Seitenwind 2024 beginnt! 1. Teil

Dorothea Berger hatte alles hinter der Gardine aus feinster Plauener Spitze beobachtet und bereits die 110 gewählt. Man versprach ihr im Frankfurter Polizeipräsidium spätestens in 15 Minuten vor Ort zu sein und gab ihr die Anweisung, sich mit ihrem Mann im Keller zu verstecken. Das tat das Ehepaar unverzüglich und mit ihren Smartphones begaben sie sich in den Fitnessraum, der die Größe des halben Kellers einnahm. Hier gab es eine Toilette und eine Dusche mit ebenerdigem Einstieg, die Herr Berger im letzten Sommer einbauen ließ. Schließlich sollte seine Dorothea mit ihren Freundinnen ungestört ihr Sportprogramm durchführen können, ohne dass Richard Berger ihnen in die Quere kam.
Sie setzten sich beide auf die Hantelbank und Richard sah mit fragendem Blick seine Frau an. „Was hat das alles zu bedeuten, ich verstehe die Welt nicht mehr? Kannst du mir erklären, warum die zwei Männer uns aufgesucht haben, um zehntausend Euro zu fordern. Wir gehören doch nun wirklich nicht zu den Reichen in Frankfurt.“
Dorothea hörte ihrem Mann nur mit halben Ohr zu , sie war zum Kellerfenster gegangen und sah hinaus, ihr Blick fiel direkt auf die Füße des toten Mannes. Er trug weiße Turnschuhe der Marke „Niki“, die Sohle war in der Mitte gebrochen, außerdem waren sie nach innen stark abgelaufen. Von dem jüngeren Mann war keine Spur zu sehen und Dorothea fragte sich, ob dieser vielleicht schon im Haus war und die Schränke nach Geld oder anderen Wertsachen durchsuchte.
Gestern erst hatte sie zehntausend Euro auf der Sparkasse abgehoben, mit denen sie die Handwerker bezahlen wollte, die übermorgen die Hauswände streichen sollten. Sie hatte das Geld vorsorglich im Tresor eingeschlossen und war sich deshalb ziemlich sicher, dass es nicht entwendet werden konnte. Ihr Mann unterdessen bekam keine Luft mehr, er röchelte heißer, lockerte den Knoten seiner Krawatte und streifte diese über seinen Kopf mit den dichten grauen Haaren ab. Seine Frau gab ihm ein Handtuch, damit er sich den Schweiß von der Stirn wischen konnte, füllte ein Glas mit Leitungswasser und reichte es ihm. „Danke, meine Liebe“, hüstelte Richard. Dorothea durchquerte wieder den Raum und blickte erneut aus dem Kellerfenster, um zu schauen, ob die Polizei inzwischen angekommen sei.
Sie war überrascht und ein Schrei schrill und lautstark, wie der einer Möwe, die ihre Jungen beschützt, fuhr aus ihrer Kehle. „Riiicharrd“; ihre Stimme überschlug sich, sie nahm noch einmal Anlauf, aber es kam kein Ton über ihre schmalen Lippen. Mit zitternden Händen zog sie ihren Mann von der Trainingsbank und zeigte mit ihren lackierten Fingernägeln auf den Weg vor dem Kellerfenster. Der tote Mann mit den weißen Turnschuhen lag nicht mehr auf dem Weg, stattdessen taumelte der junge Mann mit einer Wunde am Bauch und seinem Handy in der Hand an der Hauswand entlang. Er hielt sich mit der rechten Hand die klaffende Wunde zu, ein Küchenmesser mit hellroten Blutspuren lag vor seinen Füßen. Mit der anderen Hand filmte er wie das Blut aus seinem Körper tropfte.

… sagte er dann mit bebender Stimme zu seiner Frau und sackte in sich zusammen. Im nächsten Moment saß er auf dem kalten Fliesenboden, mit dem Rücken an die geschlossene Haustür gelehnt.
Immer wieder tönte der Todesschuss in seinem Kopf. Und immer wieder sah er in das verzerrte Gesicht des Selbstmörders im Augenblick der Tat. Das viele Blut überall. Ihm wurde noch übler.
Die drängenden Fragen seiner Frau, die wissen wollte, was da draußen geschehen war, drangen kaum zu ihm durch. «Er hat einfach abgedrückt», stammelte er schließlich.
Erst die Autos, die sich mit hohem Tempo und Martinshörnern dem Haus näherten und dann stoppten, rissen ihn aus der Endlosschleife der Gewalttat, die sich in seinem Kopf wie ein Karussell drehte.
Inzwischen stand er wieder auf den Beinen und wartete auf das Läuten der Kripobeamten. Doch plötzlich ließ Richard seine Frau allein in der Diele zurück und bewegte sich seltsam roboterhaft in Richtung Arbeitszimmer. Dort öffnete er den Safe und nahm einen Umschlag heraus. Genau zehntausend Euro.

Es handelte sich um die Anzahlung für ein neues Auto. Morgen wollte er den Wagen abholen. Damit hätte er also ein Menschenleben retten können …
«Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!», dröhnte erneut die Stimme des jüngeren Mannes in seinen Ohren.
Hätte er …? Nein! Er hatte richtig gehandelt. Wer hätte einem Fremden bereitwillig so viel Geld ausgehändigt. Und wer um Himmels willen hätte denn damit gerechnet, dass dieser Typ sich tatsächlich vor seinen Augen eiskalt selbst auslöscht.

Inzwischen war die Polizei im Haus. Er legte den Umschlag zurück in den Safe und betrat das Wohnzimmer, wo sich ihm zwei Kriminalbeamtinnen vorstellten. Sie forderten ihn auf, die Tat detailliert zu schildern. Also beschrieb er die Situation so genau wie nur möglich.

«Wir haben aber weder auf der Treppe vor dem Haus, noch in der näheren Umgebung eine Leiche gefunden. Der Mann soll sich erschossen haben, sagen Sie. Weit und breit war kein Tröpfchen Blut zu entdecken. Das ist ungewöhnlich. Auch erste Befragungen in der Nachbarschaft sind ergebnislos geblieben. Niemand hat einen Schuss gehört. Wie erklären Sie sich das, Herr Berger?»

Er sah noch einmal durch den Spion. Der Mann mit dem Handy war nicht mehr zu sehen. Gott sei Dank.
Berger stand bleich und regungslos da, hielt sich an der frisch polierten Kommode aus Nussbaum fest und starrte sie an. Er dachte kurz an seinen Vater, welcher ihm die Kommode vererbt hatte. Er war im Krieg erschossen worden.
Die Stimme seiner Frau riss ihn zurück in die Gegenwart. »Die Polizei? Was war das für ein Knall?«
»Er hat sich umgebracht, einfach erschossen«, sagte Berger mit leiser Stimme zu seiner Frau.
Dorothea verstand gar nichts. Sie wusste dennoch, etwas stimmte ganz und gar nicht. So hatte Sie ihren Mann noch nie gesehen. Sie lief auf die Tür zu, nahm den Türgriff in die Hand und wollte sie öffnen, doch Berger drückte sich zwischen seine Frau und die Tür und schrie: »Mach nicht auf, da liegt ein Toter, er hat sich vor mir umgebracht, da ist alles voller Blut!«
Dorothea trat einen Schritt zurück. »Was redest Du da, was meinst Du damit, da liegt ein Toter vor der Tür?«
»Er hat sich vor unserem Haus erschossen.«
»Erschossen? Auf der Straße?« Dorothea ging wieder auf die Haustür zu, doch Berger hielt sie zurück. »Bleib hier, geh da nicht raus. Der andere ist vielleicht noch da.«
Sie drängte ihn zur Seite und sah durch den Spion und konnte den Mann auf dem Boden sehen. »Ist er tot?«
»Sieht so aus. Wir bleiben lieber im Haus. Da ist noch einer. Der hat alles gefilmt. Ruf erst mal die Polizei, ich sehe an der Terrassentüre nach. Vielleicht will er ins Haus.«
Richard Berger bekam weiche Knie. Er versuchte, tiefer und ruhiger zu atmen, doch sein Atem zitterte. Er näherte sich langsam der Terrassentür. Durch den Vorhang konnte man ihn von draußen sicher nicht sehen. Ganz nah am Vorhang sah er vorsichtig in beide Richtungen. Der Garten war leer. Während er in den Flur zurückging, fragte er sich immer wieder, ob das alles wirklich geschehen war.
Plötzlich klopfte und klingelte es an der Tür. Berger und seine Frau starrten sich an. Eine laute Stimme sagte: »Herr Berger, machen Sie die Tür auf, hier ist die Polizei!«

Mit dem Smartphone in der Hand, die Hände zitternd lief der junge Mann die Straße entlang. Ständig schossen ihm die Bilder und Gedanken durch den Kopf. Er ist tot. Mein Vater ist tot. Tränen flossen ihm über die Wange. Jetzt war es passiert. Er hatte nicht erwartet, dass der Schmerz so groß sein würde. Doch er musste ihn verdrängen. Du wolltest es doch so. Ich soll kämpfen. Es ist alles richtig.
Diese Kapitalisten-Schweine.
Dann postete er das Video.

Finn rannte, als ginge es um sein Leben. Tatsächlich war es so – nur anders, als man es sich vorstellen würde.
Er wollte das nicht. Er wollte nicht, dass Gunther stirbt. Das Geld war ihm egal. Finn wollte einfach nur überleben. Noch nie zuvor hatte er solche Angst verspürt.
Sein Puls raste, als er um die Ecke bog und dabei ein Kleinkind umrannte. Mit Mühe konnte er sich auf den Beinen halten. Die Rufe der aufgebrachten Eltern drangen gar nicht zu ihm durch. Weg hier, dachte er nur, so schnell und so weit wie möglich.
Gunther hatte sich tatsächlich vor seinen Augen erschossen – ohne zu zögern. Finn fühlte sich schuldig. Dabei kannte er Gunther gar nicht. Sie hatten sich erst vor ein paar Stunden kennengelernt und kein Wort miteinander gewechselt. War Gunther wie er in diese Sache hineingeraten? Was hatten diese Leute gegen Gunther in der Hand, dass er so weit gegangen war, sich das Leben zu nehmen? Und das alles wegen … ja, wegen was eigentlich?
Finn verstand es nicht. Es ergab keinen Sinn. Trotzdem hatte er seine Rolle gespielt und alles aufgezeichnet. In dem Video hatte er diesen reichen Schnösel als Mörder beschimpft. Wer würde so etwas glauben?
Sein Herz hämmerte in seiner Brust. Es fühlte sich an, als könnte es jeden Moment herausplatzen und wie ein Alien seinen Brustkorb durchstoßen.
Was hatte er nur getan? In was für ein krankes Spiel war er da hineingeraten?
Finn hatte sich doch nur ein bisschen dazuverdienen wollen. Ein paar harmlose Streiche, nichts Schlimmes. Vor ein paar Monaten hatte er damit begonnen, für Freunde Swatting und Doxing zu betreiben. Er hatte falsche Notrufe abgesetzt, Anschuldigungen erfunden, Unschuldige bloßgestellt und intime Details aus ihrem Privatleben veröffentlicht – mal echte, mal gefälschte. Finn hatte die Erfahrung gemacht, dass es egal war, ob die Vorwürfe stimmten oder nicht. Alles, was einen Skandal erzeugte, wurde mit Genuss weitererzählt. Aber seines Wissens nach war nie jemand ernsthaft zu Schaden gekommen. Hatten sie ihn deswegen ausgewählt? Weil er so gut darin war, Leute zu verunglimpfen?
Bäume und Sträucher flogen an ihm vorbei, während er durch den kleinen Park rannte. Dann rempelte er eine junge Frau an, aber er nahm es nicht wahr. Er war wie in einem Tunnel. Weiter, immer weiter.
Seine Lunge brannte vor Schmerzen. Auf dem Weg lagen ein paar nasse Blätter. Er rutschte aus und fiel krachend auf den schmierigen Asphalt. Finn ächzte und blickte sich panisch um. Niemand verfolgte ihn – keine Polizei, keine Maskierten, kein Berger. Er sprang auf, ignorierte die brennenden Hände und rannte weiter.
Diese Verrückten waren irgendwie auf ihn aufmerksam geworden. Womöglich hatten sie seine Kontaktdaten aus dem Darknet. Anders konnte Finn es sich nicht erklären. Eines Tages hatten sie vor seiner Tür gestanden – maskiert und schlecht gelaunt. Allein der Gedanke daran ließ seinen Magen verkrampfen.
Finn blieb abrupt stehen, als er den weißen Van am vereinbarten Treffpunkt erblickte. Er wischte sich die Tränen vom Gesicht, versuchte tief durchzuatmen und sich zu beruhigen, aber er bekam kaum Luft.
Er wankte ein paar Schritte, dann musste er sich übergeben.
Die Erinnerungen der letzten Tage stachen wie Messer in seiner Brust. Ein breitschultriger Typ hatte ihn fast bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt. Währenddessen hatte ein älterer Mann Fiona gepackt und ihm gedroht, dass er das Schicksal seiner Katze teilen würde, wenn er ihre Forderungen missachte. Dann hatte Finn zusehen müssen, wie Fiona …
Allein der Gedanke brachte ihn erneut zum Würgen. Die arme Fiona. Sie hatte das nicht verdient. Gunther hatte das nicht verdient. Und er selbst hatte es auch nicht verdient. Er war doch kein böser Mensch.
Gerade, als Finns Magen sich beruhigt hatte, packte ihn jemand von hinten und zerrte ihn grob weg. Ehe er es sich versah, war er im Van, eingekesselt von drei vermummten Gestalten.
»Lief alles wie besprochen?« fragte der ältere Mann vor ihm.
Finn sah sich ängstlich um, dann nickte er heftig.
»Gunther?«
»Tot«, presste Finn hervor.
»Hast du das Video?«
Wieder nickte Finn.
»Gut, gib mir dein Telefon.«
Finn reichte ihm das Smartphone und betete, dass sie ihr Versprechen halten und ihn freilassen würden.
Der Mann sah sich das Video an. Finn zuckte zusammen, als er den Schuss hörte. Er presste die Augen fest zu und wünschte sich, ganz weit weg zu sein. Ihm wurde erneut übel, als er seine eigene Stimme und die falschen Anschuldigungen mithören musste.
»Du weißt, dass wir dich nicht so einfach gehen lassen können.«
»Was? Nein …«
»Du könntest zur Polizei gehen und alles verraten.«
»Nein, bitte! Ich werde nichts sagen, ich schwöre es!«
»Ich würde dir gerne glauben, Kleiner. Aber es ist so: Berger hat dich gesehen. Und dann dauert es nicht lange, bis dich jemand erkennt. Frankfurt ist groß, aber nicht so groß.«
»Ich gehe weg! Ins Ausland. Marokko, Mexiko, egal wohin. Bitte, bitte …«
»Mach dir keine Sorgen. Es tut nicht weh.«
In dem Moment riss der Breitschultrige Finns Kopf nach hinten, und der Alte presste ihm die Hand auf den Mund.
Finn wollte würgen, doch es funktionierte nicht. Was auch immer der Vermummte ihm in den Mund gesteckt hatte, es entfaltete schnell seine Wirkung.
Die Welt verschwamm vor seinen Augen.
Der Alte zog seine Maske ab. Finn stöhnte, als er in die kalten, blauen Augen Gunthers blickte.
Dann wurde alles dunkel.

Möge das Spiel beginnen!

Ein Knall hallte durchs Haus. Die Eingangstür erzitterte von der Wucht. Das Holz der Bodendiele knarrte aufgeregt unter seinen Füßen. Von draußen drang kalte Luft herein. Richard stürmte zurück ins Wohnzimmer. Völlig außer Atem krächzte er lauthals auf dem langen Flur. »Ruf die Polizei!«

Stille.

Erneutes Poltern schalte durch den Gang. Herr Berger stolperte und fiel gegen die Kommode, die direkt neben der Wohnzimmertür stand. Das kräftige Eichenholz mit den mittelalterlichen Verzierungen bewegte sich keinen Millimeter. Dafür aber geriet Herr Berger ins Straucheln.

In letzter Sekunde griff er nach einem der goldenen Henkel. Derweil sein dicker Zeh ungebremst gegen die harten Holzbeine knallte. Sofort pochte es im Lackschuh. Humpelnd schleppte er sich zu seiner Gattin, die seelenruhig im Ankleidezimmer vor dem imposanten Spiegel stand.

Frau Berger zog sich in diesen Minuten den schwarzen Wollmantel an und war so mit ihrem Spiegelbild beschäftigt, dass sie nichts, was um sie herum geschah, mitbekam. Welche Tragödie sich noch vor Sekunden an der Haustür abspielte? Und dass ausgerechnet ihr Ehegatte Zeuge davon war. Nein, ihre volle Aufmerksamkeit galt einzig und allein den heiß geliebten Schuhen.

Mit einem roten und einem schwarzen Stiletto stand sie da und lief auf und ab. »Hm. Vielleicht sollte ich doch die kirschroten Stilettos nehmen? Was meinst du, Richard? Oder ist das zu übertrieben?«, rief sie aus ihrem Ankleidezimmer.

Normalerweise antwortete ihr Gatte sofort, diesmal jedoch blieb es stumm. Denn Herr Berger tupfte sich gerade mit der dunkelgrünen Krawatte, die er um den Hals trug, den kalten Schweiß von seiner hohen Stirn weg.

Wie eingefroren stand er mitten im Wohnzimmer. Es dauerte etwas, bis er wieder zu sich kam.

Sobald er realisierte, was ihm widerfuhr, versuchte er, sich seine grüne Krawatte mit den goldenen Eurozeichen vom Hals zu reißen.

Urplötzlich wuchs in seiner Kehle ein riesiger Kloß an. Die so staubtrocken wie die Sahara war. Jedes Schlucken glich einer Tortur wie Reißzwecken, die im Rachenraum herumwüteten.

Völlig durch den Wind stampfte er zu seiner Bar, auf die er so stolz war. Die er sich extra im letzten Italien-Urlaub anfertigen ließ von einem begabten Tischlermeister. Und wieder pochte am linken Fuß der dicke Zeh, als hätte er einen eigenen Herzschlag.

Herr Berger fragte sich, ob er jemals wieder in den Italien-Urlaub mit seiner Gattin fahren könnte?

Mit zusammengebissenen Zähnen griff er nach dem erstbesten Scotch aus seiner Sammlung und schenkte sich den teuren Tropfen in ein breites Glas ein. Weiterhin benommen von dem Albtraum, der sich vor seinen Augen vor nicht einmal fünf Minuten abspielte, vergaß er, zwei dicke Eiswürfel hinzuzufügen. Rasch warf er sie hinterher. Ein paar Spritzer Scotch fielen auf die Hand.

Herr Berger stand wie angewurzelt an der Bar. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass seine Gattin mittlerweile zu ihm fand. Sobald er Dorothea erblickte, zuckte er zusammen und ließ das Glas fast fallen.

Mit geöffnetem Mund starrte seine Frau abwechselnd von ihm zu dem halb vollen Trinkgefäß.

»Glaubst du nicht, dass es etwas zu früh dafür ist? Wir müssen gleich zur Messe«, ermahnte sie ihn mit einem strengen Blick. Doch ihr Mann reagierte weder auf sie noch auf ihre strikte Stimme. Er war vollkommen weggetreten.

Da nichts von seiner Seite kam, wedelte Dorothea ungeduldig, mit der Hand vor seinem kreide blassen Gesicht herum.

»Geht es dir gut? Du weißt, dass du heute nicht drumherum kommst. Wir müssen zur Messe. Ich will nicht, dass die alte Nachbarin Frau Engelhard sich wieder das Maul über uns zerreißt. Nur, weil wir nicht in die Kirche stolzieren. Also wage es ja nicht, dich jetzt schon zu betrinken.«

Dorothea regte sich so sehr auf, dass sie kräftig den Ledergürtel an ihrem Mantel zuzog. Fast bekam sie keine Luft mehr. Schnell löste sie den Knoten ein wenig.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihr Mann am ganzen Körper zitterte. Etwas Blut klebte an seiner Wange. Immer wieder verschüttete er den teuren Scotch.

Mit zusammengekniffenen Augen bluffte sie ihn an. »Wenn du so weitermachst, dann ist da nichts mehr drin. Trink jetzt aus, damit wir endlich loskönnen! Ich will nämlich direkt in der ersten Reihe sitzen, sodass uns jeder sieht.«

Aber als Richard abermals nicht reagierte und bebte, trat sie behutsam an ihn heran und legte die Hand auf seine.

»Schatz? Schatz, wer war da an der Tür? Ist alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sie sich fürsorglich. So langsam jagte er ihr eine Heidenangst ein.

Endlich kam er zu sich und starrte sie mit aufgerissenen Augen an. So weit, dass sie fast aus den Augenhöhlen fielen.

»Nie … niemand«, stotterte er.

Wie ein Roboter bewegte er das Glas zu den Lippen und schluckte die goldene Flüssigkeit hinunter. Er verzog dabei nicht einmal eine Miene.

Ein leichter Alkoholgeruch schlug Dorothea entgegen. Mit den Augen fixierte sie seine schief sitzende Krawatte. Selbst die paar Haare standen in alle Richtungen ab. Was war ihm bloß passiert?

Goldene Eurozeichen baumelten vor ihren Augen. Langsam richtete sie den Schlips zu Recht. Bevor sie den Knoten ganz zuzog, schlug er ihre Hand weg.

Mit einem irren Blick schrie er sie an. »Er … er hat sich einfach umgebracht. Geld wollten sie von mir. Daran ist eindeutig diese verfluchte Krawatte schuld. Sie bringt nichts als Ärger. Ich habe sie von Anfang an gehasst.«

Einen kräftigen Ruck und sie fiel zu Boden. Von Weitem sah sie aus wie eine grüne Schlange mit goldenen Farbtupfern. Immer wieder umfasste Herr Berger seine Kehle und atmete schwer aus.

Dorothea wich zurück, ihr Herz raste und die Hände schwitzten. In all den Jahren war ihr Ehemann ihr gegenüber nie so aggressiv aufgetreten.

Richard fiel auf seinen stabilen Ledersessel und Frau Berger schlich zur Eingangstür. Ihr blieb nichts anderes übrig, als selbst herauszufinden, was da draußen vorgefallen war. Bewaffnet mit einem roten Regenschirm und auf Zehenspitzen ging sie zum Fenster.

Vorsichtig lugte sie aus dem Fenster direkt neben der Haustür und zwischen der cremefarbenen Gardine hervor. Ihr Herz schlug wie eine wild gewordene Trommel. Sie stierte in den Vorgarten und fast blieb ihr Herz stehen.

Dieser Anblick war kaum zu ertragen. Wie in einem Horrorfilm waren überall auf dem Boden Blutspritzer verstreut. Eine seltsame, dickflüssige Masse klebte auf den Steinen. Es sah aus wie Hirnmasse.

Am Wegesrand entdeckte Dorothea eine riesige Blutlache, die ihre preisgekrönten Rosenbüsche bewässerte. Woher kam bloß all das viele Blut?

Abermals scannte sie die Gegend ab und erblickte direkt vor der Haustür einen jungen Mann. Zusammengekauert saß er auf dem kalten Steinboden. Die Hände hielten seine Knie fest umschlungen. Ganz sanft wippte er vor und zurück. Die Kleidung hatte die gleichen Blutspritzer wie die auf dem Boden.

Frau Bergers Neugier war stärker als ihre Vernunft, und so öffnete sie leise die Haustür. Erleichtert stellte sie fest, dass es keine Leiche gab. War alles bloß ein schlechter Scherz?

Nervös guckte sie sich um und just in dem Moment, als sie ihren Mann um Hilfe rufen wollte, sprang der Unbekannte zügig auf und lachte. Seine braunen Augen blitzten gefährlich auf.

»Endlich!«, rief er freudig und klatschte in die Hände. Dann zuckte er sein Handy und filmte Frau Berger, die sich automatisch eine Hand vors Gesicht hielt.

Er lief direkt auf sie zu und legte seinen schweren Arm um ihre zarten Schultern.

»Na, na, na. Nicht so scheu, die Dame. Liebe Community, wir haben unsere nächste Teilnehmerin gefunden. Das wird ein Spaß«, lachte er laut und hielt Frau Berger das Handy vor die Nase. Dabei schob er ihr kinnlanges blondes Haar etwas beiseite, damit man ihr attraktives Gesicht besser sah.

»Möge das Spiel beginnen! Wählt weise und ich verschwinde«, zwinkerte er Dorothea zu und küsste sie auf den Mund. Dann zerdrückte er ihre Wangen mit einer Hand.

»Hör gut zu, du naives Ding. Du hast genau drei Optionen zur Wahl.« Lachend hielt er ihr drei Finger vor die Nase.

»A: Gib mir 10.000 Euro und ich verschwinde klammheimlich. Ihr werdet mich nie wiedersehen. B: Du spielst mit der Community und mir. Oder C: Ihr stirbt.«

Ein weiteres Mal schwenkte er mit dem Smartphone zu Dorothea. Die konnte ihre Tränen nicht länger zurückdrängen, sodass sie ihr ungehalten übers Gesicht liefen. Sie versuchte stark, zu bleiben, und streckte selbstbewusst ihr Kinn nach oben.

Der Fremde schubste Frau Berger uncharmant ins Haus zurück. »Dein Mann hatte die Wahl. Er ist ein ekelhafter Geizhals, dem jetzt Blut an seinen Händen klebt. Ich hoffe, du bist nicht so. Es liegt an dir, ob ihr überlebt. Zehntausend Euro oder die Community wird wütend.« Grinste er frech, dabei bildeten sich sympathische Grübchen um seinen Mund.

Sowie Dorothea mit dem Eindringling im Schlepptau das Wohnzimmer betrat, wurde Richard abermals fahl und bekam Schnappatmung …

Offene Enden Teil 2 – Berger rennt – von Falto
Dorothea drückte ihren Mann zur Seite. „Du rufst an“, zischte sie, als sie ihn passierte. Sie schob die Sicherungskette zurück, riss die Tür auf und schleuderte im Loslaufen ihr Gesangbuch dem flüchtenden Handymann hinterher. Im Flug spiegelte das Buch das Sonnenlicht. Trotz ihres langen Rocks und den Schuhen mit den hohen Absätzen holte sie den anderen Kerl überraschend schnell ein. Das nutzte sie und hob im Laufen das Buch auf. Dann verschwanden beide kurz nacheinander durch das Vorgartentor und bogen nach links ab, wo Berger sie wegen der dichten Thujahecke aus den Augen verlor. Er hörte Doro noch rufen. „Stehenbleiben, Hilfe, Polizei.“ Doch die Rufe wurden schnell leiser und erstarben schließlich vollständig.
Er lenkte seinen Blick vom Gartentor zurück vor die Stufen, die zur Haustür führten. Ein versiegender Fluß aus rotem Sirup strömte die Platten des Fußwegs bis zur Treppe, wo die Flüssigkeit im Abtreter versickerte, der über einem Rost lag, der wiederum den Schmutzfang abdeckte. Von dem „Willkommen“ im Abtreter war in diesem Augenblick lediglich noch ein „W…omm“ lesbar. Berger schluckte. Er konnte in dem Chaos aus Sirup und verschmiertem Haar, das der Kopf des bewegungslosen Körpers zur Schau stellte, ein weit aufgerissenes Auge erkennen, das ihn direkt und vorwurfsvoll zu fixieren schien.
Im Fangstrahl des fahlen Auges griff er hinter sich in die Diele zu dem Möbel, auf dem ein schnurloses Telefon in einer Ladeschale steckte. Als seine Rechte das Mobilteil umschloss, übte es auf ihn eine willkommene Ruhe und Sicherheit aus. Er dachte kurz nach, steckte das Mobiltelefon in seine Jackentasche und trat vorsichtig an den Körper auf dem Weg heran. Selbst jetzt, aus einer völlig anderen Perspektive, schien ihn das Auge des Fremden anzusehen. Berger ging in die Hocke, reckte die Arme, so dass die Ärmel der Jacke und des Hemds zurückrutschten, holte tief Luft und fühlte schließlich mit zwei Fingern und angehaltenem Atem nach, ob der Körper da unten auf Fußweg nicht doch noch einen Puls bot. Er blickte zu Boden, solange seine Finger am Hals des Fremden nach Lebenszeichen suchten, und stellte fest, dass sich von der Treppe weg in Richtung Gartentor graues, stinkendes Gewebe verteilt hatte. Er hatte erst gestern die Platten mit dem Hochdruckreiniger abgewaschen. War das Gewebe etwa …? Berger riss die sondierenden Finger zurück, drehte sich grade rechtzeitig zur Seite. Mit lautem Würgen übergab er sich in den frisch gemähten Rasen am Rand des Fußwegs.
Sobald das Gröbste raus war, zog er das Mobiltelefon aus der Jackentasche und wählte die Notrufnummer. Mit monotoner Stimme nannte er ohne Punkt und Komma seinen Namen, seine Adresse und erklärte, dass ein Toter im Zugang zu seinem Haus rumlag. Und ohne weitere Anweisungen abzuwarten, packte er das Telefon zurück in seine Jackentasche, wandte sich erneut dem bewegungslosen Körper zu und ließ diesmal seine Hand die Innentaschen der Jacke des Fremden untersuchen. Für Berger stand es ganz eindeutig fest, dass Gott ihm nicht einfach so den Sonntag ruinierte. Nichts geschieht einfach so. Und dass Doro ihr geliebtes und kostbares Gesangbuch nach Verbrechern warf, passte genauso wenig in sein Leben, wie roter Sirup und graues Gewebe auf seinem Gehweg. Egal wie er es auch drehte.
Dann stießen seine Finger in den Tiefen der unbekannten Jacke auf einen prall gefüllten, weniger als handbreiten Umschlag, hielten inne und warteten reglos auf weitere Anweisungen. Bargeld. In großen Scheinen schoss es ihm durch den Kopf. „Die Wege des Herrn sind unergründlich, halleluja“, murmelte er. Das flaue Gefühl in der Magengegend machte einer gespannten Neugier Platz. Verbarg die Jacke des Fremden weitere Geheimnisse? Die Finger setzten sich wieder in Bewegung, packten den Umschlag und gaben ihn erst wieder frei, als sie im Freien waren, die Finger der anderen Hand den Umschlag in Empfang nahmen und die Beute in einer Innentasche seiner eigenen Jacke verschwinden ließen. Schließlich setzte sich die Erkundungstour auf der anderen Seite der Jacke fort. Sie förderte einen blassgelben, ungebrauchten Wrigley’s Juicy Fruit, ein einfaches Klappmesser mit Korkenzieher, Kekskrümel und eine Parkplatzkarte zum Vorschein, die den Besitzer autorisierte, den Parkplatz beim Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte zu benutzen. Eine Frankfurter Fahrzeugnummer war mit einem dünnen Filzstift draufgeschrieben. Kaum lesbar. Wer war dieser Kerl, fragte sich Berger unwillkürlich und richtete sich auf. Vielleicht der Hausmeister des Instituts?
Außerdem, wo blieb die Polizei, wunderte er sich. Sollen die sich damit beschäftigen, beschloss er und wollte zurück ins Haus. Ohne darüber nachzudenken, schob er die Fundsachen in eine seiner leeren Jackentaschen. Beim zweiten Schritt an dem Toten vorbei stieß sein Fuß gegen einen schwereren Stein. Hier gibt es keine Steine, erinnerte er sich und suchte die Stelle ab, wo der Stein liegen musste. Es war die Pistole, mit der sich der Typ kurzentschlossen das Licht ausgeblasen hatte. Berger bückte sich und nahm die Waffe an sich. Es war das erste Mal, für ihn, eine Waffe in der Hand zu halten. Sie hatte Gewicht und roch irgendwie nach gebrauchten Chinakrachern. An einer Stelle zeigte sie zahllose Kratzer und Riefen. Wie im Tatort, stellte er fest. Die hatten die Seriennummer entfernt.
Sirenengeheul näherte sich. Sehr rasch. Berger blickte zur offenen Haustür und schüttelte den Kopf. Erst Doro! Dann dieser ganze Kram. Er biss sich auf die Lippen und rannte los. Er passierte das Vorgartentor und bog links ab. Wo er gut sichtbar mit der Pistole in der Hand an einem Polizeiwagen vorbeilief. Reifen quietschten. Berger rannte, was das Zeug hielt. Türen knallten. Noch fünfzehn Meter bis zur Straßenecke. „Polizei, stehen bleiben. Oder wir machen von der Schusswaffe Gebrauch!“ Weniger als zehn Meter bis zur Straßenecke. Berger schlug im Laufen einen Haken. Etwas pfiff ihm am Ohr vorbei. Unmittelbar gefolgt von einem Knall. Jemand rannte hinter ihm her. Berger bog links ab.
Die Straße vor ihm bot auf beiden Straßenseiten steril arrangierte Vorgärten. Jeder von ihnen übersichtlich wie auf einem Schießplatz. Keine Autos, die am Straßenrand parkten. Dafür jede Menge Carports und Garagen. Die Zweite auf seinem Weg stand offen. „Sofort stehenbleiben“, rief jemand hinter ihm. Berger sprintete auf das offene Garagentor zu. Ein Blick in die Garage zeigte ihm von einem Neunelfer halbverdeckt eine offene Seitentür, die ins Wohngebäude führte. Berger zögerte nicht einen Augenblick. Er rannte durch die Garage an dem Porsche vorbei ins Haus hinein. Direkt hinter dem Eingang zum Wohnbereich prallte er gegen einen Mann. Beide stürzten. Im Fallen gelang es Berger, die Zwischentür zuzustoßen. Der andere wollte wie Berger aufspringen, verharrte unerwartet und zeigte auf die Pistole, die dem Eindringlin aus der Hand gefallen war. „Berger? Sie? Woher haben Sie die? Sie haben denen doch hoffentlich die zehntausend Euro überlassen.“
Berger klappte vor Verblüffung die Kinnlade runter. Inzwischen erkannte er seinen Nachbarn wieder, Thalmann oder so. Ihre Gartengrundstücke grenzten aneinander. Mehr nicht.
„Haben Sie nicht“, stellte der andere nüchtern fest. Ein Lächeln nistete sich unter dem gezwirbelten Schnurrbart ein. Alles an ihm schien sich zu entspannen. „Sie sitzen in der Tinte. Aber so richtig.“
Keine Zeit für Fragen. War keine gute Idee, die Waffe vom Tatort zu entfernen, erkannte Berger. Er hob die Pistole auf und beruhigte seinen Atem. Für eine Millisekunde streifte sein Blick einen umgestürzten Eimer, aus dem die Ecke eines Buches mit Goldschnitt herausragte. Berger wollte sich zu dem Buch runterbeugen. Im gleichen Augenblick hämmerte es an der Verbindungstür von der Garage zum Wohnhaus. Er musste weiter. Ohne seinem Nachbarn eine Erklärung zu geben oder sonst wie zu würdigen, gelangte er über den Flur ins Wohnzimmer, von dort auf die Terrasse und verschwand in der dichten Thujahecke seines eigenen Grundstücks.

Sofort folgte Dorothea seiner Anweisung. Draußen stand immer noch der Mann mit dem Handy und brüllte herum.
„Schwein! Ausbeuter! Kapitalist! Mörder!“ Diese Worte sprühte er mit roter Farbe auch an die Hausfassade.
Richard fühlte sich, als würde ein Schraubstock um seinen Brustkorb immer weiter zugezogen werden.
„Wir brauchen auch einen Notarzt für meinen Mann!“, gab seine Frau zittrig am Telefon durch.
Bis die Rettungskräfte eintrafen, blieb Dorothea an der Seite ihres Mannes und hielt seine Hand. Sie traute sich nicht auch nur einen Blick nach draußen zu werfen. Allein das Gebrüll des Fremden machte ihr Angst. Richard hingegen schien überhaupt nicht anwesend zu sein. Sein Blick war leer und er rührte sich nicht.
Die Retter betraten das Haus, darauf bedacht, nicht auf den Toten vor der Tür zu treten, während zwei Kommissare sich die Leiche genauer ansehen.
Sie machen sich Notizen und wollten eigentlich mit Herrn Berger sprechen, doch der ist nicht in der Lage dazu auch nur irgendetwas zu sagen.
Der Fremde, der alles gefilmt hatte, hat vor Eintreffen der Polizei das Weite gesucht.

Im Krankenhaus kümmern sich ein paar Ärzte und Pfleger um den Schockpatienten. Am Abend hatte er sich wieder einigermaßen gefasst und war bereit, mit der Polizei über den Vorfall zu sprechen.
Als sie auf die Beamten warteten, sahen sie die Nachrichten. Es wurde über ein Video berichtet, das innerhalb von Minuten viral ging, bevor es von den Social Media Plattformen gebannt wurde. Es zeigte einen Mann, der sich erschossen hatte, weil ihm ein vermeintlich reicher Mann keine 10.000 Euro geben wollte.
Richard überkam das Gefühl, dass dies erst der Anfang war und seinen eigenen gesellschaftlichen Untergang einläuten könnte.

Dorothea sah ihn mit großen Augen an. Während des Gesprächs zwischen ihm und den Männern hatte sie nur weniger Meter neben ihm gestanden und jedes Wort mitgehört.

„Der Knall“, wisperte sie mit zitternder Stimme. „Hat er sich gerade wirklich …?“

Berger schüttelte entschieden den Kopf. „Ruf die Polizei“, wiederholte er streng.

Sofort eilte seine Frau ins Wohnzimmer und kurz darauf hörte er ihre gedämpfte Stimme, die stockend mit dem Polizeibeamten am anderen Ende der Leitung sprach. Berger sah auf seine Hände hinab. Sie zitterten.

Hatte der Mann sich gerade wirklich vor seiner Haustür in den Kopf geschossen? Wieder schüttelte er den Kopf. Das konnte nicht sein. Niemand würde sich mitten am Tag vor seine Haustür stellen, versuchen, ihn um Zehntausend Euro zu erpressen und sich dann umbringen. Die beiden Männer könnten doch nicht ernsthaft gedacht haben, dass er ihnen das Geld gab, wegen so einer lächerlichen Drohung?

„Ja, lächerlich“, wiederholte Berger leise. Ganz bestimmt hatte der Mann Kunstblut an sich gehabt und die Pistole war nur mit Platzpatronen gefüllt gewesen. Seine Frau hatte schon die Polizei gerufen, die sich in wenigen Minuten der beiden Männer vor seiner Tür annehmen würde. Trotzdem konnte er sich eines unguten Gefühls nicht erwehren, das von ihm Besitz ergriff. Der Schuss hallte noch immer in seinen Ohren nach, die Angst in den Augen des bärtigen Mannes war zu echt, um vollends gespielt zu sein.

Langsam näherte er sich erneut seiner Tür und lauschte nach den Stimmen der Männer. Er hoffte fast, er würde den jungen Mann noch einmal „Kapitalist, Schwein!“ rufen hören. Dann würde er sich darin bestärkt sehen, dass dies alles nur ein böser Streich von radikalen Anarchisten war.

Doch vor seiner Tür blieb es still. Als Berger die Sicherheitskette löste und die Tür langsam öffnete, betete er, dass kein lebloser Körper vor seiner Haustür liegen würde. Dass er nicht die Schuld an dem Mord trug, dessen ihn die Polizei in wenigen Minuten beschuldigen würde.

Berger richtete den Blick geradeaus. Der Typ mit dem Smartphone war verschwunden. Der andere Mann aber … langsam senkte Berger den Blick gen Boden. Doch da war nichts. Dort lag keine Leiche, kein Hinweis darauf, dass sich soeben ein Mann vor seinen Augen das Leben genommen hatte. Kein Blut sprenkelte die Pflastersteine, nichts. Vor Erleichterung sackten seine Knie ein wenig ein. Er schlug die Hände vors Gesicht, atmete tief durch.

Alles war gut. Es war nur ein böser Streich gewesen.

Dann spürte er eine Berührung an seiner Seite. Er zuckte zusammen, doch es war nur seine Frau, die, blasser als sonst, auf die Stelle guckte, an der der Mann nach seinem angeblichen Kopfschuss zusammengesackt war.

„Was ist das?“, murmelte sie. Berger wollte sie zurückhalten, doch seine zittrigen Hände streiften sie nur. Dorothea bückte sich und las ein Handy vom Boden auf. Sie besah es sich und legte es dann in seine Hand. „Ist das von den Männern?“

„Nein“, hauchte Berger, doch erkannte im selben Moment, dass es genau das war. Dort in seinen Händen befand sich das Smartphone des jungen Mannes, der ihn vor einem Moment noch so wüst beschimpft hatte und von dem jetzt keine Spur mehr zu sehen war. Es war noch warm.

In der Ferne hörte Berger bereits die ersten Sirenen der Polizeiwagen. Doch seine Aufmerksamkeit galt ganz dem schwarzen Gerät in seinen Händen. Dort unten in der Ecke befand sich ein kleiner Spritzer. Wasser? Vorsichtig wischte er darüber. Auf seinem Finger hinterblieb eine schmale rote Spur.

Im selben Moment leuchtete der Bildschirm des Smartphones auf. Eine Videoaufnahme begann wie von selbst, sich abzuspielen. Es zeigte den bärtigen Mann vor seiner Haustür. Nur kurz sah man sein Gesicht und seine braunen Augen, in denen die blanke Angst stand. Er drehte den Kopf zur Tür, klingelte und er selbst, Richard Berger, öffnete.

Dorothea stieß einen entsetzten Schrei aus, als sich die Szene auf dem flackernden Bildschirm abspielte. Berger hörte den Schuss, sah sein eigenes entsetztes Gesicht auf der Kamera.

Und dann, während sich die näherkommenden Sirenen wie ein Schlaghammer in seine Ohren bohrten, wurde der Bildschirm des Smartphones weiß. Große, rote Lettern flackerten grotesk verzerrt über den weißen Hintergrund und ließen Berger wie betäubt zurück.

„JETZT BIST DU DRAN.“

Kein Enkeltrick
von petias

Auf der Straße parkten ein Rettungswagen und mehrere Polizeiautos. Leute in weißen Kitteln, Handschuhen und Plastiktüten über den Schuhen liefen hin und her. Der Leichnam war mit einem Tuch abgedeckt.
Im Wohnzimmer saßen Herr und Frau Berger auf dem Sofa. Dorothea Berger wirkte verstört. Sie wusste nicht, was sie schlimmer finden sollte, dass der wöchentliche Kirchgang ausfallen musste, oder dass überall auf dem Grundstück Leute herumliefen. Die Sache mit der Leiche, die draußen auf dem Plattenweg lag, verdrängte sie komplett.
Richard Berger war einerseits erleichtert, dass er noch lebte, andererseits verstand er nicht, wie ausgerechnet ihm so etwas Skurriles passieren konnte.
Die Kriminalhauptkommissarin Furtler saß den Bergers im Sessel gegenüber. Auf der Marmorplatte des niedrigen Wohnzimmertisches standen drei Tassen Kaffee und ein Teller mit Keksen, die aber niemand anrührte.
Frau Furtler stellte ihre Kaffeetasse zurück auf den Tisch. Der Kaffee war besser als der aus dem Automaten auf der Wache, aber nicht so wie ihrer zuhause.
„Der Mann mit dem Handy war einen halben Kopf größer als der Tote, sagen sie? Das macht ihn ca. 185 m groß. Hatte er auch einen Bart?“
Herr Berger konnte sich nicht erinnern. Er sollte morgen um 9 auf die Wache kommen, um ein Phantombild zusammen mit dem Polizeizeichner zu erstellen. Viel würde nicht dabei herauskommen, ahnte die Kommissarin.


Enzo war nach ein paar Umwegen - nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand im folgte - zum Haus seines Mentors gelaufen. Er saß im Behandlungszimmer des Psychiaters und erzählte von seiner Aktion.
„Hast du denn allen Ernstes erwartet, dass der Mann dir 10000 Euro geben würde? Du hast ihn doch weder erpresst, noch kannte er den Mann, der drohte sich umzubringen. Vielleicht wenn er ein Freund gewesen wäre, oder ein Verwandter, aber ein Fremder? Ein Enkeltrick würde schließlich auch nicht funktionieren, wenn die Oma die Stimme der Enkelin nicht glaubte erkennen zu können.“

„Das ist kein Enkeltrick!“ Enzo schmunzelte. Er schien die Vorurteile seines Mentors zu genießen.
„Das war nur der erste Akt in einem Stück, von dem bald die ganze Welt sprechen wird. Du wirst schon sehen. Ich werde dir Stoff für dein nächstes Buch liefern, das mit Sicherheit ein Bestseller wird.“

„Und Du wirst in die Annalen der Kriminalgeschichte eingehen als ein Mann, gegen den Jack the Ripper und Charles Manson wie Engel aussehen!“
Der Psychiater lächelte spöttisch.
„Aber wie hast du den armen Mann dazu gebracht, sich freiwillig zu erschießen?“
Jetzt lächelte Enzo vielsagend.


Herr Berger war vor seinem Termin bei der Polizei noch eben schnell in seinem Reisebüro gewesen, um seine Angestellte Gisela wegen seiner Abwesenheit zu instruieren. Das Geschäft öffnete um 9 und Gisela sollte gegen 8:30 Uhr eintreffen.
Sie trafen beide fast zur selben Zeit am Landen ein und waren schockiert. In blutroten Buchstaben mit heruntergelaufenen Farbtropfen stand da:

Mörder! Geizhals! Schwein! Kapitalist!

Gisela war so verstört, dass ihr Chef sie nachhause schickte. Der Laden bleib zu. Richard Berger machte Fotos mit der Handykamera und fuhr auf die Polizeiwache.

Er ließ die Sache mit dem Phantombild sein und verlangte Frau Furtler zu sprechen. Nachdem er ihr die Fotos gezeigt hatte, schickte sie die Spurensicherung zum Reisebüro sowie Kollegen, die die Nachbarn befragen sollten. Sie selbst befragte Herrn Berger nach unzufriedenen Kunden, aber dem war da noch etwas anderes eingefallen. Er erinnerte sich an die Worte des Filmers: „Geben sie ihm die 10000 Euro, sie haben das Geld!“

Woher wollte der Mann das wissen? Herr Berger hatte versucht sein Geld mit Finanzspekulationen zu vermehren. In dem Zusammenhang gab es einen Post in Twitter, der sich auf die Anzeigen eines Finanz- und Erfolgscoach bezog, der nach Opfern suchte.
Herr Berger hatte ein solches Seminar besucht und allen Interessenten abgeraten, es ihm gleich zu tun Er hatte nicht ganz wahrheitsgemäß berichtet, dass er 10000 Euro gespart hatte und damit begonnen, an der Börse zu spekulieren, und es ihm gelungen wäre, schon nach wenigen Monaten die verlorenen Kosten des Seminars durch Spekulationsgewinne wieder hereinzuholen.

„Wissen sie Frau Hauptkommissarin, die Leute machen immer denselben Fehler. Wenn ein Papier anfängt zu steigen, dann steigen sie alle ein. Das Papier steigt weiter. Die Leute werden gierig und hoffen auf mehr. Sie verpassen den Ausstieg, ich meine, sie verkaufen nicht rechtzeitig und fallen dann auf die Schnauze, wenn das Paper dann ins bodenlose fällt, weil die Großinvestoren das so geplant haben, dann machen sie herbe Verluste.“

Frau Furtler war nur mäßig interessiert, sie ließ sich aber die Daten des Seminars geben, das Herr Berger besucht hatte. Sie wollte die Spur verfolgen.

Berger lehnte sich fassungslos an die geschlossene Türe.

»Was war das für ein Knall?«, fragte Frau Berger »Ruf endlich die Polizei«, schrie Ihr Mann sie an. »Er hat sich tatsächlich erschossen«, murmelte er mit starrem Blick vor sich hin.

So außer Fassung hatte sie Ihren Mann nicht einmal nach seinen erfolglosen Börsen Eskapaden gesehen und ahnte, dass etwas sehr Schlimmes passiert sein muss. Ohne weiter nachzufragen, eilte Sie zum Telefon. Kurz bevor Sie den Hörer abnehmen konnte, fing der Apparat an zu klingeln.

Dieses Klingeln lies Frau Berger erschrocken zusammenzucken und Ihren Mann, der noch immer an der Türe lehnte, riss es aus seiner fassungslosen Ohmacht. Er eilte zu seiner Frau, ins Wohnzimmer, wo das Telefon stand. Beide starrten auf das bedrohlich klingelnde Telefon. Wer konnte das jetzt sein, ein Zufall?, all Ihre Bekannten wussten, dass sie sonntags um diese Zeit normalerweise in der Kirche waren. Frau Berger wollte zaghaft zum Hörer greifen. Aber Ihr Mann hinderte Sie, indem er sie leicht am Arm festhielt. Beide standen wie erstarrt vor dem Hörapparat.

Ein erneutes Klingeln schüttelte beide aus ihrer Hilflosigkeit. Energisch griff Herr Berger jetzt zum Hörer, er war schließlich der Mann im Haus. Er hob mit zittriger Hand ab. »Hall…,« er räusperte sich und stotterte ein unsicheres Hallo heraus. Ein Mann mit dunkler Stimme war am anderen Ende. »Bleiben Sie ganz ruhig, rufen sie nicht die Polizei, wir kümmern uns um alles.«

»Wer sind Sie, was soll das? Fragte Berger aufgeregt.«

»Nennen sie mich Eduard, ich werde sie von jetzt an begleiten.«

»Wie begleiten?, ein Mann hat sich erschossen, vor meiner Haustüre.« Stammelte Berger ins Mobilteil seines Telefons.

»Ich weiß«, antwortete der geheimnisvolle Eduard am anderen Ende, der ruhig und sachlich klang, »Ich hab’s gesehen«.

»Wie, gesehen?«, fragte Berger erschrocken nach, »Ich kann nichts dafür, er hat sich erschossen, einfach so erschossen« in Berger, der es gewohnt war, zu verhandeln, über Preise von Hotels und Fluglinien, machte sich das Gefühl der Hilflosigkeit breit, was wurde hier gespielt, wie konnte dieser Unbekannte das gesehen haben? Es war niemand vor der Tür, nur der Erschossene und der andere mit dem Handy, der mit dem Handy, fiel Berger auf einmal wieder ein, er hat alles gefilmt. Und er hat ihn beschuldigt und beschimpft.

»Einfach so erschossen ist ja wohl nicht ganz richtig« sprach Eduard vorwurfsvoll, oder schon eher anklagend ins Telefon.

»Er hat Ihnen doch eine Wahl gelassen, Sie hätten es verhindern können.«

»Ich, ich kann nichts dafür« stotterte Berger in den Hörer, »Niemand denkt dass sich jemand einfach so erschießt«

»Ich kann Ihnen versichern dass er sich nicht – einfach so – erschossen hat«. Stellte Eduard, mit überzeugter Stimme klar.

»Haben sie jemanden der ihnen 20.000€ geben kann?«. Fragte Eduard nach, so als ob es keine Alternative gab.

»Ich habe 20.000€« antwortete Berger spontan.

»Was will der« fragte Berger‘s Frau dazwischen.

»Ich weiß nicht, Erpressung, vielleicht« flüsterte Berger seiner Frau zu.

»Ich will Ihr Geld nicht« sagte Eduard, eher abfällig, »die Frage war, wiederholte er laut, bestimmt und deutlich: Haben sie jemanden der ihnen 20.000€ geben wird.«

»Wieso 20.000 Ich dachte 10, nicht 20.000« erwiderte Berger.

»Du hast Dir nichts zu schulden kommen lassen« schrie Frau Berger ihren Mann leise an, so dass der geheimnisvolle Anrufer nichts davon mitbekam.

»Aber, aber, ich habe mir nichts zu schulden kommen lassen« stotterte Berger unsicher, energisch, die Worte seiner Frau ins Telefon.

»Gehen Sie vor die Türe« sagte Eduard, »Ich melde mich wieder« und legte auf.

Das Telefon gab nur noch das Tuten eines abgebrochenen Anrufs von sich.

Ratlos sah Berger seine Frau an.

»Was ist?« Fragte Frau Berger und packte Ihren Mann leicht schüttelnd an den Oberarmen.

»Du bleibst hier« sagte Berger und eilte zur Eingangstüre. Zögernd blieb er vor der Türe stehen. Wartete die Polizei schon auf ihn?, oder war der Typ mit dem Handy immer noch da? Jetzt aber nicht mehr mit Handy bewaffnet, sondern mit der Pistole des Selbstmörders.

Wollte er Rache üben? Berger fiel wieder ein dass er die zwei, als er sie zum ersten mal durch den Spion sah für Vater und Sohn hielt.

O’Gott dachte Berger, ich habe den Vater … Nein!, ich habe gar nichts, sie sind selber schuld, sagte sich Berger und öffnete unsicher aber entschlossen die Tür, in der Hoffnung, dass da nur der Tote vor seiner Eingangstüre lag.

Berger traute seinen Augen nicht, er ging einen Schritt hinaus, blickte nach links, nach rechts, es war ruhig, ein paar Vögel zwitscherten, niemand war da! Fast schon friedlich!

Keine Polizei, nicht der Typ mit dem Handy, keine Schaulustigen. Und kein Toter, nicht einmal die Überreste seines Hirns, das im Gras des Gartens verstreut war, oder das Blut auf den Pflastersteinen der Terrasse, alles weg, als ob nichts gewesen wäre.

Nur eine kleine Tasche stand genau auf der Stelle wo der Tote hätte liegen sollen.

»Was ist das?« Fragte Frau Berger, die neugierig aber vorsichtig zur Türe geeilt war.

Zehntausend Euro - Teil 2

Nichts passierte. Berger, der noch immer auf die Tür gestarrt hatte, drehte sich um. Am Treppenabsatz stand Dorothea. Blass, die Augen weit aufgerissen, klammerte sie sich ans Geländer. »Was…«, setzte sie an.
»Du sollst die Polizei rufen!«, unterbrach Berger sie lauter. Als sie sich nicht bewegte, ließ er widerwillig die Klinke los. Auf seltsam hölzernen Beinen ging er ins Wohnzimmer und nahm das Telefon. Er starrte auf die Tasten. Welche Nummer, welche Nummer, hämmerte es in seinem – ansonsten leeren – Kopf.
Dorothea trat an seine Seite, nahm ihm das Gerät ab und wählte. Richard Berger hörte, wie seine Frau dem Notruf den Vorfall schilderte. Aus ihrer Sicht schien die Sache überschaubar. Da hatte es an der Tür geklingelt und nach einem kurzen Gespräch war ein Schuss gefallen.
Als Dorothea den Kopf drehte und fragte, ob jemand zu Schaden gekommen sei, wurde klar, dass die Sache so einfach nicht war. Berger nickte. »Tot. Er ist tot.«. Es war mehr ein Flüstern als eine Antwort.
Dorothea reichte die Information weiter und bat um schnelle Hilfe. Gerade rechtzeitig, bevor ihr das Telefon aus der Hand fiel.
»Was ist denn passiert?«, frage sie. »Wer ist da draußen und was will er?«
Berger sah sich außer Stande, auf ihr Drängen zu reagieren. Er zuckte nur mit den Schultern. Seine Beine drohten, nachzugeben. Schwer ließ er sich auf die Lehne seines Fernsehsessels fallen, stütze die Ellenbogen auf die Knie und vergrub seinen Kopf in den Händen. Das durfte alles nicht wahr sein.
Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Ob der andere noch da war? Berger getraute sich nicht, nachzuschauen. Immerhin war dort draußen eine geladene Waffe.
Dorothea hatte das Fragen aufgegeben. Sie lehnte neben ihrem Mann am Sessel. Das Schweigen wurde zu einer zähen Masse, die den Raum zu füllen schien. In der erdrückenden Stille des Zimmers wurde das Ticken der alten Wanduhr zu Richard Bergers Anker. Er zählte. Jedes Tick war eine Sekunde, jedes Tack eine zweite. Sein Hirn schien den Dienst vorübergehend eingestellt zu haben. Tick … Tack … .
Erneut zerriss ein Klingeln die Stille. Die Bergers zuckten zusammen. Da er sich nicht bewegte, ging Dorothea zur Tür. Aus einem halben Meter Entfernung lugte sie vorsichtig durch den Spion, nickte dann zu sich selbst, atmete tief durch und öffnete. Die Polizei musste wohl eingetroffen sein.
Als Dorothea sich ans Herz fasste und schreiend zusammenbrach, wusste Richard Berger, dass das hier kein Traum war. Vor seiner Tür lag ein Toter. Stumm sah er zu, wie eine Polizistin unaufgefordert sein Haus betrat, Dorothea auf die Beine half und sie Richtung Küche führte.
Ein zweiter Beamter stand wie aus dem Nichts im Flur und fragte Berger: »Waren Sie an der Tür?«
»Ja. Sie waren zu zweit. Der, der da liegt und einer mit einem Smartphone. Der hat alles gefilmt.«, stammelte Richard plötzlich wie aufgezogen. Der Polizist sah ihn aufmerksam an. Er kam einige Schritte auf ihn zu. »Bitte erzählen sie von Anfang an.«, sagte er.
Nachdem Richard Berger den Vorfall, so genau er konnte, geschildert hatte, fragte er: »Wie geht es jetzt weiter?«.
»Im Grunde laufen die Ermittlungen bereits«, antwortete der Polizist. »Es ist der dritte Fall dieser Art. Alle heute. Wir werden untersuchen, was dahinter steckt. Ich bespreche mich kurz mit der Kollegin.«
Dann war Richard Berger allein. Er saß auf seiner Sessellehne und schaute unschlüssig zum Flur. Aus der Küche war Gemurmel zu hören. Ein Ruck ging durch Bergers Körper. Mit zwei Schritten war er am Telefon, hob es auf und wählte.
Es wurde sofort abgenommen.
»Du hast es schon gehört.«, stellte Richard fest. »Dann weißt du, was zu tun ist. Lösch die Daten.Lösch alles. Jetzt. SOFORT!«
Er legte auf. Atmete tief durch und starrte auf die Uhr an der Wand. Tick …Tack…

(C) DasEni

„Jetzt hören sie auf mir Märchen zu erzählen Herr Berger.“

Kommissar Hüttmann wurde lauter. Dachte dieser Villenbewohner, er könne ihn verarschen?

Frau Berger hatte aufgehört zu beten nachdem der Notarzt ihr eine Spritze gegeben hatte und Herr Berger, relativ gefasst, erzählte zum wiederholten Male dieselbe Geschichte.

Immerhin konnte er den zweiten Mann so exakt beschreiben, dass die Fahndung bereits lief.

„Hütti, dass musst du dir ansehen,“ rief Susi von der SpuSi.

Hüttmann ließ den Hausherren sitzen und folgte dem Ruf. Er ging um das rot - weiße Band herum in den Vorgarten.

Die Frauen und Männer in den weißen Overalls und blauen Überschuhen sicherten die Spuren im Vorgarten und rund um die Leiche. Die Masse der grauen Zellen des Toten, gemischt mit Gewebe und Blut war bis zu 2 m hoch in die Kirschlorbeerhecke gespritzt. In der inzwischen hochstehenden Sonne ein funkelndes Schauspiel.

„Hier, ich dachte erst es wären Hasenköttel, aber es scheint das Fragment eines In –Ear Kopfhörers zu sein. Und das dort,“ sie zeigte auf den Bereich neben dem Kopf des Unbekannten. „Das ist ein Stück Kabel.“

„Der war verkabelt?“

„Nicht nur das. Halt dich fest.“ Susi wedelte mit einem kleinen Säckchen vor Hüttis Augen hin und her. „Ist ihm wohl beim Sturz aus der Jackentasche geflogen. Alles kleine Glitzersteinchen.“

„Echt? Diamanten?“

„Keine Ahnung – bin ich Juvelier?“

Des Kommissars Diensthandy brummte und während er noch versuchte seine Gedanken zu sortieren, wischte er das grüne Symbol nach oben.

„Ja“, meldete er sich kurz angebunden. Während er die Nachricht entgegennahm, veränderte sich seine Mimik und sein Gesicht entfärbte.

„Sagen sie das nochmal. Das ist nicht ihr Ernst.“

Als die Polizei eintraf, warfen Sie nur einen kurzen Blick auf den Toten und wandten sich dann an Richard Berger.
»Wir müssen Sie bitten, mitzukommen«, sagte einer der Polizisten bestimmt.
Richard konnte das einfach nicht glauben. Ihm wurde heiß und kalt zugleich und er erwiderte: »Ich kann doch gar nichts dafür!«
»Das sehen wir anders«, meinte der größere Polizist. »Wir fassen das als fahrlässige Tötung auf und jetzt nehmen Sie die Hände hinter den Rücken!«
Er legte Herr Berger in Handschellen und wandte sich daraufhin an seinen Kollegen: »Du kannst durchfunken, dass wir den Täter haben. Die Spurensicherung soll kommen.«
Das konnte nur ein sehr schlechter Scherz sein!
»Dorothea!«, rief Richard verzweifelt seiner Frau zu. »Tu etwas!«
Aber diese zuckte nur die Schultern und sagte: »Du hast es doch gehört. Du bist schuld daran und ich sehe das ebenso.«
Ohne dass er noch viel mehr dazu sagen konnte, führten die Polizisten Herrn Berger ab.
Unter den Blicken der neugierigen Nachbarn manövrierten sie ihn in das Polizeiauto und fuhren ihn zur Wache.
Auf der Fahrt dorthin hatte Richard Zeit, sich Gedanken zu machen.
›Was wird da gespielt?‹, grübelte er und ihm war zum Weinen zumute. Langsam gab er sich sogar selbst fast die Schuld an diesem Vorfall.
»Ich habe nichts getan!«, rief er zu den Polizisten, wie um es sich noch einmal zu verdeutlichen.
»Nichtstun ist ebenso verwerflich. Vor allem für Leute mit Geld«, lachte der Große nur.
›Warum lacht er in so einer ernsten Situation?‹, fragte sich Richard.
Irgendetwas war hier absolut seltsam!

Die Leiche – Teil 2

»Erzählen Sie uns doch bitte noch mal alles von vorne.«

In Richard stiegen Unverständnis und Wut auf. Sein Sonntag war versaut. Die neue Krawatte hing wie ein loser Galgenstrick um seinen Hals.

Zehn Minuten nach dem Anruf waren die ersten Streifenwagen vorgefahren, das Blaulicht an, versperrten die verschlafene Quartierstraße. In den Fenstern der Nachbarschaft wurden Vorhänge zur Seite geschoben.

Es vergingen weiter zehn, fünfzehn Minuten, den Bergers kamen sie vor wie eine Stunde, da klingelte es an der Tür und Richard ließ die beiden Ermittler der Mordkommission ein. Sie stellten sich als Justus Vilösen und Samuel Decker vor. Sofort legte er mit seinen Schilderungen des Tatvorgangs los. Doch Decker ging ins Wohnzimmer und setzte sich in einen Couchsessel. Dies sei der geeignete Ort, um über den Tathergang zu sprechen.

Und jetzt also die Geschichte zum Dritten. Bei jeder Version fügte Richard seiner Aussage neue Details dazu, die er zuvor noch nicht erwähnt hatte, schmückte sie mit weiteren Nuancen und Vermutungen. Decker hörte wortlos zu, machte Notizen, schüttelte ab und an den Kopf, was Richard irritierte.

Vilösen war mit Dorothea in die Küche gegangen, um sie zu befragen, gleichzeitig, getrennt von ihrem Mann.

»Ich konnte nicht verstehen, was Richard mit den Männern an der Tür gesprochen hatte. Er hatte seinen Kopf im Spalt der verriegelten Tür. Ich war dabei mich für den Kirchgang fertig zu machen, überlegte welche Handtasche besser passe, ob ich ein Foulard umlegen solle, als der Schuss fiel. Ich hab mich erst nicht ausgekannt, es war so laut, ich wusste nicht, woher es kam. Bis Richard sich an der Tür zu mir drehte, ganz weiß im Gesicht und stammelte, ich solle die Polizei rufen.«

»Nein, wir haben keine Feinde, niemand der uns Böses will.«

»Nein, ich weiß nicht, warum jemand wollte, dass Richard zehntausend Euro bezahle.«

»Vielleicht haben sich die Männer in der Adresse geirrt.«

»Ganz ehrlich, so rosig geht es uns zur Zeit auch nicht. Die Reiseveranstalter drücken die Margen, an den Flügen verdienen wir gar nichts mehr und die Konkurrenz durchs Internet wächst.«

»Ah, die neue Krawatte meines Mannes mit den goldenen Eurozeichen, die hat er von mir. Schrecklich die Farben, finden Sie nicht auch? Sie soll ihn daran erinnern, in Zukunft die Finger von Aktiengeschäften zu lassen.«

Die Haustür, niemand hatte sie nach dem Eintreffen der beiden Ermittler geschlossen, wurde aufgestoßen. Ein untersetzter Mann in einem ausgebeutelten dunklen Jackett trat ein und polterte. »Is ja klar. Immer wieder sonntags. Wo ist die Leiche?«

»Guten Tag, Gottfried. Es gibt keine Leiche«, sagte Decker.

Richard und der Forensikarzt riefen gleichzeitig: »Wie bitte?«

»Soll das ein Witz sein? Über Tote macht man keine Witze! Vor dem Haus, auf dem Plattenweg, unten an den Stufen, liegt die Leiche. Sie müssen beim Reinkommen über sie gestiegen sein.«

Decker legte Richard die Hand auf die Schultern und geleitete ihn zur Haustür und stieß sie auf. Außer den vier blinkenden Streifenwagen, störte nichts die sonntägliche Ruhe vor dem Haus. Die Vorhänge glitten zurück.

»Sehen Sie. Keine Leiche. Darum frag ich mich, was soll das? Wozu haben Sie die Polizei gerufen?«

»Da lag die Leiche, da war Blut, unten am Weg. Ich habs doch gesehen, wie der sich vor meinen Augen erschossen hatte.« Richard klang verzweifelt.

»Kein Blut. Keine Leiche, Herr Berger«, sagte Decker. »Aber wissen Sie, was eigenartig ist? Alle Nachbarn bezeugen, heute Morgen bei Ihrem Haus einen Schuss gehört zu haben.«

Richard Berger tigerte in seinem Hausflur auf und ab. Immer wenn er an der Eingangstür ankam, spähte er durch den Spion. Der Mann mit dem Smartphone stand immer noch draußen. Entweder telefonierte er, oder er tippte auf dem Smartphone herum.
»Die Polizei ist informiert, sie schicken einen Streifenwagen.«, sagte seine Frau, die aus dem Wohnzimmer kam und ebenfalls den Flur betrat.
»Hat der Mann sich wirklich erschossen?«, fragte sie weiter. »Ja«, sagte Berger nur und setzte sein Auf und Ab fort. Die Stille war unerträglich, aber weder er, noch seine Frau trugen dazu bei, dies zu ändern.
Nach endlosen fünf Minuten traf endlich die Polizei ein. Herr Berger öffnete die Tür, noch bevor die Beamten diese erreichten, da er sie bereits durch den Spion gesehen hatte.
»Guten Tag, mein Name ist Manuel Stier und das ist meine Kollegin Cornelia Backhaus. Wir sind vom 8. Polizeirevier.« Herr Stier zeigte auf seine Kollegin, die sich mit dem Smartphone-Mann im Schlepptau ebenfalls näherte und auf ihn leise einredete.
»Stier, das passt.«, dachte Berger. »So bullig wie der aussieht, ist mit ihm sicher nicht gut Kirschenessen«.
Er gab ihnen die Hand und sagte nur »Berger, Richard« den Mann mit dem Smartphone ignorierte er.
»Dürfen wir eintreten, Herr Berger?«, fragte die Frau.
»Oh, ja natürlich.«, erwiderte er und machte den Weg frei. Sie traten ein und zu Bergers Leidwesen, bugsierte die Frau auch den Smartphone-Mann ins Haus.
Herr Berger führte sie ins Esszimmer. »Bitte nehmen Sie Platz.«, sagte er und sie setzten sich alle um den großen Eichentisch. Berger achtet darauf, sich möglichst weit weg von dem Mann mit dem Smartphone zu setzen.
Der Polizist, der sich Stier nannte, kam gleich zur Sache: »Herr Berger, Herr Jonas Leonhardt hier behauptet, Sie hätten seinen Vater umgebracht.« Er deutete dabei auf den Smartphone-Mann.
Richard Berger wollte schon antworten, aber da rief Herr Leonhardt, wie der Smartphone-Mann wohl hieß: »Ermordet, hat er ihn, nicht umgebracht!«
»Bitte bleiben Sie ruhig.«, ermahnte ihn der Polizist.
»Also das war so«, begann Berger. »Der Ältere, wollte von mir Geld erpressen …«
Weiter kam er nicht, denn Leonhardt sprang auf, und hechtete mit einem Wutschrei über den Tisch und packte Berger am Hals um ihn zu würgen. Die Polizisten rissen Leonhardt von seinem Opfer weg und Stier rief. »Das reicht jetzt!«
»Frau Backhaus«, sagte Stier und hielt dabei Leonhardt fest, der sich heftig wehrte. »Sie befragen den Zeugen Berger, währen ich den hier im Wagen verstaue.«
Herr Berger erzählte der Polizistin wie sich alles zugetragen hatte. Die Geschichte war schnell erzählt, denn das Ganze hatte keine drei Minuten gedauert. Sie hielt seine Aussage schriftlich fest.
Als Berger mit seiner Aussage fertig war, trat Herr Stier wieder ins Esszimmer, zeitgleich mit Bergers Ehefrau, die ein paar Gläser und Wasser brachte und sich ebenfalls an den Tisch setzte. Erst da ging es Richard Berger auf, dass seine Frau recht lange für die Getränke benötigt hatte. Den Gesichtsausdruck, den Herr Stier hatte, ließ ihn aber seine Frau schnell vergessen, denn etwas daran ließ Berger nichts Gutes ahnen.
Wortlos legte Stier ein Tablet auf den Tisch und spielte ein Video aus dem Internet ab. Es war das Video, welches dieser Jonas – den Nachnamen hatte Berger wieder vergessen – mit seinem Smartphone gefilmt hatte, denn Berger sah sich selbst durch den Türspalt blicken. »Unglaublich, dass das schon im Internet ist.« Ging es Berger durch den Kopf.
»Na endlich«, hörte er sich selbst sagen. »Guten Tag. Bitte geben Sie mir Zeit, ich schaffe es heute nicht«. Das Video zeigte nun den Mann, der sich erschossen hatte.
»Aber das ist nicht so passiert!«, rief Berger. Der Polizist stoppte das Video und sagte: »Es sieht nicht gut für Sie aus, Herr Berger. Ich schlage vor, wir sehen uns alles an und dann will ich Ihre Aussage hören.« Sein Gesichtsausdruck duldete keinen Widerspruch und so schwieg Berger.
Das Video wurde fortgesetzt und Berger hörte sich »Nein« sagen. Der bärtige Mann auf dem Video flehte: »Ich brauche mehr Zeit. Wenn Sie sie mir nicht gewähren, bringe ich mich um, bevor Sie oder Ihre Leute es tun.«
»Filmen Sie ruhig.«, sagte Berger und blickte in die Kamera. »Sie können mir gar nichts. Sie wussten, worauf Sie sich einlassen.«
Aus dem Off war nun die Stimme von Jonas Leonhardt zu hören: »Geben Sie ihm noch eine Woche. Darauf kommt es nun auch nicht mehr an, er hat doch schon alles verloren. Soll er auch noch sein Leben verlieren?«
»Das ist nicht so gewesen.«, dachte Berger, aber nun hörte er sich sagen: »Sie sind ja verrückt. Wie stellen Sie sich das vor, einfach die Bedingungen zu ändern? Da könnte ja jeder kommen, an meiner Türe klingeln und alles über den Haufen werfen!«
Der bärtige Mann auf dem Video begann zu zittern und sage: »Wenn Sie mir nicht mehr Zeit geben, bringe ich mich um.«
Dem Berger auf dem Video entfuhr ein Seufzen und er sagte: »Machen Sie was sie wollen, aber machen Sie es bitte draußen auf der Straße, okay?«
Der Rest des Videos stimmte wieder mit dem realen Geschehnissen überein, aber Berger nahm dies nur am Rande wahr. Sogar die eigene Hinrichtung des Mannes sahen sich alle an, aber Berger achtete nicht groß darauf. Er wusste nicht, wie das möglich war. Es musste ein Albtraum sein.
»Nun, was sagen Sie dazu?«, fragte Stier.
»Das ist nicht so geschehen.«, antwortete Berger mit zittriger Stimme. »Das muss ein Fake sein. Mit der heutigen Technik lässt sich doch alles fälschen.«
»Wir lassen das prüfen.« Sagte Frau Backhaus. »Ihre Aussage, widerspricht jedenfalls dem Video«. Sie schob ihre Abschrift ihrem Kollegen zu, der sie aufmerksam las.
»Ich will das original Video auf dem Handy von Mann sehen.«, begehrte Berger auf.
»Das geht nicht, das Smartphone ist ein Beweisstück.«, antwortete Stier. Berger ging auf, dass die Polizisten keine Ausweise gezeigt hatten, aber er wusste nicht, ob das überhaupt üblich ist, kannte er diese Geste nur aus dem Fernsehen. Jedenfalls hatte er seine Zweifel, was die Polizisten anging, auch wenn sie in Uniform kamen.
»Frau Berger, was sagen Sie dazu?«, fragte Frau Backhaus. »Sie haben noch gar nichts dazu gesagt.«
»Nun, dazu gibt es nicht zu sagen.«, antwortete sie ganz ruhig. »Es ist alles so passiert, wie es auf dem Video zu sehen ist.«

von HelmutB (Helmut Berger)

Niemandem war der graue Kleinwagen aufgefallen, der an der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Wie vom Donner gerührt beobachtete der Mann am Steuer die Geschehnisse vor der Haustüre der Familie Berger.

War das gerade wirklich passiert, fragte er sich. Der Schuss hatte ihn überrascht. Bis vor wenigen Sekunden hatte er nicht damit gerechnet, dass es gelingen würde. Wie gebannt starrte er aus dem Fenster seiner Fahrertür. Sein Puls ging etwas schneller. Er atmete tief durch und fuhr sich mit einer Hand durch seine bereits ergrauten Haare.

»Ping«, der Signalton kündigte eine eingegangene Nachricht in seinem Smartphone an. Der Mann öffnete die Nachricht und lächelte. Der Film war bereits online. Es wurde Zeit zu tun, weswegen er hergekommen war. Er zog seine schwarzen Lederhandschuhe an und stieg aus dem Fahrzeug aus.

Zielstrebig ging er durch die schmiedeeiserne Gartentür auf das Haus zu. Er bückte sich und nahm die Waffe aus der Hand des Toten.

Der junge Mann stand daneben und wirkte nervös. »Alles lief, wie geplant. Der Film ist online«, meinte er und stieg unruhig von einem Bein aufs andere.
Der Mann aus dem Auto nickte ihm kurz zu: »Gut gemacht«, lobte er ihn. Dann nahm er ein Bündel Geldscheine aus der Brusttasche seines Mantels: »10.000, wie besprochen.«

Der junge Mann atmete erleichtert aus, nahm das Geld und händigte dem Alten sein Smartphone aus.
Dieser nahm das Smartphone und steckte es ein. Er lächelte, dann hob er die Waffe und drückte ab.

(c) Alexandra Berger

Offene Enden, - zweitwer Teil

Kurze Zeit später wimmelte es in dem kleinen, gepflegten Vorgarten vor Beamten der Kriminalpolizei und der Spurensicherung. Nachbarn und Schaulustige standen hinter einem Absperrband, neugierig tuschelnd, sensationslüstern. Als ein Leichenwagen die Leiche abtransportierte, wurde es im wahrsten Sinne des Wortes totenstill. Auf den Steinplatten vor dem Haus blieben ein mit Kreide gezeichneter Umriss des verstorbenen Mannes, sein Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse zurück. Kleine gelbe Plastikaufsteller mit Zahlen zeugten von den Fundorten der Kugel, der Patronenhülse und der Waffe.

Richard Berger saß zitternd auf der Couch im Wohnzimmer, unfähig zu begreifen, wobei er gerade Zeuge gewesen war. Immer wieder strich er sich über die schütteren Haare. Seine Frau rang nervös ihre Hände. Tränen hatten ihr einst perfektes Make-Up ruiniert und offenbarten gnadenlos die Spuren ihres Alters. Unfähig stillzuhalten, lief sie an den deckenhohen Bücherregalen entlang und ordnete hier ein Buch, dort eine kleine Skulptur. Sie rückte ein paar der Kunstgegenstände zurecht, die sie und ihr Mann im Laufe der letzten vier Jahrzehnten von ihren zahlreichen Reisen in die ganze Welt mitgebracht hatten. Einer der Vorteile eines Reisebüros ist es, durch Verbindungen zu anderen Agenturen und Einheimischen ein Insiderwissen ansammeln zu können, das es erlaubt, an Orte zu gelangen, die nicht jedem Menschen zugänglich sind. Heutzutage ist dieses Wissen Dank des Internets relativ leicht zu erlangen, doch vor fünfunddreißig Jahren sah das noch ganz anders aus.

„Und wo ist dieser junge Mann jetzt?“, fragte ein Beamter Herrn Berger.

„Ich habe keine Ahnung. Er lief weg.“

„In welche Richtung?“

„Ich weiß es nicht.“ Er schüttelte den Kopf. Immer wieder sah er die Szene vor sich, die Schnelligkeit, in der der Mann die Waffe gezogen und sich erschossen hatte. Kompromisslos. Als gäbe es keine andere Lösung als ausschließlich diese eine. Als könne er nicht von einem anderen Menschen die zehntausend Euro bekommen, sondern es mussten die von ihm, Herrn Berger, sein. Den Ausdruck in den Augen des Fremden, als er sein Schicksal besiegelte, diese Endgültigkeit, würde Richard in seinem ganzen Leben nie wieder vergessen können.

Der Beamte wandte sich an Frau Berger. „Und Sie? Haben Sie etwas gesehen?“

„Nein. Ich habe nur den Schuss gehört und dann meinen Mann schreien.“

„Besitzen Sie eine Schusswaffe?“

Die Bergers verneinten.

„Kennen Sie die Männer?“

Herr Berger schüttelte den Kopf, seine Frau zuckte die Achseln. „Ich habe sie ja nicht gesehen.“

„Können Sie den anderen Mann beschreiben?“

„Nun ja, in den Dreißigern, denke ich. Etwas kleiner als ich. Aber er stand unten an den Stufen, also kann ich es nicht genau sagen. Er hatte dunkle Haare.“

„Und weiter?“

„Weiter weiß ich nichts.“

„Was hatte er an?“

„Ach ja, Jeans, ein dunkles Oberteil und eine Lederjacke. Und er trug eine Kette mit einem Anhänger, einer Art Amulett. Der andere trug auch so einen.“

„Der Tote hatte keine Kette an.“

Richard schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Gestalt des bärtigen Mannes. Deutlich sah er das Amulett vor sich. „Doch. Ich bin mir ganz sicher.“

„Und was die beiden hier wollten, wissen Sie auch nicht? Außer der ominösen Geldforderung? Warum forderten sie zehntausend Euro? Und warum gerade von Ihnen?“

Herr Berger zuckte die Achseln. „Ich kann es mir absolut nicht erklären. Wie gesagt, ich kenne diese Männer nicht.“

Der Beamte notierte irgendetwas.

Richard ließ den Kopf in seine Hände sinken. „Ich habe keine Ahnung, warum die …“

Der Kommissar sah Richard Berger fragend an, als dieser plötzlich innehielt, den Kopf hob und ihn entsetzt anstarrte.

„Es sei denn …“

„Es sei denn, WAS?“

Nachdenklich rieb sich Richard die Stirn. Eine seit Jahrzehnten verschüttete und sorgsam verborgene Erinnerung blitzte auf, in etwa so, wie wenn man morgens erwacht und noch den Fetzen eines Traumes erhaschen kann. Je intensiver man ihn festhalten möchte, desto flüchtiger wird er, bis er im Nebel auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Beinahe so erging es ihm jetzt. Nur, dass er diese Erinnerung niemals hatte freiwillig hervorholen wollen.

„Dorothea“, mit leiser, vor Angst heiserer Stimme wandte er sich an seine Frau, „erinnerst du dich an unseren Urlaub vor ungefähr dreißig Jahren? Yucatán.“

„Yucatán? Du meinst … Nein! Oh nein! Oh bitte nicht. Bitte, bitte nicht!“

Er nickte kreidebleich und nestelte an seiner Krawatte. Urplötzlich hatte er das Gefühl, jemand drücke ihm die Kehle zu. Sein Herz raste, seine Hände wurden feucht. Er schloss die Augen.

Entsetzt schlug Dorothea ihre Hände vor ihr Gesicht. „Gott steh uns bei!

Carl Isenhardt tippte ungeduldig mit den Fingern auf das Lenkrad und folgte der gehauchten Stimme von Miley Cyrus, die leise aus dem Radio quoll. Seine Gedanken waren heute finsterer als üblich: seine Frau zog zu ihrem Schnösel, seine Kleine verachtete ihn und die Stadt schien in einen Moloch aus Irrsinn zu versinken. Drogen, Mord und entführte Kinder, deren Eltern nichts besseres taten, als rumzuheulen und wegen irgendeiner Kacke zu schweigen. Carl blickte die Straße runter, die in einem Gewusel aus Vorstadthäusern versank. Weit hinter dem Viertel erhoben sich aus einer trüben Nebelsuppe heraus, drohend die Hochhäuser der City - der finstere Moloch, wo ekelhafter Reichtum, bitteres Elend und grässliche Gewalt Ringelein tanzten. Stella war heute sein einziger Lichtblick. Seine neue Kollegin stand genervt am Starbucks und spielte gedankenverloren mit einer Haarsträhne. Ihre blonde Mähne wallte über ihre Schultern und der blaue Stoff der Uniform schmiegte sich eng an ihren ansehnlichen Kurven. Lass es, sie könnte deine Tochter sein. Doch Carls sonnenbrillenverdeckter Blick war von ihr gebannt, bis der leidliche Funk ihn in die Gegenwart riss: Schüsse in der Vorstadt, keine fünf Minuten von hier. Carl startete den Motor und ließ die Seitenscheibe herunter. „Bosch! Einsatz!“

Der Tatort lag in einer vornehmen Gegend. Kleine, hinter Hecken und Zäunen versteckte Stadtvillen reihten sich um eine aufragende Backsteinkirche, die erhaben auf einen gedrungenen Hügel thronte. Die Zufahrt zum Viertel war bereits abgesperrt und zahlreiche Menschen in feiner, gottesfürchtiger Kleidung suchten den besten Platz für einen erheischenden Blick.
Das ist genau der richtige Ort für Kapitalverbrechen, dachte Carl. Hier wohnte die Kohle ohne nennenswerte Sicherheit: kein Wachschutz und höchstens ne Alarmanlage aus dem Baumarkt.

Der Fall entpuppte sich als skurriler Selbstmord, der den tragischen Zeugen immer noch das Blut aus dem Gesicht trieb. Die Bergers saßen verstört auf ihrem Sofa und Stella malträtierte sie mit allerlei Fragen zum Geschehen, das sie sich minutiös und mehrfach erklären ließ. Doch so grotesk sich der Ablauf auch anhörte, irgendetwas kam Carl bekannt vor. Er musste einem Gedanken folgen.
„Entschuldigen Sie mich.“ Carl ging in die angrenzende Küche und schloss die Tür. Er zückte sein Telefon, wählte Schnurbs und wurde sogleich im perfekten Englisch begrüßt: Hey Iron, whats up?" Iron, diesen Spitznamen wurde er seit seinem Schulvortrag über Namensherkunft wohl nie mehr los.
"Hey Ruth, du musst mir helfen! Erinnerst du dich an die Website, die uns vor ein paar Wochen von der Digitalen zugespielt wurde? Du weißt schon, scheiß Kapitalisten… dekadente Schweine und so. "Sure, du meinst diese Neo-Philantrophen, wie sie sich nennen. "
„Ja genau, check bitte die Website!“
„Ok, warte kurz. Ich habs.“ Ruth blieb stumm. Sekunden verstrichen und Carl hörte nur schweres Atmen.
„Ruth?“
„Hier ist ein Video,“ Ihre Stimme war gepresst, schockiert. „Es… es zeigt…“
„Schon gut, Ruth, ich weiß, was es zeigt. Konzentrier dich! Fällt dir noch irgendetwas auf?“ „Ja, hier ist ein Countdown, er zeigt weniger als zehn Stunden. Und vier Kästchen, in einem ist ein großes rotes X.“
„Ok, was siehst du noch?“
"Von dem Countdown geht eine Linie weg, wie eine Zündschnur. Sie bildet irgendwie Häuser. "
„Was für Häuser?“
„Du kennst sie Carl! Der Messeturm, der Commerzbank-Tower und all die anderen. Es ist Frankfurt! Und es flackert rot und gelb!“
"Was soll das heißen! " Carls Anspannung war zum bersten. Er spürte wie das Blut in seinen Adern wallte und er schrie fast ins Telefon. „Ruth! Was passiert, wenn der Countdown endet?“
Ihre Stimme war beherrscht, voll ungläubiger Gewissheit: „Dann wird die Skyline brennen.“

«War das ein Schuss? Bist Du verletzt Richard?» Dorothea Berger ließ die Tasche mit der Familienbibel fallen, stürzte auf ihren Mann zu. Der stemmte sich mit dem Rücken gegen die Haustür, hob abwehrend die Hände.
«Selbstmord vor unserem Haus, ruf die Polizei!» Berger erschrak vor der Gewalt in seiner Stimme. Dorothea auch. Sie hastete zum Sekretär in der Diele und griff nach dem Telefon.
«Nun los!»
«Ja, 110. 110, ich weiß.» Dorthea tippte die erste Ziffer. Richards Handy vibrierte, er zerrte es aus der Innentasche seines Sakkos. Die Finger seiner Frau zitterten über der Tastatur. Sie erwischte die richtige Taste. Tippte wieder. «Oh nein, das war die 118!»
«Doro, konzentriere dich!» Richard entsperrte sein Handy. Das Display zeigte eine Textnachricht an. «Keine Polizei». Ein Blick zu seiner Frau. Dorothea wischte sich Tränen von der Wange, dann schwebte ihr rechter Zeigefinger über den Ziffern. Sie tippte die erste. Richard öffnete die SMS. «Keine Polizei. Wenn doch, kracht es. Warten Sie auf weitere Anweisungen, Sie Schwein!» Richards Blick raste zu seiner Frau.
«Lieber Herr Jesus! Ich hab´s gleich», rief Dorthea. Sie taumelte, fixierte beschwörend den Zeigefinger.
«Wenn doch, kracht es!», durchfuhr es Richard. «Nein Doro, nicht!»
Dorthea Berger presste den Hörer ans Ohr, dennoch hörte Richard das Freizeichen in der Lautstärke einer Sirene. Im nächsten Moment blitze es neben dem Kopf seiner Frau, gefolgt von einem Donnerschlag. Eine Druckwelle hob Berger von den Füßen, sein Kopf schlug gegen die Haustür, Richard krachte auf den Marmorboden. Der Aufprall presste ihm den Atem aus den Lungen. Berger quälte sich schwefelige Luft in die Nase. Er blinzelte. Qualm biss in seinen Augen. Er riss die Lider auf. Was lag dort neben seinem Handy? «Doro!» Sein Schrei erfüllte der Haus. Und dann kündigte sich brummend eine neue SMS an.

„Hörst du?“ Sein Rufen blieb unbeantwortet.
Als er sich umdrehte, stand Dorothea direkt vor ihm, kreidebleich. In ihrer vor Aufregung zitternden Hand hielt sie ihr Handy, welches sie ihm wortlos entgegenstreckte. Eine quäkende Stimme war zu hören.
„Hallo? Hören sie mich? Hallo? Frau Berger?“
Wut stieg in ihm auf. War es denn so schwer, ein Telefonat zu führen? Verärgert entriss er ihr das Handy und immer noch mit seiner Erregung kämpfend brüllte er hinein: „Ja, ich bin hier. Richard Berger. Wer ist dort?“
„3. Polizeirevier hier. Tauber mein Name. Ihre Frau, vielleicht auch ihre Mutter, rief uns an, konnte aber nur ihren Namen deutlich sagen, mehr verstand ich nicht.“
Überfordert von der Gesamtlage hätte Berger aus seiner Haut fahren können. „Vielleicht auch ihre Mutter“? Meinte dieser Tauber das ernst? In normalen Situationen wäre es ein Grund gewesen, laut loszubrüllen vor Lachen. Seine Frau war wie er mittleren Alters, ihre Stimme weit entfernt von der einer alten Dame. Dies hätte ein running Gag werden können, wären nicht die Umstände heute ganz anders. Es gab nichts zu lachen.
Richard Berger atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen und die nötige Beherrschtheit aufzubauen, den ruhig redenden Beamten nicht unnötigerweise anzuschreien. In langen Jahren des Kundendienstes hatte er gelernt, innere Gereiztheit zu zügeln und wenigstens nach außen hin ruhig zu wirken.
„Hören sie, es ist etwas Schreckliches passiert, sie müssen sofort kommen. Ein Mann hat sich direkt vor meinen Augen erschossen.“
Stille.
„Hallo? Sind sie noch da?“
Am anderen Ende der Leitung hörte er schweres Atmen.
„Ja, bin ich. Ich werde schauen, dass ich Kollegen finde, die baldmöglichst zu ihnen kommen können. Wo wohnen sie?“
„Dass ich Kollegen finde? Bald-möglichst?“, äffte ihn Berger nach. „Es tut mir ja leid, wenn ich sie aus ihrer sonntäglichen Skatrunde im Revier herausreißen muss in den nasskalten Herbst, aber hier liegt eine Leiche in meinem Vorgarten! Ich kann sie aber auch gerne liegen lassen, damit sich die Waschbären für ihre Winterruhe noch ein wenig Fett anfressen können. Das wäre dann aktiver Naturschutz, der gleichzeitig die Polizei in ihrer Winterruhe nicht stört. Perfekte Lösung. Was meinen sie? Soll ich die Leiche vielleicht in kleine Stückchen sägen und nach und nach für die Tierchen wieder nach draußen legen? Oder wäre es ihnen genehm, wenn ich für die in ihrem Revier so hart arbeitende Polizei das schönste Teil aufhebe? So könnte ich mich für die Störung am Sonntagmorgen angemessen entschuldigen.“
Die eben noch mühsam unterdrückte Aufregung brach aus ihm heraus. Was dachte denn dieser Herr Tauber in seinem Revier, für was er sein Steuergeld bekam? War nicht zur Spurensicherung jede Minute kostbar?
Nicht auf seine Beleidigung eingehend reagierte Tauber professionell ruhig.
„Beruhigen sie sich, Herr Berger. Ich verstehe ihre Lage. Glauben sie mir, ich habe über unser internes System bereits während dieses Telefonates jetzt Hilfe angefordert. Die Sachlage ist nur die, dass…“
Er zögerte.
„Wissen sie, es ist schon die dritte Meldung dieser Art heute Morgen bei uns, alle Kollegen sind bereits außer Haus. Westend meldet Überlastung. Auch dort scheint es ungewöhnlich viele Einsätze zu geben.“
Nun war es Berger, der um Worte rang. Drei Selbstmorde allein in nordend am selben Morgen?
Fassungslos ließ er sich auf das Sofa im Wohnzimmer nieder.
„Teilen sie mir bitte noch ihre Adresse mit, dass ich die nächsten zur Verfügung stehenden Experten zu ihnen schicken kann? Ich würde sie bitten, zuhause zu bleiben und zu warten, bis wir uns wieder melden.“

Im Hause Berger verging die folgende Zeit, ohne dass einer der beiden etwas getan oder gesagt hätte. Richard Berger saß schweigend im Wohnzimmer, seine Frau war irgendwo im Haus verschwunden. Das Radio, das sie zum Frühstück eingeschaltet hatten, dudelte weiter vor sich hin, unterbrochen von Berichten, die in den Ohren von Berger ein unverständliches Kauderwelsch waren. Es stellte eine unbewusst willkommene Füllung der Leere dar, die sich ausgebreitet hatte. In seinem Kopf hallte der Schuss immer und immer wieder lauter als jeder Presslufthammer nach. Er sah ohne Unterlass in einer Endlosschleife gefangen den Mann umkippen, die mit Blut vermischte Hirnmasse in den Himmel hinein spritzen und die weit aufgerissenen Augen des alten Mannes, als er abdrückte.
Diese Augen, die voller Angst hätten sein müssen, aber fast schon ein Lächeln in den Augenwinkeln hatten. Es war eine surreale Situation, die sich in diesen wenigen Sekunden für immer in seinen Kopf eingebrannt hatte. Wie konnte dieser Mann lächeln? Lächeln, während er im selben Moment seinem Leben ein Ende setzte?
Das Telefon riss ihn aus seinen Gedanken. Das musste Tauber von der Polizei sein. Wieviel Zeit vergangen war, konnte Berger nicht sagen, aber es war lange genug nichts passiert.
Er schaute aufs Display und legte das Handy enttäuscht zur Seite, ohne abzunehmen. Das Bild von Ylvie war darauf zu sehen. Nicht dass er sich nicht über den Anruf seiner Tochter gefreut hätte, aber im Moment war es ihm unmöglich, mit ihr zu reden. Also verließ er sich darauf, dass sie denken würde, er sei in der Kirche, wenn er nicht abnähme. Später könnten sie ja telefonieren.
Ylvie war vor kurzem erst ausgezogen. Sie wohnte jetzt in Heidelberg, wo sie studierte. Die Miete war unverschämt hoch, aber er unterstützte seine Tochter finanziell, während sie ihm dafür mit den Buchungen seines Reisebüros half, vor allem wenn es auf die Sommerferien zuging.
Das Handy bimmelte kurz. Eine Nachricht erschien.
„Mama, ruf mich an! Was ist da los mit Papa? Ich mache mir Sorgen. Geht es dir gut? Wenn du nicht anrufst, rufe ich die Polizei.“
Erst jetzt fiel ihm auf, dass das Handy, welches er die ganze Zeit krampfhaft in seiner Hand gehalten hatte, noch das seiner Frau war. Er verstand nicht, warum seine Tochter sich nur nach dem Wohlbefinden ihrer Mutter erkundigte und von Polizei redete. In dem Moment klingelte es erneut. Wieder erschien Ylvies Bild.
Er nahm ab und meldete sich.
Nach einer kurzen Pause, die sie wohl brauchte, um zu realisieren, dass ihr Vater am Handy ihrer Mutter war, rief sie: „Papa!“ Ihre Stimme überschlug sich. „Warum geht nicht Mama an ihr Handy? Geht es ihr gut? Lebt sie noch? Was hast du getan?“
„Was ich getan habe? Was ich getan habe? Woher…? …weißt du überhaupt, also, was weißt du überhaupt? Was ist da los?“
„Du bist im Internet, Papa. Überall sieht man, wie du einen Mann erschießt. Direkt vor unserer Haustüre. Hast du Mama auch erschossen?“
„Ich habe niemanden erschossen!“
„Aber… …Das Video? Man sieht sogar das Blut spritzen. Es ist grauenhaft.“
„Ich war das nicht! Glaub mir doch!“
Ylvie atmete schwer. Sie schien zu weinen. „Gib mir Mama, ich will mit ihr reden. Jetzt!“
„Sie ist irgendwo im Haus, was weiß ich, wo.“
„Ich will jetzt sofort mit ihr reden“, betonte sie ein weiteres Mal. „Oder ich rufe die Polizei.“
„Ylvie, was denkst du denn von mir? Glaubst du wirklich, ich könne jemanden ermorden?“ Eindringlich versuchte Berger, seine Tochter zur Vernunft zu bringen.
„Ich schicke dir etwas. Tippe einfach darauf, das Handy öffnet es dann von selbst.“
Wieder kam der Ton einer neu eingetroffenen Nachricht. Es war ein Link, den Berger sofort antippte. Der Browser startete sich und eine knallbunte Internetseite baute sich auf. „Newsflash“ blinkte in großen Lettern am oberen Rand. Direkt unterhalb flimmerte Werbung für Krawatten auf, die es zur Blackweek um 50% reduziert gab. „Live gestreamter Mord schockiert die Welt!!!“
Ein weiteres Werbefenster, diesmal mit „der verführerischsten Seidenunterwäsche, die du je getragen hast“.
Ohne sich Gedanken darum zu machen, warum seine Frau Werbung für verführerische Seidenunterwäsche angezeigt bekam, scrollte er weiter nach unten.
Ein grauer Rahmen schob sich ins Bild mit dem Hinweis „Der Inhalt kann verstörend wirken. Es ist explizite Gewalt zu sehen. Bestätigen Sie, dass Sie +18 sind.“ Nach einem Tipp auf „Ich bin +18“ verschwand das Rechteck und an seiner Stelle erschien ein Video. Die Aufnahme zeigte seinen Hauseingang, den alten Mann und sich selbst, wie er hinter der spaltbreit geöffneten Tür stand. Die verwackelte Kameraaufnahme schwenkte unablässig zwischen ihm und dem Mann hin und her. Es war ein wildes Hin und Her, welches er kaum nachverfolgen konnte. Die Tonaufnahme war so verrauscht, dass man nichts verstehen konnte. Aber die Bilder zeigten nur allzu deutlich den Verlauf der Diskussion. Berger erinnerte sich an jedes gesprochene Wort. An den Lippen konnte man keines davon ablesen, sein Gesicht jedoch sprach Bände. Er sah mit zunehmender Dauer erbost aus.
Plötzlich nestelte der alte Mann an seiner Jacke. Die Position der Aufnahme schwenkte hinter den Mann, so dass man nicht sehen konnte, dass er die Waffe aus seinem Mantel zog. Aber den Schuss hörte man und seine Wirkung war mehr als deutlich zu erkennen. Nicht genug der schrecklichen Bilder, wurde das Video ab diesem Moment sogar in Zeitlupe ablaufen lassen.
Als der Mann nach hinten kippte, sah man das Gesicht von Berger im Türspalt. Es wurde direkt darauf gezoomt. Zu einer unmenschlichen Grimasse verzerrt füllte es nun das ganze Bild aus. Dann schwenkte der Zoom nach unten auf seine Krawatte. Die goldenen Eurozeichen auf grünem Grund, gesprenkelt mit dunkelroten Punkten, füllten nun das Bild. Buchstaben erschienen. „Die Gier schreckt selbst vor Mord nicht zurück.“

Berger fühlte Übelkeit aufsteigen. Es ging so schnell, dass er sich nur noch nach vorne neigen konnte und sich zwischen seine Beine auf den Teppichboden übergab. Seine Krawatte baumelte nach unten und blieb in seinem dort befindlichen Mageninhalt kleben.
Diese verdammte Krawatte!
Wie von Sinnen sprang er auf, zog sie ungelenk über seinen Kopf, warf sie direkt in sein Erbrochenes und trampelte blindwütig und laut schreiend auf ihr herum.
Aus dem Handy schrie seine Tochter. Er verstand kein Wort davon. Seine Frau kam angerannt, schrie ebenfalls. Aber auch das nahmen seine Ohren nicht als Worte wahr, sondern nur als Krach. Sie kam auf ihn zu, aber er schlug wild mit seinen Armen um sich, wollte niemanden in seiner Nähe.

Ein weiteres Geräusch gesellte sich zu dem Gekreische. In seiner Rage konnte er auch dieses nur als weitere Lärmquelle annehmen, ohne sie genau bestimmen zu können. Es war die Türklingel, die im Sturm unablässig betätigt wurde. Dann hörte man das Klirren einer Fensterscheibe.
Seine Frau rannte wieder davon und erschien nur wenige Augenblicke später mit zwei Polizisten in voller Kampfmontur. Auch sie schrien ihn an. Beide eine Pistole in der Hand haltend machten sie einen Schritt nach dem nächsten auf ihn zu. Die Läufe waren direkt auf ihn gerichtet. Es gab keinen Zweifel, dass sie zu allem bereit waren und schießen würden, wenn er nur eine einzige ungeschickte Bewegung machte.
Erschöpft blieb er stehen und hörte endlich auf zu schreien. Die Situation beruhigte sich. Die Anspannung wich nicht nur aus ihm, sondern auch aus ihren Körpern. Die Pistolen immer noch sicher in der Hand waren sie wenigstens nicht mehr auf seinen Kopf gerichtet. Nun konnte er verstehen, was sie sagten.

„Herr Berger, wir verhaften sie wegen des Verdachtes, einen Mord begangen zu haben. Bitte leisten sie keinen Widerstand und händigen sie uns die Tatwaffe aus.“
„Ich habe keine Waffe.“
„Uns liegt ein Video vor, in dem ein Mann erschossen wird.“
„Ich war das nicht!“ Erschöpfung breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Er konnte nur noch flüstern. „Ich war das nicht. Er war das selbst.“
„Unsere Kollegen haben den toten Körper vor ihrem Haus gefunden, aber keine Tatwaffe. Wenn er sich selbst umgebracht hätte, müsste dort eine Waffe zu finden sein.“
Bergers Gedanken spielten verrückt. Zwischen Verzweiflung und Resignation und purem Hass schwankend stammelte er nur ein weiteres Mal: „Ich war das nicht. Dorothea…“
Flehend blickte er seine Frau an. Sie hatte doch alles mitbekommen. Es traf ihn wie ein weiterer Schlag in die Magengrube, als er sie in Richtung der Beamten sagen hörte: „Ich war gerade im Bad, als das alles passierte.“
Sie hätte ihm helfen können. Sie hätte nur bestätigen müssen, dass sie Ales mitbekommen hatte. Anstatt dessen hörte sie nun aber gar nicht mehr auf zu reden.
„Man sollte doch mit ordentlich gekämmten Haaren in die Kirche gehen. Das Klingeln hörte ich, dann ging Richard zur Tür und ich ins Bad. Wenn Frau Harrison in der Kirche ist, will ich wenigstens zurechtgemacht sein. Wissen sie, die Harrisons, das sind sehr gute Kunden und reisen sehr oft in ihre Heimat die USA. Das buchen sie immer über unser Reisebüro. Frau Harrison sagt dann immer, sie sieht mir schon an, dass wir alles perfekt organisieren. Letztes Jahr buchten sie sogar für ihre ganze Familie aus den USA Flüge hierher über uns. Das war ein ganz großer Auftrag, der uns den eigenen Urlaub etwas komfortabler machte.
Das Aussehen ist sogar am Sonntag wichtig in unserem Beruf. Selbst der Pfarrer sagte neulich, dass er beim Verteilen der Kommunion immer einen Glanz sieht, wenn ich vor ihm stehe.“
Was redete sie denn da? Es ging um einen Selbstmord und darum, dass er nun beschuldigt wurde, vielleicht lebenslang im Gefängnis landen würde, und sie redete über den Pfarrer und seine gierigen Augen?
„Ich war also im Bad und hörte den Schuss. Ich wusste, dass etwas Schreckliches passiert war und rief sofort die Polizei an. Zunächst dachte ich, sie hätten Richard erschossen. Aber dann hörte seine Stimme und lief hinunter. Dort sah ich es dann durch das Fenster in der Diele. Ein toter Mann lag vor unserer Tür, ein zweiter rannte gerade davon und Richard war im ganzen Gesicht mit Blut verspritzt.“
„Hat er in diesem Moment etwas weggeworfen oder eingesteckt?“
„Das weiß ich nicht. Ich kam ja erst kurz darauf nach unten, so lang war er allein mit den beiden Männern. Da hätte er natürlich alles machen können. Aber er ist ein ganz lieber Mann. Erst letzte Woche hat er eine riesige Spinne, diese Nosferatuspinnen, von denen alle reden, in einem Glas aus dem Haus gebracht, anstatt sie zu töten. Und wenn er schon keine Spinne töten kann, dann ja auch keinen Menschen. Aber… …um ehrlich zu sein… Er sah mich mit einem Ausdruck an, den ich noch nie bei ihm gesehen hatte. Das schockierte mich mehr, als den Toten zu sehen. Ich kann das nicht deuten, aber es hätte auch schuldbewusst sein können. Glauben sie mir aber: Richard ist der liebste Mann, den ich kenne. Manchmal etwas aufbrausend, aber normalerweise immer ganz lieb.“
Berger war kein Kriminalbeamter, aber es war ihm klar, dass die Aussagen seiner Frau ihm nicht helfen würden. Würde sie doch nur endlich aufhören zu reden. Sie machte alles nur noch schlimmer.
Hätte er doch nur die Kraft gehabt, sie zu stoppen.
Anstatt dessen verfolgte er wort- und kommentarlos die nicht enden wollenden Ausführungen seiner Frau.
„Vielen Dank, Frau Berger. Wir notieren ihre Aussagen. Vielleicht müssen sie uns auf dem Revier noch einmal kurz das Protokoll unterschreiben. Wir werden sie diesbezüglich kontaktieren.“
Berger war fast schon dankbar dafür, dass der Beamte damit andeutete, dass sie jetzt gehen würden. Er streckte seine Hände aus in Erwartung der Handschellen, die Mörder bei ihrer Verhaftung im Fernsehen immer angelegt bekamen.
Der Beamte stellte sich neben ihn, hielt seinen Arm fest und schob ihn sanft in die Richtung der Ausgangstür. Als Antwort auf die vorgestreckten Hände Bergers sagte er nur: „Nehmen sie ihre Arme runter. Gehen sie einfach mit uns mit, wir wollen nicht das ganz große Paket auspacken. Aber versuchen sie gar nicht erst, davonzulaufen.“
Ein ironisches Lachen entfuhr ihm. Davonlaufen. Er war froh, sich auf den Beinen halten zu können.
Vorbei an seiner endlich stummen Frau, vorbei an der eingeschlagenen Scheibe des Flurs, vorbei an Beamten, die sich über den reglosen Körper in seinem Vorgarten beugten und vorbei an seinen gaffenden Nachbarn trottete er lethargisch neben den Polizisten zu ihrem Auto und ließ sich entkräftet auf die Rückbank fallen.

Dann fuhren sie los in den trostlosen Sonntagmorgen.

(c) Zugvogel / Kevin Vogel