Sie spielten ihr aktuelles Lieblingslied, aber die Musik war wirklich viel zu laut. Simone versuchte, sich durch die feiernden Menschen zum DJ vorzukämpfen, um ihm deutlich ihre Meinung zu sagen. Ausgelassene Stimmung hin oder her – es ergab doch einfach keinen Sinn, den Leuten ihre Trommelfelle wegzubraten. Sicher war er stolz auf seinen fetten Verstärker, dachte sie, aber irgendwas schien auch mit dem Bass-Booster nicht in Ordnung zu sein. Das rhythmische Brummen unter der Musik wollte jedenfalls so gar nicht zur Melodie passen, und der Typ an seinem Mischpult bemerkte es offenbar nicht mal. Interessanterweise schien die Lautstärke die anderen Leute gar nicht zu stören, die sich dicht auf der Tanzfläche drängten. Auch dass das gleiche Lied schon zum dritten Mal in Folge lief, machte offensichtlich niemandem etwas aus.
»Hey, Simone«, hörte sie eine Stimme hinter sich und spürte gleichzeitig eine Hand an ihrer Hüfte, und nochmal, »hey!«.
Sie drehte sich um, sah aber niemanden, der sie angesprochen haben könnte. Wieder die Hand, jetzt an ihrer Schulter. »Simone, Dein Telefon!«
Die Szenerie um sie herum verblasste, und wie durch einen Nebelschleier nahm sie zunehmend ihre wirkliche Umgebung wahr. Sie lag in Bernds Bett, und auf dem Nachttisch direkt neben ihrem Kopf lärmte und vibrierte ihr Handy. In dem Moment, als sie danach griff, hörte der Krach auf. 3 Anrufe in Abwesenheit las sie gerade noch auf dem Display, bevor es erneut zu klingeln begann.
Diesmal ging sie ran. »Katzbach, hallo?«
»Simone, hier ist Robin«, hörte sie die vertraute Stimme ihres Kollegen, »hab’ ich Dich geweckt?«
»Kein Problem«, antwortete sie schlaftrunken, »was gibt’s denn?«
»Die Kollegen haben einen Toten in Seckbach, Kopfschuss. Die Spusi ist bereits unterwegs, und ich sitze auch schon im Auto. Soll ich Dich abholen oder kommst Du direkt?«
Simone nahm das Telefon kurz vom Ohr und schaute auf die Uhr im Display. Gleich halb elf. »Wäre super, wenn Du mich einsammeln könntest – ich bin aber nicht zu Hause, sondern bei Bernd.« Sie nannte ihm die Adresse und legte auf. Noch immer nicht richtig wach schlich sie ins Bad, um sich kurz ein wenig frisch zu machen.
Zehn Minuten später saß sie bei Robin im Auto. Er hatte zwei Becher heißen Kaffee mitgebracht, die in den Becherhaltern zwischen den Sitzen vor sich hin dampften.
»Ich war schon mal kurz wach heute früh, aber offenbar bin ich nochmal richtig fest eingepennt. Okay, also was wissen wir?«, fragte sie und ließ mit einem Klacken das Gurtschloss zuschnappen.
»Männlich, um die Fünfzig. Hat bei irgendwelchen Leuten an der Tür geklingelt und Geld gefordert. Angeblich schoss er sich dann selbst in den Mund, nachdem man ihn abgewiesen hat. Die Bewohner sollen ziemlich neben der Spur sein. Sie sagen, sie kennen ihn überhaupt nicht.« Robin nippte an seinem Kaffee, während er den Peugeot durch die langsam erwachende Stadt lenkte.
»Nochmal – er hat Geld gefordert, und als er keins bekommen hat, hat er sich umgebracht?«
»Das ist das, was mir die Kollegin von der Streife am Telefon sagte.«
»Hmm. Klingt reichlich skurril, findest Du nic… - Vorsicht!«
Robin spürte am heftigen Pumpen des Bremspedals, wie das ABS die Reifen vom Blockieren abhielt, gleichzeitig zog er das Lenkrad nach links, während seine rechte Hand den Becher in die Halterung plumpsen ließ, um im nächsten Moment auf die Hupe zu drücken. Um Haaresbreite konnte er einem jungen Mann ausweichen, der völlig achtlos über die Straße gelatscht war, während er auf sein Handy starrte. Als der Wagen stand, war der Mann schon im Park verschwunden und die dunkle Kleidung hob sich nicht genug von der Umgebung ab, um irgendwelche Details erkennen zu können.
»Was für ein Vollpfosten,« schimpfte Robin, während er wieder anfuhr.
Zwei Minuten später waren sie da und bahnten sich zwischen diversen Einsatzkräften von Polizei und Rettungsdienst hindurch den Weg zur Haustür.
Ein Notarzt kam Robin und Simone entgegen. Sie zeigten ihm ihre Ausweise und Simone sprach ihn an. »Guten Morgen, Doktor, wir sind vom Kriminaldauerdienst und hier zuständig. Können Sie uns kurz Ihre Eindrücke schildern?«
»Klar,« antwortete der Arzt, »also, der Tote dürfte sofort tot gewesen sein. Schuss in den Mund, der Hinterkopf wurde sozusagen direkt weggesprengt. Uns war sofort klar, dass nichts mehr zu machen ist. Die beiden, die hier wohnen, sind deutlich schockiert und mitgenommen. Ich habe ihnen etwas Tavor zur Beruhigung gegeben und…« In dem Moment piepste sein Meldeempfänger, offenbar ein neuer Einsatz. Der Notarzt schaute kurz auf das Display und verabschiedete sich hastig: »Verkehrsunfall, Person angefahren. Ich muss los!« Und weg war er. Simone und Robin wechselten kurz einen vielsagenden Blick und gingen ins Haus.
Als Simone ins Wohnzimmer der Bergers trat und die beiden am Tisch sitzen sah, stockte sie. Irgendwie kam Herr Berger ihr bekannt vor, aber sie kam nicht drauf.
Noch nicht.
Dorothea Berger, die unglaublich neugierig war, hatte alles über die Schulter ihres Mannes mitangesehen. Sie schlug sich die Hand vor den Mund und rannte in die Gästetoilette, wo sie sich ausdauernd erbrach.
So blieb Berger nichts weiter übrig, als selbst zum Telefonhörer zu greifen. „Bitte kommen Sie schnell. Vor meiner Haustür hat sich jemand erschossen.“
Dann sah er nach seiner Frau. Sie tupfte sich gerade den Mund mit dem Handtuch ab und kontrollierte, ob ihre weiße Rüschenbluse unbefleckt geblieben war. „Was sollen wir jetzt machen?“, fragte sie, als sie das Handtuch wieder ordentlich an den Haken hing.
Berger nahm sie in den Arm. „Die Polizei ist gleich da.“
Gemeinsam gingen sie in das große Wohnzimmer. Sie setzten sich nebeneinander auf das cremefarbene Sofa, um zu warten. Dorothea Berger nahm ihr Handy in die Hand. Sie wollte ihre Tochter Mia über den Vorfall unterrichten.
Doch kaum hatte sie es entsperrt, klingelte es. Die Tochter rief an. „Hallo Schatz“, begrüßte Dorothea sie mit zittriger Stimme.
„Geht es Euch gut?“, rief Mia so laut, dass auch Berger sie hören konnte. „Im Internet geht gerade ein Livestream von Papa viral.“
„Was?“, stammelte Dorothea.
„Es wird aufgerufen, sich bei Euch zu versammeln, weil er die 10.000 Euro nicht bezahlt hat.“
Dorothea Berger wurde blass. „Hier ist gerade etwas ganz Schreckliches passiert. Ich habe jetzt wirklich keine Nerven für sowas.“
Die Stimme von Mia war schrill, als sie rief: „Sie wollen Euer Haus niederbrennen. Ihr müsst sofort da raus.“
Hilflos blickte Dorothea ihren Mann an. „Die Polizei ist gleich da“, wiederholte Berger mit gezwungen gelassener Miene. Beruhigend tätschelte er das Bein seiner Frau.
„Ich leg jetzt auf, Schatz“, sagte die zu ihrer Tochter.
Mia Berger forderte: „Versprich mir, dass Ihr sofort das Haus verlasst.“
„Ja, ist gut“, murmelte Dorothea Berger und beendete das Gespräch.
Im Garten war eine laute fordernde Stimme zu hören. „… das sind alles Kapitalisten.“
Wie auf ein Kommando sahen Berger und seine Frau aus dem Fenster in den Vorgarten. Der Mann in der Lederimitatjacke stand dort noch immer. „Nieder damit!“, schrie er in sein Smartphone.
Wie erstarrt beobachtete das Ehepaar Berger vom Sofa aus den Mann. Er fuchtelte mit einer Hand wild herum und filmt mit der anderen ihr Haus. Plötzlich schwenkte er das Handy zur Straße.
Mit quietschenden Reifen fuhren drei vollbesetzte schwarze Autos vor. Das war definitiv nicht die Polizei, dachte Berger. Die Männer, die daraus ausstiegen, sahen alles andere als freundlich aus.
Möge das Spiel beginnen!
Ein Knall hallte durchs Haus. Die Eingangstür erzitterte von der Wucht. Das Holz der Bodendiele knarrte aufgeregt unter seinen Füßen. Von draußen drang kalte Luft herein. Richard stürmte zurück ins Wohnzimmer. Völlig außer Atem krächzte er lauthals auf dem langen Flur. »Ruf die Polizei!«
Stille.
Erneutes Poltern schalte durch den Gang. Herr Berger stolperte und fiel gegen die Kommode, die direkt neben der Wohnzimmertür stand. Das kräftige Eichenholz mit den mittelalterlichen Verzierungen bewegte sich keinen Millimeter. Dafür aber geriet Herr Berger ins Straucheln.
In letzter Sekunde griff er nach einem der goldenen Henkel. Derweil sein dicker Zeh ungebremst gegen die harten Holzbeine knallte. Sofort pochte es im Lackschuh. Humpelnd schleppte er sich zu seiner Gattin, die seelenruhig im Ankleidezimmer vor dem imposanten Spiegel stand.
Frau Berger zog sich in diesen Minuten den schwarzen Wollmantel an und war so mit ihrem Spiegelbild beschäftigt, dass sie nichts, was um sie herum geschah, mitbekam. Welche Tragödie sich noch vor Sekunden an der Haustür abspielte? Und dass ausgerechnet ihr Ehegatte Zeuge davon war. Nein, ihre volle Aufmerksamkeit galt einzig und allein den heiß geliebten Schuhen.
Mit einem roten und einem schwarzen Stiletto stand sie da und lief auf und ab. »Hm. Vielleicht sollte ich doch die kirschroten Stilettos nehmen? Was meinst du, Richard? Oder ist das zu übertrieben?«, rief sie aus ihrem Ankleidezimmer.
Normalerweise antwortete ihr Gatte sofort, diesmal jedoch blieb es stumm. Denn Herr Berger tupfte sich gerade mit der dunkelgrünen Krawatte, die er um den Hals trug, den kalten Schweiß von seiner hohen Stirn weg.
Wie eingefroren stand er mitten im Wohnzimmer. Es dauerte etwas, bis er wieder zu sich kam.
Sobald er realisierte, was ihm widerfuhr, versuchte er, sich seine grüne Krawatte mit den goldenen Eurozeichen vom Hals zu reißen.
Urplötzlich wuchs in seiner Kehle ein riesiger Kloß an. Die so staubtrocken wie die Sahara war. Jedes Schlucken glich einer Tortur wie Reißzwecken, die im Rachenraum herumwüteten.
Völlig durch den Wind stampfte er zu seiner Bar, auf die er so stolz war. Die er sich extra im letzten Italien-Urlaub anfertigen ließ von einem begabten Tischlermeister. Und wieder pochte am linken Fuß der dicke Zeh, als hätte er einen eigenen Herzschlag.
Herr Berger fragte sich, ob er jemals wieder in den Italien-Urlaub mit seiner Gattin fahren könnte?
Mit zusammengebissenen Zähnen griff er nach dem erstbesten Scotch aus seiner Sammlung und schenkte sich den teuren Tropfen in ein breites Glas ein. Weiterhin benommen von dem Albtraum, der sich vor seinen Augen vor nicht einmal fünf Minuten abspielte, vergaß er, zwei dicke Eiswürfel hinzuzufügen. Rasch warf er sie hinterher. Ein paar Spritzer Scotch fielen auf die Hand.
Herr Berger stand wie angewurzelt an der Bar. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass seine Gattin mittlerweile zu ihm fand. Sobald er Dorothea erblickte, zuckte er zusammen und ließ das Glas fast fallen.
Mit geöffnetem Mund starrte seine Frau abwechselnd von ihm zu dem halb vollen Trinkgefäß.
»Glaubst du nicht, dass es etwas zu früh dafür ist? Wir müssen gleich zur Messe«, ermahnte sie ihn mit einem strengen Blick. Doch ihr Mann reagierte weder auf sie noch auf ihre strikte Stimme. Er war vollkommen weggetreten.
Da nichts von seiner Seite kam, wedelte Dorothea ungeduldig, mit der Hand vor seinem kreide blassen Gesicht herum.
»Geht es dir gut? Du weißt, dass du heute nicht drumherum kommst. Wir müssen zur Messe. Ich will nicht, dass die alte Nachbarin Frau Engelhard sich wieder das Maul über uns zerreißt. Nur, weil wir nicht in die Kirche stolzieren. Also wage es ja nicht, dich jetzt schon zu betrinken.«
Dorothea regte sich so sehr auf, dass sie kräftig den Ledergürtel an ihrem Mantel zuzog. Fast bekam sie keine Luft mehr. Schnell löste sie den Knoten ein wenig.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihr Mann am ganzen Körper zitterte. Etwas Blut klebte an seiner Wange. Immer wieder verschüttete er den teuren Scotch.
Mit zusammengekniffenen Augen bluffte sie ihn an. »Wenn du so weitermachst, dann ist da nichts mehr drin. Trink jetzt aus, damit wir endlich loskönnen! Ich will nämlich direkt in der ersten Reihe sitzen, sodass uns jeder sieht.«
Aber als Richard abermals nicht reagierte und bebte, trat sie behutsam an ihn heran und legte die Hand auf seine.
»Schatz? Schatz, wer war da an der Tür? Ist alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sie sich fürsorglich. So langsam jagte er ihr eine Heidenangst ein.
Endlich kam er zu sich und starrte sie mit aufgerissenen Augen an. So weit, dass sie fast aus den Augenhöhlen fielen.
»Nie … niemand«, stotterte er.
Wie ein Roboter bewegte er das Glas zu den Lippen und schluckte die goldene Flüssigkeit hinunter. Er verzog dabei nicht einmal eine Miene.
Ein leichter Alkoholgeruch schlug Dorothea entgegen. Mit den Augen fixierte sie seine schief sitzende Krawatte. Selbst die paar Haare standen in alle Richtungen ab. Was war ihm bloß passiert?
Goldene Eurozeichen baumelten vor ihren Augen. Langsam richtete sie den Schlips zu Recht. Bevor sie den Knoten ganz zuzog, schlug er ihre Hand weg.
Mit einem irren Blick schrie er sie an. »Er … er hat sich einfach umgebracht. Geld wollten sie von mir. Daran ist eindeutig diese verfluchte Krawatte schuld. Sie bringt nichts als Ärger. Ich habe sie von Anfang an gehasst.«
Einen kräftigen Ruck und sie fiel zu Boden. Von Weitem sah sie aus wie eine grüne Schlange mit goldenen Farbtupfern. Immer wieder umfasste Herr Berger seine Kehle und atmete schwer aus.
Dorothea wich zurück, ihr Herz raste und die Hände schwitzten. In all den Jahren war ihr Ehemann ihr gegenüber nie so aggressiv aufgetreten.
Richard fiel auf seinen stabilen Ledersessel und Frau Berger schlich zur Eingangstür. Ihr blieb nichts anderes übrig, als selbst herauszufinden, was da draußen vorgefallen war. Bewaffnet mit einem roten Regenschirm und auf Zehenspitzen ging sie zum Fenster.
Vorsichtig lugte sie aus dem Fenster direkt neben der Haustür und zwischen der cremefarbenen Gardine hervor. Ihr Herz schlug wie eine wild gewordene Trommel. Sie stierte in den Vorgarten und fast blieb ihr Herz stehen.
Dieser Anblick war kaum zu ertragen. Wie in einem Horrorfilm waren überall auf dem Boden Blutspritzer verstreut. Eine seltsame, dickflüssige Masse klebte auf den Steinen. Es sah aus wie Hirnmasse.
Am Wegesrand entdeckte Dorothea eine riesige Blutlache, die ihre preisgekrönten Rosenbüsche bewässerte. Woher kam bloß all das viele Blut?
Abermals scannte sie die Gegend ab und erblickte direkt vor der Haustür einen jungen Mann. Zusammengekauert saß er auf dem kalten Steinboden. Die Hände hielten seine Knie fest umschlungen. Ganz sanft wippte er vor und zurück. Die Kleidung hatte die gleichen Blutspritzer wie die auf dem Boden.
Frau Bergers Neugier war stärker als ihre Vernunft, und so öffnete sie leise die Haustür. Erleichtert stellte sie fest, dass es keine Leiche gab. War alles bloß ein schlechter Scherz?
Nervös guckte sie sich um und just in dem Moment, als sie ihren Mann um Hilfe rufen wollte, sprang der Unbekannte zügig auf und lachte. Seine braunen Augen blitzten gefährlich auf.
»Endlich!«, rief er freudig und klatschte in die Hände. Dann zuckte er sein Handy und filmte Frau Berger, die sich automatisch eine Hand vors Gesicht hielt.
Er lief direkt auf sie zu und legte seinen schweren Arm um ihre zarten Schultern.
»Na, na, na. Nicht so scheu, die Dame. Liebe Community, wir haben unsere nächste Teilnehmerin gefunden. Das wird ein Spaß«, lachte er laut und hielt Frau Berger das Handy vor die Nase. Dabei schob er ihr kinnlanges blondes Haar etwas beiseite, damit man ihr attraktives Gesicht besser sah.
»Möge das Spiel beginnen! Wählt weise und ich verschwinde«, zwinkerte er Dorothea zu und küsste sie auf den Mund. Dann zerdrückte er ihre Wangen mit einer Hand.
»Hör gut zu, du naives Ding. Du hast genau drei Optionen zur Wahl.« Lachend hielt er ihr drei Finger vor die Nase.
»A: Gib mir 10.000 Euro und ich verschwinde klammheimlich. Ihr werdet mich nie wiedersehen. B: Du spielst mit der Community und mir. Oder C: Ihr stirbt.«
Ein weiteres Mal schwenkte er mit dem Smartphone zu Dorothea. Die konnte ihre Tränen nicht länger zurückdrängen, sodass sie ihr ungehalten übers Gesicht liefen. Sie versuchte stark, zu bleiben, und streckte selbstbewusst ihr Kinn nach oben.
Der Fremde schubste Frau Berger uncharmant ins Haus zurück. »Dein Mann hatte die Wahl. Er ist ein ekelhafter Geizhals, dem jetzt Blut an seinen Händen klebt. Ich hoffe, du bist nicht so. Es liegt an dir, ob ihr überlebt. Zehntausend Euro oder die Community wird wütend.« Grinste er frech, dabei bildeten sich sympathische Grübchen um seinen Mund.
Sowie Dorothea mit dem Eindringling im Schlepptau das Wohnzimmer betrat, wurde Richard abermals fahl und bekam Schnappatmung …
Richard und Dorothea Berger hatten fast den gesamten Tag auf der Polizeiwache verbracht. Sie wurden sowohl gemeinsam, als auch einzeln befragt. Immer wieder wurden sie nach einer Verbindung zu den zwei Männern ausgequetscht. Schließlich hatte man sie darüber informiert, dass die Polizei die Videoaufnahmen des Handys sichergestellt und überprüft hatten. Es war eindeutig, dass keiner von Ihnen ein Verbrechen begangen hatte. Sie durften gehen.
Als sie zu Hause ankamen, war sie Spurensicherung abgeschlossen. Morgen würden die Tatortreiniger kommen und unter anderem die Fassade des Hauses von den Blutspritzern befreien. Es war surreal, den Ort zu betreten, in dem sich vor einigen Stunden diese Tragödie zugetragen hatte.
Gegen alle ihre Angewohnheiten bestellten die Bergers das Abendessen, das Frau Berger am Gartentor entgegennahm, um neugierige Blicke zu vermeiden. Keiner von ihnen hatte großen Appetit und entgegen ihrer Erwartungen schliefen sie schnell ein, nachdem sie früh ins Bett gegangen waren.
Das piepende Handy weckte Herrn Berger aus dem Schlaf. Verärgert blickte er auf die Uhr. Es war 03:00 Uhr in der Früh! Wer würde ihm um diese Uhrzeit eine Nachricht schicken? Ob es neue Informationen zum Ermittlungsstand gab? Er überflog die anonym gesendeten Zeilen auf dem Smartphone:
Herzlichen Glückwunsch! Sie wurden verflucht. Sie hatten die Chance, das Leben eines Mannes zu retten und damit die Menschlichkeit über Profit und Gier zu stellen. Sie haben sich dagegen entschieden. Nun sind Sie an der Reihe. Nun sind Sie auf die Gnade anderer angewiesen. Wählen Sie eine Person aus, die Ihren Wohlstand auf mindestens genauso abscheuliche Art und Weise errungen hat, wie Sie das getan haben. Bitten Sie diese Person um 20 000 Euro. Sie haben dafür genau 48 Stunden Zeit. Sollten Sie scheitern, wird es für Sie keinen anderen Ausweg als den Suizid geben.
L.
Der Berger schnaubte wütend auf. Jemand erlaubte sich offenbar einen üblen Scherz mit ihm! Vermutlich einer der missgünstigen Nachbarn, der die Situationen heute beobachtet haben mussten. Während er noch vor sich hin grübelte vibrierte das Handy seiner Frau auf ihrem Nachttisch. Verschlafen grabschte sie nach dem Smartphone. Direkt nachdem Sie die Nachricht gelesen hatte, setze sie sich kreidebleich im Bett auf und reichte Ihrem Mann das Telefon. Er las nun ebenfalls den Text:
PS:
Sie haben sie letzten Jahrzehnte damit verbracht die Verfehlungen ihres Mannes zu beobachten. Sie haben sich dazu entschlossen, zu schweigen. Aus diesem Grund werden sie dazu verurteilt, die Geschehnisse der nächsten 48 Stunden zu beobachten, zu dokumentieren und zu schweigen.
L.
Herr Berger betrachtete seine Frau ausdruckslos. Sie las auch seine Nachricht und fing leise zu weinen an.
»Ist das real? Passiert das gerade wirklich?«
»Ach was für ein Unsinn! Da erlaubt sich jemand einen geschmacklosen Scherz. Vermutlich bekommen wir bald noch Anweisungen, an wen wir das Geld zahlen sollen. Hier will sich jemand an meinem hart verdienten und nicht einmal allzu großen Vermögen bereichern!« Herr Berger war wütend, während seine Frau immer verzweifelter wurde.
»Sollten wir damit zur Polizei gehen?« Ihre Frage war zaghaft und eigentlich wusste sie bereits die Antwort. Ihr Mann schüttelte entschlossen den Kopf. Sie begann zu zittern.
»Ich wusste, dass das irgendwann auf uns zurückfallen würde. All das Geld, dass du von den Fluggesellschaften und Hotels zurückbekommen hat, bei jeder einzelnen verdammten Stornierung. Und den lächerlich keinen Betrag, den die Leute davon zurückbekommen haben. Und ich will erst gar nicht damit anfangen, wie viele Reisewarnungen du ignoriert hast. Es ist ja auch immer gut gegangen, bis auf dieses eine Mal, als die Mutter und ihr Sohn…«
»Genug!« Herr Berger schrie seine Frau an. »Genug von diesem Unsinn! Das sind ganz gewöhnlich Geschäftspraktiken und falls irgendetwas nicht einwandfrei gelaufen sein sollte, steckst du genauso mit drin wie ich!«
Eine kurze Weile schwiegen sie beide.
»Das war bestimmt nur einer dieser verfluchten Nachbarn. Herr Fritz vielleicht, dem habe ich noch nie über den Weg getraut. Er mäht auch nie seinen Rasen! Und wenn, dann am Sonntag. Am Sonntag! Ganz zu schweigen von Frau Putz, die wohl die neugierigste und neidischste Person ist, die ich je kennengelernt habe. Ich wette auch, dass sie sich ihr neues schickes Auto gar nicht leisten kann. Und jetzt versucht einer von denen und zu erpressen.«
Dorothea Berger hatte ihren Mann nicht eines Blickes gewürdigt. Sie stand auf und ging im Pyjama in das gemeinsame Arbeitszimmer. Er folgte ihr missmutig. Sie schaltete den Computer ein. Sie erledigte vieles auf dem Handy, aber diese Sache schien zu wichtig. Diese Recherche verlangte nach einem richtigen Computer. Ihr Mann starrte sie misstrauisch an.
»Und was zum Teufel wird das?«
»Ich versuche etwas über diese Leute herauszufinden, die heute bei und geklingelt haben. Ihre Namen wurden uns ja mehr als einmal auf der Polizeiwache mitgeteilt. Vielleicht bringt das ein wenig Klarheit in die Sache. Fluch oder Fake, hier geht etwas Seltsames vor sich und vielleicht sind wir nicht die ersten … Opfer.« Das letzte Wort hatte sich nicht richtig angefühlt. Aber im Moment fiel ihr kein anderer Ausdruck sein.
»Willst du die zwei Männer einfach googeln oder wie hast du dir das vorgestellt?«
»Genau das habe ich vor.«
Berger schüttelte den Kopf und ging in die Küche. Wenige Minuten später kam er mit einem Glas Rotwein in der Hand zurück. Seine Frau starrte regungslos auf dem Bildschirm vor ihr. Als sie nicht reagierte, schob ihr Mann sie samt Bürostuhl zur Seite.
Seine Augen weiteten sich, als er sah, was seine Frau herausgefunden hatte.
Dorothea sah ihn mit einem derart durchdringenden Blick an, wie Berger ihn noch nie gesehen hatte. Nicht nur, dass seine Frau ihn normalerweise anders ansah - Berger konnte sich nicht erinnern, jemals bei irgendeinem Menschen einen solchen Blick gesehen zu haben. In Dorotheas Gesicht sah er die Angst und das Entsetzen ganz deutlich. Es lief ihm so eiskalt den Rücken hinunter, dass seine Beine vor Schreck nachgaben. Beinah fiel er zu Boden, konnte sich jedoch im letzten Moment an der Kommode im Flur festhalten.
Noch nie hatte er das Leid eines anderen Menschen so deutlich spüren können, wie in diesem Moment. Und dennoch - Bergers Frau stand immer noch völlig unbeweglich im Raum. Er musste etwas unternehemen. Vor seinem Auge blitzte gerade zum wiederholten Male das Bild des älteren Mannes auf, wie er nach hinten auf den Asphalt fiel und das Blut schwallartig aus seinem zerschossenen Schädel quoll.
„Na mach´ schon!“, schrie Berger seine Frau an, „Da liegt ein Toter in unserem Garten!“
Dorothea schüttelte sich, als sei sie gerade aus einem furchtbaren Traum erwacht und stolperte dann zum Telefon. Berger, der inzwischen zitternd wieder auf die Beine kam, hörte seine Frau mit der Polizei sprechen. Noch immer kam ihm alles furchtbar unwirklich vor. Vor allem furchtbar. Und ohnehin nicht wie etwas, dass ihm wiederfahren konnte. Er hatte über Jahrzehnte hinweg noch bis vor wenigen Wochen täglich hart gearbeitet und sich sein Geld mühsam zusammengesparrt. Jetzt wollte er lediglich seine Rente genießen. „Gewöhnliche Männer“ wie er öffneten doch nicht eines morgens die Tür und mussten dann mit ansehen, wie sich ein Wildfremder in Ihrem Vorgarten erschoss!? Noch dazu, nachdem man offenbar versucht hatte, ihn zu erpressen! Berger verstand die Welt nicht mehr. Das erklärte er auch den zwei Polizisten, die wenig später an seinem Esstisch platznahmen, um ihn zu befragen. Mit Dorothea sprach er in den nächsten Stunden kaum, denn sie wurde getrennt von ihm befragt und schwieg den Rest des Tages. Als ein Seelsorger eintraf, hörte sie aufmerksam zu, ließ sich sagen, dass sie keine Verantwortung für die Geschehnisse trug, nickte und faltete die Hände zum Gebet. Wenn Berger sprach, sah sie ihn so erschüttert wie schon zuvor an, äußerte sich aber nicht weiter.
Richard Berger blätterte am Abend lustlos in einem Buch und versuchte, den Gedanken an die inzwischen etwas verblichenen Blutspuren vor seiner Haustür zu verdrängen, als Dorothea sich ihm plötzlich zuwandte.
„Du hättest ihm Geld geben sollen!“, rief sie mit derart bebender Stimme, dass Berger nicht sicher war, ob sie gleich zu weinen oder doch zu schreien anfangen würde.
„Was?“
„Du hättest es ihm geben sollen! Geld! Alles Geld der Welt hättest du ihm geben sollen!“
Sie schluchzte laut. Als Berger die Hände seiner Frau berühren wollte, zog sie sie weg. Er sah seine Frau verwirrt an und wusste nicht recht, was er erwidern sollte.
„Aber ich…Wir…Sie sind doch…Wir kannten sie doch gar nicht und…Warum -“
„WARUM?! WARUM?! Weil du sein Leben gerettet hättest! WARUM hast du es nicht getan?!“
„Ich…Ich konnte doch nicht wissen dass er sich wirklich umbringt! Ich wollte das doch auch nicht, denkst du etwa, ich hätte das erwartet? Kein Mensch rechnet doch mit so etwas!“
Der Blick, den Bergers Frau ihm jetzt zuwarf, war einerseits eiskalt und andererseits voller Trauer. Sie drehte sich von ihm weg und schaltete das Licht aus. Berger hörte sie noch etwas von „furchtbaren Folgen“ sagen, ehe er vor lauter Erschöpfung dann doch einschlief. Das Bild von der Blutlache im Vorgarten blieb über Nacht. Am Morgen dann wurde dieses Bild von einer neuen, furchterregenden Situation überschattet: Im Bett neben Richard Berger lag die Leiche seiner Frau.
Doch diese starrte ihn nur wortlos an.
»Wir sollten …« Berger raufte sein Haar oberhalb der Stirn und zog eine Grimasse. Das soeben Geschehene war noch nicht vollends in sein Bewusstsein vorgedrungen und ihm war lediglich, als hätte er soeben eine missfällige Radiodurchsage vernommen, die einen schalen Nachgeschmack hinterließ. Ein rascher Kontrollblick durch den Spion – der Jüngere war verschwunden, der Ältere lag in einer sich ausbreitenden Blutlache. Übelkeit stieg in Berger empor. Nein. Unmöglich. Wieder wandte er sich an Dorothea, die ihn noch immer mit furchterfülltem Blick fixierte.
»Ich sollte …« Anstatt den Satz zu vollenden, nickte er in Richtung seines Handys, das auf dem Vorzimmertisch lag. Was sollte er der Polizei erzählen? Sie würden ihn zweifelsohne für verrückt erklären, wenn er selbst dies nicht bereits tat.
»Du hast ihn umgebracht«, murmelte Dorothea so leise, dass Berger sich fragte, ob er sich verhört hatte.
»Wie bitte?« Mit leicht geduckter Haltung bewegte er sich einen Schritt auf sie zu. Etwas in ihrem Blick versetzte ihm einen schmerzhaften Stich, so tief entsetzt, mit hängenden Schultern und glasigem Blick, hatte er sie schon lange nicht mehr gesehen, nicht seit damals, als … Berger schluckte schwer, verdrängte den soeben aufkeimenden Gedanken, bevor er sich seiner bemächtigen konnte.
»Du hast ihn umgebracht«, wiederholte sie nun etwas lauter und zerstäubte damit die letzten Zweifel sowie einen Funken Hoffnung, sich verhört zu haben, den er erst bemerkte, nun, da er erloschen war.
»Doro, nein, was redest du denn da?« Seine Stimme zitterte, hastig blickte er sich um. All das musste ein Scherz sein, ein geschmackloser, grausamer Scherz. Langsam, Schritt für Schritt, näherte er sich seiner Frau, doch zu seinem Entsetzen wich diese zurück.
»Du hast ihn umgebracht!«, schrie sie nun aus tiefster Kehle, Tränen liefen über ihre Wangen. »Das war so nicht vereinbart!«
Wie elektrisiert zuckte Berger in sich zusammen. »Wie bitte?« Er musterte Dorothea von Kopf bis Fuß, selten hatte er sie so aufgebracht erlebt. Sie antwortete nicht.
»Doro, da draußen liegt ein Toter.« Letzteres war nur noch als Hauch über seine Lippen getreten. »Da liegt …« Er nahm einen tiefen Atemzug, fühlte den Druck auf seinem Brustkorb. Seine Frau löste sich unterdessen aus ihrer Starre und begann, nervös im Kreis zu laufen, wobei sie unverständlich vor sich hin murmelte.
Das Geräusch von Polizeisirenen riss die beiden herum, ihre Augen weiteten sich gleichermaßen. Unmöglich. Seit dem Vorfall war nicht einmal eine Minute vergangen.
»Nein, sie werden doch nicht –!« Dorothea stand nach wenigen entschiedenen Schritten direkt vor ihm und packte ihn an den Schultern. »Wir müssen ihn hereinschaffen und dann irgendwie …«
Die Sirenen wurden lauter und erst als Autotüren in unmittelbarer Nähe zugeschlagen wurden, verabschiedete sich Berger von dem letzten Hoffnungsschimmer, dass sie vorüberziehen würden, auf dem Weg zu irgendeiner sonntäglichen Tragödie.
»Aufmachen, Polizei!« Ein lautes Hämmern an der Tür begleitete die strenge Frauenstimme.
Berger schluckte schwer, wie in Trance trat er zum Eingang und betätigte abermals die Klinke. Kaum geöffnet, drängten mehrere bewaffnete Beamte einer Spezialeinheit in den Vorraum. Zu perplex, um Widerstand zu leisten, ließ Berger zu, dass ihm und Dorothea Handschellen angelegt wurden.
»Ein grüner Aktenschrank?«, rief eine Stimme aus seinem Arbeitszimmer, zwei Einsatzkräfte hatten sich zielstrebig an ihm vorbeigeschoben und die Tür zu dem kleinen Raum am Ende des Ganges aufgestoßen.
»Genau, angeblich im untersten Fach«, bestätigte die Polizistin, die ihn mit festem Griff hielt und ihm unnötigerweise den Arm verdrehte.
»Was ist im untersten Fach?«, japste Berger, umständlich schielte er zu Dorothea hinüber, die nur mit den Augen rollte. Was um alles in der Welt ging hier nur vor sich?
»Wir haben ihn!«, rief eine Männerstimme, wenige Sekunden später wurde ihm ein unscheinbarer schwarzer Aktenkoffer unter die Nase gehalten.
»Was … ist das?« Gewiss hatte Berger ihn noch nie gesehen.
Eine behandschuhte Polizistin öffnete ihn auf der Vorzimmerkommode, eine beträchtliche Menge an Geldscheinen in sorgfältigen Bündeln kam zum Vorschein sowie ein Dokument, das obenauf lag. Berger erkannte das Logo seiner Bank.
»Ach ja? Das wissen Sie nicht?« Die Frau nahm das Schreiben und hielt es so, dass Berger es lesen konnte. Es handelte sich um eine Auszahlungsbestätigung über zehntausend Euro in bar, laut Datum vor drei Tagen, und ganz unten – Berger entglitt nun endgültig seine Miene – prangte seine eigene Unterschrift.
„Ich denke nicht, dass ich das tun werde.“ Dorothea sah ihn mit kalten Augen an.
„Was?“ Richard öffnet den Mund, sein Arm bewegte sich wie ferngesteuert gen Haustür, als müsse er ihr nochmal deutlich machen, was gerade dort draußen geschehen war.
„Du solltest mir jetzt genau zuhören, Liebster“, sagte Dorothea mit leiser Stimme. Sie strich mit der Hand über ihre Perlenkette, die sie jeden Sonntag zum Kirchgang anlegte.
„Das da draußen, das war nur der Anfang. Es werden weitere folgen, jeden Sonntag einer. Täglich grüßt das Murmeltier, ach nein, wöchentlich!“ Sie lachte auf, und setzte hinzu:
„So lange, bis Du es verstanden hast, du raffgieriges Schwein.“
Richards Augen weiteten sich. So hatte er seine Frau in 32 Jahren Ehe noch nie sprechen gehört.
„Oh guck nicht so“, zischte sie. „Ich weiß von Deinen Spekulationen an der Börse – von den erfolgreichen, wohlgemerkt. Ich habe Deine Konten auf den Bahamas entdeckt, in der Schweiz, und wo noch überall. Was hattest Du damit vor – LIEBSTER?“ Das Kosewort lang gezogen, wie Zuckerguss, mit Blei versetzt.
„Ich weiß nicht, wovon Du redest, Dorothea! Seit damals habe ich nichts mehr mit Aktien gemacht, das weißt Du doch!“ Richards Stimme zitterte. Was wusste sie wirklich?
„Sei doch vernünftig, wir müssen die Polizei verständigen!“
Doch seine Frau sah ihn nicht an. Sie war zur Tür gegangen und linste durch den Spion nach draußen. Sie dreht sich mit einem süffisanten Lächeln zu ihm um.
„Und was willst Du denen sagen? Hier ist nie etwas passiert.“
Richard schob sie zur Seite, guckte durch den Spion. Nichts. Er riss die Tür auf. Der Vorgarten lag makellos vor ihm. Keine Leiche. Der Plattenweg, auf dem sich noch Momente zuvor eine Blutlache ausgebreitet hatte, sauber. Nicht der kleinste Fleck auf dem Gras oder der Hecke. Hätten da nicht Schädelsplitter und Gehirnmasse sein müssen?
„Was zur Hölle…?“
Der TeZehntausend Euro, 2. Teil
Der Tee rann heiß und tröstend die Kehle hinab. Dabei trank Richard Berger keinen Tee. Jedenfalls nicht, wenn er nicht krank war. Das Aroma der Pfefferminze erinnerte ihn an seine Kindheitstage. Damals hatte seine Mutter ihm Tee gekocht, wenn er mit laufender Nase und kratzendem Hals nach Hause gekommen war.
Er war nicht krank, aber er fühlte sich beinahe so. Die Polizei war gekommen, dann eine Bestattungsfirma, die den Leichnam – eine verstörend sachliche Bezeichnung für einen Menschen, der kurz zuvor noch lebendig gewesen war – mit professioneller Pietät in einen tragbaren Sarg gelegt und in einem Kombi in gedämpftem Grau abtransportiert hatte. Eine Beamtin in Zivil hatte ihn genötigt, den Tee zu trinken, den sie ihm in der Küche zubereitet hatte. Dorothea hatte beim Anblick des verwüsteten Gesichts einen Schreikrampf erlitten. Der Arzt, der die Polizisten begleitet hatte, verordnete eine beruhigende Injektion und die zeitweilige Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus.
Berger meinte noch immer die graue-rote Masse auf den Waschbetonplatten seines Gartenweges zu erkennen, als er die mitfühlenden Beamten verabschiedete. Sie hatten ihm alle Fragen gestellt, die in einer solchen Situation sinnvoll sein mochten. Kannte er die beiden Männer? Nein, natürlich nicht. Konnte er sich vorstellen, warum sie ausgerechnet bei ihm geklingelt hatten? Nein, auch das nicht. Er war recht gut situiert, aber keineswegs reich oder in irgendeiner Weise berühmt. Konnte er sich vorstellen, wer hinter dieser Aktion stecken mochte? Nein, nein, nein! Er wusste nicht das Geringste. Er war verstört, durcheinander, zutiefst erschüttert. Aber das Ganze konnte einfach nichts mit ihm persönlich zu tun haben.
Berger versuchte, ein wenig Ruhe zu finden, indem er sich aufs Sofa legte und die Augen schloss. Aber es war vergebens: sowie er die Lider senkte, sprangen ihn die Bilder wieder an: der bärtige Mann, der zitternd 10000 Euro von ihm verlangte. Sein jüngerer Begleiter, der ihn des Geizes bezichtigte. Er sei ein Ausbeuter und Kapitalist. Aber das war er doch nicht! Er hatte sich alles, was er besaß, selbst hart erarbeitet. Doch, das hatte er.
Nachdem er einige Zeit versucht hatte, zur Ruhe zu kommen und ein wenig zu schlafen, warf er die Decke von den Beinen und setzte sich auf. Die Standuhr tickte, das Licht im Wohnzimmer änderte sich, wurde milder, aber die Bilder verschwanden nicht.
Als es an der Tür klingelte, schreckte Berger zusammen. Er kam taumelnd auf die Beine. Durch das Sicherheitsglas der Haustür erkannte er eine Gestalt. Sofort schnellte sein Puls in die Höhe. Kam er zurück? Der Begleiter des Mannes, der sich das Hirn weggepustet hatte? Berger drückte sich an die Wand und versuchte, nicht zu hyperventilieren. Die Polizei! Er musste sofort wieder bei der Polizei anrufen.
„Richard?“
Das konnte nicht der unbekannte Mann sein, oder? Kannte der seinen Vornamen? Vom Klingelschild vielleicht? Nein, dort stand nur ein Initial.
„Richard, bist du da? Isolde meinte, ich sollte dir was vorbeibringen.“
Das war Herbert. Berger spürte, wie seine Knie weich wurden vor Erleichterung. Herbert Meisner, der Küster und Organist der Gemeinde zur Heiligen Dreifaltigkeit. Mit drei Schritten war er an der Tür, entfernte die Kette und schloss auf.
„Richard, mein Lieber, darf ich reinkommen? Ich wollte mal sehen, wie es dir geht. Wir haben gehört, was hier passiert ist.“
Der Mann, der nach Bergers Nicken hereinkam, war eine Generation älter als er, näher den 80 als den 70. Sein weißes Haar lag sorgfältig gekämmt am Kopf, die großen Ohrmuscheln bedeckte ein zarter grauer Flaum. Er war kein attraktiver Mann, aber sein Blick war freundlich und besorgt. Er trug einen großen gusseisernen Topf und sah sich nach einem Platz um, wo er ihn abstellen konnte. Berger lotste ihn in die kleine Einbauküche mit Durchreiche ins Wohn- und Esszimmer. Typisch Achtzigerjahre.
„Lieber Gott, Richard, es tut uns so leid, was passiert ist. Du musst ja völlig durcheinander sein. Wie geht es denn Dorothea?“
Berger ließ sich wieder auf seinen Sofaplatz fallen und deutete auf die Sessel, die der Couch gegenüber standen. Meisner setzte sich mit gemessenen Bewegungen, die Knie eng beieinander und die gepflegten Hände auf den Knien.
Noch einmal gab Berger eine Zusammenfassung der Geschehnisse, während der Küster mitfühlende Geräusche von sich gab. Als Berger endete schwieg der alte Mann zunächst. Dann sah er ihn an, aber sein Blick war merkwürdig unstet und flüchtig.
„Und … du kanntest diesen Mann nicht?“
„Nein! Das habe ich doch schon gesagt, auch der Polizei. Der Kerl war mir völlig unbekannt.“
„Wie alt war er, was meinst du?“
Berger schnaufte ungeduldig. „So Mitte 70, würde ich sagen. Sein Haar war grau und schütter. Der Bart auch. Und seine Hände waren voller Altersflecken.“
Meisner nickte, aber er schien nicht richtig zuzuhören.
„Und … der Begleiter?“
„Jünger, so um die 40 würde ich sagen. Aber warum fragst du, Herbert? Kennst du den Mann vielleicht?“
Meisner warf die Hände in die Luft.
„Nein! Nein, nein. Ich denke nicht. Und er wollte Geld von dir?“
„Ja, 10000 Euro“, wiederholte Berger zunehmend irritiert.
Meisners Finger waren um seine Knie gekrampft, so dass die Knöchel weiß hervortraten.
„Hat er … hat er gesagt, warum er das Geld ausgerechnet von dir wollte?“
„Nein, als ich ihm die Summe verweigerte, steckte er sich die Pistole in den Mund und drückte ab.“
Als Berger seine eigenen Worte hörte, musste er würgen.
„Eine Pistole?“, fragte Meisner. „Es war eine Pistole? Konntest du das Modell erkennen?“
„Um Himmelswillen, nein!“, rief Berger verärgert. „Erstens kenne ich mich mit Schusswaffen nicht aus. Es war kein Gewehr, das kann ich dir sagen. Aber welche Waffe es genau war, erst recht ein Modell, kann ich dir nicht sagen. Das ist doch auch völlig egal!“
Der alte Mann nickte und schien nach Worten zu suchen.
„Wo ist die Waffe jetzt? Hat die Polizei sie mitgenommen?“
Die Beamten hatten dasselbe gefragt. Die Waffe war fort. Vermutlich hatte der jüngere Mann sie mit sich genommen, als er geflüchtet war, aber Berger hatte im Schockmoment nicht darauf geachtet. Als die Polizisten ins Haus gekommen waren, hatten sie sich taktvoll, aber eindeutig in seiner Wohnung umgesehen. Hatten sie die Waffe gesucht? Irgendwelche Hinweise darauf, dass die Bergers mit den beiden Männern zu tun hatten?
„Die Polizei hat sie“, sagte er ungeduldig. „Aber warum stellst du so seltsame Fragen, Herbert? Ich dachte, du wolltest dich erkundigen, wie es uns geht.“
Meisner nickte, aber er lächelte nicht.
„Sicher, natürlich. Wie geht es dir denn?“
Seine Frage klang derart mechanisch, dass Berger keine Antwort darauf gab. Er wartete ab, wartete, ob der alte Mann, den er seit so langer Zeit kannte, sich erklären würde. Was konnte ein alter Küster, ein musischer Mensch mit alldem zu tun haben?
„Richard, hör zu“, begann Meisner mit gesenkter Stimme, als befürchtete er heimliche Zuhörer. „Du bist nicht der Einzige.“
Berger riss den Kopf hoch.
„Was meinst du damit, nicht der Einzige? War der Kerl schon bei einem unserer Bekannten, bei Gemeindemitgliedern? Hat er von ihnen Geld bekommen? Sonst hätte er sich ja schon erschießen müssen.“
Meisner schloss gequält die Augen, so dass feine Spinnweben um seine Augenwinkel entstanden. Er hob eine knotige Hand. Seit ein oder zwei Jahren hatte er mit Arthritis zu kämpfen und das Orgelspielen fiel ihm zunehmend schwerer. Es ist ein Schnitter, heißt der Tod …
„Hör zu, Richard“, sagte er noch leiser. Seine Stimme klang wie zerknittertes Pergament. „Ich kann dir das jetzt nicht erklären, aber es ist wichtig, dass du …“
Die Türklingel schrillte so durchdringend, als wollte sie sie warnen. Meisner zuckte heftig zusammen und hob die Hände, um Berger daran zu hindern, zur Tür zu gehen.
Der Schuss hallte in ihren Ohren, als sie sich zu Boden warf. Keuchend presste sie die Hände auf den harten Boden. Ein Reflex, der lange nicht ausgelöst wurde.
Der Klang, der sich schließenden Tür gab Jenna einen Ruck. Über die Hecke blickend sah sie einen Mann, der neben einem leblosen Körper vor der geschlossenen Haustür kniete. Bevor sich der Unbekannte erheben konnte, ließ sie sich wieder hinter den Sichtschutz sinken. Schritte näherten sich. Sie presste sich so geräuschlos wie möglich in die Hecke und hatte Glück. Der dunkel Gekleidete bog in die andere Richtung ab. Sie tastete nach ihrem Mobiltelefon und fluchte im gleichen Moment. Ein Besuch bei ihrer Schwester war immer verbunden mit der Bitte alle elektronischen Geräte zuhause zu lassen.
Ihr Auto stand zu weit entfernt und der Mann würde bald aus ihrem Sichtfeld verschwinden. Was kümmerte sie es? Sirenen waren aus der Ferne zu hören. Eine Aussage könnte sie machen, den Mann beschreiben und dann beim Geburtstag ihrer Schwester auftauchen. Während sie weiter über die Möglichkeiten nachdachte, hechtete sie geduckt von Grundstück zu Grundstück. Die üppigen Rosenbüsche zu ihrer rechten Seite bremsten sie. Ein Blick durch das Küchenfenster traf sie, als sie sich langsam erhob. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte ihre Schwester aus der Küche die Handbewegungen, die ihr verständlich zu machen versuchten, dass dort etwas Grausiges geschehen war und sie die Möglichkeit hatte zu helfen und eigentlich auch das Geschenk vergessen hatte. Ihre Entscheidung war gefallen. Als die Haustür ihrer Schwester sich öffnete, war Jenna bereits verschwunden.
Der Verfolgte schien es nicht eilig zu haben. Sie beruhigte sich und mit jedem Schritt, den sie der Silhouette am Ende der Straße folgte, lockerte sich auch ihr Gang. Ohne Hast schlenderte der Mann durch die Straßen, auch als ein Polizeiwagen mit Blaulicht an ihm vorbei schoss. Jenna stellte sich nur wenige Meter entfernt hinter ihn, als er sich schließlich an einer Bushaltestelle in die Wartenden einreihte. Erneut ärgerte sie sich über das Fehlen ihres Mobiltelefons. Längst hätte sie schon Bilder oder Videos des Verdächtigen aufnehmen können oder sich wie die anderen Fahrgäste hinter dem kleinen Bildschirm verstecken können.
Der Bus schlängelte sich durch die Straßen des Vororts in Richtung der Stadt. Der Verdächtige hielt sich an einer Stange fest und blickte mit leerem Blick in die vorbei ziehende Stadtlandschaft. Nichts deutete daraufhin, dass er gerade Zeuge eines Mordes gewesen war oder diesen vermutlich mit geplant hatte. Jenna hatte ihren Schritt verlangsamt, als sie die beiden Männer und das Geschrei an der Haustür des älteren Mannes gesehen hatte. Den Betrag von 10.000 € hatte sie immer wieder gehört. Und die Forderung, dass der Mann, der nun tot im Vorgarten lag diese bekommen sollte.
In einer ihr unbekannten Gegend stieg der Mann aus. Kurz bevor sich die Türen des Fahrzeugs schlossen sprang sie hinaus und blickte sich um. Wohnhäuser getrennt von einzelnen Geschäfte, wenig Passanten. Der Mann legte nun ein wenig Tempo zu, lief um eine Straßenecke, dann lang geradeaus. Abstand aber nicht zu viel. Eine Observation alleine war immer ein Risiko. Zu auffällig, wenn man das Ziel nicht verlieren wollte oder zu schnell vorbei, weil man das Ziel aus den Augen verlor. Um einen Passanten anzusprechen und nach einem Mobiltelefon zu fragen würde sie zu viel Zeit kosten. Unvermittelt blieb der Mann stehen. Er zog etwas aus seiner Tasche und drehte sich um. Jenna blieb nicht stehen und schritt mit gesenktem Blick weiter voran. Ewig schienen ihr die Schritte bis sie schließlich auf seiner Höhe war und an ihm vorbei schritt.
Auch wenn der Mann ohne Eile gegangen war, in dem kurzen Blick, den sie in sein Gesicht werfen konnte, lag etwas Unstetes und Fieberhaftes. Einen Blick zurück wagte sie nicht. Sie hob langsam den Blick und entdeckte einen Kiosk, der wenige Momente entfernt lag. Eine Klingel verkündete ihren Eintritt. Sich für Chips interessierend, drehte sie sich mit einem schnellen Schwung zur Tür, als er eintrat. Eine Tüte in der Hand haltend, gab sie vor die Inhaltstoffe zu studieren und drehte sich weg. Sie versuchte ihren Atem zu kontrollieren, um möglichst klar zu bleiben. Er verschwand hinter dem nächsten Regal aus ihrer Sichtweite. Bleiben oder zügig das Weite suchen? Eine Überwachungsposition in der Nähe suchen und vielleicht auch das Mobiltelefon eines Passanten leihen, erschien ihr die beste Option. Den Arm zur Türklinke austreckend, stoppte sie in der Bewegung. Der Mann schob sich zwischen sie und den Ausgang.
„Kann es sein, dass du ein Auge auf mich geworfen hast?“, hörte sie ihr Gegenüber sagen, während er seine Hand auf ihre Schulter legte.
„Vielleicht sollten wir uns eine ruhige Ecke suchen“, sprach er weiter und ließ unter seiner geöffneten Jacke den Griff einer Pistole erkennen.
Dorotheas Blick war auf die weiß lackierte Haustür genagelt.
„Was war das für ein Knall?“, ihre eigene Stimme klang ihr fremd und hohl.
„Ruf die Polizei an!“, wiederholte Richard. Seine Frau rührte sich nicht. Sie hielt immer noch den roten Lippenstift in der Hand, der bei dem Schuss einen Strich über die rechte Wange verursachte.
Er würde sie selbst anrufen müssen. Unter dem Flurspiegel auf dem antiken Sideboard lag ihr Smartphone und wartete darauf, seinen Platz in ihrer Handtasche zu finden. Seine zittrigen Finger griffen danach, tippten auf eins, eins, null und anschließend auf den grünen Hörer. Das Gerät blieb stumm. Ungläubig gab er die Notrufnummer erneut ein.
„Dein Handy funktioniert nicht!“, seine Worte kamen stoßweise und abgehackt. Mit großen Schritten durchmaß er den Flur und betrat das feudale Wohnzimmer. Vor der roten Brokat-Tapete befand sich ein beiges Biedermeiersofa mit zwei passenden Ohrenbackensesseln. Auf dem Intarsien-Tischchen, welches daneben seinen Platz hatte, lag Richards Mobiltelefon. Seine zittrigen Finger bedienten die Notrufapp, die seit seinem Herzinfarkt installiert war. Auch dieses Gerät brachte keine Verbindung zustande. Richard Berger gehörte noch zu einer Generation, die über ein Festnetztelefon verfügte. In einer kleinen Nische neben dem schweren Eichenbücherregal stand das Relikt aus längst vergangenen Tagen. Genau für solche Momente hatte er darauf bestanden, es zu behalten. Sollten einmal alle Satelliten ausfallen, so hatte er seiner Frau erklärt, würde er immer noch telefonieren können. Ungläubig sah er auf den Hörer.
„Es geht nicht“, presste er hervor.
Dorothea hatte sich gefangen und folgte ihrem Mann. Ihre Aufmerksamkeit galt nun nicht mehr ihm, sondern dem großen Wohnzimmerfenster, welches die ganze Südseite einnahm. Sie trat bis auf ein Meter heran. Dort standen zwei junge Fremde in Jeans und Kunstlederjacken, hielten ihre Handys hoch und filmten in den Raum hinein.
Energisch griff sie nach dem Jalousie-Band und zog daran. Doch der Blickschutz wollte nicht nach unten gleiten. Jemand hatte einen Besenstiel zwischen Boden und dem Jalousie-Kasten eingeklemmt und verhinderte das Bedienen der Apparatur. Ein weiterer Mann, mit einem Smartphone, das er auf Frau Berger richtete, trat an die Fensterfront.
„Was ist hier los?“, schrie sie, so laut sie konnte. Richard sah zu ihr auf, nahm sie an der Schulter und zog sie in den Flur hinaus. Kleine Schweißperlen rannten über seine gelblich-weiße Stirn, verfingen sich in den Wimpern, ehe sie brennend in seine Augen schlüpften. Der Geruch von dem eingelegten Sauerbraten, den seine Frau für das Sonntagsessen vorbereitet hatte, erzeugte nun Übelkeit. Er atmete flach, ignorierte den Essensduft und schloss die Wohnzimmertür, um die Blicke der Fremden auszusperren.
„Geh nach oben und sperr dich ins Bad ein!“, forderte er seine Frau auf.
„Und was machst du? Denk an dein Herz. Du darfst dich nicht aufregen.“, Dorotheas Stirn zog sich zusammen und bildete steile Falten zwischen den Augen.
Behutsam strich sein Handrücken ihre errötete Wange.
„Ich passe auf mich auf. Geh hoch. Ich komme sofort nach. Die Handys werden sicherlich gleich wieder funktionieren“, Richard schenkte ihr ein gezwungenes Lächeln, ehe er sich zur Küche begab. Am Fenster standen Fremde, nicht die Besucher, die geklingelt hatten und auch nicht die, die vor dem Wohnzimmerfenster filmten. Diese hier waren ebenfalls mit schwarzen Kunstlederjacken bekleidet und hielten ihre Kameras in das Hausinnere. Herr Berger machte sich nicht die Mühe, zum Jalousie-Band zu gehen, er konnte gut den Rechen erkennen, der dort eingespreizt war. Ausgerechnet diese Woche hatte seine Frau die Gardinen zur Reinigung gebracht. Sonst würde er diese zuziehen und der Spuk hätte ein Ende. Mit Schwung zog er den Griff, ehe die Küchentür lautstark ins Schloss fiel. Tief zog er die Luft in die Lungen, bevor er geräuschlos, kaum wagend, die Füße aufzusetzen, ins Gästebad schlich. Das letzte Fenster im Erdgeschoss. Es war still. Das stetige Summen der Klimaanlage war ebenso verstummt wie das Brummen des Kühlschrankes. Der Strom im Haus war ausgefallen. Einzig die eigene Atmung war noch zu hören. Über ihm wurde leise eine Tür geschlossen, ehe man das Geräusch von einem Schlüssel vernahm, der gedreht wurde.
Sein Blick wanderte erneut zu dem Fenster. Es war höher eingebaut worden als die anderen, um den Besuchern dieses Raumes Privatsphäre zu gewähren. Es war unter der Decke angebracht und war kaum einen halben Meter hoch. Um keinen Laut zu erzeugen, zog er seine Slipper aus und stieg auf den Toilettensitz. Langsam lösten sich seine Fersen von dem Untergrund, um ein paar Zentimeter gutzumachen. Gerade als seine Finger den kalten Sims suchten, um sich daran hochzuziehen, durchbrach ein Knall die Stille. Jemand hatte sein Handy auf die Scheibe gepresst.
Erschrocken fuhr er zurück, griff ins Leere, rutschte von dem glatten Toilettendeckel und stürzte zu Boden. Er ignorierte den stechenden Schmerz in seinem Knie und zog sich an dem kleinen Holzkästchen, welches mit weißen Handtüchern bestückt war, hoch.
„Sie haben ihn umgebracht! Schwein! Sie haben ihn umgebracht! Kapitalist“, ein Sprechchor, der von allen Seiten kam und stetig wiederholt wurde, drang in das gepflegte, gutbürgerliche Haus mit seinem Sonntagsbratengeruch.
Richard Berger beließ seine Schuhe in der Toilette und rannte in den Flur, um auch diese Tür zu schließen. Nur das wenige Licht, das von der Treppe herunterkam, verhinderte die vollkommene Dunkelheit.
Seine rechte Hand glitt auf seine linke Brustseite. Diese wurde immer enger, bis er das Gefühl hatte, jemand würde darauf sitzen und jegliche Luft hinauspressen. Zu dem Schmerz kam die Angst, eine allumfassende, eine, die das ganze Sein einnahm und kaum das Atmen zuließ. Ein Rauschen erfasste seinen Kopf und tauchte seine Umwelt in nebligen Schwaden. Die schweißnasse Hand glitt in seine Hosentasche und zog eine kleine Dose hervor. Er fingerte daran herum, bis er das Behältnis geöffnet hatte und eine rote Perle hervorholte, die er in den Mund schob und eilig zerbiss. Es dauerte nur einige, aber ewige Sekunden, bis die Nitroglyzerinkapsel ihren Dienst tat und die Brust wieder freigab. Er atmete und zog die Luft tief ein. Der Vater im Himmel würde doch noch auf ihn warten müssen. Der Sprechchor riss nicht ab. Es schienen immer mehr Stimmen dazuzukommen, begleitet von rhythmischen Klopfen. Die Besucher hämmerten mit ihren Fäusten auf Tür und Fenster ein.
Er stolperte die Stufen hinauf. Auf allen vieren erreichte er das obere Stockwerk. Keuchend setzte er sich mit dem Rücken zum Badezimmer auf den Boden und betätigte erneut, erfolglos die Notrufapp.
Mit jedem seiner Schritte knallten die polierten Sonntagsschuhe auf die weißen Bodenfliesen, was Berger auf dem unendlich weit anmutenden Weg zu seiner Frau stetig daran erinnerte, wie sich der Schuss aus einer Pistole anhörte.
Weiße Fliesen – er bildete sich ein, die zarten Sprenkel roten Blutes auf ihnen zu entdecken. Dazu ein einsames, schmales Rinnsal der schaurigen Flüssigkeit.
Berger schwankte im Türrahmen hin und her, kam aber nicht weiter voran. Es war, als würde die stickige Luft ihn fesseln und zeitgleich jeden seiner Gedanken umherwirbeln. War der Herbst doch schon gekommen? Er fühlte sich jedenfalls wie ein vom Baum gefallenes, löchriges und verwelktes Blatt.
Dorothea starrte ihn mit bleichem Gesicht an, während sich ihre rechte Hand um den Hörer des Haustelefons klammerte und sie dumpfe, für ihn unverständliche Worte von sich gab.
„Richard“.
Sein Name – er blinzelte mehrfach.
„Richard. Sie sind unterwegs.“
Erst als seine Frau ganz nah an ihn herantrat und ihn mit ihren großen, grünen Augen anstarrte, löste er sich aus der Schockstarre. Ein eiskalter Schauer fuhr ihm über den Rücken und er schüttelte sich kräftig. Seine kalten Finger klammerten sich um den engen Knoten der Krawatte, die drohte, seinen Hals abzuschnüren.
„Ist der andere … der andere Kerl. Ist er noch da?“, fragte Dorothea mit bewundernswerter Kontenance. Es war wie befürchtet – sie hatte vermutlich aus dem Küchenfenster geschaut und alles mit angesehen. Trotzdem schien sie beherrscht und hatte sich vollkommen im Griff. Jedenfalls sprach sie die Worte so sicher aus, als unterhielte sie sich mit dem Pfarrer über das Wetter. Die Erkenntnis gab ihm neue Kraft.
„Ich schaue nach“, sagte er mit überraschend fester Stimme, die er sich selbst vor wenigen Sekunden keineswegs zugetraut hätte. „Du holst die Waffe.“
Seine Frau zögerte einen Augenblick, ehe sie ihre Lippen zusammenpresste und nickte. „Vaters Luftgewehr?“
„Im obersten Fach des Kleiderschranks“, sagte er und fügte an: „Nur für die allergrößte Not. Wir werden es schon nicht … die Polizei ist ja gleich hier.“
Die Treppenstufen knarzten dank des eiligen Aufstiegs seiner Frau, während Berger sich auf den Weg zurück zur Haustür begab.
Ein Streifen matten Glases zierte das moderne Stück, und die sanften Lichtstrahlen, die sich den Weg durch die Tür bahnten, trafen in sein Gesicht. Durch das Glas konnte man nicht schauen, aber auf den praktischen Türspion war Verlass.
Sein Herz pochte so stark, dass es ihm so vorkam, als würde das gesamte Haus im passenden Rhythmus wackeln. Berger atmete kräftig aus, legte seine flache Hand an die Tür und … zögerte. Er schluckte kräftig – das Leiten eines Reisebüros bereitete einen nicht auf solche Dinge vor. Wie denn auch – das Aufregendste in seinem Leben war bisher die Safarifahrt in Namibia gewesen. Beinahe wünschte er sich eine wild gewordene Büffelherde herbei, selbst wenn die dürre, weiterhin angebrachte Sicherheitskette deren Vorstoß wohl kaum stoppen könnte.
Berger sah hinaus. Wagte den Blick durch den Türspion und wurde für seinen Mut belohnt. Der junge Mann mit dem Smartphone war verschwunden. Er atmete erleichtert aus. Aber der Leichnam … blaues Licht strömte mit einem Mal durch das Glas der Tür. Endlich. Er bildete sich ein, die quietschenden Reifen des rasant bremsenden Streifenwagens zu hören, und löste sich von der Tür.
Aber wenn der andere Kerl fort war … wie sollte er das … wie konnte er das erklären? Seine Frau polterte die Treppe hinunter, während er die Tür aufriss und die Kette entriegelte. Es würde sich alles richten, mit Sicherheit.
Der kalte Wind des Morgens blies ihm kräftig ins Gesicht und brachte seine leicht gelöste Krawatte in Schwingung. Zwei Polizisten in voller Montur durchquerten vorsichtig den Vorgarten und blieben kurz vor dem Leichnam stehen.
Die beiden Männer waren auffällig groß, wobei sie sich im Alter deutlich unterschieden. Die weißen Haarsträhnen des rechten Polizisten standen im starken Kontrast zu den vollen, dunklen Locken seines Kollegen.
„Wie gut, dass sie da sind“, begann Berger zittrig, erneut daran erinnert, wie die Lage für Fremde aussehen konnte. „Sie werden es nicht glauben, aber …“
Der ältere Polizist zog seine Waffe.
Der Jüngere sein Handy.
Berger erstarrte und sah sie mit offenem Mund an. Seine Ohren dröhnten vom nun peitschenden Wind, der sich wie Feuer in sein Gesicht brannte. Er hörte Dorotheas lautes Japsen hinter sich, während sich seine Kehle zuschnürte.
„Ich brauche zehntausend Euro. Wenn Sie mir die nicht geben, bringe ich mich um“, sagte der weißhaarige Polizist, die Waffe bereits an die eigene Schläfe gerichtet.
Bergers Blick fiel auf den Leichnam am Boden. Auf die Rückstände des zerstäubten Blutes auf den Platten. Dann sah er in die Linse der Handykamera, die unablässig auf ihn gerichtet war.
Ein leises Kichern entfuhr ihm. Ein grotesker Laut, der selbst den heulenden Wind übertönte. Mit seinem Arm tastete er nach hinten, in Richtung seiner Frau, packte etwas Kaltes und schloss seine Finger darum.
(C) PE77
Richard Berger tigerte in seinem Hausflur auf und ab. Immer wenn er an der Eingangstür ankam, spähte er durch den Spion. Der Mann mit dem Smartphone stand immer noch draußen. Entweder telefonierte er, oder er tippte auf dem Smartphone herum.
»Die Polizei ist informiert, sie schicken einen Streifenwagen.«, sagte seine Frau, die aus dem Wohnzimmer kam und ebenfalls den Flur betrat.
»Hat der Mann sich wirklich erschossen?«, fragte sie weiter. »Ja«, sagte Berger nur und setzte sein Auf und Ab fort. Die Stille war unerträglich, aber weder er, noch seine Frau trugen dazu bei, dies zu ändern.
Nach endlosen fünf Minuten traf endlich die Polizei ein. Herr Berger öffnete die Tür, noch bevor die Beamten diese erreichten, da er sie bereits durch den Spion gesehen hatte.
»Guten Tag, mein Name ist Manuel Stier und das ist meine Kollegin Cornelia Backhaus. Wir sind vom 8. Polizeirevier.« Herr Stier zeigte auf seine Kollegin, die sich mit dem Smartphone-Mann im Schlepptau ebenfalls näherte und auf ihn leise einredete.
»Stier, das passt.«, dachte Berger. »So bullig wie der aussieht, ist mit ihm sicher nicht gut Kirschenessen«.
Er gab ihnen die Hand und sagte nur »Berger, Richard« den Mann mit dem Smartphone ignorierte er.
»Dürfen wir eintreten, Herr Berger?«, fragte die Frau.
»Oh, ja natürlich.«, erwiderte er und machte den Weg frei. Sie traten ein und zu Bergers Leidwesen, bugsierte die Frau auch den Smartphone-Mann ins Haus.
Herr Berger führte sie ins Esszimmer. »Bitte nehmen Sie Platz.«, sagte er und sie setzten sich alle um den großen Eichentisch. Berger achtet darauf, sich möglichst weit weg von dem Mann mit dem Smartphone zu setzen.
Der Polizist, der sich Stier nannte, kam gleich zur Sache: »Herr Berger, Herr Jonas Leonhardt hier behauptet, Sie hätten seinen Vater umgebracht.« Er deutete dabei auf den Smartphone-Mann.
Richard Berger wollte schon antworten, aber da rief Herr Leonhardt, wie der Smartphone-Mann wohl hieß: »Ermordet, hat er ihn, nicht umgebracht!«
»Bitte bleiben Sie ruhig.«, ermahnte ihn der Polizist.
»Also das war so«, begann Berger. »Der Ältere, wollte von mir Geld erpressen …«
Weiter kam er nicht, denn Leonhardt sprang auf, und hechtete mit einem Wutschrei über den Tisch und packte Berger am Hals um ihn zu würgen. Die Polizisten rissen Leonhardt von seinem Opfer weg und Stier rief. »Das reicht jetzt!«
»Frau Backhaus«, sagte Stier und hielt dabei Leonhardt fest, der sich heftig wehrte. »Sie befragen den Zeugen Berger, währen ich den hier im Wagen verstaue.«
Herr Berger erzählte der Polizistin wie sich alles zugetragen hatte. Die Geschichte war schnell erzählt, denn das Ganze hatte keine drei Minuten gedauert. Sie hielt seine Aussage schriftlich fest.
Als Berger mit seiner Aussage fertig war, trat Herr Stier wieder ins Esszimmer, zeitgleich mit Bergers Ehefrau, die ein paar Gläser und Wasser brachte und sich ebenfalls an den Tisch setzte. Erst da ging es Richard Berger auf, dass seine Frau recht lange für die Getränke benötigt hatte. Den Gesichtsausdruck, den Herr Stier hatte, ließ ihn aber seine Frau schnell vergessen, denn etwas daran ließ Berger nichts Gutes ahnen.
Wortlos legte Stier ein Tablet auf den Tisch und spielte ein Video aus dem Internet ab. Es war das Video, welches dieser Jonas – den Nachnamen hatte Berger wieder vergessen – mit seinem Smartphone gefilmt hatte, denn Berger sah sich selbst durch den Türspalt blicken. »Unglaublich, dass das schon im Internet ist.« Ging es Berger durch den Kopf.
»Na endlich«, hörte er sich selbst sagen. »Guten Tag. Bitte geben Sie mir Zeit, ich schaffe es heute nicht«. Das Video zeigte nun den Mann, der sich erschossen hatte.
»Aber das ist nicht so passiert!«, rief Berger. Der Polizist stoppte das Video und sagte: »Es sieht nicht gut für Sie aus, Herr Berger. Ich schlage vor, wir sehen uns alles an und dann will ich Ihre Aussage hören.« Sein Gesichtsausdruck duldete keinen Widerspruch und so schwieg Berger.
Das Video wurde fortgesetzt und Berger hörte sich »Nein« sagen. Der bärtige Mann auf dem Video flehte: »Ich brauche mehr Zeit. Wenn Sie sie mir nicht gewähren, bringe ich mich um, bevor Sie oder Ihre Leute es tun.«
»Filmen Sie ruhig.«, sagte Berger und blickte in die Kamera. »Sie können mir gar nichts. Sie wussten, worauf Sie sich einlassen.«
Aus dem Off war nun die Stimme von Jonas Leonhardt zu hören: »Geben Sie ihm noch eine Woche. Darauf kommt es nun auch nicht mehr an, er hat doch schon alles verloren. Soll er auch noch sein Leben verlieren?«
»Das ist nicht so gewesen.«, dachte Berger, aber nun hörte er sich sagen: »Sie sind ja verrückt. Wie stellen Sie sich das vor, einfach die Bedingungen zu ändern? Da könnte ja jeder kommen, an meiner Türe klingeln und alles über den Haufen werfen!«
Der bärtige Mann auf dem Video begann zu zittern und sage: »Wenn Sie mir nicht mehr Zeit geben, bringe ich mich um.«
Dem Berger auf dem Video entfuhr ein Seufzen und er sagte: »Machen Sie was sie wollen, aber machen Sie es bitte draußen auf der Straße, okay?«
Der Rest des Videos stimmte wieder mit dem realen Geschehnissen überein, aber Berger nahm dies nur am Rande wahr. Sogar die eigene Hinrichtung des Mannes sahen sich alle an, aber Berger achtete nicht groß darauf. Er wusste nicht, wie das möglich war. Es musste ein Albtraum sein.
»Nun, was sagen Sie dazu?«, fragte Stier.
»Das ist nicht so geschehen.«, antwortete Berger mit zittriger Stimme. »Das muss ein Fake sein. Mit der heutigen Technik lässt sich doch alles fälschen.«
»Wir lassen das prüfen.« Sagte Frau Backhaus. »Ihre Aussage, widerspricht jedenfalls dem Video«. Sie schob ihre Abschrift ihrem Kollegen zu, der sie aufmerksam las.
»Ich will das original Video auf dem Handy von Mann sehen.«, begehrte Berger auf.
»Das geht nicht, das Smartphone ist ein Beweisstück.«, antwortete Stier. Berger ging auf, dass die Polizisten keine Ausweise gezeigt hatten, aber er wusste nicht, ob das überhaupt üblich ist, kannte er diese Geste nur aus dem Fernsehen. Jedenfalls hatte er seine Zweifel, was die Polizisten anging, auch wenn sie in Uniform kamen.
»Frau Berger, was sagen Sie dazu?«, fragte Frau Backhaus. »Sie haben noch gar nichts dazu gesagt.«
»Nun, dazu gibt es nicht zu sagen.«, antwortete sie ganz ruhig. »Es ist alles so passiert, wie es auf dem Video zu sehen ist.«
von HelmutB (Helmut Berger)
Zur selben Zeit an einem anderen Ort.
Je näher man kam, umso lauter wurde die schrille Musik.
Die dicken Betonwände hielten den Lärm gut ab, von innen und von außen.
Sie hatten diesen Ort gut ausgewählt. Alex würde dazu sagen, perfekt ausgewählt.
Von außen ganz unscheinbar und von innen mehr Platz als man sehen kann.
Neben der schweren Feuerschutztür stand eine Säule mit einem Display und Tasten.
Wenn man den aktuellen Code eingegeben hat, ging die schwere Tür auf.
Erst ging man einen von Licht gedimmten Gang entlang, bis hinter der nächsten Tür ein großer Raum zum Vorschein kam. Neben der Tür standen einige Sofas und Sessel. Gegenüber befand sich die Bar, dort bekam man ein paar kleine Knabbereien und etliche Getränke. Links und rechts neben der Bar hingen Monitore an den Wänden, mit Nummern drauf.
Ein Raunen zog durch den Raum.
Die Stimmung wirkte angespannt.
In diesem Raum waren junge Frauen und Männer versammelt. Einige von ihnen sahen verängstigt aus, andere wiederum hatten ein Lächeln im Gesicht.
Die schrille Musik im Hintergrund wurde leiser gestellt, ein Mikrofon knisterte.
„Okay Leute, so viel zu Monitor fünf. Ich hoffe, ihr hattet so viel Spaß wie ich. Malte geht gleich rum und sammelt eure Spenden ein.“
Hörte man eine männliche Stimme sagen. Er trat aus dem Schatten hervor und jeder konnte ein boshaft grinsendes Gesicht sehen.
„Spenden von wegen Spenden, Alex hör endlich auf damit.“
Eine junge Frau in den zwanzigern stand auf und ging auf diesen großen, sportlich aussehenden blonden jungen Mann zu.
„Sabrina, das war ja klar, dass du dich wieder aufregst. Aber du kennst die Regeln, ihr alle kennt die Regeln. Ihr alle, wie ihr hier seid habt die Verträge freiwillig unterschrieben.“
Er drehte sich um und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Seine finstere Mine ließ einem die Nackenhaare aufstellen.
„Komm Sabrina, lass uns rüber zur Bar gehen und hoffen ,das Lilly mit ihrer Mutter mehr Glück hat.“
„Ja genau Sabrina. Hör auf deine Freundin, genieße die Zeit hier, keiner weiß was als nächstes passiert. Schließlich haben wir nur noch wenige Stunden, bis der Gottesdienst beendet ist. Hopp Hopp holt euch alle noch eine Stärkung an der Bar, vielleicht steigt dann die Stimmung mal wieder.“ Antwortete Alex.
Sabrina ballte ihre Hände zu Fäusten, ihre Augen wurden feucht. Sie spürte diese Wut auf Alex, er hatte einfach alle hier reingelegt.
In diesem Moment spürte sie die Hand ihrer Freundin am Unterarm.
„Sabrina, du musst dich beruhigen, sonst sind wir die nächsten. Komm schon lass uns was trinken.“ Die Freundinnen nahmen sich in den Arm, beiden liefen Tränen über die Wangen.
„Es muss doch einen Ausweg geben, Iris.“
„Oh mein Gott, seht mal auf Monitor zwei, schnell dreht euch um.“ Mehrere Rufe halten durch den Raum.
Alle erstarrten, es war totenstille.
Dort zu sehen waren ältere Frauen und Männer aufgeteilt in zwei Zellen mit Gitterstäben. Die Männer in der einen Zelle trugen alle die gleiche Jeans und die gleichen lederimitierten Jacken. Die Frauen in der anderen Zelle trugen alle die gleichen Knielangen, grauen Röcke dazu schlichte weiße Blusen und knallrote Blazer.
„Oh nein, das ist meine Oma.“
„Er hat sich meinen Bruder geholt.“
„Ich kann meinen Vater sehen.“
„Und ich meine Mom.“
Hörte man aus verschiedenen Ecken und es hörte nicht auf.
Einige ließen sich mutlos auf die Sofas fallen, andere nahmen sich mit Tränen in den Augen in die Arme. Mittlerweile haben alle verstanden, dass mit Alex und Malte was nicht stimmte.
Einige Blicke schweiften zu Monitor fünf. Denn dort ist jetzt der junge Mann zu sehen, dessen Vater sich erschossen hat. Er lief, so schnell er konnte, die Straße hinunter bog in einen Vorgarten ein und versteckte sich in einem Schuppen. Man konnte sehen, wie sich seine Lippen bewegten, aber man hörte nichts. Alex hat den Ton abgestellt, als er die Sirenen der Einsatzfahrzeuge hörte.
Sabrina konnte aber von Lippen ablesen und flüsterte es Iris zu.
„Ihr Schweine, ihr verdammten Schweine, das werdet ihr noch bereuen.“
Die Freundinnen sahen sich mit großen Augen an.
In ihnen keimte Hoffnung auf.
Der Monitor war nun schwarz.
„So Leute, das war es erst einmal mit der fünf. Lasst uns auf den Monitor drei schauen. Lilly und ihre Mutter müssten so langsam an ihrem Ziel angekommen sein.“
Dorothea ließ das Ende ihres Schals los. Kaschmir und Seide, ein Geschenk ihrer Mutter. Zum ersten Mal, seit sie ihn bekommen hatte, strich sie nicht ihrem persönlichen Ritual folgend über die Linien in dem Muster des kriminell weichen Stoffs. Kriminell – das war das Wort des Augenblicks. Das war ein Schuss gewesen, keine Frage. Erschreckend, wenn man nicht daran gewöhnt war. Wie Richard. Er war von der Tür zurückgetreten. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, seine Hände bebten. Er hatte sie zu Fäusten geballt, doch nützen tat es nichts. Immerhin war er unverletzt.
„Die Polizei?“, wiederholte sie, „Was ist dort draußen geschehen?“
„Der Mann hat sich erschossen“, sagte er seltsam dumpf, „Zehntausend Euro wollte er. Sein Kopf … der andere hat gefilmt.“
„Hat er das?“, antwortete sie mit einer weiteren Frage. Die Antwort kannte sie natürlich. Sie hatte ihn schließlich gehört.
Sie kam den Flur hinunter, die Absätze ihrer Schuhe klickten auf dem hellen Stein. Richard stand ihr im Weg. Da er keine Anstalten machte, sich zu bewegen, schob sie ihn sanft beiseite.
„Thea“, sagte er kaum hörbar, „Die Polizei. Ruf die Polizei.“
Sie beugte sich vor und brachte ein Auge vor den Türspion. Draußen sah sie einen Mann auf dem Boden liegen. Eine Lache roter Flüssigkeit breitete sich von dem Ort, wo sein Kopf sein musste, aus. Er verdreckte die Travertinplatten, die sie erst vorgestern hatte kärchern lassen. Ein junger Mann in falscher Lederjacke filmte mit seinem Android-Abklatsch von dem reglosen Körper zu ihrer Haustür und zurück.
Ein erneuter Knall, wesentlich leiser diesmal, brachte sie dazu, sich umzudrehen. Richard starrte bewegungslos auf das Telefon, das mit abgesprungener Akkuabdeckung zwischen ihnen auf den Steinfliesen lag. Er musste es von der Kommode genommen und darin versagt haben, die Polizei anzurufen. Seine Finger zitterten noch stärker als zuvor.
„Er hat mich gefilmt“, presste er durch zusammengekniffene Lippen hervor.
Violett schimmerten sie, darüber standen feine Schweißperlen auf der weißen Haut.
„Schatz“, sagte sie und bemühte sich um eine Tonlage, die weder zu sanft, noch zu hart war. Irgendwie musste sie ihn zur Vernunft bringen. „Die Polizei ist nicht das, was wir brauchen.“
Sie bückte sich, hielt dabei die Enden ihres Schals mit einer Hand an die Brust gepresst, und sammelte mit der anderen das Telefon und das dazugehörende Plastikstück vom Boden. Sie setzte es zusammen und stellte es zurück in die Aufladestation. Es piepte. Richard sah sie an. Sie sah ihn an. Ohne ihren Blick zu lösen, zog sie ihr Smartphone aus der Tasche ihres Mantels. Kalt lag es in ihrer Hand. Ihr Daumen schwebte über der biometrischen Entriegelung.
„Nein“, sagte er, die Stimme ein kaum hörbares Flüstern, „Du hast es versprochen, Thea. Nie wieder.“
Sie sah ihm in die Augen. „Willst du ruiniert werden? Dann rufe ich die Polizei. Oder ich wähle die andere Nummer. Ihre Nummer.“
Richard leckte sich über die Lippen. Leckte sich den Schweiß von der Haut. „Was wird sie diesmal für ihre Hilfe verlangen?“
Sie legte den Kopf schief. „Lass es uns herausfinden. Wenn du es wagst.“
In der Ferne schlugen die Kirchturmglocken.
»Nein«, antwortete Dorothea mit einer überraschend kräftigen Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
Richard Berger wandte sich erstaunt um und starrte ungläubig zu seiner Frau, die nun ebenfalls ein Handy auf ihn gerichtet hielt. Ihre Augen starrten an ihm vorbei auf das Handydisplay, so wie Menschen es normalerweise tun, wenn sie ein Video aufnehmen.
»Dorothea, was machst du da?!« Seine Worte klangen mehr wie eine entsetzte Feststellung, weniger wie eine Frage. Berger spürte, wie seine Knie nachgaben, aber es hatte in seinem Leben weiß Gott schon einige schlimme Situationen gegeben, in denen er gelernt hatte – ja, lernen musste – Fassung zu bewahren. »Was geht hier vor? Kennst du diese Verrückten etwa?«
Dorothea nickte langsam und trat näher an ihren Mann heran, das Handy nach wie vor auf ihn gerichtet. »Es ist ein Spiel, Richard.«
»Ein Spiel? Bist du verrückt? Ich ruf jetzt die Polizei.« Mit hastigen Schritten ging er zu dem altmodischen Festnetztelefon, das seit Jahren auf dem Tischchen neben der Eingangstür stand und monatliche Rechnungen heraufbeschwor, obwohl es kaum benutzt wurde. Er hob den Hörer ab, begann 1-1-2 zu wählen und murmelte währenddessen laut genug, damit sie es hören musste: »Vor unserer Haustür liegt ein Toter. Und du erzählst mir was von einem Spiel.«
»Er ist nicht tot, Richard.«
Irritiert nicht nur von der Tatsache, dass Dorothea ihn erneut beim Vornamen nannte – das tat sie normalerweise nur, wenn sie sich Streit hatten – sondern mit welcher Gelassenheit sie auf dieses entsetzliche Erlebnis reagierte, ließ Berger den Hörer wieder sinken. Sie musste unter Schock stehen. Er wandte sich zurück zur Eingangstür und schaute durch den Spion. Tatsächlich waren beide Männer verschwunden. Lediglich die Pfütze mit dem Kunstblut — Berger hoffte inständig, dass es Kunstblut war — erinnerte an den Vorfall vor wenigen Minuten. Hoffentlich war der Fleck von der Straße aus nicht sichtbar, dachte Berger und sah die neugierigen Nachbarn vor sich, bei denen schon Panik ausbrach, wenn man am falschen Wochentag die Mülltonnen an die Straße stellte. Sogleich schüttelte er den Kopf über diese völlig absurden Gedanken. Wahrscheinlich stand auch er unter Schock.
Ehe er etwas sagen oder fragen konnte, erklärte Dorothea mit unerschütterlicher Stimme, als würde sie ihm die Nachrichten vorlesen: »Ziel des Spiels ist es, jemand völlig Fremden dazu zu bringen, einem Geld zu geben. Man darf ihn aber weder bedrohen noch ihm von dem Spiel erzählen. Wer das schafft, darf die 10.000 Euro behalten. Alles wird gefilmt und läuft als Livestream.«
Während Dorothea ihm das Spiel, dessen Sinn Berger nicht erkannte, beschrieb, öffnete sie einhändig ihren Laptop. Sogleich erschien eine Website, auf der Berger unzähligen Fenster sah, in denen fremde Menschen ungläubig in die Kamera starrten und wie er versuchten zu begreifen, was mit ihnen geschah. Blinkende Botschaften lockten mit Dollarzeichen, aber verursachten bei Berger einen Schwindel.
»Einige versuchen es mit Betteln oder großen Versprechungen, andere mit dem Enkeltrick. Lächerlich.« Dorothea schnaubte. Berger hörte seiner Frau, die ihm plötzlich wie eine Fremde vorkam, mit weit aufgerissenen Augen zu.
»Manche versuchen, ihren Opfern heimlich eine Nachricht zuzustecken, andere wiederum haben sich vorher abgesprochen,« fuhr sie fort. »Aber jeder wird genau durchleuchtet. Betrug ausgeschlossen. Von mehreren Tausend Teilnehmern sind nur noch 140 dabei. Die anderen haben schon aufgegeben.«
Bergers Gedanken fuhren weiter Karussell.
»Du bist doch verrückt geworden, bei so etwas mitzumachen. Wir wollten gerade zur Kirche gehen, danach noch im Park spazieren und ins Café. Wie jeden Sonntag. Was soll das ganze?« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
»Ach, vergiss doch das Café, Richard, wo eh nur alte Leute hocken und darauf warten, dass wieder ein Tag vergeht.« Dorothea schien nun tatsächlich zornig zu werden.
»Das ist doch alles Wahnsinn.«
»Wahnsinn wäre, die Chance nicht zu ergreifen. Du weißt, wie es um unsere Finanzen steht. Außerdem bist doch sonst nicht abgeneigt.«
Er wusste natürlich, worauf sie anspielte.
»Okay, wir versuchen es,« seufzte er. »Also, zu wem gehen wir und wie wollen wir einen völlig Fremden davon überzeugen, uns 10.000 Euro zu geben?«
Dorotheas Gesicht hellte sich auf und sie hakte sich bei ihm unter. »Das überlegen wir uns unterwegs. Aber vorher nimm bitte diese schreckliche Krawatte ab.«
Es vergingen ein paar Sekunden,nachdem die Tür geschlossen wurde,dann blinzelte der Tote.Stöhnend richtete er sich auf und entfernte das Special-Effects-Pack,das an seinem Hinterkopf befestigt war. Der Sender in der “Waffe” hatte es ausgelöst und die Blutwolke sowie den anschließenden Ausfluß des “Blutes” am Hinterkopf erzeugt.Sein Partner half ihm auf und drängte zur Eile.
“Lass uns verschwinden.”
“Irgendwann hole ich mir noch ‘ne Gehirnerschütterung von meinen Toden.”
“Die Kohle sollte dir das wert sein”,erwiderte der Andere,während sie eilig das Grundstück verließen.
“Welche Kohle?Wer von uns kam überhaupt auf diese Idee?”schimpfte der Selbstmörder.
Jetzt musste sein Begleiter grinsen.Sie wussten beide,dass die Idee von ihm kam.
Aber glaubten sie wirklich,dass auch nur eine Person auf die Forderung an der Haustür eingehen würde?
Sie erreichten ihren Wagen,den sie in einiger Entfernung abgestellt hatten und entfernten sich vom Tatort.
Inzwischen hatten die Bergers die Polizei informiert.
Jedoch nicht,um einen Toten zu melden,sondern um das Video zu zeigen,dass Herr Berger gemacht hatte,nachdem er bei einem Blick aus dem Fenster gesehen hatte,was draußen vor sich ging.
So etwas konnte man sich nicht ausdenken.
Auf was für Ideen diese Verbrecher kamen!
Glaubten sie wirklich,dass auch nur eine Person auf die Forderung an der Haustür eingehen würde?
Tage später.
Eine andere Haustür,ein anderer wohlhabender Bewohner,eine altbekannte Forderung.
“Guten Tag.Bitte geben Sie mir zehntausend Euro,sonst muss ich mich umbringen.”
Erhart Sege-Lohren,der Hausbesitzer,blieb unbeeindruckt.Nach einem kurzen Moment der Überraschung sagte er an den Mann mit dem Handy gewandt “Ich gebe IHNEN zwanzigtausend Euro,wenn Sie es tun.”
„Was ist denn passiert? Richard, was war das für ein Knall?“
Berger antwortete nicht. Er hatte bereits den Telefonapparat erreicht und wählte die 110.
„Notrufzentrale“, meldete sich unverzüglich eine Stimme.
„Ja, Berger hier, Richard Berger.“ Er nannte seine Adresse und sagte mit ernster Stimme, dass sich soeben vor seiner Haustür ein Mann erschossen habe.“
„Vor Ihrer Haustür, sagen Sie? Sind Sie sich sicher?“
„Natürlich bin ich mir sicher. Ein Komplize von ihm war dabei und hat alles mit dem Handy gefilmt, ich …“
„Wo sind Sie jetzt, Herr Berger?“
„Ich stehe im Flur, und …“
„Bleiben Sie im Haus, es kommt sofort jemand vorbei“, riet ihm der Polizist, als Berger seine Frau schreien hörte. Er wandte sich um und sah Dorothea, wie sie gerade durch die Tür schritt.
„Doro! Nein!“ Den Telefonhörer in der Hand eilte er seiner Frau nach, die sich gerade zu dem Toten beugte. Unentwegt schrie sie dabei: „Ist er tot? Ist er tot?“
Berger packte sie am Arm und konnte sie gerade noch von der Leiche wegzerren. „Ja, er ist tot, verdammt!“, schrie er sie an und zog sie in Richtung Haustür zurück, während er sich gleichzeitig nach dem anderen umsah, doch von dem fehlte jegliche Spur.
Plötzlich wurde er sich wieder des Telefons in seiner Hand bewusst, aus dem wie aus weiter Ferne der Beamte zu ihm sprach: „Herr Berger? Bitte sagen sie mir, was passiert ist.“
Bergers Frau presste ihren Kopf an seine Brust und weinte, während er sprach: „Ja, hören Sie - der andere Mann, der mich mit dem Handy gefilmt hat, der ist weg.“
„Aber der Tote ist noch da?“
„Ja, der Tote ist noch immer tot.“ Er wusste, dass diese Aussage idiotisch war, aber dennoch war sie richtig, denn ein kleiner Teil seines Verstandes hatte gehofft, dass das alles Fake war. Versteckte Kamera oder irgendein neuartiger Erpresserversuch, wie die Enkelanrufe – doch diese Wolke der Hoffnung war in dem Moment geplatzt, als seine Frau die Leiche entdeckt hatte. Erst da war Berger klargeworden, dass der Mann sich wirklich und wahrhaftig vor seinen Augen erschossen hatte.
Aber warum? Und wieso hatte der andere das mit dem Handy gefilmt? Er verstand das alles nicht.
„Komm, geh ins Haus, Doro. Die Polizei ist gleich da. Mach eine Kanne Kaffee.“ Letzteres sagte er nicht, weil er glaubte, dass Polizisten im Dienst gerne Kaffee trinken, während sie sich um einen Toten kümmern, sondern damit seine Frau eine Aufgabe hatte, die sie von der grausamen Realität ablenken würde. Dankend nahm er ihr wahr, wie sie im Haus verschwand, ohne einen weiteren Blick auf den Toten zu werfen.
„Herr Berger?“ Wieder der Beamte am Telefon.
„Ja?“
„Was ist passiert?“
„Es ist alles in Ordnung. Ich habe meine Frau nur beruhigen müssen.“
„Ich verstehe. Die Kollegen werden gleich vor Ort sein.“
„Danke“, sagte Berger gedankenverloren, da etwas an dem Toten seine Aufmerksamkeit erregte. Was war das?
Er trat an die Leiche heran und ging neben ihr in die Hocke. Der Augen des bärtigen Mannes starten reglos in den Himmel. Doch neben den Augen sah man ganz deutlich eine Naht, so als sei er aufgeschnitten und wieder zugenäht worden. Sie vollzog sich über seine Schläfe, bis hinter das Ohr und sah darüber hinaus auch noch reichlich unprofessionell aus.
Berger wusste, dass es unklug war, doch er konnte nicht anders. Er musste Gewissheit haben. Also berührte er das Haar des Toten und schob es etwas zurück. Wie er es erwartet hatte, ging die seltsame Naht um den Kopf herum, denn auch auf der anderen Gesichtshälfte war die besagte Naht zu sehen. Von einem Auge zum anderen über den Hinterkopf führend.
Hatte man seinen Kopf aufgeschnitten? War der Mann krank gewesen? Berger dachte über Hirntumore nach. Über Implantate, die man vielleicht hineinoperiert hatte. Frankensteins Monster kam ihm in den Sinn. Offensichtlich war der Tote nicht Herr seiner Sinne gewesen. Natürlich nicht, sonst hätte er sich ja nicht erschossen. Aber, je öfter sich Berger die Szene vor Augen führte, desto fremdbestimmter, ja irgendwie ferngesteuert war ihm der Mann vorgekommen.
„Guten Tag. Bitte geben Sie mir zehntausend Euro, sonst muss ich mich umbringen“, hallte es in seinem Kopf wieder. Die Stimme war roboterhaft. Ohne Betonung. Wie bei einem Computer: Siri oder Alexa und wie die Dinger alle hießen. „Ich brauche zehntausend Euro. Wenn Sie mir die nicht geben, bringe ich mich um.“
Auf jeden Fall stimmte mit dem Typen etwas nicht.
Berger nahm wahr, wie die Haustür sich wieder öffnete. Er blickte auf. Dorothea stand im Türrahmen mit bleichem Gesicht, ihr Handy in der Hand. Sie zitterte.
„Geh wieder rein, Doro“, sagte er. „Ich mach das schon. Ich warte auf die Polizei. Die sind gleich da.“
„Es ist alles online“, sagte sie.
„Was?“
„Das Video. Der Suizid. Du, wie du die Tür zuschlägst. Es ist online. Überall!“
(c) Tobias Bachmann
Als der Mann sein Gehirn filmreif im Vorgarten der Bergers verteilte, stand Fynn in seinem Zimmer gegenüber. Vom oberen Stockwerk hatte er die beste Aussicht auf die Grundstücke der umliegenden Nachbarn. Sein Plan, zu Mareen zu fahren, war damit vorerst Geschichte.
Sein Smartphone lag am PC, wo er es in die Hände nahm und vom Ladekabel trennte. Sein Blick schweifte beiläufig zum Fenster und fing die beiden Männer ein. Der Ältere von ihnen blieb am Tor der Bergers stehen. Er zögerte, sagte etwas zum Jüngeren und starrte verdrossen zu Boden. Schließlich überwanden sie den kleinen Vorgarten und klingelten.
Fynn überprüfte den Akkustand. 84%, das reichte für den Tag. Er packte es vorne in den Rucksack und wandte sich zum Gehen. Der erneute Blick aus dem Fenster hielt ihn davon ab. Herr Berger stand im Rahmen seiner Haustür und wirkte leicht verblüfft. Ein dicker Blutnebel flog aus dem Hinterkopf des älteren Mannes Richtung Himmel und kleine Stückchen von was auch immer schafften es bis zum Lavendel am Treppenende. Starr fiel er hintenüber und rutschte die Stufen nach unten in den Vorgarten.
Der Knall war durch das Fenster gedämpft, dennoch stolperte Fynn einen Schritt zurück. Erschrocken riss er die Hände nach oben und bedeckte den Mund. Der Laut blieb ihm in der Kehle stecken.
Es war brutal, aber anders wie in den einschlägigen Filmen. Eher unspektakulär. Dafür endgültig. Der Fremde würde nicht mehr aufstehen und im nächsten Streifen eine neue Rolle übernehmen. Außer es war ein Zombiestreifen.
Fynn war alleine im Haus, trotzdem rief er nach den Eltern. Das schien im Augenblick das Sinnvollste. Keine Antwort, was für ein Wunder. Die Haut kribbelte und die Knie trugen ihn nicht mehr. Doch er hielt die Stellung und zwang seine Blase, nicht schwach zu werden. Die Polizei anrufen? Das würde Herr Berger erledigen.
Die Bergers. Die unscheinbarsten Anwohner in ihrer Straße. Sie waren kinderlos, pilgerten jeden Sonntagmorgen in die Kirche und halfen gerne aus, wo Hilfe benötigt wurde. Daher war es umso bizarrer, dass ausgerechnet bei ihnen so etwas geschah. Wäre das bei Matteo zwei Häuser weiter passiert, hätte das niemanden verwundert. Seine ganze Erscheinung war zwielichtig. Ciao Mafia. Aber bei den Bergers?
Fynn überlegte, seinen Vater anzurufen, doch wie immer würde die automatisierte Stimme einen Rückruf zusichern. Seine Mom war im Fitnessstudio und hatte das Handy ausgeschaltet.
Er hob den Blick und sah den jüngeren Mann, wie er die Leiche mit dem Smartphone filmte und aufgeregt herumschrie. Dann rannte er davon, die Straße runter in Richtung des kleinen Gemeindeparks. Das war nicht okay.
Kurzentschlossen eilte Fynn mit wackeligen Beinen aus dem Haus und war froh, dass er sein Cube-Bike nicht abgeschlossen hatte. Schnell schmiss er sich auf den Sattel. Die Haut kribbelte nicht mehr, sie brannte. Mit klopfendem Herzen folgte er dem fliehenden Mann.
Der Mann der Spurensicherung warf einen strafenden Blick, zuerst auf den Zigarettenstummel und dann auf den Urheber.
Hauptkommissar Daniel Hartmann trat den rauchenden Rest auf dem Bordstein aus, knöpfte sich die Jacke auf und suchte sich einen Weg vorbei an den am Boden platzierten Fähnchen und dem abgedeckten Leichnam, zum Eingang des Hauses.
»Das ist ein Tatort, verdammt nochmal«, fluchte der Mann in dem weißen Papieroverall.
Hartmann ignorierte das »Erstmal ist es ein Selbstmord. Hast du die Waffe oder Patronenhülsen gefunden?«
Der Mann verneinte und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Hartmann wendete sich an den Polizisten, der vor der Haustüre Wache stand »Wo sind die Zeugen?«
»Im Wohnzimmer, der Mann ist ziemlich fertig, ich …«, aber Hartmann hörte ihm schon nicht mehr zu. »Was wusste der schon.«
Im Haus hörte er aufgeregte Stimmen und ein schluchzen.
Bevor er in den Flur trat, betrachtete er die Haustüre genauer.
Er konnte keine Gewalteinwirkung erkennen.
Genau wie das letzte Mal. Verdammt, sie würden es wohl ernster nehmen müssen.
In der Wohnstube war reges treiben. Neben dem Polizisten und einer Rettungssanitäterin war noch ein Priester anwesend.
Die Sanitäterin hielt die Hand der Frau und sprach beruhigend auf sie ein. Daniel Hartmann winkte den Geistlichen zu sich und schlenderte die Hände in den Taschen langsam zum großen Fenster, welches die Terrasse vom Wohnraum abtrennte.
Er betrachtete den gepflegten Garten. Ein Haus in dieser Lage hatte sicher eine Stange Geld gekostet.
»Ja bitte?«, sprach ihn der Priester an.
»Hauptkommissar Hartmann, Kripo Frankfurt«, flüsterte dieser und klappte seinen Ausweis auf. »Ist er vernehmungsfähig und hat er schon was gesagt?«
Der Priester runzelte die Stirn. »Mein Name ist Wolff und ich bin Notfallseelsorger. Ob der Mann vernehmungsfähig ist, sollten sie einen Arzt fragen und alles, was er zu mir gesagt hat, fällt in meine Schweigeverpflichtung. Es tut mir leid, ihnen da nicht helfen zu können.«
»Er hat doch nicht gebeichtet und außerdem handelt es sich eventuell um ein Verbrechen«, konterte Hartmann. Der Pfarrer zuckte mit den Schultern »Das tut nichts zur Sache.«
Hartmann hatte nicht vor zu warten.
»Herr Berger?« Hartmann zog wieder seinen Ausweis hervor.
Richard Berger sah langsam an ihm hoch. Sein Blick war gebrochen und Hartmann konnte erkennen, dass er vor kurzem geweint hatte. Die roten Ränder an seinen Augen waren kaum zu übersehen.
»Hartmann, Kripo Frankfurt. Können sie erklären, was hier eben vorgefallen ist?«
»Ich äh, ja einen Moment.« Berger stand mühsam auf, zog sich seine Sonntagsjackett zurecht, wobei ihm auffiel, dass er sie immer noch trug.
»Bitte kommen sie mit, es ist nicht notwendig, dass meine Frau das nochmal hören muss.«
Der Polizist nickte und folgte ihm in die Küche.
»Kaffee?« Richard Berger zeigte auf den Vollautomaten.
»Ja bitte, schwarz.«
Das war gut. Hartmann wusste, dass man so vertrauen aufbaut. Der Mann würde ihm sagen, was er wusste.
Mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand berichtete Berger mit zitternder Stimme was er eben mit Ansehen musste.
Der Beamte wartete geduldig ab, bis Berger mit seinem Bericht fertig war.
»Kannten sie die Männer?«, Hartmann hatte sein Notizbuch gezückt und notierte sich einige Punkte.
Richard Berger verneinte das sofort.
»Können sie den Mann beschreiben, der sie gefilmt hat? Aussehen, Akzent, besondere Merkmale?«, fragte Hartmann weiter.
Richard überlegte. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich das Ganze erneut ins Gedächtnis zu rufen. Sofort sah er die rote Wolke, welche aus dem Kopf heraus stob und hörte er den Knall. Immer und immer wieder.
Der Mann mit dem Handy. Er erinnerte sich nicht, er hatte nur den anderen angesehen. Aber dann fiel ihm doch etwas ein.
»Er war jung, so um die 20. Vielleicht 25, aber nicht viel älter. Er trug so einen Kapuzenpulli, wie die jungen Leute ihn heutzutage tragen. Schwarz, glaube ich, auf jeden Fall war er dunkel. Die Haare waren blond, das Gesicht konnte ich nicht erkennen. Er sprach Deutsch. An einen Akzent kann ich mich nicht erinnern.« Er schluckte und sprach dann weiter.
»Er hat mich angeschrien, das ich schuld wäre. Das ich ihn umgebracht hätte. Aber ich habe doch nichts gemacht. Ich meine … das ist doch Erpressung oder nicht? Habe ich da etwas zu befürchten?«, stotterte Berger.
»Nein, nein. Sie sind nur Zeuge.« Hartmann winkte ab.
»Fällt ihnen noch etwas ein? Haben sie gesehen, wohin er gelaufen ist? Oder stieg er in ein Auto? Waren da vielleicht noch andere?«
Berger schüttelte mit dem Kopf »Ich habe die Tür zugeworfen und die Polizei gerufen. Ich dachte, der sprengt sich vielleicht in die Luft.«
Er notierte sich das, maß ihm aber nicht viel Bedeutung zu. In so einer Phase waren Zeugen extrem aufgewühlt und die Aussagen unzuverlässig.
Er würde die Befragung an einem anderen Tag wiederholen.
Hartmann stellte die Tasse weg, gab ihm seine Karte und die übliche Bitte sich zu melden, falls ihm noch etwas einfiel.
Richard Berger war nicht der Typ für soziale Medien, anders war es kaum zu erklären, dass er von dem anderen Vorfall noch nichts gehört hatte.
Das verbreitete sich gerade wie ein Lauffeuer und er ging davon aus, das er das heutige Video spätestens im Büro zu sehen bekam.
Hartmann trat vor die Tür und zündete sich eine Zigarette an. Er beobachtete die Bestatter dabei, wie diese den Toten in den Kombi schoben.
Dann warf er einen Blick auf den Blutfleck. Dieser war nicht so groß, wie er erwartet hatte und ihn schlussfolgern ließ, dass die Kugel den Schädel verlassen hatte, ohne größere Stücke wegzusprengen. Es war trotzdem eine Sauerei. Die Bergers würden ihren Eingang selber reinigen müssen.
In diesem Moment klingelte sein Telefon und mit einem Blick auf die Anruferkennung wusste Hartmann schon, worum es ging.
»Es ist online« hörte er die Stimme seiner Kollegin Sina.
»Genau wie beim letzten Mal. Aber diesmal geht es noch weiter.«
»Weiter?«, fragte Hartmann, blieb neben seinem Wagen stehen und hörte ihr zu.
»Ach du scheiße« fluchte er »ich bin auf dem Weg«, er startete den Wagen und gab gas.
Das hier war dabei, sich zu einem Alptraum entwickeln.
»Also was haben wir?« Kommisariatsleiter Van de Haff zog sich den Sessel unter und beugte sich nach vorne über den Tisch.
Daniel Hartmann nickte seiner Kollegin zu und Sina startete das Video.
Auf dem großen Bildschirm erschien ein mystisches Logo und in Folge erschien eine Person mit einer Guy Fawkes Maske.
Der Mann, Hartmann vermutete, dass es ein Mann war, hatte den schwarzen Hoodie über den Kopf gezogen.
Irgendwie wusste der Polizist schon, worum es ging, bevor die Person anfing zu sprechen. Die Maske wurde eigentlich immer verwendet, wenn irgendwelche selbsternannten Revolutionäre mit Umsturzplänen an die Öffentlichkeit traten. Meist begannen solche Ansprachen mit, wir müssen aufwachen oder die da oben und so weiter. Diesmal war aber etwas anders. Normalerweise blieb es bei den schlecht gemachten Videos und dem ideologischen Blödsinn. Diese Truppe hier hatte aber gehandelt, bevor sie sich offenbarten.
Der Mann fing an zu sprechen. Seine Stimme war tief und nur geringfügig verändert. Das zeigte das er selbstbewusst und angstfrei handelte. Das machte dem Polizisten sorgen.
»Es ist an der Zeit« begann die Person hinter der Maske und machte eine Pause.
»Es ist an der Zeit das sich die Dinge verändern. Wir müssen die Dinge verändern. Und wenn wir fertig sind, werden sie sich verändert haben.«
Wieder diese nervige Pause.
»Der Kapitalismus, welcher uns eine sonnige Zukunft versprach, hat sich zu einer dunklen Wolke gewandelt und treibt vom Horizont auf uns. Wir wurden in den Zielen getäuscht. In Wahrheit wurden wir zu Sklaven gemacht. Mit Zuckerbrot und Peitsche in das System gezwungen. Brot und Spiele. Brot und Spiele. Zum Wohle weniger werden viele geopfert«, sprach die Stimme langsam und verschwörerisch. Er hob den Finger und zeigte auf den die Kamera.
»Wir werden euch diese Perversion vor die eigenen Augen halten. Jeden Sonntag werden wir einen Gefallenen zu einem den Eurigen bringen, und vor die Wahl stellen ihn zu Retten oder zu töten. Mit jedem den ihr umbringt, wird euer Konstrukt mehr ins Wanken geraten und am Ende werden wir auf den Trümmern eures Egoismus eine neue Zukunft aufbauen können.«
Das Zeichen erschien erneut und dann endete das Video.
Van de Haff Gesichtsausdruck zeigte mehr als deutlich, das er das ganze für vollkommenen Blödsinn hielt.
»Was sind das denn für eine verschwurbelte Spinnerei? Konnten wir die Website zurückverfolgen?«
Hartmann sah Sina an. Sie war die Expertin für alles, was mit Nullen und Einsen zu tun hatte.
»Wir sind dran, aber nein, so einfach ist das nicht. Das Video wurde über eine unbekannte IP eingespielt und dann an zig Newsrooms verteilt. Diese waren dann mit dem Video der heutigen Aktion verlinkt. Das teilen die Menschen nun über die sozialen Medien weiter. Unmöglich das aufzuhalten und die Herkunft zu ermitteln könnte uns Monate beschäftigen. Wenn überhaupt.«
Im Anschluss spielte sie das Video ab, das am Morgen bei den Bergers aufgenommen worden war.
Das Video war stellenweise unscharf und äußerst wackelig aufgenommen. Entweder war der Filmer sehr nervös oder die Qualität der Kamera schlecht. Richard Bergers Gesicht erschien im Türspalt.
Alle im Raum Anwesenden verfolgten angespannt die Vorgänge auf dem Monitor. Als der Mann unvermittelt die Waffe zog und abdrückte, zuckte Van de Haff zusammen. Sina hatte sich die Szene bereits mehrfach ansehen müssen und ersparte sich diesmal den Anblick.
Der Mann hielt dem vollkommen geschockten Berger die Kamera direkt vor das Gesicht und schrie ihn an, für den Tod des Mannes verantwortlich zu sei. Berger knallte die Tür zu. Das Video verharrte einen Augenblick auf dem Toten, der vor den Stufen auf dem Boden lag. Man konnte nun beobachten, wie ein kurzläufiger Revolver aufgehoben und in eine Tüte verpackt wurde. Das Bild wackelte erneut und dann erschien ein Gesicht im Bild.
Mist, dachte Hartmann. Das erklärte das Fehlen der Patronenhülse.
»Einer von euch, durch euch gerichtet.«
Auch hier endete das Video mit dem Logo.
Sina schloss den Browser und blendete nun das Gesicht des toten Mannes ein.
Hartmann räusperte sich und ergriff das Wort.
»Das Video gleicht dem, welches letzten Sonntag ins Netz gestellt wurde. Dort tauchten ebenfalls zwei Männer bei … «
Hartmann öffnete sein Notizbuch » … dem Rechtsanwalt Dr. Frederik Roßkopf auf und versuchten, auch dort zehntausend Euro zu erpressen. Als Roßkopf mit der Polizei drohte, hat sich dieser Mann vor seiner Tür erschossen.«
Hartmann zeigte auf das Gesicht auf dem Monitor.
»Auch hier trug die zweite Person eine Maske und äußerte das gleiche Mantra.«
»Wer war das Opfer?«, fragte Van de Haff mit dem Blick auf den Monitor. Er war darüber natürlich unterrichtet worden, aber hatte die Ermittlung an Hartmann abgegeben, um sich nicht darum kümmern zu müssen.
»Hermann Rugen, 58 Jahre, verheiratet, zwei Kinder. Bis letztes Jahr arbeitete er für die Deutsche Bank als Anlageberater. Recht erfolgreich. Aber dann wurde er gefeuert. Wir waren bei seiner Frau, aber die weiß entweder nichts oder sagt uns nichts.«
Hartmann überlegte laut »Einer von Euch, durch Euch gerichtet.«
Sina unterbrach ihren Bericht und sah ihren Teamleiter erstaunt an.
Hartmann fuhr fort.
»Rugen gehörte zur Finanzwelt und hat sich erschossen, weil seinesgleichen nicht gewillt war, ihn zu unterstützen.«
»Sina, weswegen wurde er gefeuert? Hatte er Schulden und wenn ja bei wem? Irgendwer hatte ihn dermaßen an den Eiern, das er sich für diese Sache opfern musste. Wir müssen nochmal zu seiner Frau. Sie weiß etwas, da bin ich mir ganz sicher.«
In dem Moment klopfte es an der Tür. Sina öffnete und nahm einen Hefter entgegen.
Hartmann mutmaßte »Wurde er identifiziert?«
Sina nickte, während sie die ersten Seiten durchblätterte.
Sie reichte Hartmann das Pamphlet und warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
Van de Haff wurde ungeduldig »Was ist denn jetzt?«
Sina klärte ihn auf.
»Er war Immobilienmakler. Hatte sich bei windigen Geschäften verkalkuliert und alles verloren. Lebt seit einigen Monaten in Scheidung.«
Hartmann knallte die Unterlagen auf den Tisch.
»Die gleiche Geschichte. Die schnappen sich pleite gegangene Geschäftsleute, die nichts mehr zu verlieren haben und so wollen sie eine Welle auslösen, indem sie der Bevölkerung zeigen, dass Reiche sich gegenseitig auffressen, wenn man die richtigen Knöpfe drückt.«
»Das kann doch nicht deren Ernst sein«, sagte sein Chef.
»Ich befürchte doch.« Hartmann sehnte ich nach einer Zigarette.
»Sehen sie zu das sie diese Verrückten schnellstens aus dem Verkehr ziehen, Hartmann. Sie haben freie Hand, morgen will ich einen Bericht«, beendete Van de Haff die Sitzung und verließ das Büro.
Sina flüsterte »1 Millionen Likes und das nach nur einer Stunde.«
»Wir brauchen jede Hilfe, die wir bekommen können, bald wird es erste Nachahmer geben.«
»Warum nur 10tausend?«, fragte Sina.
Das war eine gute Frage, dachte Hartmann und griff zum Telefon.
Fortsetzung:
Dorothea weilte noch im Wohnzimmer. »Was ist passiert?! Was war das für ein Knall?!«, rief sie entsetzt und stürzte in den Flur wo sie das leichenblasse Gesicht ihres Mannes erblickte.
»Ruf die Polizei«, wiederholte dieser leise und schlurfte mit zitternden Beinen ins Wohnzimmer, wo er sich kraftlos auf das braune, etwas altmodische Ledersofa sinken ließ.
Dorothea ergriff verstört den Telefonhörer und wählte geistesabwesend, während sie ihren Mann durch die Wohnzimmertür beobachtete.
»Polizei? Ja? - Hallo, ja - Berger hier.« stammelte sie. Dann erwachte sie aus ihrer Trance.
»Richard! Was ist denn überhaupt passiert?!«
»Da hat sich einer erschossen - bei uns im Vorgarten - die sollen sofort kommen.«
Sie legte ungläubig den Hörer neben den Apparat, rannte zur Haustür und spähte hinaus.
Draußen hatte es heftig angefangen zu regnen. Ein Blitz, direkt gefolgt von einem lauten Donnerschlag ließ sie zusammenzucken und erhellte kurzzeitig den in diesigem Morgennebel liegenden Vorgarten. »Oh Gott!«, rief sie hysterisch und knallte die schwere Eichentür wieder zu.
Aus dem Wohnzimmer hörte sie ihren Mann aufgeregt in den Hörer brüllen:
» Ja richtig! Erschossen! - Sag ich doch - beruhigen?! Na Sie haben Nerven! Kommen Sie schnell! Rosengasse 15 hier in Frankfurt-Bockenheim!«
»Fassen Sie nichts an! Wir Kommen!« Damit wurde die Verbindung unterbrochen.
»Nee Frau Stockl ich fass nix an«, nuschelte er in einem Anflug morbiden Humors, ließ sich wieder auf das Sofa fallen und stieß stöhnend Luft aus. Er griff nach der neben dem Sofa, auf einem Beistelltisch stehenden Whiskykaraffe und goss sich einen großzügigen Drink ein.
So hatte er sich den Sonntagmorgen nicht vorgestellt. Die ganze Woche über Stress im Geschäft wegen der anstehenden Herbstferien - als ob ganz Frankfurt bereits in den Winterurlaub aufbrechen wollte. Dabei herrschten draußen eher spätsommerliche Temperaturen. Und jetzt, am heiligen Sonntag, stand da plötzlich so ein Irrer vor der Tür und jagte sich `ne Kugel in den Schädel. Und der andere filmte das auch noch. Nee, nee, nee. Die Welt wurde immer bekloppter.
Die Türklingel riss ihn aus den Gedanken. »Das muss die Polizei sein! Ich geh schon!«, rief Dorothea aus dem Flur. Sie spähte durch den Spion und erblickte zwei seriös anmutende Herren, die sich mit schwarzen Regenschirmen vor dem Wetter schützten.
Der Eine, ein John-Lennon-Verschnitt um die 40, auffallend dürr, Jeans, Lederjacke, graues langes Haar, Vollbart, dunkle Nickelbrille Baseballmütze und Turnschuhe. Der Andere korpulent, kahlköpfig, Nadelstreifenanzug mit Weste, elegante Slipper, rotgetönte Brille, eher ein Kojack-Double.
Als sie die Tür einen Spalt öffnete hielt ihr Kojack, offenbar der Ranghöhere, seinen Ausweis vor die Nase.
»Frau Berger, Hauptkommissar Franz Schimilewski, das ist mein Kollege Sigmar Rübsamen. Sie hatten einen Toten gemeldet?«
»So kommen sie doch herein, sie werden ja ganz nass da draußen!« Dorothea riss die Tür auf und trat zur Seite.
»Wo ist denn nun die Leiche, Frau Berger?
»Ja, sie müssen sie doch gesehen haben!«, meldete sich Richard, der aus dem Wohnzimmer herbeieilte. »Der Irre liegt im Vorgarten gleich neben dem Rosenbusch.«
Er reichte den Beamten die Hand und deutet nach draußen. Noch immer schüttete es wie aus Eimern. Aus der Ferne war dumpfes Donnergrollen zu hören.
Richard Berger trat aus der Tür und starrte ungläubig auf den Plattenweg, der sich mittlerweile in einen kleinen See verwandelt hatte. »Aber das gibt es doch nicht! Eben lag der Kerl noch da!«
Die Kommissare schauten sich ungläubig an. »Jetzt erzählen Sie mal der Reihe nach Herr Berger. Was ist denn passiert?«
Richard berichtete detahiert von den Geschehnissen diese Morgens. Als er auf die 10.000 Euro zu sprechen kam horchten die beiden Herren ungläubig auf. »Der Typ hat 10.000 Euro von Ihnen verlangt??? Andernfalls würde er sich umbringen??« Der Lennon-Verschnitt blickte seinen Kollegen an und hob theatralisch eine Braue:«Unglaublich.«
»Ja Herr Kollege, das ist tatsächlich unglaublich. Vor Allem ohne die passende Leiche. Herr Berger, sie haben doch nichts dagegen, wenn wir uns hier ein wenig umsehen«, sagte Schimilewski und Richard hatte den Eindruck, dass das nicht als Frage gemeint war. »Sie müssen verstehen, - aber ihre Story klingt mehr als seltsam.« Mit den Worten wandten sich die beiden Herren ab und machten sich daran, das Haus zu inspizierten. »Wo geht es in den Keller?«
»Gleich hier vorne links die Tür«, antwortete Dorothea Berger pflichtschuldig. So langsam schien ihr Richards Story auch unglaubwürdig vorzukommen.
»Sigmar komm doch bitte mal runter, du wirst nicht glauben, was ich gefunden habe!«, rief Schimilewski aus dem Keller. Zwei Minuten später standen alle um die Leiche eines bärtigen Mannes herum, der längs vor Waschmaschine und Trockner drapiert war.
»Ist das der Mann der sich angeblich in Ihrem Vorgarten erschossen hat Herr Berger?«, fragte der Hauptkommissar den verdutzt dastehenden Hausherrn.
»Das - äh - das kann ich mir jetzt wirklich nicht erklähren.«
Rübsam durchsuchte die Innentasche der Kunstlederjacke des Toten.
»Keine Papiere - Ja was haben wir denn hier?!« Langsam zog er ein Bündel, in einer Plastiktüte verpackte Banknoten hervor. »Wenn ich raten müsste würde ich sagen das sind etwa 10.000 Euro. Oder soll ich den Publikumsjoker nehmen?«
»Ich denke das wird nicht nötig sein.«, entgegnete Schimilewski. »Herr Berger ich verhafte Sie unter dem dringenden Verdacht, in die Umstände des Ablebens dieses Herrn hier, wer immer das auch sein mag, verwickelt zu sein. Geleite doch bitte Herrn Berger zu unserem Wagen. Er wird uns so einiges zu erklären haben. Ich rufe die Spusi. Auch hier gibt es noch einiges zu untersuchen.«
Rübsam legte Berger Handschellen an und geleitete ihn die Kellertreppe herauf und hinaus zu ihrem zivilen BMW.
Im Keller schlang Dorothea Berger mit einem Grinsen im Gesicht die Arme um Franz Schimilewski. Zuckersüß säuselte sie : «Aber Herr Kommissar, ich verstehe das alles nicht.«