hell und geräumig. In dessen Mitte stand eine weiße Rattan-Sitzgruppe an der locker acht Gäste hätten Platz finden können. Dort sah Benjamin auch seine Vermutung des gestörten Sonntagsfrühstücks bestätigt, da der Tisch für zwei Personen üppig gedeckt, aber dieses kaum angerührt worden war.
Frau Konti raffte ein Jackett und eine grüne Krawatte mit goldfarbenem Aufdruck von einem der Stühle und hieß sie, Platz zu nehmen. Dann bot sie ihnen Kaffee an und nahm ein Tablett zur Hand, um die Speisen abzuräumen. „Ich kann jetzt ohnehin nichts mehr essen“, erklärte sie.
„Verständlich“, sagte Sven in ernstem Tonfall.
„Das mus man sich vorstellen“, ergriff Dr. Konti das Wort. „Da stehen mir nichts, dir nichts zwei Leute vor der Tür und bedrohen unbescholtene Bürger. Und dann greift einer zu einer Waffe. Ich dachte, jetzt ist alles vorbei.“
Benjamin runzelte die Stirn. „Aber er hat sich dann selbst erschossen.“
„Ja“, rief Dr. Konti aus und wedelte erregt mit den Händen in der Luft. „Der steckt die Pistole in den Mund und drückt einfach ab.“
„Hat der Mann sie bedroht?“, hakte Sven nach.
Konti nickte energisch. „Er hat mir gedroht. Wenn ich ihm das Geld nicht gebe, bringt er sich um.“
„Er hat sie also nicht bedroht“, stellte Benjamin fest.
„Was?“ Dr. Konti blickte verwirrt.
„Er hat sie erpresst, aber nicht bedroht. Die Drohung war gegen sich selbst gerichtet.“
Die Augen des Dr. Konti verengten sich. Er zog die Stirn in Falten, seine Lippen wurden schmal. „M-o-m-e-n-t“, sagte er gedehnt. „Worauf wollen sie hinaus?“
„Ich will auf garnichts hinaus. Das ist nur eine bloße Feststellung“, gab Benjamin an. Sven musterte seinen Kollegen fragend von der Seite.
„Wie wirkte der Mann auf sie?“
Frau Konti trat mit einem Tablett voller dampfender Kaffeetassen über die Schwelle in den Wintergarten und hatte seine letzte Frage offensichtlich gehört, denn sie antwortete freimütig: „Verzweifelt. Nicht war Schatz?“ Sie stellte das Tablett ab und suchte den Blick ihres Mannes, der ihr verschlossen entgegen starrte. „Was ist?“, fragte sie.
Just in diesem Augenblick klingelte Svens Mobiltelefon. „Meining“, meldete er sich knapp. Wenige Sekunden später schnappte er nach Luft. „Was?“
Mit dieser Reaktion fing er Benjamins volle Aufmerksamkeit.
„Können sie das bitte nocheinmal wiederholen?“ Sven lauschte, dann fragte er: „Wo?“ Er beendete das Gespräch und ließ den Hörer sinken. Sein Blick wanderte zu seinem Kollegen, er zögerte, als suche er nach den richtigen Worten. Endlich sagte er an das Ehepaar gewandt: „Wir müssen uns leider verabschieden. Es tut mir leid, wegen dem Kaffee, aber das duldet keinen Aufschub.“
„Ist wohl besser so“, brummte Dr. Konti.
Benjamin folgte seinem Kollegen hinaus in den Garten, an der Hauswand vorbei zum vorderen Grundstück. Erst als sie die Straße erreicht hatten, fand Sven seine Sprache wieder. „Du wirst es nicht glauben. Wir haben noch einen. Aber diesmal hat der Anwohner gezahlt.“

  • Danise Juno -

10.000 Euro, die Zweite

Etwa zur gleichen Zeit im circa 250 km entfernten Dortmunder Süden öffnete sich ein weiß lackiertes, mit Blumen verziertes Gartentor. Hinein traten ein junger Mann und eine ältere Frau mit kurzen weißen Haaren. Sie gingen den säuberlich gepflasterten Weg zur Haustür eines großen alleinstehenden Einfamilienhauses hoch.

Drinnen machte Cordula Meier gerade ihr tragbares Digitalradio an und stellte es auf den Sims über der Gästetoilette. Sofort füllten Schlagerklänge das Gäste-WC der Kramers. Cordula Meier zog sich die pinken Gummihandschuhe an und nahm die Sprühflasche mit dem Badreiniger in die eine und den WC-Reiniger in die andere Hand. Sie ärgerte sich immer noch, dass das Ehepaar Kramer sie ausgerechnet heute, am Sonntag, gefragt hatte, ob sie zum Putzen käme. Es hatten sich ganz spontan wichtige Geschäftskunden angekündigt. „Auf’n Sonntach, pff, wer arbeitet denn an’nem Sonntach?“, schnaubte sie in Ruhrpottdeutsch. Doch dann schüttelte sie den Kopf. Sie arbeitete ja auch heute. Wenigstens bezahlten die Kramers sie großzügig. Sonst hätte sie die Stelle wahrscheinlich schon längst aufgegeben. Sie beugte sich gerade leicht nach vorne, um WC-Reiniger ins Klo zu kippen, als es an der Tür klingelte. Sie stutzte. Das Ehepaar Kramer war nicht da, weil sie auf dem Weg nach Essen waren – dort gab es ihrer Meinung nach die beste Konditorei im ganzen Ruhrgebiet. Schließlich wollten sie ihren Gästen nur das Beste auftischen. Cordula stellte den WC-Reiniger zur Seite, behielt aber, ohne weiter darüber nachzudenken, den Badreiniger in der Hand. Sie ging zur Haustür und warf einen Blick auf den kleinen Bildschirm, der auf Augenhöhe an der Wand neben der Tür hing. Es standen zwei Personen vor dem Haus. Ein junger Mann und eine ältere Frau. Der Mann sah unscheinbar aus, mit einer Jeansjacke und -hose, sein Gesichtsausdruck war neutral, fast schon teilnahmslos. Die Frau hatte harte Gesichtszüge, versuchte sie jedoch hinter einem leichten Lächeln zu verbergen. „Wat’n seltsames Paar“, murmelte sie, öffnete die Tür trotzdem und sah, dass die weißhaarige Frau im gleichen Moment ein teuer aussehendes Smartphone hochnahm, so als würde sie die ganze Situation filmen. Beim näheren Hinsehen sah sie auch gar nicht so alt aus. Vielleicht Anfang 50.

„Ja?“

„Guten Tag. Bitte geben Sie mir zehntausend Euro, sonst muss ich mich umbringen“, sagte der Mann, während die Frau still blieb und sie seltsam lächelnd ansah.

Cordula sah verständnislos zwischen den beiden hin und her.

„Wolln’se mich auf’n Arm nehmen? Mit so wat macht man keine Witze.“

„Bitte geben Sie mir 10.000 Euro. Wenn Sie es nicht tun, bringe ich mich um“, wiederholte der Mann unbeirrt.

Cordula wusste nicht, ob sie Angst haben oder lachen sollte, so surreal wirkte das Ganze. Ihr Körper entschied sich offensichtich für ein ganz anderes Gefühl: nackte Wut. Sie war zu alt für solche Scherze.

„Getz hörn se mia ma’ zu, ich hab keine Zeit für so’nen Mist. Erstens sin’ solche Witze geschmacklos! Und zweitens: Selbst, wenn ich wollte, könnt’ ich Ihnen keine 10.000 Euro geben. Ich hab nämlich keine. Meine Rente reicht gerade mal für die Miete und Essen für ’nen halben Monat. Meinen’se denn, ich würde auf’nen heiligen Sonntag fremde Häuser putzen, weil mir dat so’ne Freude macht? Ich bin 66, meine Arthrose wird immer schlimmer und ich bin gerade dabei ein Gästeklo zu putzen, in dat mein Bad wahrscheinlich zwei Mal reinpassen würde. Und Sie kommen mir mit so wat?“ Dann wandte sie sich an die Frau. „Und wat machen Sie denn da überhaupt? Filmen ’se das ganze etwa? Is’ dat irgendein neuer Internet-Trend? Meinen’se nich, Sie sind zu alt für geschmacklose Internetstreiche? Leute zuhause zu überfallen und Ihnen zu drohen … Also echt. Sie ham doch nicht mehr alle Latten am Zaun.“

Die Frau und der Mann schienen unberührt ob Cordulas Ausbruch, woraufhin Cordula tatsächlich etwas Angst bekam, dass diese zwei Vögel an der Tür es ernst meinen könnten.

„Ich an Ihrer Stelle würde ihm das Geld geben“, sagte die Frau ruhig. „Sonst bringt er sich hier und jetzt um.“

„Sind’se taub? Ich sachte, ich hab kein Geld. Belästigen’se jemand anderen oder kommen’se wieder, wenn die Kramers da sind“, sagte Cordula bestimmt.

Doch die beiden rührten sich nicht vom Fleck. Stattdessen sah Cordula, wie der Mann hinter seinen Rücken griff und eine Pistole aus seinem Hosenbund zog. Cordulas Augen wurden groß und bevor sie groß darüber nachdachte, hob sie reflexartig den Arm mit dem Badreiniger und sprühte dem Mann mitten ins Gesicht. Zum ersten Mal sah sie eine Gefühlsregung bei ihm, schmerzverzerrt und schreiend ließ er die Waffe fallen und fasste mit beiden Händen an seine Augen. Dann drehte sich Cordula zu der Frau und sprühte auch ihr Badreiniger ins Gesicht, woraufhin sie fluchend und schreiend ihr Smartphone fallen ließ. Cordula bückte sich, für ihr Alter überraschend schnell und wendig, und hob die Waffe mit ihrer freien behandschuhten Hand auf. Besser, die Bekloppten hatten keine Waffe mehr in Griffnähe. Dann knallte sie die Tür so fest zu, wie sie konnte. Sie lehnte sich mit dem Rücken dagegen und merkte, wie ihre Knie nachgaben und sie zu Boden sank. Ihr ganzer Körper zitterte. ‚Wat genau war dat denn gerade?‘, fragte sie sich. In dem Moment hörte sie aus dem Gästebad Roland Kaiser Santa Maria singen. Cordula lachte hysterisch, dann rappelte sie sich auf und suchte das Telefon, um die Polizei zu rufen. Als sie den Notruf wählte, wusste sie nicht, dass zeitgleich in 12 anderen deutschen Großstädten dieselbe Art von Notruf einging. Nur gab es überall sonst jeweils einen Toten.

Dorothea Berger, die unglaublich neugierig war, hatte alles über die Schulter ihres Mannes mitangesehen. Sie schlug sich die Hand vor den Mund und rannte in die Gästetoilette, wo sie sich ausdauernd erbrach.

So blieb Berger nichts weiter übrig, als selbst zum Telefonhörer zu greifen. „Bitte kommen Sie schnell. Vor meiner Haustür hat sich jemand erschossen.“

Dann sah er nach seiner Frau. Sie tupfte sich gerade den Mund mit dem Handtuch ab und kontrollierte, ob ihre weiße Rüschenbluse unbefleckt geblieben war. „Was sollen wir jetzt machen?“, fragte sie, als sie das Handtuch wieder ordentlich an den Haken hing.

Berger nahm sie in den Arm. „Die Polizei ist gleich da.“

Gemeinsam gingen sie in das große Wohnzimmer. Sie setzten sich nebeneinander auf das cremefarbene Sofa, um zu warten. Dorothea Berger nahm ihr Handy in die Hand. Sie wollte ihre Tochter Mia über den Vorfall unterrichten.

Doch kaum hatte sie es entsperrt, klingelte es. Die Tochter rief an. „Hallo Schatz“, begrüßte Dorothea sie mit zittriger Stimme.

„Geht es Euch gut?“, rief Mia so laut, dass auch Berger sie hören konnte. „Im Internet geht gerade ein Livestream von Papa viral.“

„Was?“, stammelte Dorothea.

„Es wird aufgerufen, sich bei Euch zu versammeln, weil er die 10.000 Euro nicht bezahlt hat.“

Dorothea Berger wurde blass. „Hier ist gerade etwas ganz Schreckliches passiert. Ich habe jetzt wirklich keine Nerven für sowas.“

Die Stimme von Mia war schrill, als sie rief: „Sie wollen Euer Haus niederbrennen. Ihr müsst sofort da raus.“

Hilflos blickte Dorothea ihren Mann an. „Die Polizei ist gleich da“, wiederholte Berger mit gezwungen gelassener Miene. Beruhigend tätschelte er das Bein seiner Frau.

„Ich leg jetzt auf, Schatz“, sagte die zu ihrer Tochter.

Mia Berger forderte: „Versprich mir, dass Ihr sofort das Haus verlasst.“

„Ja, ist gut“, murmelte Dorothea Berger und beendete das Gespräch.

Im Garten war eine laute fordernde Stimme zu hören. „… das sind alles Kapitalisten.“

Wie auf ein Kommando sahen Berger und seine Frau aus dem Fenster in den Vorgarten. Der Mann in der Lederimitatjacke stand dort noch immer. „Nieder damit!“, schrie er in sein Smartphone.

Wie erstarrt beobachtete das Ehepaar Berger vom Sofa aus den Mann. Er fuchtelte mit einer Hand wild herum und filmt mit der anderen ihr Haus. Plötzlich schwenkte er das Handy zur Straße.

Mit quietschenden Reifen fuhren drei vollbesetzte schwarze Autos vor. Das war definitiv nicht die Polizei, dachte Berger. Die Männer, die daraus ausstiegen, sahen alles andere als freundlich aus.

Doch seine Frau antwortete nicht. „Dorothea!“, rief Berger schrill. Er lief, nach ihr rufend, in das verlassene Wohnzimmer. „Wo steckt sie nur?“, dachte Berger. Ein Gefühl von Angst stieg in ihm empor. Die Bilder des Blutnebels flackerten immer wieder in seinen Gedanken auf. Er konnte den Pistolenknall immer noch nachhallen hören. Er rannte mit sich steigernder Panik von Raum zu Raum, konnte seine Frau jedoch nicht finden. Vielleicht hatte sie den lauten Pistolenknall gehört und ist vor Angst durch die Hintertür geflohen, überlegte er.

Auf dem Weg, diese Möglichkeit zu prüfen, hörte er erneut die Klingel der Haustür. Berger ignorierte sie und lief unmittelbar zum Hinterausgang. Verwirrt stellte er fest, dass die Tür verschlossen war und der Sicherheitsriegel von innen noch eingespannt war. Seine Frau kann also nicht durch diesen Weg hinausgegangen sein, schlussfolgerte er.

Erneut ertönte die Klingel, gefolgt von einem aufdringlichen Klopfen. „Öffnen Sie die Tür, Herr Berger! Es ist dringend!“, hörte er den verbleibenden der beiden Männer rufen – den Verrückten mit dem Handy, der alles gefilmt hatte. „Verschwinden Sie!“, rief Berger. „Die Polizei ist bereits auf dem Weg!“, bluffte er. Nervös fingerte er sein Handy aus der engen Hosentasche, um seinen Bluff in die Tat umzusetzen. Seine Hände zitterten, und er brauchte eine gefühlte Ewigkeit, um das Gerät zu entsperren.

In diesem Moment klingelte sein Handy. Ein anonymer Anrufer. Panik erfasste ihn, und auch das letzte bisschen Farbe wich aus seinem Gesicht. Es vergingen einige Sekunden, bis er sich weit genug gefangen hatte, um das Gespräch entgegenzunehmen. „Dorothea? Bist du das?“, fragte er mit zitternder Stimme.

„Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Frau. Noch geht es ihr den Umständen entsprechend gut“, sagte eine verzerrte, dunkle Stimme. „W-w-wer ist da?“, stotterte Berger. „Was haben Sie mit meiner Frau gemacht?“ – „Befolgen Sie nun genau meine Anweisungen, und Ihre Frau ist in wenigen Stunden wieder zu Hause“, erwiderte der Anrufer. „Gehen Sie an die Haustür. Rufen Sie niemanden an. Jonas wird Sie zu Ihrem Ziel bringen.“ Mit diesen Worten beendete der Fremde das Gespräch.

Tiefe Panik erfasste Berger. Vor seinem inneren Auge zeichneten sich die schlimmsten Szenarien ab: Seine Frau – erschossen und blutüberströmt – in einem Kofferraum, in einer Lagerhalle oder in einer Seitenstraße abgelegt. Erneut riss ihn die Klingel aus seinen furchtbaren Gedanken. „Wir haben keine Zeit mehr!“, rief es von draußen. Langsam und wie in Trance bewegte sich Berger in Richtung Haustür. Dort angekommen schob er die Sicherheitskette zur Seite und öffnete langsam die Tür. Sein Blick fiel sofort auf die Leiche, die noch immer in ihrer Blutlache lag. Teile des Gehirns waren über den Boden verteilt. Der andere Kerl hielt weiterhin das Handy hoch und filmte, als sei nichts passiert. „Wir müssen von hier verschwinden“, sagte er fast flehend zu Berger. „Steigen Sie in den schwarzen BMW. Die Türen sind offen. Sie fahren“, befahl er knapp.

Berger bewegte sich wie ferngesteuert auf das Auto zu. Dabei bemerkte er nicht einmal, dass er direkt durch die Blutlache ging. Im Auto angekommen, sagte der Fremde: „Ich heiße Jonas. Es tut mir leid, dass Sie das durchmachen müssen. Fahren Sie in die Königsberger Allee. Dort befindet sich ein Briefkasten.“ Ein Moment, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte, verging, ehe Berger mit verzweifelter Stimme und leerem Blick antwortete: „Was soll ich an einem Briefkasten?“

„Unter dem Briefkasten befindet sich ein Umschlag für Sie“, informierte ihn Jonas. „Was für ein Umschlag? Was ist hier los? Wo ist meine Frau? Was haben Sie mit ihr gemacht?“ Die letzten Worte schrie Berger. „Ich weiß nicht, wo Ihre Frau ist“, sagte Jonas leise. „Aber ich weiß, dass Ihre Frau sterben wird, wenn Sie nicht machen, was dieser Verrückte von Ihnen verlangt. Und meine Frau wird auch sterben. Oder denken Sie, ich filme das alles freiwillig?“ Jonas wurde wütender. „Sie hätten Sven die 10.000 Euro geben sollen. Dann hätte dieser furchtbare Albtraum endlich ein Ende.“ Jonas machte eine kurze Pause und fuhr fast flüsternd fort: „Oder hätte Sven diesem armen Obdachlosen doch bloß eine Woche Unterkunft gewährt.“

Dorothea stand wie versteinert im Flur und starrte mit weit aufgerissenen Augen und der Hand auf ihrem Mund zu Berger. Sie konnte nicht fassen und begreifen, was sich vor ihren Augen gerade abgespielt hatte.

„Wieso hast du ihn nicht hingehalten?“, fragte sie mit leiser Stimme. Auch sie zitterte jetzt am ganzen Leibe und Tränen begannen ihre Wange hinunter zu laufen.

„Was sollte ich denn deiner Meinung nach machen?“ Berger wurde laut. „sollte ich jetzt sagen ‚Ja einen Moment bitte, kommen sie doch herein. Wollen sie einen Kaffee während ich das Geld aus meinem Tresor hole‘?! Rufst du jetzt die verdammte Polizei!“ Die Lautstärke stieg mit jedem Satz weiter an und Wut verdrängte seine Verwirrung. Wut auf die ungebetenen Gäste, Wut auf seine Frau, die ihm tatsächlich Vorwürfe machte. Wut auf diesen Tag, der schon durch den bevorstehenden Besuch in der Kirche schlimm genug gewesen wäre. Herr im Himmel, das kann doch nicht wirklich gerade passieren!

Nachdem Dorothea noch immer wie versteinert stand und keine Anstalten machte, sich zu bewegen oder auch nur zu ihrem Telefon zu greifen, ging er schnellen Schrittes an ihr vorbei in das Wohnzimmer. Auf der Suche nach seinem Mobiltelefon scannte er die Möbel ab. Er hätte schwören können, dass er es auf dem gläsernen Wohnzimmertisch abgelegt hatte. Aber da war nichts.

Langsam bekam er das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und löste den Knoten der Krawatte wieder. Kurzerhand nahm er sie einfach ganz ab, feuerte sie auf die Couch und öffnete die oberen beiden Knöpfe vom Hemd. Er nahm einen tiefen Atemzug und versuchte, die Gedankenblitze in seinem Gehirn zu verdrängen. Sein Brustkorb hob und senkte sich. „Jetzt nur nicht durchdrehen“, sagte er zu sich selber und versuchte, die aufkommende Panik zu verdrängen.

Sein Blick schweifte durch das Zimmer und auch an den anderen potenziellen Plätzen konnte er es nicht entdecken. Nicht auf der hellen Ledercouch, noch auf dem Designer-Sideboard, dass sie sich mal für den Preis einer Mittelmeer-Kreuzfahrt zugelegt hatten. Und auch auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Sessel lag nur der letzte Thriller von Eschbach, den er gerade las, wenn er abends nicht vor Müdigkeit direkt einschlief.

Dann musste er es wohl vorhin mit in die Küche getragen haben und machte sich auf den Weg dorthin. Als er durch den Flur laufen wollte, sah er, dass seine Frau sich auf die Tür zu bewegte.

Er verharrte augenblicklich in der Bewegung. „Geh nicht an die Tür!“, versuchte er sie abzuhalten. „Wer weiss, ob der Andere nicht direkt noch einmal abdrückt!“

„Aber wir können den da doch nicht liegen lassen.“, wandte Dorothea ein.

„Bleib von der Tür weg Doro!“, schrie er und und bewegte sich nun mit schnellen Schritten zu ihr.

Mittlerweile war sie aber schon an der Tür und drehte den Schlüssel im Schloss nach rechts. Fast zeitgleich war Richard an der Tür und versuchte, sie wegzuschieben. Im Gerangel um den Türgriff entwickelte Dorothea aber kaum für möglich gehaltene Kräfte und es gelang ihr, ihren Körper zwischen Richard und den Türgriff zu schieben, diesen runterzudrücken und die Tür aufzureissen, bis sie durch die Kette jäh gestoppt wurde.

Sofort erstarrte sie „Richard…“, hauchte sie und schaute mit fassungslosem Blick nach draussen. Richard war in Erwartung der drohenden Gefahr in seiner Position erstarrt, als sie die Tür öffnete. Als Dorothea jetzt langsam den Platz freigab, er sich zum Türspalt schob und ihrem Blick folgte, sträubte sich sein Gehirn, das zu verarbeiten, was er dort sah - nichts! Keine Leiche, keine Zuschauer, lediglich ein paar dunkelrote Spritzer waren auf den grauen Terrazzoplatten zu sehen.

„Wie kann das denn sein?“ Ging es ihm durch den Kopf. Er war doch nur ein paar Sekunden weg, wie kann denn da so schnell eine Leiche verschwinden? Und warum gibt es keine Kiebitze? Normalweise sind die Spiesser nebenan doch schon auf Kriegspfad, wenn die Musikanlage in der Küche etwas lauter ist am Sonntagmorgen. Und nun ein lauter Knall und niemand kommt wenigstens bis zum Zaun, um mal zu gucken?

Bevor er den Gedanken weiter denken konnte begann das Handy seiner Frau zu klingeln. Beider Blicke richteten sich auf die Tasche von Dorotheas Jacke. Mit langsamer Bewegung griff sie hinein und holte das Telefon hervor. Ihr Hände zitterten, als sie es endlich so hielt, dass sie auf das Display gucken konnte. Ungläubig hob sie den Blick vom Handy zu ihrem Mann. Er konnte in ihren Augen Unverständnis sehen und Verwirrung, aber vor allem Angst. Ein kalter Schauer überzog ihn, als er die Nummer auf dem Display sah. Es war seine Eigene.

An einem Montagmorgen schloss Anton Taler den Deckel seines Laptops und rieb sich geistesabwesend mit der Hand über die Stirn. Das angepinnte Schild an seinem Hemd war das einzige, was frisch und akkurat an ihm saß. Er kniff sich in die Nasenwurzel und wünschte seine rasenden Gedanken zur Hölle, die ihm die zweite schlaflose Nacht in Folge beschert hatten.
Sein Handy klingelte und er fuhr so heftig zusammen, dass der Laptop beinahe von seinem Schoß rutschte. Es war noch nicht einmal hell und schon belästigte man ihn wieder.
Geistesabwesend griff er nach dem Knoten seiner Krawatte und zerrte daran, als könne er dadurch die plötzliche Enge in seiner Kehle lindern.
»Was?«, blaffte er in den Lautsprecher und ballte die Hand um den roten Stoff.
»Der Geier ist gelandet.«
Taler hätte das Handy am liebsten gegen die Wand geschmettert. Was erlaubte der Kerl sich eigentlich? »Sparen Sie sich Ihre geschmacklosen Witze und sagen Sie mir, was Sie herausfinden konnten.«
»Unser Robin Hood hat den Köder direkt nach seiner kleinen Showeinlage weggebracht, ganz wie von Ihnen verlangt.«
»Die Spurensicherung?«
»Hat lediglich die Blut- und Gehirnreste vom Boden kratzen können.«
Taler atmete tief durch.
»Das Video ist ein voller Erfolg, Chef.«
»Das weiß ich selbst.«
»Die Medien werden über nichts anderes berichten.«
Talers Blick zuckte zu dem leeren Sparschwein auf dem Sideboard und er biss die Zähne fester zusammen.
»Suchen Sie mir beim nächsten Mal ein zahlungswilligeres Opfer aus, Anster.«
»Wie Sie wünschen, Chef.«
Taler legte auf, erhob sich von seinem Stuhl und ging auf die Tür zu seiner Linken zu. Für einen Moment schloss er die Augen, versuchte sich für das Bild zu wappnen, das ihn gleich erwarten würde.
Er drückte die Klinke hinunter und lehnte seine Schulter leicht gegen das Türblatt. Dann trat er ein. Im dämmrigen Schein des Nachtlichts blickte er auf die zierliche Gestalt hinab, die friedlich in ihrem Bett schlief. Wäre da nicht das stetige Piepen, das den Eindruck von heiler Welt in Sekundenbruchteilen zu Nichte machte.
Zu viele Schläuche, zu blasse Haut, zu hohe Rechnungen.
Taler trat einen Schritt zurück und zog die Tür wieder hinter sich ins Schloss. Dann griff er nach der Aktentasche neben dem Esszimmertisch.
»Du gehst schon?«, fragte eine verschlafene Stimme aus Richtung des Badezimmers.
»Tut mir Leid Schatz, es gab wieder einen Mord«, sagte er mit ernster Stimme zu seiner Frau.