Dorothea hielt sich zitternd eine Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihren Mann an, dann wanderte ihr Blick hektisch zur Tür, hinter der soeben etwas Unfassbares geschehen war.
„Richard, was ist da gerade passiert? War das ein Schuss?!“
Richard, der sich dazu zwang, seinen Schock nicht allzu sehr nach außen zu tragen, schluckte schwer und wiederholte: „Stell keine Fragen, ruf einfach die Polizei. Bitte. Und einen Krankenwagen.“
Er sah, wie seine sonst so besonnene Frau mit sich und ihren vielen Fragen rang. Ihr Mund bewegte sich urplötzlich und er ahnte, dass sie leise Gebete vor sich hinmurmelte, um sich zu beruhigen, wie sie es manchmal tat. Doch nach einem Moment der Stille nickte sie und holte ihr Telefon aus der Tasche im Flur. Richard fuhr sich mit den Händen durch das Haar und versuchte zu verarbeiten, was sich vor wenigen Sekunden vor seinen Augen abgespielt hatte.
Was hatte das alles nur zu bedeuten? Wer waren die beiden Männer gewesen? Warum hatte der jüngere von beiden das alles gefilmt? Und hätte er diesen Zwischenfall wirklich verhindern können, wenn er der Forderung des Mannes nachgekommen wäre?
„Sie kommen, so schnell sie können“, hörte er die leise Stimme seiner Frau. Er drehte sich zu ihr um und streckte seine Hand an.
„Komm her“, meinte er und drückte sie eng an sich, als sie die wenigen Meter zwischen ihnen überwunden hatte.
„Wirst du mir erzählen, was passiert ist?“ Ihre Stimme zitterte und er rieb ihr langsam über den Arm. Gern hätte er ihr gesagt, dass es nur ein Missverständnis gewesen war, doch sie hasste es, wenn er nicht ehrlich mit ihr war, deshalb fing er gar nicht erst damit an. Aber er wusste auch, dass sie der Polizei gleich nicht ruhig entgegentreten könnte, wenn er ihr nun alles schilderte. Daher versicherte er ihr nur, alles zu erklären, sobald die Beamten eingetroffen waren.
Es dauerte ungefähr zehn Minuten, bis er die Sirenen in der Weite heulen hören konnte. Dorothea saß in der Küche und hatte ihre Hände fest um eine Tasse Tee geschlossen. Noch immer murmelte sie leise Gebete vor sich hin. Er dagegen war erneut zur Haustür gegangen und hatte eine große Decke über den Körper auf seiner Türschwelle gelegt. Einige Nachbarn hatten mittlerweile mitbekommen, dass etwas nicht stimmte. Schreie hallten durch die sonst so ruhige Nachbarschaft und lautes Getuschel vermischte sich zu einer lauten Kakophonie an Geräuschen.
„Ist das ein Körper?“
„Habt ihr den Schuss gehört? Es war doch ein Schuss, oder?!“
„Oh Gott, und das in unserer Nachbarschaft.“
Die lauten Stimmen machten es Richard noch schwerer, sich äußerlich nichts anmerken zu lassen, denn mittlerweile hatte sich eine stattliche Menschenmenge vor seiner Gartentür gebildet, und er betete händeringend, dass die Polizei bald auftauchen würde. Er vermied es tunlichst, auf das Blut zu starren, welches den Gehweg vor seiner Tür und die Decke über dem Körper nach und nach rot färbte.
Als die Beamten sich endlich einen Weg zu ihm durchgeschlagen hatten, führte er sie direkt zu dem Mann am Boden. Einer der drei Polizisten, groß gewachsen und etwa Mitte Vierzig, kniete sich hin und hob die Decke ein Stück an. Mit ernstem Gesichtsausdruck erhob er sich wieder und nickte dem älteren Kollegen zu seiner Rechten zu. Dieser begann sofort damit, den Tatort abzusperren und die gaffende Masse zu verscheuchen. Die junge Frau zu seiner Linken wandte sich an Richard selbst. Ihre blonden Haare waren zu einem strengen Knoten gebunden und sie musterte ihn einen Moment mit ihren grünen Augen, die im Vergleich zu ihrem professionellen Äußeren sehr sanft waren.
„Guten Tag, Herr Berger, mein Name ist Carolina Enders. Dürfte ich Sie einmal nach drinnen begleiten? Ich würde mir gerne Ihre Sicht der Ereignisse anhören.“
„Natürlich, kommen Sie bitte. Meine Frau wartet in der Küche auf uns.“ Sie ließen die beiden Männer zurück und betraten Richards Haus. Sobald Frau Enders das blasse Gesicht seiner Frau sah, ließ sie ihre professionelle Maske fallen und ließ sich auf dem Stuhl neben Dorothea nieder.
„Doro, das ist Frau Enders, sie würde uns gerne ein paar Fragen stellen.“ Seine Frau blickte auf. Offensichtlich war sie so in Gedanken gewesen, dass sie die Polizistin erst in diesem Moment bemerkte. Da sie offensichtlich nicht in der Verfassung war, Fragen zu beantworten, setzte sich Richard ebenfalls an den Tisch und wandte sich an die Beamtin.
„Meine Frau hat den Vorfall nicht beobachtet, aber ich beantworte gerne Ihre Fragen.“ Frau Enders nickte und begann die Befragung. Mit jeder Frage flackerten Bilder des Geschehens vor Richards Augen auf, und er musste sich erneut zur Ruhe zwingen.
„Und Sie sagen, der zweite Mann hat alles gefilmt?“ Er nickte und blickte zum Küchenfenster. Mittlerweile hatte sich die Menge etwas zerstreut, doch er wusste, dass die Gerüchte sich rasend schnell verbreiten würden.
„Es geschah alles so schnell. Würden Sie einem wildfremden Mann, der plötzlich an Ihrer Tür klingelt, eine derart große Menge Geld überlassen, bloß weil er es fordert?“ Die Polizistin, deren Gesichtsausdruck von Minute zu Minute finsterer wurde, schrieb akribisch mit.
„Falls Sie denken, dass Sie in Schwierigkeiten stecken, kann ich Sie beruhigen. Sie waren ein Zufallsopfer eines ziemlich makabren Vorhabens. Die Art und Weise, wie Betrüger an das Geld ihrer Mitmenschen kommen wollen, wird immer drastischer.“
„Und was passiert nun? Der zweite Mann ist auf der Flucht und niemand kann sagen, was er mit den Videoaufnahmen vorhat.“ Die grünen Augen der jungen Frau waren lange Zeit nur auf ihre Notizen konzentriert, bevor sie diese schließlich wieder zu Richard und seiner Frau lenkte, deren Hand er die ganze Zeit über gehalten hatte.
„Überlassen Sie die Details uns, Herr Berger. Dank Ihrer Beschreibung werden wir den Mann sicherlich schnell ausfindig machen. Weit kann er noch nicht gekommen sein.“ Er blickte erneut zum Fenster, vor dem man mittlerweile den Rettungswagen stehen sehen konnte. Zwei Sanitäter waren gerade dabei, den verstorbenen Mann in diesen zu bugsieren. Da sein Körper in einem Leichensack steckte, blieben keine Zweifel mehr daran, dass der Mann wirklich tot war – seinetwegen?
Die Vordertür ging auf und die beiden anderen Polizisten traten ein. Der ältere von beiden, welcher vorhin die Leiche begutachtet hatte, stellte Richard ebenfalls einige Fragen. Erst, als sie ausreichend Informationen gesammelt hatten und sie auch seine Frau zu einer Aussage gedrängt hatten, verabschiedeten sie sich und verließen ihr Haus.
Die anschließende Stille waren ohrenbetäubend. Als Richard sich zur Tür wagte und einen Blick hinauswarf, zeugten nur noch die roten Flecken von dem Vorfall. Er konnte sehen, dass man den Großteil bereits zu entfernen versucht hatte, doch die hartnäckige Flüssigkeit hatte sich in den Fugen der Steinplatten festgesetzt und er rieb sich erneut das Gesicht. Mit normalem Wasser würde er diese wohl nicht entfernen können.
Doch er hatte keine Zeit, sich weiter mit diesem Problem zu beschäftigen, denn der Klang des Haustelefons durchbrach die Stille und ließ ihn ins Wohnzimmer hasten.
„Berger?“, fragte er atemlos.
„Papa, endlich gehst du ran! Ich versuche schon seit einer halben Stunde, euch zu erreichen, aber keiner ist rangegangen.“ Richard schloss die Augen, als er die aufgekratzte Stimme seiner Tochter Nele am anderen Ende hörte. Wahrscheinlich meinte sie ihre Handys, denn soweit er wusste, klingelte das Haustelefon zum ersten Mal.
„Nele, wie schön, dass du anrufst. Wie geht es Martin und den Kindern?“ Er gab sich Mühe, das Zittern aus seiner Stimme zu verdrängen, doch seine Tochter wollte davon nichts hören.
„Papa, ich weiß zu schätzen, dass du meine Nerven zu beruhigen versuchst, aber ich rufe nicht für Small Talk an.“ Da ihre Stimme sich mehrmals überschlug, konnte er sich schon denken, dass etwas nicht stimmte.
„Was ist los, Schatz?“ Sie lachte auf.
„Das fragst du mich? Papa, warum ist da ein Video von dir online zu sehen, wo sich ein Mann direkt vor deiner Tür in den Kopf schießt?“
Richard spürte, wie ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. Er schluckte mehrmals, bis er sich halbwegs gefasst hatte.
„Was meinst du damit? Es ist schon online zu finden?“ Sie bejahte.
„Es ist überall! Ich musste Zara das Handy wegnehmen, als sie es mir aufgeregt hinhielt. Es muss so frisch sein, dass es noch nicht mal zensiert ist. Man sieht alles! Tamara weint noch immer bitterlich, sie ist massiv verstört.“ Mist, manchmal verfluchte er die moderne Technik. Er hatte nie gewollt, dass seine beiden Enkeltöchter in all das hineingezogen wurden. Er war dagegen gewesen, dass sie in ihrem jungen Alter schon Smartphones bekamen, schließlich war Zara erst elf und Tamara gerade mal acht.
„Papa, was ist passiert? Geht es euch gut?“ Er seufzte tief.
„Den Umständen entsprechend. Deine Mutter steht unter Schock, zum Glück hat sie es nicht direkt gesehen.“ Er erklärte ihr, was vorgefallen war.
„Aber das ist doch verrückt oder nicht? Niemand, der über gesunden Menschenverstand verfügt, würde auf dieses Angebot eingehen. Und wer hätte so viel Geld in seinem Haus herumliegen. Ist es wirklich meine Schuld, dass er tot ist? Wieso macht jemand so etwas? Wir wollten lediglich in die Kirche gehen.“ Mittlerweile machte sich ein immer größeres schlechtes Gewissen in seinem Inneren breit und bereitete ihm Schmerzen.
„Es hätte jeden treffen können, Papa. Du bist kein schlechter Mensch, das weiß ich. Und ich weiß leider nicht, was diese Männer sich gedacht haben. Aber das ist kein Spaß mehr.“ Er liebte seine Tochter, aber er kannte sie besser als jeden anderen, und er konnte genau hören, dass sie noch etwas anderes bedrückte.
„Was verschweigst du mir?“ Sie schluchzte leise auf. Er wartete geduldig, bis sie ihre Fassung zurückerlangt hatte, bevor er sie erneut sanft darum bat, es ihm zu verraten.
„Das ist ja das Ding, Papa. Ich weiß, dass du ein guter Mensch bist. Dass du für Adrian und mich immer alle Hebel in Bewegung gesetzt hast, um uns das bestmögliche Leben zu ermöglichen… Aber die Menschen dort draußen wissen es nicht. Das Internet kann ein schrecklicher Ort sein. Ich habe nur einige Kommentare gelesen, bevor es mir zu viel wurde, aber… Es ist übel, Papa. Obwohl du ganz offensichtlich das Opfer in diesem Fall bist, stellen sich die Menschen auf die Seite des anderen Mannes.“
Für einen Moment fehlten ihm die Worte. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass ihre Worte wahr waren. Und doch wusste er nicht, was er dazu sagen sollte.
„Ich dachte nur, dass du das wissen solltest. Aber keine Sorge, Martin und ich und auch mein Bruder stehen hinter dir. Bitte melde dich, sobald ihr mehr wisst, in Ordnung?“ Er stimmte zu und legte auf. Für einen langen Moment starrte er das Telefon in seiner Hand an. Und obwohl er so etwas normalerweise nicht tat, lief er mit großen Schritten zu seinem Handy, entsperrte es und suchte nach besagtem Video.
Es dauerte auch nicht lange, bis er es fand. Auf unzähligen Seiten war es bereits zu finden – manche zeigten den Vorfall noch immer unzensiert. Als er den Schock auf seinem eigenen Gesicht sah, wurde ihm übel. Der erneute Knall der Pistole, ließ ihn zusammenzucken. Schweiß bildete sich in seinen Handflächen, während er zu den Kommentaren scrollte.
Widerlich sowas. Er hätte ihn retten können und schickt ihn kaltherzig davon. Hier sehen wir wieder, warum ich Menschen hasse !
Habt ihr gesehen, wie egal es ihm, dass der Mann ihn mit zittriger Stimme um Hilfe bittet? Abschaum der Gesellschaft. Kaum hat jemand Geld, ist ihm jeder andere scheißegal.
Kann bitte jemand eine Waffe holen und sie diesem Arschloch an den Kopf halten? Dann sehen wir ja, wie gelassen er dann noch bleibt!
Geh sterben, du ekelhaftes Stück Scheiße!
Er schaltete das Telefon aus. Das war zu viel. Warum war er nun der Böse? Er hatte nichts falsch gemacht. Wahrscheinlich hätte jeder von ihnen ähnlich reagiert. Aber er wusste auch, dass sich im Internet jeder groß aufregen konnte, sobald sie einen Fehler witterten. Dorothea durfte das auf keinen Fall sehen, das würde ihr nur das Herz brechen. Die größte Frage von allen war jedoch: Warum das Ganze? Warum hatten die beiden Männer das getan? Für die Aufmerksamkeit? Waren sie wirklich Betrüger gewesen, die es auf sein Geld abgesehen hatten? Oder steckte da etwas ganz anderes dahinter? Richard wusste nur, dass er darauf hoffen musste, dass die Polizei den jungen Mann schnell fand und ihn zur Rechenschaft zog. Sicherlich wäre der Spuk dann bald vorbei und alles würde sich beruhigen.
Gerade mal zwei Tage später, er kam gerade von der Arbeit, brachten ihn die Nachrichten im Auto dazu, eine plötzliche Vollbremsung auf der Autobahn hinzulegen, die ungemütliches Gehupe hinter ihm zur Folge hatte. Er stellte sich auf den Standstreifen und lauschte den Worten der Nachrichtensprecherin, obwohl in seinen Ohren ein lautes Rauschen zu hören war, und es ihm daher schwerfiel, sich auf irgendetwas von dem Gesagten zu konzentrieren.
„Nachdem es vor einigen Tagen bereits einen ähnlichen Vorfall in Frankfurt gegeben hatte, erreichte uns soeben die Nachricht, dass sich ein junger Mann im Süden Frankfurts vor den Augen eines Passanten in den Kopf schoss, nachdem dieser ihn vehement nach einer höheren Geldsumme bat. Wie es dazu kam, und wie genau es mit dem Vorfall vor einigen Tagen zusammenhängt, können wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Sicher ist nur, dass die Polizei um jegliche Hinweise bezüglich einer jungen Frau bittet, die die ganze Tat gefilmt hat. Sie wird als Anfang Dreißig, etwa 1,70 Meter und mit dunklen Haaren beschrieben. Augenzeugen werden darum gebeten, sich umgehend bei der Polizei zu melden…“
All das hätte Zufall sein können, doch als er parallel online Bilder des neuesten Vorfalls suchte, merkte er schnell, dass es sich bei dem jungen Mann, der sich erschossen hatte, um den gleichen handelte, der vor zwei Tagen an seiner Tür gestanden hatte. Zwar waren die Aufnahmen teilweise sehr wackelig, doch es gab keinen Zweifel. Was war hier nur los?
Richard stellte das Radio ab, blieb einige Minuten stehen und fuhr dann nach Hause. Doch dort erwartete ihn der wahre Schrecken. Er fand Doro im Schlafzimmer vor. Sie hielt einen merkwürdigen Brief in den Händen und zitterte so stark, dass er zu Boden fiel.
„Schatz, was ist los?“ Sie sah zu ihm auf, deutete jedoch nur auf den Brief hinab.
„Dieser Brief lag vor der Tür. Ich wollte ihn lesen, aber hinten steht drauf, dass nur du es lesen sollst, weil sonst etwas Schlimmes passieren würde.“
Er bückte sich nach dem Umschlag, an dem merkwürdige Flecken prangten. Ein ungutes Gefühl bildete sich in seinem Inneren. Mit zittrigen Fingern holte er das Papier heraus, welches mit roter Tinte beschrieben war.
Wenn Sie dachten, Sie seien sicher, dann muss ich Sie enttäuschen. Sie stecken bereits mittendrin. Haben Sie ein schlechtes Gewissen? Gut, das sollten Sie auch. Denn Sie werden auch mein Blut an den Händen kleben haben. Ihretwegen bin ich das nächste Opfer. Sollten Sie diesen Brief lesen, bin ich vermutlich bereits tot. Und wenn Sie den Anweisungen, die Sie in den kommenden Tagen erreichen werden, nicht Folge leisten, werden Sie der Nächste sein. Stellen Sie keine Fragen, sprechen Sie mit niemandem darüber und gehen Sie ja nicht zur Polizei, sonst wird man sich um Ihre Frau und Ihre Kinder kümmern. Seien Sie versichert, sie wissen, wo Ihre restliche Familie lebt. Das tun sie immer. Genießen Sie die Ruhe, solange Sie anhält. Denn schon bald wird ihr größer Albtraum Wahrheit werden.
Langsam flatterte das Papier zu Boden. Er hatte sich geirrt. Sehr. Dies war erst der Anfang.