Seitenwind 2024 beginnt! 1. Teil

Der Blick in den Spiegel

Berger taumelte, ihm wurde schwarz vor Augen. Plötzlich fand er sich vor dem Spiegel wieder, wie er seine Krawatte band. Seltsam wie war er hierher gekommen? Es klingelte an der Tür. Ein ungutes Gefühl überkam ihn. Er warf seiner Frau einen nervösen Blick zu, sagte jedoch nichts und verließ den Raum.
Was für einen schrägen Tagtraum er eben gehabt hatte. So furchtbar real, die Handlung jedoch völlig bizarr. Geistesgegenwärtig legte er die Kette vor und spähte durch den Spion. Da standen die beiden Männer aus seinem Tagtraum, lebendig. Was zur Hölle war hier los?
Er öffnete verwirrt und schnauzte etwas unfreundlich. „Was wollen Sie?“
»Guten Tag. Bitte geben Sie mir zehntausend Euro, sonst muss ich mich umbringen", bat der ältere Mann.
„Wie bitte?“ Das durfte nicht wahr sein.
„Geben Sie ihm zehntausend Euro“, forderte der jüngere Mann, der die Szene filmte. „Er braucht es.“
„Scherren Sie sich beide zum Teufel“, entgegnete Berger.
Der ältere zückte seine Pistole und ehe Berger reagieren konnte, schoss er sich das Hirn weg.
Berger blickte an sich hinab und strich über seine Krawatte. Sie war voller Blut, auch seine Hände waren blutig.
Der jüngere Mann hüpfte um ihm herum und schrie: „Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!“
Berger stieß ihn zurück, schloss wie betäubt die Tür, lehnte sich mit der Stirn gegen das Holz, gegen das der jüngere Mann von außen hämmerte. Es wurde dunkel um ihn.

Er stand vor dem Spiegel und band seine Krawatte. Wie schön sie war, so ohne Blut.
„Schatz, es klingelt an der Tür“, riss ihn seine Frau aus seinen Gedanken.
„Ich geh nachsehen“, antwortete er routiniert und trottete zum Eingang.
Mit jedem Schritt überkam ihn jedoch stärker das Verlangen davon zu laufen. Die beiden Männer, kamen ihm in den Sinn. Er hatte geträumt, wie sich einer davon erschoss. Zweimal.
War es nur ein Nachbar oder wartete an der Tür der junge Mann mit der Kamera, eine Leiche neben sich am Boden liegend?
Er wollte nicht, aber er musste nachsehen. Wie in Trance näherte er sich dem Spion und blickte hindurch. Diesmal traf ihn das Déjà-vu Gefühl wie ein Hammer. Die zwei Männer standen vor der Tür. Der tote war wieder am Leben.
Ohne die Kette vorzulegen riss er die Tür auf und die beiden Männer drängten herein. Der jüngere filmte mit seiner Handykamera.
„Guten Tag. Bitte geben Sie mir zehntausend Euro, sonst muss ich mich umbringen“, forderte der ältere Mann.
„Sind Sie verrückt? Was geschieht hier?“
»Geben Sie ihm zehntausend Euro«, sagte der andere Mann. „Er braucht es.“
„Ich kann nicht“, stieß Berger hervor.
Der ältere zog erneut die Pistole.
„Das ist verrückt“, stöhnte Berger. „Sie können doch nicht…“
Erneut schoss sich der Fremde in den Kopf und fiel zu Boden.
Berger wich stolpernd zurück, versuchte sich an der Kommode festzuhalten, riss dabei eine Tischdecke mit einer kleinen Engelstatue und Kerzen herunter, mit der seine Frau die Kommode dekoriert hatte und knallte mit dem Hinterkopf auf den Teppichboden. Ihm wurde schwarz vor Augen.
Einen Lidschlag später blickte er in den Spiegel, seine Finger umkrampften zitternd seine Krawatte. Sein Gesicht wurde bleich, die Augen angstgeweitet. „Bin ich verrückt?“, fragte er.
„Hast du was gesagt, Schatz?“, rief seine Frau.
Es klingelte an der Tür.
Berger machte sich kommentarlos auf den Weg. Das Ereignis wiederholte sich.
Die beiden Männer waren wieder da.
Berger öffnete und sagte: „Ich kann Ihnen kein Geld geben.“
Der ältere Mann blickte ihn traurig, der jüngere anklagend an. Der ältere zog die Pistole und richtete sich selbst.
Berger bückte sich, während der jüngere Mann ihn anschrie, nahm die Pistole, richtete den zitternden Lauf auf den Schreihals, der erstarrte, und drückte ab.
Der Fremde wurde getroffen und fiel die Eingangstreppe hinab in den Vorgarten.
Berger hielt die Waffe gegen sich selbst und drückte erneut ab.

Er stand wieder vor dem Spiegel. Wütend riss er sich die Krawatte herunter, ignorierte die irritiert fragenden Rufe seiner Frau und eilte zur Tür. Sie waren wieder da, lebendig.
„Geben Sie mir die Pistole“, forderte Berger.
„Ich denk nicht dran“, antwortete der ältere und zog das Mordwerkzeug. Berger versuchte es ihm zu entwenden, die beiden Männer rangen miteinander. Ein Schuss löste sich, der ältere Mann fiel zu Boden. Berger nahm ihm die Waffe aus den toten Händen. Ohne zu zögern richtete er sie erneut auf den jüngeren Mann, der diesmal zu fliehen versuchte und feuerte auf ihn. Die ersten beiden Kugeln verfehlten, die dritte traf den Flüchtenden in den Hinterkopf. Der länge nach lag er ausgestreckt auf dem Rasen, wie von Gottes Zorn getroffen.
Berger ging zurück in die Wohnung. Seine Frau schrie panisch auf, als sie die Waffe in seiner Hand sah.
„Tut mir Leid, Schatz“, sagte er, trat rasch auf sie zu, rammte sie gegen den Spiegel, die Waffe unters Kinn und drückte ab.
Danach genoss er einen Moment der Stille, ehe er sich die Pistole an die eigene Schläfe hielt und schoss.

Es brauchte noch ein Dutzend Wiederholungen. Den Tod des Älteren konnte er nicht verhindern, was er auch versuchte. Öffnete er nicht die Tür, öffnete seine Frau. Hinderte er sie gewaltsam daran, hörte er von draußen irgendwann einen Schuss und die anklagenden Rufe des jüngeren Mannes. Manchmal erschoss er den Jüngeren aus Frustration und Wut, ein paar mal entwischte er ihm. Einmal verfolgte er ihn zu Fuß durch die halbe Stadt, bevor Polizeibeamte Herrn Berger mit Kugeln durchsiebten. Dort sterbend auf der Straße liegend, ahnte er bereits, das dies nicht das Ende war. Das sagte er auch dem Rettungssanitäter, der sich vergeblich mühte, die vielen Blutungen zu stoppen.
Bei ein paar dieser Wiederholungen tötete Berger auch seine Frau, nur um einen Moment mit seinen Gedanken allein zu sein. Doch ein unwiderstehlicher Drang führte schlussendlich immer dazu, dass er sich binnen einer Stunde selbst erschoss.

Berger erkannte schließlich, dass es nur eine Möglichkeit gab, diesen Albtraum zu beenden.
Als er erneut vorm Spiegel stand und es an der Tür klingelte, ging er in sein Schlafzimmer, hob die Matratze hoch, nahm das Bündel mit den zehntausend Euro, die er dort deponiert hatte, falls das Bankensystem eines Tages zusammenbrach, ging als habe er eine schwere Last auf der Schulter schleppend zur Tür, öffnete ohne durch den Spion zu spähen, drückte sie dem überraschten älteren Mann in die Hände, schloss die Tür, legte die Kette vor und nahm, eine plötzliche Leichtigkeit fühlend, seine Frau in die Arme.
„Schatz, lass uns heute die Kirche sausen und lieber gemeinsam einen Spaziergang unternehmen. Ich möchte diesen Tag nur mit dir verbringen.“
Seine Frau willigte zögernd ein und statt in die Kirche, schlenderten sie am Fluss entlang, fütterten die Tauben und sprachen über Gott und die Welt.

Dorothea rührte sich nicht. »Was war das für ein Knall? Was ist los?«

»Keine Ahnung«, Berger rang nach Worten. »Ein Verrückter hat sich erschossen. Vor unserer Haustür.«

»Wie? Erschossen?«

»Einfach so. Vor meinen Augen. Es ging alles so schnell. Jetzt ruf endlich die Polizei! Ach vergiss es! Ich mach’s selbst.«

Er drängte sich an ihr vorbei zu dem Telefon, das auf der Kommode neben dem Garderobenständer stand.

»Ich glaub das nicht«, sagte seine Frau und schickte sich an, nachzusehen.

»Nein!«, rief Berger. »Warte! Da ist noch einer …«

Seine Warnung kam zu spät. Sie hatte die Klinke gedrückt. Sofort wurde die Tür von außen aufgestoßen. Mit einem erstickten Schrei stürzte Dorothea zu Boden.

Der junge Mann stand im Eingang, das Handy filmend in der erhobenen Hand haltend. Aber Berger achtete nicht darauf, denn in der anderen ließ er die Waffe sorglos an seinem ausgestreckten Zeigefinger rotieren. Wusste der Idiot nicht, wie gefährlich das war? Es konnte sich jederzeit ein Schuss lösen.

»Sieh an! Sieh an! So lebt unser Kapitalist also. Ganz schön spießig. Und billig. Hab mir ehrlich gesagt etwas Schickeres erwartet. Andererseits ist es ja logisch: Je weniger du ausgibst, desto mehr Kohle bleibt dir übrig.«

»Wer ist das? Was will er?«, rief Dorothea panisch. »Tu doch was, Richard!«

Er rührte sich nicht. Obwohl der Typ mit der Waffe hantierte, als wäre sie ein Spielzeug, konnte er sie jederzeit benutzen. Verdammt. Das Telefon war nur eine Armlänge von ihm entfernt und so weit weg, als befände es sich auf einem anderen Kontinent. Und sein Handy lag auf dem Schreibtisch. Er hatte nicht vorgehabt, es in die Kirche mitzunehmen.

Hoffentlich hatte einer der Nachbarn den Schuss gehört. Oder jemand spazierte zufällig an seinem Garten vorbei und sah den toten Mann vor der Tür bei den Gartenzwergen liegen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei hier auftauchte. Er musste ihn nur so lange hinhalten.

»Was zum Teufel wollen Sie?«

Der junge Mann hörte auf, mit der Pistole zu spielen, und ließ sie lässig von seinem Finger baumeln. Seine Züge nahmen einen übertrieben überraschten Ausdruck an. Berger konnte das Weiße in seinen Augen erkennen.

»Haben wir dir doch gesagt. Zehntausend Euro. Mehr nicht. Das wäre ein Klacks für dich gewesen. Aber stattdessen hast du den armen Mann getötet.«

Dorothea starrte ihn entsetzt an und schlug die Hände vor den Mund.

»Das ist nicht wahr«, sah sich Berger zur Verteidigung gezwungen. »Er hat sich selbst erschossen. Sie brauchen gar nicht zu lügen! Sie haben doch alles gefilmt.«

»Ja, aber das heißt nicht, dass ich es der Polizei gebe. Für die sieht die Sache so aus: Ein armer Bittsteller kommt an deine Tür. Du bist von ihm genervt, ziehst eine Waffe und drückst ab. Dann kommst du wieder zu Sinnen. Und hast eine Leiche am Hals. Was jetzt? Na klar: Es war Selbstmord. Er klingelt eines Tages bei dir und schießt sich die Birne weg. Bin gespannt, was der Richter zu dieser Story sagt.«

Berger biss die Zähne zusammen. Der junge Mann hatte recht. Zehntausend Euro waren eine Menge Geld, gewiss. Aber genug, um sich dafür umzubringen? Auf eine so brutale Weise? Wer war so verzweifelt? Das kaufte ihm niemand ab.

»Und? Was soll jetzt geschehen?«

Wo blieb denn nur die Polizei? Seine einzige Chance war, dass sie den Kerl hier mit der Waffe in der Hand überraschten. Hat überhaupt jemand diese verständigt? War es den Nachbarn egal, welches Drama sich hier abgespielt hatte? Oder hatten sie den Knall für einen Spaß von Jugendlichen gehalten und nicht weiter darauf geachtet. Aber wehe, man mäht einmal am Sonntag seinen Rasen.

»Na, du gibst mir die zehntausend Euro und ich schick den Bullen das Video zu. Wie wäre es damit?«

»Herrgott. In welcher Welt leben Sie denn? Glauben Sie etwa, ich hab hier so einen Haufen Geld rumliegen? In meiner Geldbörse? Im Küchenschrank in der Zuckerdose? Oder im Sparstrumpf?«

»Lass die blöden Witze!«, schrie ihn der Eindringling an.

Sein Gesicht wurde zu einer wütenden Fratze. Berger wich instinktiv zurück, während der junge Mann einen raschen Schritt auf ihn zu machte. In seinem Zorn achtete er nicht, wohin er trat und stolperte über die neben der Tür abgestellten Schuhe. Als er versuchte, sein Gleichgewicht zu wahren, rutschte ihm die Pistole vom Finger.

Wie in Zeitlupe sah Berger, die Waffe zu Boden fallen. Sie schlug auf den Dielen auf, prallte ab und polterte direkt vor seine Füße. Er zögerte keine Sekunde. Ehe der junge Mann sich darauf stürzen konnte, hatte Berger sie in der Hand, den Finger am Abzug. Sein Herz pochte heftig in seiner Brust, als er den Lauf auf den Eindringling richtete.

»Bleiben Sie, wo Sie sind!«, befahl er scharf. »Dorothea! Ruf jetzt endlich die Polizei!«

Zu seiner Verblüffung begann der junge Mann herzhaft zu lachen. Er schien nicht im Geringsten besorgt zu sein. Da begriff Berger, dass er einen Fehler begangen hatte.

»War eh nur eine Kugel drin«, sagte der junge Mann lässig. »Mehr braucht man nicht, um sich das Gehirn raus zu blasen.«

»Aber dafür sind jetzt meine Fingerabdrücke auf der Pistole«, keuchte Berger.

Dorothea stand wie versteinert im Flur und starrte mit weit aufgerissenen Augen und der Hand auf ihrem Mund zu Berger. Sie konnte nicht fassen und begreifen, was sich vor ihren Augen gerade abgespielt hatte.

„Wieso hast du ihn nicht hingehalten?“, fragte sie mit leiser Stimme. Auch sie zitterte jetzt am ganzen Leibe und Tränen begannen ihre Wange hinunter zu laufen.

„Was sollte ich denn deiner Meinung nach machen?“ Berger wurde laut. „sollte ich jetzt sagen ‚Ja einen Moment bitte, kommen sie doch herein. Wollen sie einen Kaffee während ich das Geld aus meinem Tresor hole‘?! Rufst du jetzt die verdammte Polizei!“ Die Lautstärke stieg mit jedem Satz weiter an und Wut verdrängte seine Verwirrung. Wut auf die ungebetenen Gäste, Wut auf seine Frau, die ihm tatsächlich Vorwürfe machte. Wut auf diesen Tag, der schon durch den bevorstehenden Besuch in der Kirche schlimm genug gewesen wäre. Herr im Himmel, das kann doch nicht wirklich gerade passieren!

Nachdem Dorothea noch immer wie versteinert stand und keine Anstalten machte, sich zu bewegen oder auch nur zu ihrem Telefon zu greifen, ging er schnellen Schrittes an ihr vorbei in das Wohnzimmer. Auf der Suche nach seinem Mobiltelefon scannte er die Möbel ab. Er hätte schwören können, dass er es auf dem gläsernen Wohnzimmertisch abgelegt hatte. Aber da war nichts.

Langsam bekam er das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und löste den Knoten der Krawatte wieder. Kurzerhand nahm er sie einfach ganz ab, feuerte sie auf die Couch und öffnete die oberen beiden Knöpfe vom Hemd. Er nahm einen tiefen Atemzug und versuchte, die Gedankenblitze in seinem Gehirn zu verdrängen. Sein Brustkorb hob und senkte sich. „Jetzt nur nicht durchdrehen“, sagte er zu sich selber und versuchte, die aufkommende Panik zu verdrängen.

Sein Blick schweifte durch das Zimmer und auch an den anderen potenziellen Plätzen konnte er es nicht entdecken. Nicht auf der hellen Ledercouch, noch auf dem Designer-Sideboard, dass sie sich mal für den Preis einer Mittelmeer-Kreuzfahrt zugelegt hatten. Und auch auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Sessel lag nur der letzte Thriller von Eschbach, den er gerade las, wenn er abends nicht vor Müdigkeit direkt einschlief.

Dann musste er es wohl vorhin mit in die Küche getragen haben und machte sich auf den Weg dorthin. Als er durch den Flur laufen wollte, sah er, dass seine Frau sich auf die Tür zu bewegte.

Er verharrte augenblicklich in der Bewegung. „Geh nicht an die Tür!“, versuchte er sie abzuhalten. „Wer weiss, ob der Andere nicht direkt noch einmal abdrückt!“

„Aber wir können den da doch nicht liegen lassen.“, wandte Dorothea ein.

„Bleib von der Tür weg Doro!“, schrie er und und bewegte sich nun mit schnellen Schritten zu ihr.

Mittlerweile war sie aber schon an der Tür und drehte den Schlüssel im Schloss nach rechts. Fast zeitgleich war Richard an der Tür und versuchte, sie wegzuschieben. Im Gerangel um den Türgriff entwickelte Dorothea aber kaum für möglich gehaltene Kräfte und es gelang ihr, ihren Körper zwischen Richard und den Türgriff zu schieben, diesen runterzudrücken und die Tür aufzureissen, bis sie durch die Kette jäh gestoppt wurde.

Sofort erstarrte sie „Richard…“, hauchte sie und schaute mit fassungslosem Blick nach draussen. Richard war in Erwartung der drohenden Gefahr in seiner Position erstarrt, als sie die Tür öffnete. Als Dorothea jetzt langsam den Platz freigab, er sich zum Türspalt schob und ihrem Blick folgte, sträubte sich sein Gehirn, das zu verarbeiten, was er dort sah - nichts! Keine Leiche, keine Zuschauer, lediglich ein paar dunkelrote Spritzer waren auf den grauen Terrazzoplatten zu sehen.

„Wie kann das denn sein?“ Ging es ihm durch den Kopf. Er war doch nur ein paar Sekunden weg, wie kann denn da so schnell eine Leiche verschwinden? Und warum gibt es keine Kiebitze? Normalweise sind die Spiesser nebenan doch schon auf Kriegspfad, wenn die Musikanlage in der Küche etwas lauter ist am Sonntagmorgen. Und nun ein lauter Knall und niemand kommt wenigstens bis zum Zaun, um mal zu gucken?

Bevor er den Gedanken weiter denken konnte begann das Handy seiner Frau zu klingeln. Beider Blicke richteten sich auf die Tasche von Dorotheas Jacke. Mit langsamer Bewegung griff sie hinein und holte das Telefon hervor. Ihr Hände zitterten, als sie es endlich so hielt, dass sie auf das Display gucken konnte. Ungläubig hob sie den Blick vom Handy zu ihrem Mann. Er konnte in ihren Augen Unverständnis sehen und Verwirrung, aber vor allem Angst. Ein kalter Schauer überzog ihn, als er die Nummer auf dem Display sah. Es war seine Eigene.

Heftig atmend stand Berger vor ihr, zitterte am ganzen Leib. Angesichts der unwirklichen Situation funktionierte sein Verstand maximal im Notlauf. Der einzige Gedanke, der in seinem Kopf ein Echo hinterließ, war, dass Dorothea die Polizei verständigen musste. Jetzt, sofort.
Setzte darauf, dass wenigstens seine Frau funktionierte, während dieser Albtraum ihn in sich verwob, aus dessen grausamen Tentakeln er sich nicht ohne sie zu befreien vermochte.
Aber sie reagierte nicht. Sah ihn nicht an. Sagte keinen Ton.
Stand vor dem Fenster im Windfang, sicher verpackt in ihren Sonntagsmantel, dessen Kragen mit einem kostspieligen Seidenschal zu einer verschlungenen Einheit geriet.
Starrte hinaus, hatte alles mitangesehen. Mit Augen, die vor seinen erloschen.
Ihre linke Hand hatte den geklöppelten Saum der Scheibengardine angehoben, hielt sich - eingefroren im Augenblick - zunächst in der Luft, um gleich darauf neben dem angelaufenen Primeltopf auf die Fensterbank zu sinken. Dorotheas ohnehin bleiches Gesicht verschmolz mit dem Wandputz. Fror ein.
„Was ist los mit dir?“ Berger keuchte ihr sein Entsetzen entgegen. Wiederholte seine Aufforderung. „Ruf‘ die Polizei!“
„Nein, das ist vollkommen sinnlos.“
Seine Frau erwachte aus ihrer Erstarrung. Mit einem Ruck, der ihrem Körper die nötige Haltung gab. Ihre Hand ballte sich zur Faust, schlug auf den kalten Marmor der Fensterbank ein.
Was den Takt ihrer Schläge vorgab, schien nur sie selbst zu wissen.
Unvermittelt hielt sie inne, drehte sich zu ihm herum. Betrachtete ihn in einer Mischung aus Besorgnis und Gewissheit.
„Warum hast du ihm das Geld nicht gegeben, Richard?“
Entgeistert musterte er sie. Spürte, wie Wut sein Entsetzen ablöste, ihn in ihrer Brachialität erdete. Wut darüber, dass ausgerechnet Dorothea sein Handeln in Frage stellte. Wut, die ihn zurück in das Jetzt katapultierte.
„Bist du wahnsinnig?“
„Du hättest ihm das Geld geben müssen.“
„Er wollte mich erpressen, Doro.“ Mittlerweile schrie er. Empörung übernahm seine Stimme. „Ich konnte doch nicht ahnen, was er wirklich vorhat. Er hätte ebenso gut uns umbringen können.“
„Du hattest eine Option.“, wiederholte sie ungerührt. „Du hättest ihm das Geld geben müssen. Wir haben es doch. Es liegt als Stapel im Safe.“
„Aber ich benötige das Geld für unsere Steuernachzahlung.“
„Ausreden.“, beharrte sie. „Du hättest es ihm geben müssen.“
Seine Frau sank auf die Holzbank, auf der Berger stets die Schnürsenkel seiner Stiefel band, ließ die Schultern hängen.
„Er hat sich vor meinen Augen erschossen.“, stieß er hervor. Seine Wut verrauchte, überließ ihn ungebetenen Selbstzweifeln. „Und der andere hat es gefilmt. Verdammt, ich trage keine Schuld an seinem Tod.“
Berger knetete seine Finger, deren Gelenke mit hörbarem Knacken auf seine Verzweiflung antworteten. Mit jedem Atemzug kam ihm einmal mehr zu Bewusstsein, was ihnen aus jener misslichen Lage erwachsen könnte.
„Wir müssen die Polizei rufen, Doro. In unserem Garten liegt eine Leiche in ihrem Blut. Und in wenigen Augenblicken wird der Film, in dem man mich bezichtigt, durch Geiz jemanden umgebracht zu haben, online gestellt. Er wird unser Schicksal besiegeln.“ In seine Augen traten Tränen. „Mein Gott, Doro, wir werden mit Mitte Vierzig auf der Straße enden. Niemand wird mehr Reisen bei uns buchen. Wir werden Pleite gehen. Alles, was wir uns aufgebaut haben – futsch. Unser guter Ruf - hin!“
Er schlug die Hände vors Gesicht.
Seine Frau richtete sich auf, betrachtete ihn traurig.
„Du hast die Männer nicht erkannt, nicht wahr?“
Ihre Worte warfen sich in seine Richtung.
„Was ist das für eine Frage?“
„Du hast mich schon verstanden, Richard. Sieh‘ genau hin.“
Der unerwartete Schmelz in ihrer Stimme weckte die Hoffnung auf Lossprechung in ihm, doch ihre Miene strafte sein Gefühl Lügen. Heftig atmend trat Berger an das Fenster, spähte durch die Maschen der Gardine.
Auf den Platten des Gehwegs fand sich nichts. Keine Leiche, kein Blut, kein Kerl mit Handy.
„Was zum Teufel…“, brachte er mühsam hervor, seine Lippen gaben sich steif. Vor seinen Augen sah er den älteren Mann fallen, mit ihm fiel eine Sonnenbrille. Nach dem abgefeuerten Schuss, dessen Projektil Blut und Gehirn aus seinem Kopf in die Luft spie. Sah das hasserfüllte Gesicht des Jüngeren vor sich, dessen Augen sich hinter einer gleichartigen Sonnenbrille eingesperrt präsentierten, das auf ihn gerichtete Objektiv des Handys, wie es jede seiner Regungen, jedes seiner Worte einfing.
Die Gesichter der Männer lösten etwas in ihm aus. Zunächst das vage Gefühl eines Erkennens.
Dann die Erkenntnis, dass beide seine Züge trugen. Jene von gestern und jene von morgen.
„Weißt du nun, wer sie waren?“ Dorothea erhob sich, stellte sich neben ihn. Zog ihren Schal vom Hals, knöpfte in aller Endgültigkeit den Mantel auf.
Er suchte ihren Blick. Nickte.
„Sag‘ du es mir, damit ich es glaube.“
Sie atmete schwer.
„Du hast in Kauf genommen, dass deine Zukunft sich töten muss, Richard. Damit Deine Vergangenheit deine Schuld bezeugen kann.“

15 Minuten später klingelte es an der Tür. Berger setzte gerade seine zweite Tasse Kaffee ab. Normalerweise trank er nie so viel Kaffee. “Ich gehe schon", sagte seine Frau und ging zur Tür. “Richard, du musst kommen!” Ihre Stimme war fast panisch.
Der Flur war erhellt von Blaulicht. Die zwei Polizisten, die vor der Tür standen, betrachteten den Flur genau. “Sie sind Richard Berger?” Berger spürte ein Zittern. Normalerweise zitterte er nie. Vor dem Haus waren viele Leute. “Werden Sie uns jetzt verhaften?” fragte seine Frau die Polizisten. Berger dachte an den Fall, wo bei den Lammers eingebrochen worden war. Wochenlang hatten alle nur darüber geredet. “Sie haben Glück gehabt", sagte der eine Polizist. “Das ist der 3. Fall in diesem Jahr. Sie müssen mit auf die Wache kommen.” Seine Frau war weiß geworden. Berger ging zu ihr und drückte ihre Hand. “Ich komme danach direkt nach Hause. Holst du mir meine Jacke?” fragte er sie.
Auf dem Weg zur Straße musste er den vielen Menschen ausweichen. Der Tote lag mitten auf dem Weg, mit einer Decke verdeckt. Die Decke verdeckte den Körper, aber nicht das Blut, das sich als Lache auf den Steinen ausgebreitet hatte.
“Wir denken, dass sie Opfer eines Angriffs einer Sekte geworden sind. Die Kinder des Zorns, wie sich die Mitglieder nennen, suchen wohlhabende Unternehmer auf. Eines der Mitglieder ist ausgewählt und führt eine Prüfung durch, wie sie es nennen. Haben Sie einen der beiden Männer erkannt?” fragt der Polizist Herrn Berger. Nachdem sie eine Ewigkeit in dem Streifenwagen durch die Stadt gefahren waren, um diese Zeit war erstaunlich viel Verkehr gewesen, waren sie in der Polizeiwache angekommen. Berger war noch nie in seinem Leben in einer Polizeiwache gewesen. Er hatte einen ordentlichen Job und ansonsten führte er ein ruhiges, gesittetes Leben. Der Polizist saß ihm in einem kleinen Zimmer, welches nur einen Tisch und zwei Stühle enthielt, gegenüber. “Nein, ich kenne die beiden Männer nicht.” sagte Berger. “Da wir jeden Hinweis brauchen, um der Sekte auf die Spur zu kommen, werden sie uns den Tathergang noch einmal genau schildern müssen.” sagte der Polizist. Berger erzählte also noch einmal haarklein.
Als ihn die Polizisten wieder vor seiner Haustür abgesetzt hatten, konnte Berger auf dem Weg den großen, roten Fleck nicht übersehen. Natürlich war der Tote nicht mehr da. Und auch sonst waren alle Menschen verschwunden. Die Luft roch nicht mehr nur feucht, sondern sie hatte jetzt diesen schweren Beigeschmack. Berger hatte noch nie so viel Blut gesehen oder gerochen.
Seine Frau öffnete ihm schon die Tür, als hätte sie auf ihn gewartet. Im Haus zog Richard Berger seine Jacke aus, hängte sie auf den Haken in dem Flur, auf dem immer seine Jacke hing. Im Spiegel fiel sein Blick auf die Krawatte, die schief hing. Er zog sie gerade. “Was passiert jetzt?” fragte seine Frau mit roten Augen. In der Küche setzte er sich an den Tisch. Die Kaffeetasse, die er nicht leer getrunken hatte, stand immer noch dort. “Die Polizisten haben gesagt, dass die beiden Männer zu einer Sekte gehören. Die Kinder des Zorns heißen sie. Oder so ähnlich. Was haben wir mit einer Sekte zu tun?” Seine Frau setzte sich nicht neben ihn, wie sie es immer tat, sondern war in der Tür stehengeblieben. Sie war wieder so weiß, dass Berger Angst hatte, er müsse wegen ihr den Arzt rufen. Sie ging zu einer Küchenschublade und holte dort etwas aus der hinteren Ecke hervor. Einen Zettel legte sie vor Berger mit zitternden Händen ab. “Die Kinder des Zorns werden alle finden und prüfen. BIST DU DABEI?” war mit großen Buchstaben zu lesen. “Woher hast du das?” fährt Berger seine Frau an. “Ich habe es bei Michael in der Hosentasche gefunden.” sagt seine Frau so leise, dass er sie fast nicht verstehen konnte.

»Warum soll ich die Polizei rufen, Liebling?«, drang die verwunderte Stimme von Dorothea zu ihm durch.
Richard drehte sich langsam zu seiner Frau um. Er fühlte sich steif und leer, während der Pistolenschuss in seinem Kopf wiederhallte, den harten Griff der Türklinke noch immer umklammernd.

»Da hat sich gerade jemand erschossen. Weil ich ihm keine zehntausend Euro geben wollte«, hörte Berger sich selbst sagen. Seltsam, wie kühl ihm diese Worte über die Lippen gingen, dabei war ihm doch gerade etwas unvorstellbar Schreckliches widerfahren.

Dorotheas Augen wurden groß, sie sah geschockt aus und zugleich blitzte ein Hauch von Unglauben aus ihren grünen Augen hervor. Richard wunderte es nicht, er glaubte es ja selbst nicht. Er starrte seiner Frau hinterher, die mit unsicheren Schritten auf das Haustelefon zuging, um den Notruf zu wählen. Richard selbst hatte darauf bestanden, ein Telefon Zuhause zu haben, so eines hatte er seit seiner Kindheit schließlich immer gehabt.

Richard beobachtete, wie seine Frau in das Telefon sprach und dabei einen befangenen Gesichtsausdruck machte. Ihre Worte drangen nur in Fetzen zu ihm durch, denn sein Kopf war vernebelt, als wäre er Teil der roten Sprühwolke geworden, die aus dem Hinterkopf des Mannes geflogen war. Das sei kein Scherz, konnte er vernehmen und wie Dorothea die Adresse durchgab.

Nachdem sie aufgelegt hatte, kam Dorothea mit langsamen weichen Schritten auf ihn zu. Ihre Finger lösten seine Hand vorsichtig von der Türklinke, die er noch immer zu umklammern schien. »Richard, Liebling, hör mir zu«, hörte er sie sagen und ihre grünen Augen blickten intensiv in seine. »Hilfe ist unterwegs. Komm, wir setzen uns erst einmal hin.«

Die Kühle in Berger ließ nach und wich einem grauenhaften Gefühl der Erkenntnis dessen, was er soeben erlebt hatte. Sein Körper begann zu zittern und die Übelkeit, die sich seinen Hals hochschob, konnte er nur mühsam zurückdrängen. Mit weichen Beinen folgte er Dorothea, stetig vor sich hinmurmeld, er sei kein Kapitlist und kein Mörder, er habe niemanden umgebracht. Seine Frau begleitete ihn zum Sofa. Mit schwerer Seele ließ er sich hineinsinken.

Dann ging Dorothea in die Küche, um Richard ein Glas Wasser zu holen. Auf dem Rückweg schaute sie durch den Türspion. Was sie dort sah, machte sie betroffen. Vor der Haustür sah sie ihren von Blumen gesäumten Plattenweg, der sich unschuldig und farblos grau bis zum Vorgartentor erstreckte.

(c) Kini

„Moin Schröder!“ Kriminalkommissarin Hilke Petersen war keine Frau von vielen Worten. Sie nickte ihrem Kollegen grüßend zu, warf einen schnellen Blick über die Szenerie im Wohnzimmer und ging erst einmal in Richtung Küche, um sich ein Glas Wasser zu besorgen. Sie hatte noch nicht gefrühstückt und war ungefähr so gut gelaunt wie ein Bär, der aus dem Winterschlaf geweckt wurde.

Die Küche sah aus wie die Bilder in Architectural Digest, viel Edelstahl, Sichtbeton, ein paar putzige Dekoartikel und riesige Fenster in Richtung Vorgarten der Bergerschen Villa. Vor dem Haus bauten die Kollegen von der Spurensicherung gerade das weiße Partyzelt auf, als ein Übertragungswagen von RTL um die Ecke fuhr. Woher zum Teufel, wussten die schon wieder, was passiert war? Sie warf einen mürrischen Blick nach draußen und trank das halbe Glas leer, bevor sie zurück ins Wohnzimmer ging.

Herr Berger saß zusammengesunken auf der Couch und war nicht mehr ganz so blass um die Nase. Der Notarzt hatte ihm schon etwas zur Beruhigung gespritzt und das Haus wieder verlassen. Ihr Kollege Schröder saß ihm gegenüber. In seinem schäbigen Anzug wirkte er wie ein harmloser Rentner und noch schläfriger als sonst. Hilke ließ sich auf einen Sessel fallen. Zu niedrig, zu rutschig, Lehne zu schräg. Mit einer Größe von 1,85 Meter saß sie am liebsten auf Barhockern. Sie stand wieder auf und griff sich einen von den scheußlichen Schwingsesseln von der Essgruppe. Solange sie nicht zu viel wippte, würde ihr auch nicht schlecht werden.

Frau Berger kam aus dem ersten Stock herunter, nahm sich einen Kaffee von dem Tablett auf dem Couchtisch und setzte sich neben ihren Mann. Schröder begann das Gespräch wie immer mit den Personalien. Hilke seufzte innerlich und fing an mit dem Ende von ihrem Zopf zu spielen. Das konnte dauern. Schröder reichte ihr unauffällig eine Papiertüte. Das wird doch nicht etwa … Hilke öffnete die Tüte mit möglichst wenig Rascheln und sah ihren Tag plötzlich in einem deutlich besseren Licht. Zwei Bissen von dem Franzbrötchen später und ihre Augen hatten sich an das schreiende Pink von Frau Schröders Chanel Kostümchen gewöhnt.

„Sie sind Frau Dorothea Berger? Kriminalhauptkommissar Schröder. Das ist meine Kollegin Kriminalkommissarin Petersen. Sie haben die Polizei verständigt, richtig? Wie geht es Ihnen? Fühlen Sie sich in der Lage, uns ein paar Fragen zu beantworten?“

Frau Berger nickte energisch. Hilke schöpfte Hoffnung, dass sie vor Mitternacht wieder zuhause sein könnte.

„Gut. Dann fangen wir ganz am Anfang an. Was haben Sie von dem Vorfall mitbekommen?“

Frau Berger schaute konzentriert Richtung Kollege Schröder. Sie wirkte deutlich lebendiger als ihr Ehemann, aber das konnte auch daran liegen, dass sie weniger direkt beteiligt war.

„Nicht besonders viel. Ich war gerade noch in der Küche, als jemand geklingelt hat, mein Mann hat die Tür geöffnet und ich habe nur gehört, dass er mit jemandem gesprochen hat, aber nicht genau, was gesagt wurde. Dann gab es einen lauten Knall, die Tür ist ins Schloss gefallen und mein Mann hat gesagt, dass ich die Polizei rufen soll. Das habe ich dann auch sofort gemacht. Und bis die Beamten eingetroffen sind, habe ich den Vorgarten beobachtet. Also heimlich, durch die Küchenfenster.“

„Haben Sie die beiden Männer gesehen?“

„Ja. Aber es kam dann noch ein Dritter dazu. Und zu zweit haben sie die Leiche auf so eine Plane gelegt, über den Weg auf die Straße gezerrt, mit Blutspur hinter sich und alles und dann in so einen Lieferwagen gewuchtet. Und dann waren sie weg. Das hat keine zwei Minuten gedauert. Ich habe auf die Uhr geschaut.“

„Können Sie die Männer beschreiben?“

„Also, der Tote war älter, grauer Bart. Jeans, billige Lederjacke. Der junge Mann mit dem Handy war ähnlich angezogen, glattrasiert, kurze dunkle Haare. Aber der Dritte …“ Frau Berger machte eine dramatische Pause.

„Der Dritte?“ Schröder klang noch sehr geduldig. Hilke hatte inzwischen das ganze Franzbrötchen vertilgt und war in großzügiger Stimmung.

„Der Dritte trug so eine ganz komische Kutte. Total schwarz. Also, wie so eine Art Mönchsgewand. Aber mit Umhang. Wie in so `nem Fantasyfilm. Und da war auf der Rückseite ein Symbol drauf, so wie Runen, so Striche, mit Winkeln und Haken. Aber ich kenne mich da nicht aus.“

Schröder warf Hilke einen beredten Blick aus den Augenwinkeln zu. Nicht schon wieder diese Knalltüten. Sie machte mental eine Notiz. Jetzt würde sie noch alles für eine Tasse Tee geben. Eigentlich hasste sie Sonntagseinsätze. Alles passierte grundsätzlich genau während ihrer Laufeinheiten und sie trug noch ihre durchgeschwitzten Trainingsklamotten. Aber immerhin war sie satt und ihr Blutzuckerspiegel näherte sich der optimalen Leistungszone.

„Ist Ihnen an dem Lieferwagen irgendetwas aufgefallen?“

„Also abgesehen von der Farbe, das war so ein dreckiges-Grau, könnte ich schwören, dass es ein Elektroauto war. Ich habe nämlich keinen Motor gehört, als sie weggefahren sind. Rechts hatte es eine Schiebetür und hinten eine Klappe. Nummernschild konnte ich leider nicht sehen. Aber ich habe es mit dem Handy gefilmt.“ Frau Bergers Stimme klang triumphierend.

Herr Berger nuschelte etwas.

„Was haben Sie gesagt, Herr Berger?“

„Sie filmt immer alles was auf der Straße passiert. Sie hat ja sonst nichts zu tun.“

Schröders Gesicht verlor kurzfristig seinen verschlafenen Ausdruck.

„Haben Sie auch eine Überwachungskamera im Vorgarten, Herr Berger?“

„Ja, aber die ist außer Betrieb. Letzte Woche kam so eine fragwürdige E-Mail von dem Provider, dass es technische Probleme gibt. Und das haben die bis heute nicht in den Griff bekommen. So ein Saftladen.“ Mit diesen Worten bekam Herr Berger endlich wieder etwas Farbe ins Gesicht.

Um 10:23 schrieb Anonymus:
Seht euch dieses Exemplar unserer verdorbenen Gesellschaft an. Nicht einmal ein verzweifelter Mann, der keinen anderen Ausweg als den Selbstmord sieht, kann das Herz dieses Kapitalisten erweichen. Video ist unten verlinkt (nichts für Leute, die kein Blut sehen können!) Wieso sind solche Menschen immer noch auf freiem Fuß?
Berger klickte mit zitternden Fingern auf das Video. Eine anonyme Nummer hatte ihm den Link zu diesem Forum vor wenigen Minuten geschickt. Das Video zeigte die schrecklichen Geschehnisse, die vor einer halben Stunde in Bergers Vorgarten passiert waren. Zum Glück hatte jemand Bergers Gesicht unkenntlich gemacht. Das Video endete mit den Worten. „Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!“, allerdings war ein Stimmverzerrer angewendet worden.
Andere Forumsmitglieder posteten wie verrückt Kommentare:
Jan schrieb:
Scheiße, das ist verdammt heftig. Was für ein Arschloch“
Carol schrieb:
@Jan, da kann ich dir zur zustimmen. Wie kann man nur so einen verzweifelten Menschen im Stich lassen? Man hätte doch zumindest versuchen müssen, ihm zu helfen!“
Anonymus schrieb:
„Ihr habt alle total Recht! Solche Menschen sollten für ihre Grausamkeiten bezahlen!“
Die Worte begannen sich vor Bergers Augen zu drehen und verschwammen in den Tränen, die ihm über die Wangen rollten. Als er die Augenlider zusammenpresste, um den Text nicht mehr sehen zu müssen, tauchte wieder das Bild des toten Mannes auf. Er bekam es einfach nicht mehr aus dem Kopf. Die leblosen Augen, das Geräusch beim Aufprall auf die Gehwegplatten und das viele Blut, das sich in seinem Vorgarten ausbreitete. All das hatte er nicht sehen und hören wollen, aber er hatte auch nicht wegsehen können.
Irgendwann waren die Polizei und der Rettungswagen gekommen. Der Mann, der gefilmt hatte, war allerdings schon weg. Wenig später war der Leichenwagen nachgekommen.
Während die Leute draußen ihre Arbeit erledigten, hatte Berger die Nachricht von einem anonymen Absender bekommen. Eine Nachricht mit einem Link, der ihn zu dem Forum führte, in dem der Unbekannte das Video des Selbstmords gepostet hatte. Ein Forum, in dem alle User gegen ihn hetzten.
Immerhin wussten sie nicht, wer er war!
Hinter sich hörte er schwere Schritte. Er drehte sich um und sah einen Polizisten mit grimmiger Mine ins Zimmer treten.
„Sie sind Herr Berger, nehme ich an?“
„Ja, der bin ich!“ Bergers Stimme brach beinahe, als er sprach.
„Ich bin Komissar Stettner. Ich müsste Ihnen und ihrer Frau einige Fragen stellen.“
„Aber natürlich, setzen Sie sich doch bitte!“
Berger deutete auf das mit Kunst-samt bezogene Sofa und ließ sich selbst in den dazu passenden, grünen Sessel fallen. Dann rief er in den Flur: „Dorothea, komm bitte mal, mein Schatz! Die Polizei will uns sprechen!“
Dorothea kam kurz darauf ins Wohnzimmer. Sie trug immer noch ihr Kirchenkleid. Ihre Haare fielen ihr in langen, schwarzen Wellen über die Schulter. Wenn man ihr verweintes und aufgedunsenes Gesicht nicht gesehen hätte, wäre nicht aufgefallen, dass hier gerade etwas Schreckliches passiert war.
Der Kommissar begann sie über den genauen Ablauf der Geschehnisse zu befragen. Wie spät es gewesen sei, als die Männer geklingelt hatten, ob außer ihnen noch jemand im Haus gewesen war, und natürlich, ob sie die beiden Männer erkannt hatten.
Richard und seine Frau beantworteten die Fragen so genau, wie sie konnten, allerdings kannte keiner von ihnen den Toten oder seinen Begleiter. Auch die Polizei konnte oder wollte noch keine Auskunft über die Identität des Selbstmörders geben.
Irgendwann, als der Kommissar keine Fragen mehr hatte, platzte Richard dann doch noch mit einer Neuigkeit heraus. „Es… Es gibt da etwas, was ich noch nicht erzählt habe. Mir wurde ein Link geschickt von einer anonymen Person.“
Sowohl der Kommissar, als auch seine Frau schauten Richard überrascht an.
„Ein Link? Haben sie ihn geöffnet, Herr Berger?“
„Ja, ich war noch so durcheinander von all den schrecklichen Geschehnissen, dass ich nicht klar denken konnte.“
„Herrgott, jetzt spann uns nicht so auf die Folter!“, rief seine Frau ungeduldig. „Wo führt er hin?“
Anstatt einer Antwort hielt er dem Kommissar wortlos sein Handy hin. Dieser runzelte nachdenklich die Stirn, als der das Video und das Forum sah.
Langsam scrollte er in den Beiträgen nach unten und las Nachrichten voller Hass und Wut.
Richard, der auch mitlesen wollte, stand auf und schaute Stettner über die Schulter. Seit seinem letzten Besuch waren hunderte Posts hinzugekommen. Als er sie überflog, wurde ihm ganz schlecht. Es ging darum, alle Kapitalisten zu töten, den Verantwortlichen zu lynchen. Eine Nachricht forderte dazu auf, den Namen des „bösen Kapitalisten im Video“ zu nennen, damit man ihm seiner gerechten Strafe zuführen konnte.
Als Richard allerdings den letzten Post sah, blieb ihm vor Angst das Herz stehen.
Anonymus schrieb:
„Ich habe etwas besseres als seinen Namen. Ich weiß, wo er wohnt!“

„Was ist denn, Richard? Ich hab dich nicht verstanden.“
Dorothea trat aus der Küche.
„Vor der Tür liegt ein Toter, ruf die Polizei!“ Richard presste den Rücken neben der Garderobe an die Wand,die Augen weit aufgerissen.
Hochgezogene Augenbrauen, kühler Blick. „Ich kann mit deinen morbiden Scherzen wenig anfangen. Wer war das eben? Ich hab dich reden hören.“
„Er wollte 10000 Euro von mir oder sich umbringen.- er hat sich umgebracht!“ stammelte ihr Mann.
Dorothea riss, ohne zu zögern die Eingangstür auf und trat auf die Schwelle.
„Was soll das? Willst du mich erschrecken? Manchmal weiß ich nicht, was in deinem Kopf vorgeht! Da ist nichts.“ Allerdings lag da doch etwas Weißes auf dem Boden. Sie hob es auf.
Dorothea kehrte in die Diele zurück und hielt einen schweren Umschlag aus Büttenpapier in der Hand. Sie drehte ihn hin und her. Er war zugeklebt und es stand nur Richards Name darauf - mit einer weiblichen, geschwungenen Handschrift. Er duftete sogar zart nach irgendetwas Blumigen. Ihr durchdringender Blick richtete sich auf ihren Mann.

Richard hatte es die Sprache verschlagen. Vorsichtig schob er sich an die Tür und linste um die Ecke. Der Fußabterter, die Pflasterplatten…alles sauber.
Sein Kopf war völlig leer.
Er hörte ein reißendes Geräusch hinter sich. Seine Frau hatte den Brief aufgerissen.
Sie las laut vor:

Sehr geehrter Herr Berger,
jetzt wissen Sie, dass ich es ernst meine.
Sollten Sie die 10.000 Euro nicht besorgen und sich weiter Ihrer Verantwortung entziehen,werde ich mich umbringen. Die Videos gehen dann an alle Internetplattformen und Nachrichtensender. – In Ihrem Namen.

Kim

Dorothea hob den Kopf. Der Blick des Ehepaares. tarf sich Seiner fast panisch ihrer eher verwirrt als ängstlich.

„Siehst du!“ und „Wer zum Teufel ist Kim, Richard?“ kam gleichzeitig.

Schon als beide jünger waren, noch kein Geld hatten und Dorothea noch arbeitete, hatte Berger rückhaltlos ihre Geistesgegenwart bewundert. Einmal, er wusste es noch genau, es musste 2005 gewesen sein, hatte ein älterer Herr das Gleichgewicht auf dem U-Bahnsteig verloren und war ins Gleisbett gestürzt. Die Bahn war angekündigt und man konnte ihre Scheinwerfer bereits die Tunnelwände entlang kriechen sehen. Alle, auch er selbst, waren wie mineralisiert, gelähmt vor Entsetzen, unfähig sich zu rühren. Dorothea hatte von allen am schnellsten reagiert, war ohne zu zögern hinab gesprungen und hatte dem Mann aufgeholfen. Das löste auch die Erstarrung der Anderen . Alle griffen zu, so dass der Unfall ohne Verletzungen abging. Hinterher hatte sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht gepustet und ihn von der Seite angelächelt . Gott, dieser Blick, wie hatte er sie in diesem Moment geliebt.

“Auf keinen Fall”, rief Dorothea, in einem Ton, der ihn sofort an ihren damaligen Sprung erinnerte. “Wir brauchen das Handy. Was macht er. Schau raus, Ist er noch da?”

Berger öffnete einen Spalt breit die Tür. Der junge Mann, dem nun die Tränen über das Gesicht liefen, stand haltlos zitternd, das Handy in der gesenkten Hand auf der Treppe vor dem Haus. Wut und Zorn waren namenloser Verzweiflung gewichen. Eben drang ein furchtbares Schluchzen aus seinem Inneren und sein ganzer Körper wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Berger bekam einen trockenen Mund: “Ja, er ist noch da.” “Hol ihn rein”, Dorothea wedelte mit den Händen, “rasch.”

Fast hätte es gefehlt und sie hätte mit dem Fuß aufgestampft. Berger kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut. Er öffnete die Tür und blickte sichernd rechts und links die Strasse hinunter . Niemand schien etwas bemerkt zu haben. Der Sonntag scherte sich nicht um die Tragödie, die sich vor dem Hause Berger abspielte. Sonnenlicht fiel durch die Blätter der Birke im Bergerschen Vorgarten und zeichnete kleine tanzende Schatten auf den Rasen. Gegenüber setzte Herr Müller eben sein Auto rückwärts auf die Straße. Frau Müller verließ in Rock und Sommermantel das Haus. Sie bemerkte Berger und winkte kurz herüber, bevor sie in den Wagen stieg. Die Müllers fuhren ab und die Straße lag da, sonntäglich verschlafen wie zuvor. Dorothea drängte sich an ihrem wie erstarrt da stehenden Ehemann vorbei: “Worauf wartest du, Herrgott." sie schob den jungen Mann ins Haus, was dieser widerstandslos mit sich geschehen ließ und drückte ihn hinunter ihn auf die Sitzbank, die sie im letzten Jahr angeschafft hatten, da Herr Berger, nach einem Bandscheibenvorfall Schwierigkeiten hatte, sich die Schuhe zu binden. Dem jungen Mann rutschte das Handy aus der Hand. Immer noch wurde er von Weinkrämpfen geschüttelt. Dorothea hob es rasch auf und ließ es in ihre Manteltasche gleiten. “Und jetzt hol den Anderen.”

“Wie, ich? Wie denn.” “Mein Gott, zieh ihn halt herein. In zwei Stunden kommen die Kinder. Bete, dass sie nicht früher kommen. Was für ein Schlamassel.” “Du weißt, ich habe es im Rücken. Der wiegt mindestens 80 Kilo. Ich schaff´ das nicht. Ich müsste ihn die Stufen hinauf ziehen.”

“Du hast recht.” Dorothea überlegte. “Bring ihn erstmal hinter die Büsche… Dann können wir uns später um ihn kümmern. Eines nach dem Anderen.” Berger öffnete die Haustür. “Und vergiss die Pistole nicht”, rief sie ihm noch hinterher. “Und nun zu uns…”, dachte sie. „Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.“

Erst jetzt bemerkte sie, wie jung er war, höchstens zwanzig. Sie hängte ihren Mantel an die Garderobe. Als sie einen Wimpernschlag später mit einem Glas Wasser in der Hand um die Ecke kam, hatte der jungen Mann seine Verzweiflung abgeschüttelt wie eine zu klein gewordene Haut und wühlte ebenso hektisch wie erfolglos in den Manteltaschen herum. Er machte einen Satz auf sie zu, drängte sie an die Wand, das Glas splitterte auf den Boden. “Mist”, dachte Dorothea. Sein Unterarm drückte auf ihre Kehle. “Wo ist das Telefon”, schrie er sie an, “gib´ es zurück! Du Kapitalistenhure!”

Niemandem war der graue Kleinwagen aufgefallen, der an der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Wie vom Donner gerührt beobachtete der Mann am Steuer die Geschehnisse vor der Haustüre der Familie Berger.

War das gerade wirklich passiert, fragte er sich. Der Schuss hatte ihn überrascht. Bis vor wenigen Sekunden hatte er nicht damit gerechnet, dass es gelingen würde. Wie gebannt starrte er aus dem Fenster seiner Fahrertür. Sein Puls ging etwas schneller. Er atmete tief durch und fuhr sich mit einer Hand durch seine bereits ergrauten Haare.

»Ping«, der Signalton kündigte eine eingegangene Nachricht in seinem Smartphone an. Der Mann öffnete die Nachricht und lächelte. Der Film war bereits online. Es wurde Zeit zu tun, weswegen er hergekommen war. Er zog seine schwarzen Lederhandschuhe an und stieg aus dem Fahrzeug aus.

Zielstrebig ging er durch die schmiedeeiserne Gartentür auf das Haus zu. Er bückte sich und nahm die Waffe aus der Hand des Toten.

Der junge Mann stand daneben und wirkte nervös. »Alles lief, wie geplant. Der Film ist online«, meinte er und stieg unruhig von einem Bein aufs andere.
Der Mann aus dem Auto nickte ihm kurz zu: »Gut gemacht«, lobte er ihn. Dann nahm er ein Bündel Geldscheine aus der Brusttasche seines Mantels: »10.000, wie besprochen.«

Der junge Mann atmete erleichtert aus, nahm das Geld und händigte dem Alten sein Smartphone aus.
Dieser nahm das Smartphone und steckte es ein. Er lächelte, dann hob er die Waffe und drückte ab.

(c) Alexandra Berger

Offene Enden, - zweitwer Teil

Kurze Zeit später wimmelte es in dem kleinen, gepflegten Vorgarten vor Beamten der Kriminalpolizei und der Spurensicherung. Nachbarn und Schaulustige standen hinter einem Absperrband, neugierig tuschelnd, sensationslüstern. Als ein Leichenwagen die Leiche abtransportierte, wurde es im wahrsten Sinne des Wortes totenstill. Auf den Steinplatten vor dem Haus blieben ein mit Kreide gezeichneter Umriss des verstorbenen Mannes, sein Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse zurück. Kleine gelbe Plastikaufsteller mit Zahlen zeugten von den Fundorten der Kugel, der Patronenhülse und der Waffe.

Richard Berger saß zitternd auf der Couch im Wohnzimmer, unfähig zu begreifen, wobei er gerade Zeuge gewesen war. Immer wieder strich er sich über die schütteren Haare. Seine Frau rang nervös ihre Hände. Tränen hatten ihr einst perfektes Make-Up ruiniert und offenbarten gnadenlos die Spuren ihres Alters. Unfähig stillzuhalten, lief sie an den deckenhohen Bücherregalen entlang und ordnete hier ein Buch, dort eine kleine Skulptur. Sie rückte ein paar der Kunstgegenstände zurecht, die sie und ihr Mann im Laufe der letzten vier Jahrzehnten von ihren zahlreichen Reisen in die ganze Welt mitgebracht hatten. Einer der Vorteile eines Reisebüros ist es, durch Verbindungen zu anderen Agenturen und Einheimischen ein Insiderwissen ansammeln zu können, das es erlaubt, an Orte zu gelangen, die nicht jedem Menschen zugänglich sind. Heutzutage ist dieses Wissen Dank des Internets relativ leicht zu erlangen, doch vor fünfunddreißig Jahren sah das noch ganz anders aus.

„Und wo ist dieser junge Mann jetzt?“, fragte ein Beamter Herrn Berger.

„Ich habe keine Ahnung. Er lief weg.“

„In welche Richtung?“

„Ich weiß es nicht.“ Er schüttelte den Kopf. Immer wieder sah er die Szene vor sich, die Schnelligkeit, in der der Mann die Waffe gezogen und sich erschossen hatte. Kompromisslos. Als gäbe es keine andere Lösung als ausschließlich diese eine. Als könne er nicht von einem anderen Menschen die zehntausend Euro bekommen, sondern es mussten die von ihm, Herrn Berger, sein. Den Ausdruck in den Augen des Fremden, als er sein Schicksal besiegelte, diese Endgültigkeit, würde Richard in seinem ganzen Leben nie wieder vergessen können.

Der Beamte wandte sich an Frau Berger. „Und Sie? Haben Sie etwas gesehen?“

„Nein. Ich habe nur den Schuss gehört und dann meinen Mann schreien.“

„Besitzen Sie eine Schusswaffe?“

Die Bergers verneinten.

„Kennen Sie die Männer?“

Herr Berger schüttelte den Kopf, seine Frau zuckte die Achseln. „Ich habe sie ja nicht gesehen.“

„Können Sie den anderen Mann beschreiben?“

„Nun ja, in den Dreißigern, denke ich. Etwas kleiner als ich. Aber er stand unten an den Stufen, also kann ich es nicht genau sagen. Er hatte dunkle Haare.“

„Und weiter?“

„Weiter weiß ich nichts.“

„Was hatte er an?“

„Ach ja, Jeans, ein dunkles Oberteil und eine Lederjacke. Und er trug eine Kette mit einem Anhänger, einer Art Amulett. Der andere trug auch so einen.“

„Der Tote hatte keine Kette an.“

Richard schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Gestalt des bärtigen Mannes. Deutlich sah er das Amulett vor sich. „Doch. Ich bin mir ganz sicher.“

„Und was die beiden hier wollten, wissen Sie auch nicht? Außer der ominösen Geldforderung? Warum forderten sie zehntausend Euro? Und warum gerade von Ihnen?“

Herr Berger zuckte die Achseln. „Ich kann es mir absolut nicht erklären. Wie gesagt, ich kenne diese Männer nicht.“

Der Beamte notierte irgendetwas.

Richard ließ den Kopf in seine Hände sinken. „Ich habe keine Ahnung, warum die …“

Der Kommissar sah Richard Berger fragend an, als dieser plötzlich innehielt, den Kopf hob und ihn entsetzt anstarrte.

„Es sei denn …“

„Es sei denn, WAS?“

Nachdenklich rieb sich Richard die Stirn. Eine seit Jahrzehnten verschüttete und sorgsam verborgene Erinnerung blitzte auf, in etwa so, wie wenn man morgens erwacht und noch den Fetzen eines Traumes erhaschen kann. Je intensiver man ihn festhalten möchte, desto flüchtiger wird er, bis er im Nebel auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Beinahe so erging es ihm jetzt. Nur, dass er diese Erinnerung niemals hatte freiwillig hervorholen wollen.

„Dorothea“, mit leiser, vor Angst heiserer Stimme wandte er sich an seine Frau, „erinnerst du dich an unseren Urlaub vor ungefähr dreißig Jahren? Yucatán.“

„Yucatán? Du meinst … Nein! Oh nein! Oh bitte nicht. Bitte, bitte nicht!“

Er nickte kreidebleich und nestelte an seiner Krawatte. Urplötzlich hatte er das Gefühl, jemand drücke ihm die Kehle zu. Sein Herz raste, seine Hände wurden feucht. Er schloss die Augen.

Entsetzt schlug Dorothea ihre Hände vor ihr Gesicht. „Gott steh uns bei!

Carl Isenhardt tippte ungeduldig mit den Fingern auf das Lenkrad und folgte der gehauchten Stimme von Miley Cyrus, die leise aus dem Radio quoll. Seine Gedanken waren heute finsterer als üblich: seine Frau zog zu ihrem Schnösel, seine Kleine verachtete ihn und die Stadt schien in einen Moloch aus Irrsinn zu versinken. Drogen, Mord und entführte Kinder, deren Eltern nichts besseres taten, als rumzuheulen und wegen irgendeiner Kacke zu schweigen. Carl blickte die Straße runter, die in einem Gewusel aus Vorstadthäusern versank. Weit hinter dem Viertel erhoben sich aus einer trüben Nebelsuppe heraus, drohend die Hochhäuser der City - der finstere Moloch, wo ekelhafter Reichtum, bitteres Elend und grässliche Gewalt Ringelein tanzten. Stella war heute sein einziger Lichtblick. Seine neue Kollegin stand genervt am Starbucks und spielte gedankenverloren mit einer Haarsträhne. Ihre blonde Mähne wallte über ihre Schultern und der blaue Stoff der Uniform schmiegte sich eng an ihren ansehnlichen Kurven. Lass es, sie könnte deine Tochter sein. Doch Carls sonnenbrillenverdeckter Blick war von ihr gebannt, bis der leidliche Funk ihn in die Gegenwart riss: Schüsse in der Vorstadt, keine fünf Minuten von hier. Carl startete den Motor und ließ die Seitenscheibe herunter. „Bosch! Einsatz!“

Der Tatort lag in einer vornehmen Gegend. Kleine, hinter Hecken und Zäunen versteckte Stadtvillen reihten sich um eine aufragende Backsteinkirche, die erhaben auf einen gedrungenen Hügel thronte. Die Zufahrt zum Viertel war bereits abgesperrt und zahlreiche Menschen in feiner, gottesfürchtiger Kleidung suchten den besten Platz für einen erheischenden Blick.
Das ist genau der richtige Ort für Kapitalverbrechen, dachte Carl. Hier wohnte die Kohle ohne nennenswerte Sicherheit: kein Wachschutz und höchstens ne Alarmanlage aus dem Baumarkt.

Der Fall entpuppte sich als skurriler Selbstmord, der den tragischen Zeugen immer noch das Blut aus dem Gesicht trieb. Die Bergers saßen verstört auf ihrem Sofa und Stella malträtierte sie mit allerlei Fragen zum Geschehen, das sie sich minutiös und mehrfach erklären ließ. Doch so grotesk sich der Ablauf auch anhörte, irgendetwas kam Carl bekannt vor. Er musste einem Gedanken folgen.
„Entschuldigen Sie mich.“ Carl ging in die angrenzende Küche und schloss die Tür. Er zückte sein Telefon, wählte Schnurbs und wurde sogleich im perfekten Englisch begrüßt: Hey Iron, whats up?" Iron, diesen Spitznamen wurde er seit seinem Schulvortrag über Namensherkunft wohl nie mehr los.
"Hey Ruth, du musst mir helfen! Erinnerst du dich an die Website, die uns vor ein paar Wochen von der Digitalen zugespielt wurde? Du weißt schon, scheiß Kapitalisten… dekadente Schweine und so. "Sure, du meinst diese Neo-Philantrophen, wie sie sich nennen. "
„Ja genau, check bitte die Website!“
„Ok, warte kurz. Ich habs.“ Ruth blieb stumm. Sekunden verstrichen und Carl hörte nur schweres Atmen.
„Ruth?“
„Hier ist ein Video,“ Ihre Stimme war gepresst, schockiert. „Es… es zeigt…“
„Schon gut, Ruth, ich weiß, was es zeigt. Konzentrier dich! Fällt dir noch irgendetwas auf?“ „Ja, hier ist ein Countdown, er zeigt weniger als zehn Stunden. Und vier Kästchen, in einem ist ein großes rotes X.“
„Ok, was siehst du noch?“
"Von dem Countdown geht eine Linie weg, wie eine Zündschnur. Sie bildet irgendwie Häuser. "
„Was für Häuser?“
„Du kennst sie Carl! Der Messeturm, der Commerzbank-Tower und all die anderen. Es ist Frankfurt! Und es flackert rot und gelb!“
"Was soll das heißen! " Carls Anspannung war zum bersten. Er spürte wie das Blut in seinen Adern wallte und er schrie fast ins Telefon. „Ruth! Was passiert, wenn der Countdown endet?“
Ihre Stimme war beherrscht, voll ungläubiger Gewissheit: „Dann wird die Skyline brennen.“

„Hörst du?“ Sein Rufen blieb unbeantwortet.
Als er sich umdrehte, stand Dorothea direkt vor ihm, kreidebleich. In ihrer vor Aufregung zitternden Hand hielt sie ihr Handy, welches sie ihm wortlos entgegenstreckte. Eine quäkende Stimme war zu hören.
„Hallo? Hören sie mich? Hallo? Frau Berger?“
Wut stieg in ihm auf. War es denn so schwer, ein Telefonat zu führen? Verärgert entriss er ihr das Handy und immer noch mit seiner Erregung kämpfend brüllte er hinein: „Ja, ich bin hier. Richard Berger. Wer ist dort?“
„3. Polizeirevier hier. Tauber mein Name. Ihre Frau, vielleicht auch ihre Mutter, rief uns an, konnte aber nur ihren Namen deutlich sagen, mehr verstand ich nicht.“
Überfordert von der Gesamtlage hätte Berger aus seiner Haut fahren können. „Vielleicht auch ihre Mutter“? Meinte dieser Tauber das ernst? In normalen Situationen wäre es ein Grund gewesen, laut loszubrüllen vor Lachen. Seine Frau war wie er mittleren Alters, ihre Stimme weit entfernt von der einer alten Dame. Dies hätte ein running Gag werden können, wären nicht die Umstände heute ganz anders. Es gab nichts zu lachen.
Richard Berger atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen und die nötige Beherrschtheit aufzubauen, den ruhig redenden Beamten nicht unnötigerweise anzuschreien. In langen Jahren des Kundendienstes hatte er gelernt, innere Gereiztheit zu zügeln und wenigstens nach außen hin ruhig zu wirken.
„Hören sie, es ist etwas Schreckliches passiert, sie müssen sofort kommen. Ein Mann hat sich direkt vor meinen Augen erschossen.“
Stille.
„Hallo? Sind sie noch da?“
Am anderen Ende der Leitung hörte er schweres Atmen.
„Ja, bin ich. Ich werde schauen, dass ich Kollegen finde, die baldmöglichst zu ihnen kommen können. Wo wohnen sie?“
„Dass ich Kollegen finde? Bald-möglichst?“, äffte ihn Berger nach. „Es tut mir ja leid, wenn ich sie aus ihrer sonntäglichen Skatrunde im Revier herausreißen muss in den nasskalten Herbst, aber hier liegt eine Leiche in meinem Vorgarten! Ich kann sie aber auch gerne liegen lassen, damit sich die Waschbären für ihre Winterruhe noch ein wenig Fett anfressen können. Das wäre dann aktiver Naturschutz, der gleichzeitig die Polizei in ihrer Winterruhe nicht stört. Perfekte Lösung. Was meinen sie? Soll ich die Leiche vielleicht in kleine Stückchen sägen und nach und nach für die Tierchen wieder nach draußen legen? Oder wäre es ihnen genehm, wenn ich für die in ihrem Revier so hart arbeitende Polizei das schönste Teil aufhebe? So könnte ich mich für die Störung am Sonntagmorgen angemessen entschuldigen.“
Die eben noch mühsam unterdrückte Aufregung brach aus ihm heraus. Was dachte denn dieser Herr Tauber in seinem Revier, für was er sein Steuergeld bekam? War nicht zur Spurensicherung jede Minute kostbar?
Nicht auf seine Beleidigung eingehend reagierte Tauber professionell ruhig.
„Beruhigen sie sich, Herr Berger. Ich verstehe ihre Lage. Glauben sie mir, ich habe über unser internes System bereits während dieses Telefonates jetzt Hilfe angefordert. Die Sachlage ist nur die, dass…“
Er zögerte.
„Wissen sie, es ist schon die dritte Meldung dieser Art heute Morgen bei uns, alle Kollegen sind bereits außer Haus. Westend meldet Überlastung. Auch dort scheint es ungewöhnlich viele Einsätze zu geben.“
Nun war es Berger, der um Worte rang. Drei Selbstmorde allein in nordend am selben Morgen?
Fassungslos ließ er sich auf das Sofa im Wohnzimmer nieder.
„Teilen sie mir bitte noch ihre Adresse mit, dass ich die nächsten zur Verfügung stehenden Experten zu ihnen schicken kann? Ich würde sie bitten, zuhause zu bleiben und zu warten, bis wir uns wieder melden.“

Im Hause Berger verging die folgende Zeit, ohne dass einer der beiden etwas getan oder gesagt hätte. Richard Berger saß schweigend im Wohnzimmer, seine Frau war irgendwo im Haus verschwunden. Das Radio, das sie zum Frühstück eingeschaltet hatten, dudelte weiter vor sich hin, unterbrochen von Berichten, die in den Ohren von Berger ein unverständliches Kauderwelsch waren. Es stellte eine unbewusst willkommene Füllung der Leere dar, die sich ausgebreitet hatte. In seinem Kopf hallte der Schuss immer und immer wieder lauter als jeder Presslufthammer nach. Er sah ohne Unterlass in einer Endlosschleife gefangen den Mann umkippen, die mit Blut vermischte Hirnmasse in den Himmel hinein spritzen und die weit aufgerissenen Augen des alten Mannes, als er abdrückte.
Diese Augen, die voller Angst hätten sein müssen, aber fast schon ein Lächeln in den Augenwinkeln hatten. Es war eine surreale Situation, die sich in diesen wenigen Sekunden für immer in seinen Kopf eingebrannt hatte. Wie konnte dieser Mann lächeln? Lächeln, während er im selben Moment seinem Leben ein Ende setzte?
Das Telefon riss ihn aus seinen Gedanken. Das musste Tauber von der Polizei sein. Wieviel Zeit vergangen war, konnte Berger nicht sagen, aber es war lange genug nichts passiert.
Er schaute aufs Display und legte das Handy enttäuscht zur Seite, ohne abzunehmen. Das Bild von Ylvie war darauf zu sehen. Nicht dass er sich nicht über den Anruf seiner Tochter gefreut hätte, aber im Moment war es ihm unmöglich, mit ihr zu reden. Also verließ er sich darauf, dass sie denken würde, er sei in der Kirche, wenn er nicht abnähme. Später könnten sie ja telefonieren.
Ylvie war vor kurzem erst ausgezogen. Sie wohnte jetzt in Heidelberg, wo sie studierte. Die Miete war unverschämt hoch, aber er unterstützte seine Tochter finanziell, während sie ihm dafür mit den Buchungen seines Reisebüros half, vor allem wenn es auf die Sommerferien zuging.
Das Handy bimmelte kurz. Eine Nachricht erschien.
„Mama, ruf mich an! Was ist da los mit Papa? Ich mache mir Sorgen. Geht es dir gut? Wenn du nicht anrufst, rufe ich die Polizei.“
Erst jetzt fiel ihm auf, dass das Handy, welches er die ganze Zeit krampfhaft in seiner Hand gehalten hatte, noch das seiner Frau war. Er verstand nicht, warum seine Tochter sich nur nach dem Wohlbefinden ihrer Mutter erkundigte und von Polizei redete. In dem Moment klingelte es erneut. Wieder erschien Ylvies Bild.
Er nahm ab und meldete sich.
Nach einer kurzen Pause, die sie wohl brauchte, um zu realisieren, dass ihr Vater am Handy ihrer Mutter war, rief sie: „Papa!“ Ihre Stimme überschlug sich. „Warum geht nicht Mama an ihr Handy? Geht es ihr gut? Lebt sie noch? Was hast du getan?“
„Was ich getan habe? Was ich getan habe? Woher…? …weißt du überhaupt, also, was weißt du überhaupt? Was ist da los?“
„Du bist im Internet, Papa. Überall sieht man, wie du einen Mann erschießt. Direkt vor unserer Haustüre. Hast du Mama auch erschossen?“
„Ich habe niemanden erschossen!“
„Aber… …Das Video? Man sieht sogar das Blut spritzen. Es ist grauenhaft.“
„Ich war das nicht! Glaub mir doch!“
Ylvie atmete schwer. Sie schien zu weinen. „Gib mir Mama, ich will mit ihr reden. Jetzt!“
„Sie ist irgendwo im Haus, was weiß ich, wo.“
„Ich will jetzt sofort mit ihr reden“, betonte sie ein weiteres Mal. „Oder ich rufe die Polizei.“
„Ylvie, was denkst du denn von mir? Glaubst du wirklich, ich könne jemanden ermorden?“ Eindringlich versuchte Berger, seine Tochter zur Vernunft zu bringen.
„Ich schicke dir etwas. Tippe einfach darauf, das Handy öffnet es dann von selbst.“
Wieder kam der Ton einer neu eingetroffenen Nachricht. Es war ein Link, den Berger sofort antippte. Der Browser startete sich und eine knallbunte Internetseite baute sich auf. „Newsflash“ blinkte in großen Lettern am oberen Rand. Direkt unterhalb flimmerte Werbung für Krawatten auf, die es zur Blackweek um 50% reduziert gab. „Live gestreamter Mord schockiert die Welt!!!“
Ein weiteres Werbefenster, diesmal mit „der verführerischsten Seidenunterwäsche, die du je getragen hast“.
Ohne sich Gedanken darum zu machen, warum seine Frau Werbung für verführerische Seidenunterwäsche angezeigt bekam, scrollte er weiter nach unten.
Ein grauer Rahmen schob sich ins Bild mit dem Hinweis „Der Inhalt kann verstörend wirken. Es ist explizite Gewalt zu sehen. Bestätigen Sie, dass Sie +18 sind.“ Nach einem Tipp auf „Ich bin +18“ verschwand das Rechteck und an seiner Stelle erschien ein Video. Die Aufnahme zeigte seinen Hauseingang, den alten Mann und sich selbst, wie er hinter der spaltbreit geöffneten Tür stand. Die verwackelte Kameraaufnahme schwenkte unablässig zwischen ihm und dem Mann hin und her. Es war ein wildes Hin und Her, welches er kaum nachverfolgen konnte. Die Tonaufnahme war so verrauscht, dass man nichts verstehen konnte. Aber die Bilder zeigten nur allzu deutlich den Verlauf der Diskussion. Berger erinnerte sich an jedes gesprochene Wort. An den Lippen konnte man keines davon ablesen, sein Gesicht jedoch sprach Bände. Er sah mit zunehmender Dauer erbost aus.
Plötzlich nestelte der alte Mann an seiner Jacke. Die Position der Aufnahme schwenkte hinter den Mann, so dass man nicht sehen konnte, dass er die Waffe aus seinem Mantel zog. Aber den Schuss hörte man und seine Wirkung war mehr als deutlich zu erkennen. Nicht genug der schrecklichen Bilder, wurde das Video ab diesem Moment sogar in Zeitlupe ablaufen lassen.
Als der Mann nach hinten kippte, sah man das Gesicht von Berger im Türspalt. Es wurde direkt darauf gezoomt. Zu einer unmenschlichen Grimasse verzerrt füllte es nun das ganze Bild aus. Dann schwenkte der Zoom nach unten auf seine Krawatte. Die goldenen Eurozeichen auf grünem Grund, gesprenkelt mit dunkelroten Punkten, füllten nun das Bild. Buchstaben erschienen. „Die Gier schreckt selbst vor Mord nicht zurück.“

Berger fühlte Übelkeit aufsteigen. Es ging so schnell, dass er sich nur noch nach vorne neigen konnte und sich zwischen seine Beine auf den Teppichboden übergab. Seine Krawatte baumelte nach unten und blieb in seinem dort befindlichen Mageninhalt kleben.
Diese verdammte Krawatte!
Wie von Sinnen sprang er auf, zog sie ungelenk über seinen Kopf, warf sie direkt in sein Erbrochenes und trampelte blindwütig und laut schreiend auf ihr herum.
Aus dem Handy schrie seine Tochter. Er verstand kein Wort davon. Seine Frau kam angerannt, schrie ebenfalls. Aber auch das nahmen seine Ohren nicht als Worte wahr, sondern nur als Krach. Sie kam auf ihn zu, aber er schlug wild mit seinen Armen um sich, wollte niemanden in seiner Nähe.

Ein weiteres Geräusch gesellte sich zu dem Gekreische. In seiner Rage konnte er auch dieses nur als weitere Lärmquelle annehmen, ohne sie genau bestimmen zu können. Es war die Türklingel, die im Sturm unablässig betätigt wurde. Dann hörte man das Klirren einer Fensterscheibe.
Seine Frau rannte wieder davon und erschien nur wenige Augenblicke später mit zwei Polizisten in voller Kampfmontur. Auch sie schrien ihn an. Beide eine Pistole in der Hand haltend machten sie einen Schritt nach dem nächsten auf ihn zu. Die Läufe waren direkt auf ihn gerichtet. Es gab keinen Zweifel, dass sie zu allem bereit waren und schießen würden, wenn er nur eine einzige ungeschickte Bewegung machte.
Erschöpft blieb er stehen und hörte endlich auf zu schreien. Die Situation beruhigte sich. Die Anspannung wich nicht nur aus ihm, sondern auch aus ihren Körpern. Die Pistolen immer noch sicher in der Hand waren sie wenigstens nicht mehr auf seinen Kopf gerichtet. Nun konnte er verstehen, was sie sagten.

„Herr Berger, wir verhaften sie wegen des Verdachtes, einen Mord begangen zu haben. Bitte leisten sie keinen Widerstand und händigen sie uns die Tatwaffe aus.“
„Ich habe keine Waffe.“
„Uns liegt ein Video vor, in dem ein Mann erschossen wird.“
„Ich war das nicht!“ Erschöpfung breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Er konnte nur noch flüstern. „Ich war das nicht. Er war das selbst.“
„Unsere Kollegen haben den toten Körper vor ihrem Haus gefunden, aber keine Tatwaffe. Wenn er sich selbst umgebracht hätte, müsste dort eine Waffe zu finden sein.“
Bergers Gedanken spielten verrückt. Zwischen Verzweiflung und Resignation und purem Hass schwankend stammelte er nur ein weiteres Mal: „Ich war das nicht. Dorothea…“
Flehend blickte er seine Frau an. Sie hatte doch alles mitbekommen. Es traf ihn wie ein weiterer Schlag in die Magengrube, als er sie in Richtung der Beamten sagen hörte: „Ich war gerade im Bad, als das alles passierte.“
Sie hätte ihm helfen können. Sie hätte nur bestätigen müssen, dass sie Ales mitbekommen hatte. Anstatt dessen hörte sie nun aber gar nicht mehr auf zu reden.
„Man sollte doch mit ordentlich gekämmten Haaren in die Kirche gehen. Das Klingeln hörte ich, dann ging Richard zur Tür und ich ins Bad. Wenn Frau Harrison in der Kirche ist, will ich wenigstens zurechtgemacht sein. Wissen sie, die Harrisons, das sind sehr gute Kunden und reisen sehr oft in ihre Heimat die USA. Das buchen sie immer über unser Reisebüro. Frau Harrison sagt dann immer, sie sieht mir schon an, dass wir alles perfekt organisieren. Letztes Jahr buchten sie sogar für ihre ganze Familie aus den USA Flüge hierher über uns. Das war ein ganz großer Auftrag, der uns den eigenen Urlaub etwas komfortabler machte.
Das Aussehen ist sogar am Sonntag wichtig in unserem Beruf. Selbst der Pfarrer sagte neulich, dass er beim Verteilen der Kommunion immer einen Glanz sieht, wenn ich vor ihm stehe.“
Was redete sie denn da? Es ging um einen Selbstmord und darum, dass er nun beschuldigt wurde, vielleicht lebenslang im Gefängnis landen würde, und sie redete über den Pfarrer und seine gierigen Augen?
„Ich war also im Bad und hörte den Schuss. Ich wusste, dass etwas Schreckliches passiert war und rief sofort die Polizei an. Zunächst dachte ich, sie hätten Richard erschossen. Aber dann hörte seine Stimme und lief hinunter. Dort sah ich es dann durch das Fenster in der Diele. Ein toter Mann lag vor unserer Tür, ein zweiter rannte gerade davon und Richard war im ganzen Gesicht mit Blut verspritzt.“
„Hat er in diesem Moment etwas weggeworfen oder eingesteckt?“
„Das weiß ich nicht. Ich kam ja erst kurz darauf nach unten, so lang war er allein mit den beiden Männern. Da hätte er natürlich alles machen können. Aber er ist ein ganz lieber Mann. Erst letzte Woche hat er eine riesige Spinne, diese Nosferatuspinnen, von denen alle reden, in einem Glas aus dem Haus gebracht, anstatt sie zu töten. Und wenn er schon keine Spinne töten kann, dann ja auch keinen Menschen. Aber… …um ehrlich zu sein… Er sah mich mit einem Ausdruck an, den ich noch nie bei ihm gesehen hatte. Das schockierte mich mehr, als den Toten zu sehen. Ich kann das nicht deuten, aber es hätte auch schuldbewusst sein können. Glauben sie mir aber: Richard ist der liebste Mann, den ich kenne. Manchmal etwas aufbrausend, aber normalerweise immer ganz lieb.“
Berger war kein Kriminalbeamter, aber es war ihm klar, dass die Aussagen seiner Frau ihm nicht helfen würden. Würde sie doch nur endlich aufhören zu reden. Sie machte alles nur noch schlimmer.
Hätte er doch nur die Kraft gehabt, sie zu stoppen.
Anstatt dessen verfolgte er wort- und kommentarlos die nicht enden wollenden Ausführungen seiner Frau.
„Vielen Dank, Frau Berger. Wir notieren ihre Aussagen. Vielleicht müssen sie uns auf dem Revier noch einmal kurz das Protokoll unterschreiben. Wir werden sie diesbezüglich kontaktieren.“
Berger war fast schon dankbar dafür, dass der Beamte damit andeutete, dass sie jetzt gehen würden. Er streckte seine Hände aus in Erwartung der Handschellen, die Mörder bei ihrer Verhaftung im Fernsehen immer angelegt bekamen.
Der Beamte stellte sich neben ihn, hielt seinen Arm fest und schob ihn sanft in die Richtung der Ausgangstür. Als Antwort auf die vorgestreckten Hände Bergers sagte er nur: „Nehmen sie ihre Arme runter. Gehen sie einfach mit uns mit, wir wollen nicht das ganz große Paket auspacken. Aber versuchen sie gar nicht erst, davonzulaufen.“
Ein ironisches Lachen entfuhr ihm. Davonlaufen. Er war froh, sich auf den Beinen halten zu können.
Vorbei an seiner endlich stummen Frau, vorbei an der eingeschlagenen Scheibe des Flurs, vorbei an Beamten, die sich über den reglosen Körper in seinem Vorgarten beugten und vorbei an seinen gaffenden Nachbarn trottete er lethargisch neben den Polizisten zu ihrem Auto und ließ sich entkräftet auf die Rückbank fallen.

Dann fuhren sie los in den trostlosen Sonntagmorgen.

(c) Zugvogel / Kevin Vogel

„Nein! Das machen wir nicht!“ Dorothea stand hinter ihrem Mann und lauschte. Als Richard rief: „Ruf die Polizei“, hatte sie schon längst einen Entschluss gefasst. „Aber warum nicht? Da liegt ein Toter!“, fassungslos sah er seine Frau an. „Eben. Darum“, meinte sie, drehte sich um und ging ins Wohnzimmer. Mit einer Wolldecke in der Hand kam sie wieder. Er zitterte. „Komm, du musst dich hinlegen.“ Richard war seit langem klar, dass es besser war, auf seine Frau zu hören, also protestierte er nicht weiter, seufzte und rollte sich auf dem Sofa ein. Sie brachte ihm eine Tablette, er schluckte brav, stierte an die Wohnzimmerdecke.

Dorothea lugte durch den Spion an der Eingangstür. Niemand zu sehen. Sie atmete tief durch und ging hinaus. Wie sündhaft! Dieser Rowdy hatte sich doch tatsächlich eine Kugel in den Kopf gejagt. Oh, Gott. Die Nachbarn sind hoffentlich noch beim Selbigen in der Kirche. Die dichte Ligusterhecke versperrte unerwünschte Blicke, trotzdem, der Körper musste weg! Der alte Fahrradschuppen fiel ihr ein. Sie überlegte kurz, holte von drinnen den Schlüssel und ein Laken. Lieber Gott murmelte sie, bitte verzeih, aber ich muss das tun. Sie durchsuchte die Taschen in seiner Jacke. Keine Brieftasche, kein Ausweis, kein Handy. Mist. Noch ein Stoßgebet und sie fasste ihm in die Hosentasche. Ein Brief, voll mit Zahlen und Formeln. Sie steckte sich das Papier ein, breitete das Laken über den Mann und bekreuzigte sich. Schon besser! Sie suchte eine Weile im Garten und kam mit einer Schubkarre wieder. Es dauerte, bis sie es geschafft hatte, den Körper darauf zu hieven. Er war zum Glück nicht allzu schwer. Arme und Beine hingen rechts und links, als sie schlingernd zum Schuppen fuhr. Sie ließ ihre Fracht drin stehen, schloss ab und lief zurück. Grau im Gesicht, das Haar wirr.

Jetzt den Fleck auf dem Weg! Hektisch rannte sie rein, holte Eimer, Salz und eine Bürste. Mit Salz geht Blut überall raus! Sie schüttete die ganze Tüte auf die blutige Stelle und schrubbte, bis ihr die Arme wehtaten.

„Frau Berger? alles in Ordnung?“ Die Stimme gehörte Frau von Hummeln, die Nachbarin. Diese eingebildete Gans hatte ihr gerade noch gefehlt! „Schönen Sonntag wünsch ich Ihnen. Ja, alles gut, ich habe nur meinen Mülleimer umgeschmissen, ich Dummerchen“. „Ach, ja“?, meinte die von Hummeln misstrauisch. „Waren Sie schon bei der Messe? Habe Sie nicht gesehen!“ „Nein, waren wir nicht, meinen Mann geht es nicht gut, er hat sich hingelegt. Schöne Grüße an den Gatten“. Sie winkte, kehrte ihr den Rücken zu und putzte weiter. Frau von Hummeln schüttelte empört den Kopf, lief aber endlich weiter. Dorothea atmete auf. Sie war durchgeschwitzt bis auf die Unterwäsche. Wenigstens war jetzt der Plattenweg sauber! Sie schlich ins Haus. Richard schnarchte friedlich auf dem Sofa.

Sie duschte, wollte sich nur kurz ausruhen und schlief ein. Draußen dämmerte es bereits, als sie aufschrak. Was hatte sie getan? War sie übergeschnappt? Ihr wurde übel. Was, wenn der andere Mann das Video ins Netz gestellt hatte? Sie nahm den Laptop und öffnete mit zitternden Fingern ihr Mailfach. Nichts! Richards Reisebüro! Auch nichts! „Thea? Was machst du?“, fragte Richard gähnend. „Na, was wohl!“ ,fauchte sie zurück. „Ich schaue, ob der zweite Mann seine Drohung wahr gemacht hat!“ „Oh, und ist was im Netz?“ „Nein, überhaupt nichts! Andererseits, was soll man darauf sehen? Du hattest doch die Kette vor der Tür, oder?“ Richard war baff. „Stimmt, da sieht man vielleicht nicht viel, aber was machen wir mit dem Toten?“ „Der liegt im Fahrradschuppen.“ „Waas? Wie haast du?“

„Komm. Wir müssen sehen, was wir mit dem anfangen“. Draußen war es ungemütlich, Regen peitschte ins Gesicht. Dorothea ging vor und sah, dass etwas nicht stimmte. Der Schuppen war offen. Sie schrie leise auf. Die Schubkarre samt Leiche war verschwunden.

Dorothea hielt sich zitternd eine Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihren Mann an, dann wanderte ihr Blick hektisch zur Tür, hinter der soeben etwas Unfassbares geschehen war.

„Richard, was ist da gerade passiert? War das ein Schuss?!“

Richard, der sich dazu zwang, seinen Schock nicht allzu sehr nach außen zu tragen, schluckte schwer und wiederholte: „Stell keine Fragen, ruf einfach die Polizei. Bitte. Und einen Krankenwagen.“

Er sah, wie seine sonst so besonnene Frau mit sich und ihren vielen Fragen rang. Ihr Mund bewegte sich urplötzlich und er ahnte, dass sie leise Gebete vor sich hinmurmelte, um sich zu beruhigen, wie sie es manchmal tat. Doch nach einem Moment der Stille nickte sie und holte ihr Telefon aus der Tasche im Flur. Richard fuhr sich mit den Händen durch das Haar und versuchte zu verarbeiten, was sich vor wenigen Sekunden vor seinen Augen abgespielt hatte.

Was hatte das alles nur zu bedeuten? Wer waren die beiden Männer gewesen? Warum hatte der jüngere von beiden das alles gefilmt? Und hätte er diesen Zwischenfall wirklich verhindern können, wenn er der Forderung des Mannes nachgekommen wäre?

„Sie kommen, so schnell sie können“, hörte er die leise Stimme seiner Frau. Er drehte sich zu ihr um und streckte seine Hand an.

„Komm her“, meinte er und drückte sie eng an sich, als sie die wenigen Meter zwischen ihnen überwunden hatte.

„Wirst du mir erzählen, was passiert ist?“ Ihre Stimme zitterte und er rieb ihr langsam über den Arm. Gern hätte er ihr gesagt, dass es nur ein Missverständnis gewesen war, doch sie hasste es, wenn er nicht ehrlich mit ihr war, deshalb fing er gar nicht erst damit an. Aber er wusste auch, dass sie der Polizei gleich nicht ruhig entgegentreten könnte, wenn er ihr nun alles schilderte. Daher versicherte er ihr nur, alles zu erklären, sobald die Beamten eingetroffen waren.

Es dauerte ungefähr zehn Minuten, bis er die Sirenen in der Weite heulen hören konnte. Dorothea saß in der Küche und hatte ihre Hände fest um eine Tasse Tee geschlossen. Noch immer murmelte sie leise Gebete vor sich hin. Er dagegen war erneut zur Haustür gegangen und hatte eine große Decke über den Körper auf seiner Türschwelle gelegt. Einige Nachbarn hatten mittlerweile mitbekommen, dass etwas nicht stimmte. Schreie hallten durch die sonst so ruhige Nachbarschaft und lautes Getuschel vermischte sich zu einer lauten Kakophonie an Geräuschen.

„Ist das ein Körper?“

„Habt ihr den Schuss gehört? Es war doch ein Schuss, oder?!“

„Oh Gott, und das in unserer Nachbarschaft.“

Die lauten Stimmen machten es Richard noch schwerer, sich äußerlich nichts anmerken zu lassen, denn mittlerweile hatte sich eine stattliche Menschenmenge vor seiner Gartentür gebildet, und er betete händeringend, dass die Polizei bald auftauchen würde. Er vermied es tunlichst, auf das Blut zu starren, welches den Gehweg vor seiner Tür und die Decke über dem Körper nach und nach rot färbte.

Als die Beamten sich endlich einen Weg zu ihm durchgeschlagen hatten, führte er sie direkt zu dem Mann am Boden. Einer der drei Polizisten, groß gewachsen und etwa Mitte Vierzig, kniete sich hin und hob die Decke ein Stück an. Mit ernstem Gesichtsausdruck erhob er sich wieder und nickte dem älteren Kollegen zu seiner Rechten zu. Dieser begann sofort damit, den Tatort abzusperren und die gaffende Masse zu verscheuchen. Die junge Frau zu seiner Linken wandte sich an Richard selbst. Ihre blonden Haare waren zu einem strengen Knoten gebunden und sie musterte ihn einen Moment mit ihren grünen Augen, die im Vergleich zu ihrem professionellen Äußeren sehr sanft waren.

„Guten Tag, Herr Berger, mein Name ist Carolina Enders. Dürfte ich Sie einmal nach drinnen begleiten? Ich würde mir gerne Ihre Sicht der Ereignisse anhören.“

„Natürlich, kommen Sie bitte. Meine Frau wartet in der Küche auf uns.“ Sie ließen die beiden Männer zurück und betraten Richards Haus. Sobald Frau Enders das blasse Gesicht seiner Frau sah, ließ sie ihre professionelle Maske fallen und ließ sich auf dem Stuhl neben Dorothea nieder.

„Doro, das ist Frau Enders, sie würde uns gerne ein paar Fragen stellen.“ Seine Frau blickte auf. Offensichtlich war sie so in Gedanken gewesen, dass sie die Polizistin erst in diesem Moment bemerkte. Da sie offensichtlich nicht in der Verfassung war, Fragen zu beantworten, setzte sich Richard ebenfalls an den Tisch und wandte sich an die Beamtin.

„Meine Frau hat den Vorfall nicht beobachtet, aber ich beantworte gerne Ihre Fragen.“ Frau Enders nickte und begann die Befragung. Mit jeder Frage flackerten Bilder des Geschehens vor Richards Augen auf, und er musste sich erneut zur Ruhe zwingen.

„Und Sie sagen, der zweite Mann hat alles gefilmt?“ Er nickte und blickte zum Küchenfenster. Mittlerweile hatte sich die Menge etwas zerstreut, doch er wusste, dass die Gerüchte sich rasend schnell verbreiten würden.

„Es geschah alles so schnell. Würden Sie einem wildfremden Mann, der plötzlich an Ihrer Tür klingelt, eine derart große Menge Geld überlassen, bloß weil er es fordert?“ Die Polizistin, deren Gesichtsausdruck von Minute zu Minute finsterer wurde, schrieb akribisch mit.

„Falls Sie denken, dass Sie in Schwierigkeiten stecken, kann ich Sie beruhigen. Sie waren ein Zufallsopfer eines ziemlich makabren Vorhabens. Die Art und Weise, wie Betrüger an das Geld ihrer Mitmenschen kommen wollen, wird immer drastischer.“

„Und was passiert nun? Der zweite Mann ist auf der Flucht und niemand kann sagen, was er mit den Videoaufnahmen vorhat.“ Die grünen Augen der jungen Frau waren lange Zeit nur auf ihre Notizen konzentriert, bevor sie diese schließlich wieder zu Richard und seiner Frau lenkte, deren Hand er die ganze Zeit über gehalten hatte.

„Überlassen Sie die Details uns, Herr Berger. Dank Ihrer Beschreibung werden wir den Mann sicherlich schnell ausfindig machen. Weit kann er noch nicht gekommen sein.“ Er blickte erneut zum Fenster, vor dem man mittlerweile den Rettungswagen stehen sehen konnte. Zwei Sanitäter waren gerade dabei, den verstorbenen Mann in diesen zu bugsieren. Da sein Körper in einem Leichensack steckte, blieben keine Zweifel mehr daran, dass der Mann wirklich tot war – seinetwegen?

Die Vordertür ging auf und die beiden anderen Polizisten traten ein. Der ältere von beiden, welcher vorhin die Leiche begutachtet hatte, stellte Richard ebenfalls einige Fragen. Erst, als sie ausreichend Informationen gesammelt hatten und sie auch seine Frau zu einer Aussage gedrängt hatten, verabschiedeten sie sich und verließen ihr Haus.

Die anschließende Stille waren ohrenbetäubend. Als Richard sich zur Tür wagte und einen Blick hinauswarf, zeugten nur noch die roten Flecken von dem Vorfall. Er konnte sehen, dass man den Großteil bereits zu entfernen versucht hatte, doch die hartnäckige Flüssigkeit hatte sich in den Fugen der Steinplatten festgesetzt und er rieb sich erneut das Gesicht. Mit normalem Wasser würde er diese wohl nicht entfernen können.

Doch er hatte keine Zeit, sich weiter mit diesem Problem zu beschäftigen, denn der Klang des Haustelefons durchbrach die Stille und ließ ihn ins Wohnzimmer hasten.

„Berger?“, fragte er atemlos.

„Papa, endlich gehst du ran! Ich versuche schon seit einer halben Stunde, euch zu erreichen, aber keiner ist rangegangen.“ Richard schloss die Augen, als er die aufgekratzte Stimme seiner Tochter Nele am anderen Ende hörte. Wahrscheinlich meinte sie ihre Handys, denn soweit er wusste, klingelte das Haustelefon zum ersten Mal.

„Nele, wie schön, dass du anrufst. Wie geht es Martin und den Kindern?“ Er gab sich Mühe, das Zittern aus seiner Stimme zu verdrängen, doch seine Tochter wollte davon nichts hören.

„Papa, ich weiß zu schätzen, dass du meine Nerven zu beruhigen versuchst, aber ich rufe nicht für Small Talk an.“ Da ihre Stimme sich mehrmals überschlug, konnte er sich schon denken, dass etwas nicht stimmte.

„Was ist los, Schatz?“ Sie lachte auf.

„Das fragst du mich? Papa, warum ist da ein Video von dir online zu sehen, wo sich ein Mann direkt vor deiner Tür in den Kopf schießt?“

Richard spürte, wie ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. Er schluckte mehrmals, bis er sich halbwegs gefasst hatte.

„Was meinst du damit? Es ist schon online zu finden?“ Sie bejahte.

„Es ist überall! Ich musste Zara das Handy wegnehmen, als sie es mir aufgeregt hinhielt. Es muss so frisch sein, dass es noch nicht mal zensiert ist. Man sieht alles! Tamara weint noch immer bitterlich, sie ist massiv verstört.“ Mist, manchmal verfluchte er die moderne Technik. Er hatte nie gewollt, dass seine beiden Enkeltöchter in all das hineingezogen wurden. Er war dagegen gewesen, dass sie in ihrem jungen Alter schon Smartphones bekamen, schließlich war Zara erst elf und Tamara gerade mal acht.

„Papa, was ist passiert? Geht es euch gut?“ Er seufzte tief.

„Den Umständen entsprechend. Deine Mutter steht unter Schock, zum Glück hat sie es nicht direkt gesehen.“ Er erklärte ihr, was vorgefallen war.

„Aber das ist doch verrückt oder nicht? Niemand, der über gesunden Menschenverstand verfügt, würde auf dieses Angebot eingehen. Und wer hätte so viel Geld in seinem Haus herumliegen. Ist es wirklich meine Schuld, dass er tot ist? Wieso macht jemand so etwas? Wir wollten lediglich in die Kirche gehen.“ Mittlerweile machte sich ein immer größeres schlechtes Gewissen in seinem Inneren breit und bereitete ihm Schmerzen.

„Es hätte jeden treffen können, Papa. Du bist kein schlechter Mensch, das weiß ich. Und ich weiß leider nicht, was diese Männer sich gedacht haben. Aber das ist kein Spaß mehr.“ Er liebte seine Tochter, aber er kannte sie besser als jeden anderen, und er konnte genau hören, dass sie noch etwas anderes bedrückte.

„Was verschweigst du mir?“ Sie schluchzte leise auf. Er wartete geduldig, bis sie ihre Fassung zurückerlangt hatte, bevor er sie erneut sanft darum bat, es ihm zu verraten.

„Das ist ja das Ding, Papa. Ich weiß, dass du ein guter Mensch bist. Dass du für Adrian und mich immer alle Hebel in Bewegung gesetzt hast, um uns das bestmögliche Leben zu ermöglichen… Aber die Menschen dort draußen wissen es nicht. Das Internet kann ein schrecklicher Ort sein. Ich habe nur einige Kommentare gelesen, bevor es mir zu viel wurde, aber… Es ist übel, Papa. Obwohl du ganz offensichtlich das Opfer in diesem Fall bist, stellen sich die Menschen auf die Seite des anderen Mannes.“

Für einen Moment fehlten ihm die Worte. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass ihre Worte wahr waren. Und doch wusste er nicht, was er dazu sagen sollte.

„Ich dachte nur, dass du das wissen solltest. Aber keine Sorge, Martin und ich und auch mein Bruder stehen hinter dir. Bitte melde dich, sobald ihr mehr wisst, in Ordnung?“ Er stimmte zu und legte auf. Für einen langen Moment starrte er das Telefon in seiner Hand an. Und obwohl er so etwas normalerweise nicht tat, lief er mit großen Schritten zu seinem Handy, entsperrte es und suchte nach besagtem Video.

Es dauerte auch nicht lange, bis er es fand. Auf unzähligen Seiten war es bereits zu finden – manche zeigten den Vorfall noch immer unzensiert. Als er den Schock auf seinem eigenen Gesicht sah, wurde ihm übel. Der erneute Knall der Pistole, ließ ihn zusammenzucken. Schweiß bildete sich in seinen Handflächen, während er zu den Kommentaren scrollte.

Widerlich sowas. Er hätte ihn retten können und schickt ihn kaltherzig davon. Hier sehen wir wieder, warum ich Menschen hasse !

Habt ihr gesehen, wie egal es ihm, dass der Mann ihn mit zittriger Stimme um Hilfe bittet? Abschaum der Gesellschaft. Kaum hat jemand Geld, ist ihm jeder andere scheißegal.

Kann bitte jemand eine Waffe holen und sie diesem Arschloch an den Kopf halten? Dann sehen wir ja, wie gelassen er dann noch bleibt!

Geh sterben, du ekelhaftes Stück Scheiße!

Er schaltete das Telefon aus. Das war zu viel. Warum war er nun der Böse? Er hatte nichts falsch gemacht. Wahrscheinlich hätte jeder von ihnen ähnlich reagiert. Aber er wusste auch, dass sich im Internet jeder groß aufregen konnte, sobald sie einen Fehler witterten. Dorothea durfte das auf keinen Fall sehen, das würde ihr nur das Herz brechen. Die größte Frage von allen war jedoch: Warum das Ganze? Warum hatten die beiden Männer das getan? Für die Aufmerksamkeit? Waren sie wirklich Betrüger gewesen, die es auf sein Geld abgesehen hatten? Oder steckte da etwas ganz anderes dahinter? Richard wusste nur, dass er darauf hoffen musste, dass die Polizei den jungen Mann schnell fand und ihn zur Rechenschaft zog. Sicherlich wäre der Spuk dann bald vorbei und alles würde sich beruhigen.

Gerade mal zwei Tage später, er kam gerade von der Arbeit, brachten ihn die Nachrichten im Auto dazu, eine plötzliche Vollbremsung auf der Autobahn hinzulegen, die ungemütliches Gehupe hinter ihm zur Folge hatte. Er stellte sich auf den Standstreifen und lauschte den Worten der Nachrichtensprecherin, obwohl in seinen Ohren ein lautes Rauschen zu hören war, und es ihm daher schwerfiel, sich auf irgendetwas von dem Gesagten zu konzentrieren.

„Nachdem es vor einigen Tagen bereits einen ähnlichen Vorfall in Frankfurt gegeben hatte, erreichte uns soeben die Nachricht, dass sich ein junger Mann im Süden Frankfurts vor den Augen eines Passanten in den Kopf schoss, nachdem dieser ihn vehement nach einer höheren Geldsumme bat. Wie es dazu kam, und wie genau es mit dem Vorfall vor einigen Tagen zusammenhängt, können wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Sicher ist nur, dass die Polizei um jegliche Hinweise bezüglich einer jungen Frau bittet, die die ganze Tat gefilmt hat. Sie wird als Anfang Dreißig, etwa 1,70 Meter und mit dunklen Haaren beschrieben. Augenzeugen werden darum gebeten, sich umgehend bei der Polizei zu melden…“

All das hätte Zufall sein können, doch als er parallel online Bilder des neuesten Vorfalls suchte, merkte er schnell, dass es sich bei dem jungen Mann, der sich erschossen hatte, um den gleichen handelte, der vor zwei Tagen an seiner Tür gestanden hatte. Zwar waren die Aufnahmen teilweise sehr wackelig, doch es gab keinen Zweifel. Was war hier nur los?

Richard stellte das Radio ab, blieb einige Minuten stehen und fuhr dann nach Hause. Doch dort erwartete ihn der wahre Schrecken. Er fand Doro im Schlafzimmer vor. Sie hielt einen merkwürdigen Brief in den Händen und zitterte so stark, dass er zu Boden fiel.

„Schatz, was ist los?“ Sie sah zu ihm auf, deutete jedoch nur auf den Brief hinab.

„Dieser Brief lag vor der Tür. Ich wollte ihn lesen, aber hinten steht drauf, dass nur du es lesen sollst, weil sonst etwas Schlimmes passieren würde.“

Er bückte sich nach dem Umschlag, an dem merkwürdige Flecken prangten. Ein ungutes Gefühl bildete sich in seinem Inneren. Mit zittrigen Fingern holte er das Papier heraus, welches mit roter Tinte beschrieben war.

Wenn Sie dachten, Sie seien sicher, dann muss ich Sie enttäuschen. Sie stecken bereits mittendrin. Haben Sie ein schlechtes Gewissen? Gut, das sollten Sie auch. Denn Sie werden auch mein Blut an den Händen kleben haben. Ihretwegen bin ich das nächste Opfer. Sollten Sie diesen Brief lesen, bin ich vermutlich bereits tot. Und wenn Sie den Anweisungen, die Sie in den kommenden Tagen erreichen werden, nicht Folge leisten, werden Sie der Nächste sein. Stellen Sie keine Fragen, sprechen Sie mit niemandem darüber und gehen Sie ja nicht zur Polizei, sonst wird man sich um Ihre Frau und Ihre Kinder kümmern. Seien Sie versichert, sie wissen, wo Ihre restliche Familie lebt. Das tun sie immer. Genießen Sie die Ruhe, solange Sie anhält. Denn schon bald wird ihr größer Albtraum Wahrheit werden.

Langsam flatterte das Papier zu Boden. Er hatte sich geirrt. Sehr. Dies war erst der Anfang.

„Du kannst doch selbst …:“, fauchte seine Frau. Ein lauter Knall unterbrach sie. Wieder ein Schuss? Aber ein Toter konnte unmöglich schießen, selbst wenn er so wahnsinnig war, wie dieser Selbstmörder vor der Tür. Wobei der in eine andere Welt übergegangen war.
Richard
Berger überlegte, ob der unbekannte Tote nun im Himmel oder in der Hölle gelandet war und ob es in der ewigen Seligkeit Wahnsinn gäbe. Er müsste den Pfarrer fragen. Dann schüttelte er den Kopf, was für ein Unsinn! Sie hatten jetzt andere Sorgen.
Seine Frau starrte mit offenem Mund auf die Decke. Putz rieselte aus einem Loch heraus, das vorher nicht dagewesen war. In der Tür klaffte ein Loch.
Der Junge! Der musst sich die Pistole geschnappt haben und hatte durch die Tür geschossen. Auf ihn?
Er warf sich auf den Boden. Dorothea stand wie eine Marmorsäule im Flur, Mund offen und starrte immer noch auf das Loch in der Decke.
„Ersetzt das die Versich…“
„Egal“, schrie Berger. „Ruf endlich die Polizei an!“
Langsam, ganz langsam ging Drothea zurück und griff nach dem Hörer des alten Festnetz-Telefon. Sie starrte weiter auf das Loch in der Decke.
Dann wählte sie. Und sagte: „Jemand schießt auf unsere Decke.“
„Jemand hat sich umgebracht vor der Tür!“, schrie Berger. „Und will jetzt uns erschießen.“ Warum war Doro nur immer so unbeholfen? Das ärgerte ihn, seit er sie geheiratet hatte. Dafür konnte sie gut kochen. Und im Bett …
Aufhören! Befahl er sich. Er musste einen klaren Kopf behalten.
„Nein, Tote“, sagte Dorothea, die ihre Fassung wiedergewonnen hatte. „Jemand anderer. Meierweg 3.“
„Hinlegen!“, befahl Berger Doro. Und als sie nicht reagierte, „Sofort!“
Doch sie blieb stehen. „Jemand muss doch der Polizei die Tür öffnen“, sagte sie und ging zur Tür.
„Nicht öffnen“, schrie Berger verzweifelt. „Der Schütze steht noch davor.“
Aber als das Martinshorn zu hören war, riss Doro die Tür auf.
Auf der Vortreppe war ein dunkler Fleck. Aber keine Leiche. Zwei uniformierte Polizisten öffneten das Gartentor und Doro entfernte die Kette.
Berger stand auf. „Danke, dass sie gekommen sind“, sagte er und hielt ihnen die Hand hin. Verdutzt schüttelten sie sie.
„Was ist passiert? Die Meldung war …“
„Ein Mann hat sich vor der Tür erschossen“, sagte Berger.
„Und in die Flurdecke geschossen“, fügte Doro hinzu. Anklagend wies sie auf das Loch in der Decke. Der Größere der Schupos schaute auf die Tür.
„Ja“, sagte Doro. „Direkt durch die Tür.“
Der Kleinere der beiden zog sein Handy hervor und meldete „Meierweg 3. Eine Schießerei … Ja, danke“.
„Und ein Toter“, fügte Berger hinzu.
„Und wo ist der?“
„Abgehauen“, sagte Doro.
„Weggeschleppt von dem Anderen. War vermutlich sein Sohn“, erläuterte Berger und warf seiner Frau einen bösen Blick zu, den sie aber ignorierte.
„Na gut. Waren die beiden im Haus?“
„Nein.“ Wieder war Doro schneller.
„Dann gehen Sie bitte in das Wohnzimmer oder ein anderes Zimmer, die Spurensicherung wird gleich kommen und die möchte möglichst wenig Verunreinigung haben. Die Kriminalbereitschaft wird sie dann verhören.“
Der Kleinere zog im Vorgarten ein Polizei-Absperrband um den Gartenzaun.

Richard saß Dorothea gegenüber. Keiner sprach. Dorothea knetete ihre Hände. Richard schaute immer wieder auf die Uhr und seufzte.
Endlich betraten zwei Männer den Raum. Richard sprang auf.
„Warum dauert das so lange? Da passiert ein Mor… äh, Selbstmord, man will uns erschießen und Sie können nur Absperrbänder ziehen.“
„Die Spusi musste erst alle Spuren aufnehmen“, erkärte der Ältere, er war groß, mit einem weißen Haarkranz, rotem nicht mehr ganz sauberem Pullover und ausgebleichter Jeans.
„Tut uns leid“, sagte sein jüngerer Partner. Mit Krawatte und Anzug, der maßgeschneidert aussah.
„Aber wir haben natürlich viele Fragen“, sagte der Ältere. „Zum Beispiel: Wo ist die Leiche, die sich angeblich ermordet hat vor Ihrer Tür?“
„Und woher wissen Sie, dass sie wirklich tot war?“, wollte der Krawatteninspektor wissen.
„Das … Äh, das Gehirn, das flog hinten raus.“
„Und wo ist es jetzt, dieses Gehirn? Die Spusi hat nur einen Blutfleck gefunden.“
„Sie glauben, es ist Menschenblut. Aber das muss erst mal das Labor untersuchen.“ Wieder der mit Haarkranz. „Wissen Sie, ich hab schon manches erlebt, aber dass mir einer erzählt, vor seiner Haustür habe sich jemand erschossen, dann in die Decke geschossen und sei davongelaufen, das ist wirklich neu.“
„Da war ja noch der andere“, sagte Richard.
„So, so, der große Unbekannte.“ Der Haarkranz sah den Krawattenträger an. „Ich habe in dreißig Jahren Dienst viele große Unbekannte in Erzählungen erlebt. Nur sind sie mir nie in Wirklichkeit begegnet. Leider. Dir?“,
Der Krawattenträger schüttelte den Kopf. „Setzen Sie sich doch“ sagte er und wies auf einen Stuhl. „Was machen Sie beruflich?“
„Ich führe ein Reisebüro“, sagte Richard.
„Ein Reisebüro? So, so. Peter, warst du die letzten Jahre mal in einem Reisebüro?“
Der Haarkranzträger schüttelte den Kopf. „Nicht mehr, seit mir mein Neffe die Bedienung der Online-Angebote gezeigt hat nicht. Das war vor gut zehn Jahren.“
„Also, Sie führen ein Reisebüro“, fuhr der Anzugträger fort. „Das rentiert sich?“
„Na ja nicht mehr so ganz …“
„Soso, nicht mehr so ganz“, übernahm der Haarkranzträger. „Wissen Sie was? Erleichtern Sie sich jetzt die Seele. Erzählen Sie uns, was wirklich passiert ist. Wir kriegens ja doch raus.“


Dorothea, die bereits das Telefon in der Hand hielt, starrte ihren Mann fassungslos an. «Was ist denn passiert, Richard?» Fragte sie kaum hörbar.
«Ruf die Polizei, Doro», wiederholte er gepresst, drängend, während er sich schwer gegen die Tür lehnte. Sein Herz hämmerte, sein Atem ging stoßweise. Der schreckliche Anblick ließ ihn nicht mehr los. Er schloss die Augen, nur um die blutige Szene erneut zu durchleben. Unwillkürlich riss er sie wieder auf. „Los!“
Seine Frau schien endlich aus ihrer Schockstarre zu erwachen und begann hastig, auf dem Telefon herum zu tippen. Bevor sie die Nummer allerdings wählen konnte, erklang ein leises schabendes Geräusch von draußen.
Berger erstarrte. Wahren das Schritte?
«Geh nicht hin!», flehte Dorothea. «Oder … ist es etwa schon die Polizei?» Ihre Stimme zitterte, während sie verwirrt auf das Gerät in ihrer Hand blickte. «Aber ich habe doch noch gar nicht gewählt.»
Berger ignorierte sie, war bereits wieder an der Tür und spähte durch den Spion. Der Mann mit der Pistole lag noch da, die Pfütze aus Blut wurde stetig größer. Der Mann mit dem Smartphone war verschwunden.
Stattdessen stand ein Mann in einem eleganten, eindeutig maßgeschneiderten, Anzug vor der Tür. Er hielt eine Ledermappe mit einem geprägten Eurozeichen darauf in der Hand, sein Gesicht wirkte erschreckend reglos.
«Wer sind Sie?», rief er durch die geschlossene Tür hindurch, bemüht das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken.
«Konrad König. Von König & Söhne.», erwiderte der Mann ruhig, beinah beiläufig. «Ich bin Anwalt. Der Mann, der sich eben vor Ihrem Haus erschossen hat, war mein Mandant. Ich bin hier, um Ihnen seine letzten Worte zu überbringen.»
«Seine letzten Worte?», wiederholte Berger, fassungslos.
«Wären Sie so freundlich, mich hereinzulassen?», fragte König. Sein Ton höflich, aber mit einem Hauch von Ungeduld.
«Das kommt gar nicht infrage!», rief Dorothea schrill und griff nach Bergers Handgelenk. Ihre langen Fingernägel bohrten sich tief in seine Haut.
«Ich lasse niemanden rein, bis die Polizei eintrifft.», murmelte er und hoffte beinah, das der Mann auf der anderen Seite ihn nicht verstanden hatte.
«Ich höre Sie sehr gut, Herr Berger», sagte dieser, als hätte er seine Gedanken gehört. Dann hielt er kurz inne, als würde er auf eine Antwort warten. «Wie Sie möchten. Doch was ich Ihnen zu überbringen habe, duldet keinen Aufschub.» Er trat einen Schritt zurück und öffnete die Ledermappe. Mit einer beinah andächtigen Bewegung zog er ein einzelnes Blatt Papier hervor. «Dies ist für Sie», erklärte er ruhig und schob es unter der Tür hindurch.
Berger starrte auf Blatt, welches der Mann nun vorsichtig auf den Boden legte und mit einer beängstigend langsamen Bewegung unter der Tür hindurchschob.
Sein Blick fiel auf die wenigen Worte, die in das cremweise Papier geprägt waren:

«Das ist erst der Anfang.»

Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Als er den Blick hob, war der Mann bereits verschwunden.

Dorothea Berger stand wie erstarrt, die Handtasche mit dem Gesangbuch fest umklammert. Eine animalische Wut stieg in ihr auf, heiß und verzehrend. Er wagte es, sie so zu demütigen? Sie, die alles geopfert hatte, um ihm dieses Leben zu ermöglichen?
Das Gotteslob, ein Zeichen des Glaubens, lag schwer in ihren Händen. Das abgenutzte Leder, glatt poliert von unzähligen Berührungen, flüsterte von Geborgenheit, von Verbindung zu etwas Größerem als sich selbst. Die geballte Kraft aller Gebete, die jemals in diesem Buch von ihr gesprochen wurden, strömte aus dem Leder, durchdrang ihre Finger und erfüllte sie mit einer unheimlichen Energie. Das Kreuz, das sie durch ihre Haut ertastete, schien ihr eine ungeahnte Kraft zu verleihen. Ihr Glaube strömte aus der kleinen Vertiefung und durchdrang sie wie ein warmer Sonnenstrahl.
Es war kein Zeichen, es war ein Versprechen. Ein in Leder geschmiedetes Gelübde, ein unauslöschlicher Eid, der sie mit einer nie gekannten Macht erfüllte. Ein Bund zwischen ihr und einem Etwas, das größer war als alles, was sie kannte. Größer als die Angst, größer als der Schmerz, größer als der Tod. Es war eine Macht, die sie umgab, die sie durchdrang, die ihr versprach, dass sie nicht allein war.
Sie fröstelte. Nicht aus Furcht, sondern vor einer seltsamen, bisher unbekannten Entschlossenheit. Sie erkannte es genau: Dies war der Moment, an dem sich alles ändern würde. Kein Zurück mehr, flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren.
Eine Maske der Fassungslosigkeit trug sie auf ihren Schultern, doch hinter dieser Fassade glommen ihre Augen in einem unheimlichen, fast triumphierenden hoffnungsvollen Licht.
Richard bemerkte Dorotheas Veränderung nicht. Er war mit seinem Schock und dem grausigen Anblick des toten Mannes zu beschäftigt.
Der Schrei von Munch – das Bild schoss ihm in die Gedanken, diese Fratze der Angst, der Verzweiflung. Sehe ich das wirklich, oder ist das ein Albtraum?, fragte er sich, während ein kalter Wind seinen Rücken hinunterlief. Spiegelte sich die surreale Szene vor ihm nur in seinem Kopf, aus dem er jeden Moment erwachen würde? Bitte, lass es nur ein Traum sein! Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass es die grausame Realität war, die ihn umgab.
Wie ein sanfter Schleier legte sich die Ruhe über Dorothea und löschte die Angst und die Zweifel aus. An ihre Stelle trat eine nie gekannte Klarheit, eine eisige Entschlossenheit.
Ihr Blick glitt über Richard, eine Mischung aus Verachtung und einem Anflug von Mitleid lag in ihren Augen. Er war wie eine Weinbergschnecke, die sich bei der kleinsten Gefahr in ihr Haus zurückzog, unfähig, der Welt die Stirn zu bieten, versteckte er sich in seinem Schneckenhaus der Angst, blind und taub für die Realität um ihn herum.
Das Blut leuchtete im Morgenlicht auf und jeder Tropfen war ein scharlachroter Pinselstrich auf dem makellosen Weiß ihrer Steinplatten. Ein makabres Kunstwerk, erschreckend und doch von bizarrer Schönheit.
Richards Augen waren wie gebannt auf das grausame Schauspiel gerichtet, unfähig, sich von dem Spektakel loszureißen. Eine morbide Faszination hielt ihn gefangen, zwang ihn, jeden entsetzlichen Moment zu bezeugen. Der Tod selbst tanzte vor ihm, in all seiner abstoßenden und verführerischen Pracht. Er lockte mit dem Versprechen der Erlösung, während er gleichzeitig die grausame Fratze der Vernichtung zeigte.
Die heile Welt, die Richard liebte – der gepflegte Rasen, die blühenden Rosenstöcke, das makellose Weiß des Hauses –, war mit einem Schlag in tausend blutige Splitter zersprungen. Und inmitten dieses Trümmerfeldes stand er, fassungslos, verloren und konfrontiert mit einer Realität, die ihn mit aller Macht in den Abgrund riss.
Dorotheas Magen verkrampfte sich und der faulige Gestank schlug ihr in die Nase. Sie presste die Lippen aufeinander, biss die Zähne zusammen und kämpfte mit aller Kraft gegen den Brechreiz, der in ihr aufstieg.
In ihrem Inneren tobte ein Sturm der Gefühle. Nicht wegen der Leiche, dem Blut, dem Tod, der ihr so fremd und doch so vertraut erschien. Nein, es war Wut, auf diesen Waschlappen, diesen Klabautermann, den sie damals geheiratet hatte. Wut auf die Jahre der Demütigungen, der Spießbürgerlichkeit, die sie ertragen hatte. Und dann dieses erbärmliche Stammeln, diese hilflose Angst, die ihm aus jeder Pore quoll, die seinen ganzen Körper zittern ließ. Diese Schwäche, diese Unfähigkeit, sich der Situation zu stellen. Es war ekelhaft. Er war unwürdig. Unwürdig der Liebe, die sie ihm schenkte, unwürdig des Schutzes, den sie ihm bot, unwürdig des Lebens, das sie für ihn opferte. Jeder Impuls fraß sich tief in ihr Gedächtnis, ätzend wie Säure, ein Fluch, der ihn bis in alle Ewigkeit heimsuchen sollte.
„Die Polizei?“, flüsterte Dorothea, ihre Stimme klang seltsam hoch und gepresst. „Was soll die Polizei denn machen? Der Mann ist tot! Blind bist du wohl auch noch, oder?“
Berger fuhr herum und starrte seine Frau an. „Natürlich rufen wir die Polizei! Hier wurde ein Mann erschossen! Vor unserer Haustür!“
„Er hat sich selbst erschossen“, sagte Dorothea mit einer schneidenden, ruhigen Klarheit, die Richard schon immer an ihr gehasst hatte. Diese Frau, mit ihrer eisernen Logik, ihrer emotionslosen Art, die Dinge beim Namen zu nennen. Wie sie ihn mit ihren Worten sezierte, wie ein Präparator, der mit kalter Präzision jede Schicht seiner Seele abtrug, bis nur die rohen, verletzlichen Nervenenden übrig blieben. Wie sie seine Schwächen und Unsicherheiten schonungslos offenlegte, sie vor ihm ausbreitete wie wertlose Trophäen. Doch er sagte es ihr nicht. Was würde es schon bringen?, fragte er sich. Sie würde es nicht verstehen. Es wäre nicht sinnvoll. Nicht jetzt. Nicht in dieser Situation, in der die Welt, die er kannte, in tausend Stücke zersprungen war und er sich an jeden Strohhalm klammerte, um nicht im Abgrund der Verzweiflung zu versinken.
Dorothea bewegte sich. Nicht zum Haus, nicht zum Telefon, wie Richard es erwartet hatte. Stattdessen glitt ihre Hand mit einer geschmeidigen, fast katzenartigen Bewegung in ihre Handtasche.
Der kleine, silberne Revolver blitzte in ihrer Hand auf, ein unheilvoller Kontrast zu dem unschuldigen Gesangbuch, das sie eben gehalten hatte. Die Mündung der Waffe fraß sich in seine Gedanken, ein schwarzes Loch, das alles Licht und Hoffnung verschluckte. Jeder Reflex in ihm schrie danach, sich zu ducken, zu fliehen, doch er war wie gelähmt, gefangen im Bann des Moments.
„Richard“, hauchte sie, ihre Stimme glitt durch die Luft wie ein eisiger Hauch, der ihn wie aus dem Nichts berührte. Engelsgleich und doch unendlich kalt schienen die Worte direkt in sein Bewusstsein einzudringen. Es war nicht ihre Stimme. Nicht die Stimme seiner Dorothea, der Frau, die er all die Jahre an seiner Seite geglaubt hatte. Diese Stimme war kalt, schneidend, berechnend – die Stimme einer Fremden, die sich in seine Welt geschlichen und seine Dorothea geraubt hatte.
„Ich glaube, du hast alles falsch verstanden.“ Jedes Wort traf ihn wie ein Peitschenhieb, riss tiefe, klaffende Wunden in das Bild der Frau, die er zu kennen glaubte. Die Illusion zerbrach, die Fassade bröckelte, und darunter kam eine erschreckende Wahrheit zum Vorschein. „Dorothea…“, krähte er, und seine Stimme war kaum mehr als ein trockenes Rascheln, „…was zum Teufel soll das?“ Er rang nach Luft, als hätte sich eine unsichtbare Hand um seinen Hals gelegt. Angst, blanke, lähmende Angst, flutete seinen Körper, ließ seine Knie weich werden und seine Hände zittern.
„Du dachtest wohl, ich wäre wirklich nur eine dumme einfache Hausfrau?“, fragte sie, und ihr Lächeln war nicht mehr das seiner Dorothea, sondern die Fratze eines Raubtiers, das seine Beute umkreiste. Es war ein Lächeln voller Hohn und Verachtung, ein Lächeln, das ihre Zähne entblößte und ihre Augen zu schmalen Schlitzen werden ließ.
„Aber… der Mann…“, stammelte Richard, seine Stimme klang dünn und brüchig wie kleine, trockene knackende Äste. „Er…er hat sich doch selbst…“ Die Worte blieben ihm im Hals stecken, erstickt von der absurden Wahrheit, die sich vor seinen Augen entfaltete. Er versuchte, den Blick von der Waffe zu lösen, doch es gelang ihm nicht. Sie zog ihn an, ein schwarzes Loch, das drohte, ihn zu verschlingen.
„Sei still!“, fuhr ihn Dorothea an. „Sei endlich still!“ Ihre Stimme peitschte durch die Luft, zerschnitt die gespannte Atmosphäre wie ein Messer. „Du verstehst gar nichts! Nichts! Du hast nie etwas verstanden!“ Ihre Augen blitzten vor Wut, ihr ganzer Körper zitterte. Richard zuckte zurück, eingeschüchtert von der ungeheuren Kraft, die von ihr ausging.
„Dieser Idiot hat seine Rolle nicht richtig gespielt“, schrie Dorothea. „Aber keine Sorge, Richard. Ich kümmere mich darum.“ Ein verächtliches Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie das Wort „Idiot“ aussprach. Es war ein Lächeln, das Richard nie an ihr gesehen hatte.
Sie trat mit einem Satz an die Tür und riss sie mit einem Ruck auf. Das Holz krachte gegen die Wand. Das Geräusch war wie ein Riss im Gewebe der Realität, ein Einbruch des Chaos in die Ordnung seiner Welt. Ein Moment der Desorientierung, doch dann die erdrückende Gewissheit: Sie waren nicht allein. Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag und ließ ihn taumeln.
Draußen, halb verborgen im aufkommenden Licht der Morgendämmerung, standen sie.
Zwei massive Gestalten in dunklen Anzügen, die Gesichter unscharf, die Augen wie schwarze Löcher. Dorothea trat mit einer eleganten Bewegung zur Seite und deutete mit dem Lauf der kleinen Waffe auf den toten Mann. „Entsorgt das“, befahl sie mit einer Stimme, die so kalt und scharf war wie eine Glasscherbe. „Und kümmert euch um den anderen.“ Die Männer nickten wortlos und zogen die Leiche mit einer erschreckenden Gleichgültigkeit vom Grundstück. Dann verschwanden sie mit dem Smartphone-Mann in einem schwarzen Van, der lautlos in den frühen Morgen davon glitt.
Dorothea knallte die Tür zu, das Schloss rastet mit einem metallischen klack ein. Sie drehte sich langsam um, ihr Blick war wie ein Laserstrahl, der Richard durchbohrte. „Dorothea, bitte…“, flehte er, „…ich … verstehe nicht.“ Doch bevor er den Satz beenden konnte, drückte Dorothea ab.
Der Schuss zerriss die Stille, ein ohrenbetäubender Knall, der von den Wänden widerhallte und in Richards Ohren dröhnte. Ein glühender Schmerz durchfuhr ihn, schoss wie ein Blitz durch seine Nerven und hinterließ einen brennenden Pfad der Qual.
Ein Splitter eines Bilderrahmens, durchsiebt von der Kugel, bohrte sich in seinen Arm. Dorothea hatte nicht auf ihn gezielt. Ihr Blick war starr auf etwas hinter ihm gerichtet. Er wagte nicht, sich umzudrehen.

geschrieben von Aisling

Bergers Herz raste. Er stand noch eine Weile neben die Tür gelehnt da. Dann drückte er sich hoch und suchte nach Dorothea. »Dorothea? Hast du die Polizei angerufen?!«, schrie Berger mit zitternder Stimme durch das Haus. Er ging zurück ins Ankleidezimmer, wo er sie zurückgelassen hatte. Doch der Raum war leer. Er durchstreifte weiter das Haus auf der Suche nach seiner Frau.
»…sie waren gerade da. Er wurde ausgewählt. Ja ich weiß was zu tun ist…«, hörte er sie mit ruhiger Stimme aus dem Büro. Er öffnete langsam die Tür.
»… Ja beeilen Sie sich bitte. Es ist schrecklich. Ok… ok… Ja dann bis dahin.«Sie legte auf.
»Die Polizei ist auf dem Weg. Alles wird gut.« Berger blickte ins Leere und sank auf seinem Lesesessel in sich zusammen. Dorothea legte ihre Hand auf seine Schulter. Er zuckte.
»Ich mache dir erstmal einen Tee. Dann sieht die Welt schon wieder besser aus.«
Berger nickte geistesabwesend und Dorothea verlies das Zimmer. Seine Gedanken drehten sich. Der Knall schallte noch immer in seinem Ohr nach. Hätte er etwas tun können? Hätte er ihm das Geld geben sollen? Nein. Wozu würde das führen. Dann würden bald in der ganzen Nachbarschaft Leute klingeln und Geld auf diese Art erpressen.
Berger versuchte die Schuld von sich zu weisen, als es wieder klingelte. Er stand auf und öffnete die Tür. Zwei große Männer mit schwarzer Kleidung standen vor ihm. Berger versuchte, nicht nach unten zu der Leiche zu sehen.
»Guten Tag, danke, dass sie so schnell kommen konnten. Bitte kommen sie rein.« Die Männer sagten kein Wort, schlossen die Tür hinter sich und folgten ihm ins Wohnzimmer. Ohne Aufforderung setzten die beiden sich auf das Sofa, das in der Mitte des Raumes stand.
Sie waren muskulös. Was für Polizisten mit Sicherheit von Vorteil war. Einer der Männer hatte eine Narbe am Ohr und an seinem Kragen sah man zur hälfte ein Tattoo. Es waren zwei in einander verschlungene Schlangen. Berger wurde nervös, da die Männer immer noch nichts gesagt haben.
Er war den Umgang mit Kunden gewohnt und sagte so aus Gewohnheit: »Kann ich ihnen Etwas anbieten? Kaffe? Tee?« Die Männer sahen sich an. »Nein danke.«, antwortete der mit dem Tattoo mit einem Akzent, den Berger nicht einordnen konnte.
»Gut. Also das ganze ist so abgelaufen…« Erneutes klingeln unterbrach Berger. »Kollegen von Ihnen?«
Berger war auf dem Weg zur Tür, da spürte er einen Stich in seiner rechten Schulter. Kälte floss den Arm herunter. Noch bevor er etwas sagen konnte, wurde seine Sicht verschwommen und er schlug dumpf auf den Boden auf.

Als Berger wieder aufwachte, saß er in einem Büro. Es wirkte modern mit schwarzen Möbeln und einer Glaswand zum Flur hin. Vor ihm war ein großer Schreibtisch aus Mahagoni Holz. Nur Fenster hatte der Raum nicht.
Er versuchte aufzustehen. Doch seine Arme und Beine waren mit Kabelbindern an dem Metallstuhl befestigt, auf dem er saß. Sein Atem wurde schneller.
»Wa… was soll das hier?« Er rüttelte an dem Stuhl, aber der war fest im Boden verankert. »Hilfe! Hört mich jemand?!«
Die Tür hinter ihm öffnete sich. »Ah sie sind auf gewacht. Wie schön. Dann können wir ja beginnen.«
Ein Mann lief an ihm vorbei und setzte sich auf den Bürostuhl am anderen Ende des Tisches.
Es war der Mann mit dem Handy, der ihn gefilmt hatte.