Seitenwind 2024 beginnt! 1. Teil

Die Sirenen wurden lauter, näherten sich unaufhaltsam, aber Berger konnte sich nicht bewegen. Er blieb in der Türöffnung stehen, seine Hände wie stumpfe Klauen an den Rändern des Türrahmens festgekrallt. Der Moment dehnte sich aus, als ob die Zeit selbst sich gegen ihn verschworen hätte, als wäre die Welt in Zeitlupe eingefroren, nur das dröhnende Rauschen der Polizei-Sirene schallte wie ein unsichtbares, drückendes Gewicht in seinem Kopf. Berger konnte den Mann mit dem Handy nicht aus seiner Vorstellung verbannen: das verzerrte Gesicht voller Hass, das Handy in der Hand, das Video, das der Mann vielleicht schon hochgeladen hatte. War er bereits ein Internet-Phänomen geworden? Würde er in den Nachrichten auftauchen? Würde sein Name, dieser Tod, dieser Moment, in dem alles kippen würde, für immer mit ihm verbunden sein?
Er drehte sich um und ging langsamen Schrittes ins Wohnzimmer. Seine Frau hatte sich mit zitternden Händen an die Sofalehne geklammert und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Der Raum war still, der Vorhang wehte leicht im Wind, der durch das offene Fenster zog. Er setzte sich auf das Sofa, starrte auf den Fernseher, der unbenutzt und dunkel vor ihm stand. Die Atmosphäre im Raum war beklemmend.
Ein lautes Klopfen an der Tür. Drei Schläge. »Herr Berger?« Eine Stimme, die er nicht kannte, aber die Autorität ausstrahlte. »Öffnen Sie die Tür, bitte.« Er stand auf, ging zur Tür. Langsam. Die Schritte klangen wie das Klicken einer Uhr. Jeder Schritt fühlte sich schwerer an, als wäre er ein Mann, der durch Sand watete. Er öffnete die Tür. Zwei Polizisten standen da, beide in dunklen Uniformen, ihre Gesichter streng, aber nicht unfreundlich. Einer der beiden, ein älterer Mann mit grauen Schläfen und einem neutralen Blick, sah ihn an und nickte. »Herr Berger, wir möchten mit Ihnen sprechen. Es geht um den Vorfall draußen.«
Berger nickte stumm, trat zur Seite und ließ sie eintreten. Es war, als ob der Raum plötzlich kleiner wurde, als ob jeder Atemzug schwieriger war. Die Polizisten nahmen ihn wortlos in Augenschein, musterten ihn mit schnellen Blicken, die kein Detail übersahen. Sie wussten sicher schon, was passiert war. Hatten sie das Video schon gesehen? Wahrscheinlich wusste die ganze Nachbarschaft es schon.
Der ältere Polizist, der das Gespräch zu führen schien, kam einen Schritt auf ihn zu und sagte mit ruhiger Stimme: »Mein Name ist Krumbach, Hauptkommissar der Kripo Frankfurt. Kommen Sie mit in die Küche, Herr Berger. Wir müssen Ihre Aussagen aufnehmen.«
Berger nickte nur. Während die Polizisten mit ihm in den Nachbarraum gingen, hörte er ein weiteres Geräusch: Das Klirren seines Handys auf dem Tisch. Es blinkte auf, als eine neue Nachricht eintraf. Instinktiv griff er danach, obwohl er wusste, dass es wahrscheinlich das Letzte war, was er jetzt tun sollte.
Er drückte das Display, und der Bildschirm flackerte auf. Ein Video. Ein Bild von ihm, aufgenommen von dem Mann mit dem Handy. Die Schusswunde. Der Körper. Die Vorwürfe.
Die Nachricht war kurz und knapp: »Die Wahrheit kommt nicht immer ans Licht.«
Berger starrte auf das Display, die Worte brannten sich in seine Augen.
Er legte das Handy zurück auf den Tisch, ohne es weiter anzusehen.
Die Polizisten setzten sich ihm gegenüber an den Tisch, und für einen Moment herrschte Stille. Nur das leise Ticken der Wanduhr war zu hören, wie ein ständiger, unerbittlicher Begleiter in diesem Raum, der immer enger wurde. Berger spürte den Blick des jüngeren Polizisten auf sich, scharf, wie ein Schnitt. »Es gibt eine Zeugin. Eine Frau.« Berger dachte an das Handy auf dem Tisch. Die Wahrheit kommt nicht immer ans Licht. Was wusste sie? Die Vorstellung, dass eine unbekannte Person bereits mit der Polizei über die Geschehnisse gesprochen hatte, ließ ihn innerlich erstarren. Was hatte sie erzählt?
Krumbach beugte sich über den Tisch und legte ein Diktiergerät vor Berger ab. »Wir wollen ihre Version der Ereignisse hören.« Er atmete tief ein und begann zu sprechen: »Der Mann hat sich vor meinem Haus das Leben genommen.« Die Polizisten schauten sich kurz an. Krumbach lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Haben sie das Video nicht gesehen?«. Berger kuckte fragend über den Tisch.
»Welches Video?« entgegnete der Hauptkommisar.
In Bergers Kopf begann sich alles zu drehen.
»Da war ein Mann, der alles gefilmt hat.«
Krumbach stützte die Arme auf und sah Berger schweigend an.
»Hören sie« mischte sich sein Partner ein. »Wir haben einen toten Mann vor ihrer Haustür und eine Zeugin, die gesehen hat, wie er erschossen wurde.«
Es war Berger als würde der Boden anfangen zu wanken. Was war hier los? Wo war der andere Mann mit dem Video?
Sein Kopf ruckte plötzlich vor Entsetzen über eine Ahnung hoch.
»Moment mal, verdächtigen sie jetzt etwa mich?«

Berger lehnte mit dem Rücken an der Tür. Seine Beine drohten den Dienst zu verweigern. Er konnte nicht glauben, was er gerade gesehen hatte. Ohne sich von seiner Stütze zu lösen, drehte er seinen Kopf und wagte er einen Blick durch den Spion. Da lag tatsächlich der alte Mann in seinem liebevoll gepflegten Vorgarten. Gerade gestern hatte Berger noch den Kies durchgeharkt und die abgefallenen Blütenblätter der japanischen Säulen-Zierkirschen mit dem Laubbläser vertrieben. Einige Äste gestutzt, um die Symmetrien wieder herzustellen. Nun färbte das Blut die Kieselsteine auf nur einer Seite des Plattenweges, der Zierbrunnen war rot-grau besprenkelt. Es war ein grausamer Anblick.

Berger sank auf den Boden. Der jüngere Mann war nicht mehr zu sehen gewesen. War er weg? Oder nur nicht mehr im Blickfeld? Saß er womöglich auch auf dem Boden? Rücken an Rücken mit ihm, nur getrennt durch die Bleche der Aluminiumtür? Berger erschauderte bei der Vorstellung.
Das Schrillen des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Er hörte seine Frau aus dem Wohnzimmer:
„Natürlich nicht.“

„Aber er kannte ihn ja nicht mal!“

„Damit hätte doch keiner rechnen können!“

„Woher weißt Du das eigentlich?“

„Oh Gott.“

Dann war es still im Haus. Bis Bergers Frau aus dem Zimmer kam, das Telefon in der Hand, den Kopf irgendwie schief auf den Schultern. Sie sagte mit tonloser Stimme: „Alle wissen es. Louisa sagt, sie hat Dich im Internet gesehen. Unser Haus. Unseren Vorgarten.“
Das Video war also live gestreamt worden. Berger versuchte, sich zu sortieren. „Schalt mal auf Lautsprecher!“ herrschte er seine Frau an.
„Wo? Auf welcher Plattform?“
„Einfach überall! Es geht gerade viral. Du bist so peinlich, Papa.“
„Wo bist Du?“
„Mit unserem Kajak auf dem Schwedlersee. Und da werde ich auch bleiben. Für immer. In die Schule kann ich nie wieder und bei den ScissorClosers brauche ich mich auch nicht mehr blicken zu lassen. Danke dafür!“

Die ScissorClosers, diese unsägliche Bande halbstarker Postkommunisten! Bildeten sich ein, sie könnten mit Aktionen wie Sitzblockaden oder Fassadenklettereien an der Deutschen Bank die angebliche Schere zwischen Arm und Reich verkleinern. Früher hat man mit dem Moped schwarze Kreise auf den Asphalt gemalt, wenn die Hormone überschossen. Das einzig Hilfreiche gegen Armut wäre, wenn sich diese Menschen am Riemen reißen und ihre Arbeitsscheu ablegen würden. Wenn seine Tochter mit diesem Gesocks keinen Umgang mehr hätte, würde die Aktion in seinem Vorgarten wenigstens nachträglich einen Sinn bekommen. Okay, vor einer Woche war ihm der Kontakt noch ganz recht gewesen, gab ihm Gelegenheit für eine kleine Wohltätigkeitsveranstaltung. Ein paar vegane Snacks (von seiner Frau) und Einladungen mit woken Sprüchen (von seiner Tochter) reichten schon, um sie auf ihren Lastenrädern herzulocken. Von den Eintrittsgeldern hatte er die Zutaten für die Häppchen, die Druckkosten und sein Outfit für den Abend abgezogen. Louisa hatte zur Bedingung gemacht, dass er nicht in seinen üblichen Klamotten dort auftaucht. In der Begründung kam das Wort ‚peinlich‘ vor, wie so oft. Danach war nicht viel übriggeblieben. Das war akzeptabel, fand Berger. Denn der eigentliche Zweck des Abends war ein anderer. Charity steht für soliden Geldadel und er arbeitete daran, endlich das Image des Neureichen loszuwerden. Huffinger hatte ihn so genannt, auf der Eröffnungsfeier des neuen Clubhauses im Jachthafen. Hinter vorgehaltener Hand zwar, aber Berger hatte es mitbekommen. Und es nagte an ihm. Um nie wieder eine solche Erniedrigung erleben zu müssen, hat er sich bei der Eröffnungsrede seines Events sogar zu Aussagen zur gerechteren Verteilung von Vermögen und zu einer möglichen, wenn nicht sogar längst überfälligen Änderung der Erbschaftssteuer, hinreißen lassen. Wieder erschauderte er.

Von draußen war jetzt Stimmengewirr zu hören, eine Polizeisirene näherte sich. Berger öffnete die Tür. Genau wusste auch er nicht, warum er das tat. Wie in Trance nahm er die zig Handys wahr, die auf ihn gerichtet waren. Von den wütenden Rufen, die ihm entgegenschallten, bohrte sich nur einer seinen Weg bis in Bergers Bewusstsein: „Scheiß geizige Neureiche!“ Da war es wieder, das Wort.
Er würde diesen Geruch nie loswerden. Egal, was er tat. Eine Welle des Mitleids durchflutete ihn. Berger ließ den Kopf hängen, er schaute an sich herab. Seine Frau hatte ihm beim Anzugkauf im letzten Thailandurlaub zu einer leichten Überlänge der Hosenbeine geraten. So wenig, wie man von seinen Schuhen noch sah, gingen sie locker als Maßschuhe durch. Das blassblaue Hemd, das heute Morgen für ihn herausgelegt war, passte vielleicht nicht ganz so gut zu der Krawatte. Aber die konnte er schließlich nur sonntags tragen, wenn er nicht im Reisebüro war. Seiner Frau und dem lieben Frieden zuliebe tat er das konsequent. Jeden Sonntag. Heute. Letzte Woche.
Und auf einmal verstand er, was passiert war. Und warum.

© Tacheles

Es war erstaunlich, wie lange es dauerte, bis die Beamten dann tatsächlich da waren. Gut, das war möglicherweise nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass Dorothea aus allen Wolken und schließlich in Ohnmacht gefallen war, als er ihr offenbart hatte, dass vor ihrer Haustür ein Toter lag. Selbstredend hatte Richard Berger sich zuerst um seine Frau gekümmert - für den Kerl, dessen Blut die Fußmatte vermutlich inzwischen unwiderruflich verfärbt hatte, kam schließlich sowieso jede Hilfe zu spät.
Als es schließlich an der Fensterscheibe neben dem Eingang klopfte, hatte sich Richard Berger gerade einen Cocuy eingeschenkt. Mit dem Glas in der Hand öffnete er also die Haustür, während Dorothea die uniformierten Männer mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, die Handknöchel bleich, so fest umklammerte sie einen Rosenkranz. “Kommen Sie herein, meine Herren”, bat er die Polizisten in seine Wohnung. “Möchten Sie auch einen?”, er deutete auf den hochprozentigen Schnaps. “Das ist ja eine ganz schöne Sauerei vor meiner Haustüre.”
“Ey Markus -” sagte der erste Polizist und zeigte dabei gestikulierend auf den Toten, den sie soeben vorsichtig zu umlaufen versuchten.
“Ist das nicht der Typ aus dem Live-”
“Pssht!” gab der andere Polizist schroff zurück
Als die beiden schließlich in der Wohnung waren und sich im Wohnzimmer der Bergers gemütlich gemacht hatten, schilderte Herr Berger ihnen die Situation so ausführlich, wie er konnte, während er stets von Frau Berger mit diversen “Oh Gott”s und “Du liebe Güte”s unterbrochen wurde. Zu Herr Bergers Überraschung schienen die beiden Polizisten nicht sonderlich überrascht, fast so, als wäre diese Unterhaltung innerhalb der ersten Minute bereits zu einer Routineprozedur geworden.
“Werter Herr Berger, mir ist bewusst, dass all dies sehr verstörend für sie sein muss -” begann der Ältere der Beiden, der wohl Markus hieß…
“Dennoch ist Alkohol um diese Tageszeit wirklich nicht zu empfehlen.” Mit strengem Blick nickte er in Richtung des leeren Glases, das Richard Berger gerade im Begriff war, wieder aufzufüllen. Herr Berger setzt zu einer Erwiderung an, doch der Polizist brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen und setzte seinen Monolog fort: “Jedoch, so wunderlich sich ihre Geschichte auch anhören mag, war dies nicht der erste Vorfall seiner Art.”

“Nicht der erste…? Aber es war doch Selbstmord, oder nicht?”
“Nun Herr Berger”, mischte sich der andere Polizist in das Gespräch ein. “Sie sollten das doch am besten wissen. War es Selbstmord? Oder hatten Sie doch mehr mit dem Todesfall zu tun, als Sie uns bislang erzählt haben?” Er hob die Augenbrauen.
“Domenik!”, herrschte der ältere Polizist seinen Kollegen an. “Was soll das denn jetzt? Natürlich war es Selbstmord, du hast das Video doch gesehen.”
“Komm schon, Markus, ein Serien-Selbstmord? Du merkst doch selbst, wie das klingt…”, setzte der Jüngere wiederum an.
“Es reicht! Du verhältst dich unprofessionell. Wir bereden das später.” Der Jüngere, Domenik, klappte den Mund wieder zu und schwieg.
Währenddessen arbeitete es in Richard Bergers Kopf. “Sie haben gesehen, wie der Typ sich das Hirn weggepustet hat? Wie…? Woher…?”
“Es gab einen Livestream auf Instagram, der aufgezeichnet wurde”, erklärte der ältere Polizist. “Wie dem auch sei, ich nehme an, Sie wissen nicht, wohin der junge Mann verschwunden ist, der alles gefilmt hat?”
Ein Funkspruch aus dem Walkie-Talkie am Gürtel des Polizisten unterbrach ihn. Er hielt sich das kleine Gerät hastig ans Ohr. Er schien sich alle Mühe zu geben, sich nichts anmerken zu lassen, aber sein Ausdruck verhärtete sich etwas.
“048 mit versuchter Erpressung”, gab er seinem Kollegen knapp zu verstehen.
“Mit versuchter Erpressung.” Herr Berger kannte sich zwar nicht mit den Polizeicodes aus, aber er konnte eins und eins zusammenzählen. Was ihm widerfahren war, passierte scheinbar überall in der Stadt. Und die Polizei wusste bereits davon.

Doch seine Frau Dorothea war weg. Seine große Liebe, die er beim letzten Urlaub in Südamerika kennen gelernt hatte, war verschwunden. Damals sprang sie neben ihm auf die Rücksitzbank des Taxis. „Küss mich, oder sie werden mich töten,“ erklärte sie hastig, bevor sie ihre Lippen auf seine presste. Es war ein leidenschaftlicher Kuss. Erst später fand er heraus, dass sie wirklich geflohen war und ihn nur zur Ablenkung benutzen wollte. Doch es funkte zwischen ihnen und Richard nahm Dorothea mit nach Frankfurt. Das lag zwei Jahre zurück. Zwei Jahre voller Glück und jetzt lag ein toter Mann vor der Haustür, der sich selbst erschossen hatte und ein anderer hatte alles gefilmt.
Panik stieg in ihm auf. Alles gefilmt. Wenn seine Kunden dieses Video zu sehen bekamen, dann konnte er gleich ein Geschlossen-Schild an die Tür hängen. Andererseits die meisten seiner Kundschaft waren über 70. Viele wussten nicht mal, was Internet ist. Ansonsten würden sie online die Reisen buchen. Was sollte er nur tun?
Da hörte er einen weiteren markerschütternden Knall. Es war so laut, dass er zusammen zuckte.
Dann folgte Stille.
„Schatz, mach die Tür auf?“ Richards Augen weiteten sich. Das war die Stimme seiner Frau. Sie kam von draußen. Vorsichtig, fast in Zeitlupe wandte er sich wieder der Tür zu. Erst öffnete er sie nur einen Spalt. So viel, dass er durchsehen konnte. Zwei Meter vor der Tür stand Dorothea. In der Hand hielt sie die Schrotflinte, die sie sich von ihm zum Geburtstag gewünscht hatte. Er erkannte das Gewehr, an der „Ich liebe Dich“ Inschrift.
Direkt vor der Tür lag neben dem Selbstmörder der Kameramann auf dem Bauch. Aus den Einschusslöchern im Rücken sprudelte das Blut wie aus kleinen Vulkanen. Völlig von der Situation überwältigt starrte Richard seine Frau an, dabei öffnete er die Tür und trat einen Schritt heraus.
„Was hast du gemacht?“, fragte er geistigabwesend.
„Ich kenne diese Typen. Es ist eine neue Masche, Menschen um ihr Geld zu bringen. Sie nehmen einen armen Penner von der Straße und benutzen ihn als Köder für dieses kranke Geschäft.“
„Aber…Aber er hat sich selbst erschossen. Ich habe es gesehen!“, stotterte Richard ungläubig und wies auf den Toten.
„Der Arme wäre sowie so tot gewesen.“ Sie wandte sich um und zeigte mit der Flinte zur Hofeinfahrt am Gartentor vorbei, wo ein schwarzer Mercedes mit getönten Fenstern parkte.
„Wenn er es nicht gemacht hätte, dann hätten sie es getan. Aber keine Angst, Schatz. Ich habe mich auch darum gekümmert.“
Immer noch starrte Richard seine Frau an. Er war sich nicht sicher, ob er Angst vor ihr haben sollte oder einfach nur Stolz auf sie war. Immerhin hatte sie ihn und sein Geschäft gerettet. Diese Kerle hätten nie aufgehört, von ihm Geld zu verlangen.
Lässig mit der Waffe in der Hand kam Dorothea auf ihn zu. Ihr blondes Haar wehte leicht im Wind. Der dunkle Hosenanzug saß perfekt, obwohl sie den Typen im Wagen aus nächster Nähe ausschalten musste. Einzig, auf der weißen Bluse waren winzige Blutflecken zu sehen. Sie stieg über die beiden Leichen hinweg, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Stattdessen gab sie ihrem Mann einen liebevollen Kuss auf die Wange. Er fühlte die sanften, warmen Lippen auf der Haut. Kaum zu glauben, dass diese Frau gerade drei Männer erledigt hatte.
„Niemand, jagt meinem Schatz einen Schrecken ein und schon garnicht nimmt man uns unser Geld;“ flüsterte sie ihm leise ins Ohr.„Du bist die Beste, mein Liebling!“ Er lächelte sie verliebt an. Dann wurde sie wieder ernst. „Leider müssen wir den Kirchgang verschieben. Diese Typen arbeiten für große Clans. Es werden weitere kommen. Und die spießigen Nachbarn haben bestimmt schon die Polizei gerufen. Wir müssen verschwinden!“
„Mit Dir gehe ich überall hin. Aber meinen Wagen können wir nicht nehmen, den suchen sie als erstes“, stellte Richard fest. Dabei beugte er sich zu dem Toten herunter und nahm ihm das Handy ab. Dorothea überlegte kurz. „Ich wollte schon immer mal Mercedes fahren!“

Es vergingen ein paar Sekunden,nachdem die Tür geschlossen wurde,dann blinzelte der Tote.Stöhnend richtete er sich auf und entfernte das Special-Effects-Pack,das an seinem Hinterkopf befestigt war. Der Sender in der “Waffe” hatte es ausgelöst und die Blutwolke sowie den anschließenden Ausfluß des “Blutes” am Hinterkopf erzeugt.Sein Partner half ihm auf und drängte zur Eile.

“Lass uns verschwinden.”

“Irgendwann hole ich mir noch ‘ne Gehirnerschütterung von meinen Toden.”

“Die Kohle sollte dir das wert sein”,erwiderte der Andere,während sie eilig das Grundstück verließen.

“Welche Kohle?Wer von uns kam überhaupt auf diese Idee?”schimpfte der Selbstmörder.

Jetzt musste sein Begleiter grinsen.Sie wussten beide,dass die Idee von ihm kam.
Aber glaubten sie wirklich,dass auch nur eine Person auf die Forderung an der Haustür eingehen würde?
Sie erreichten ihren Wagen,den sie in einiger Entfernung abgestellt hatten und entfernten sich vom Tatort.

Inzwischen hatten die Bergers die Polizei informiert.
Jedoch nicht,um einen Toten zu melden,sondern um das Video zu zeigen,dass Herr Berger gemacht hatte,nachdem er bei einem Blick aus dem Fenster gesehen hatte,was draußen vor sich ging.
So etwas konnte man sich nicht ausdenken.
Auf was für Ideen diese Verbrecher kamen!
Glaubten sie wirklich,dass auch nur eine Person auf die Forderung an der Haustür eingehen würde?

Tage später.

Eine andere Haustür,ein anderer wohlhabender Bewohner,eine altbekannte Forderung.
“Guten Tag.Bitte geben Sie mir zehntausend Euro,sonst muss ich mich umbringen.”
Erhart Sege-Lohren,der Hausbesitzer,blieb unbeeindruckt.Nach einem kurzen Moment der Überraschung sagte er an den Mann mit dem Handy gewandt “Ich gebe IHNEN zwanzigtausend Euro,wenn Sie es tun.”

Dorothea griff zum Telefon, hob den Hörer an und wählte die Nummer der Notrufzentrale, während Robert spürte wie sein Herz und seine Atmung schneller wurden.
So viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf: Warum musste so etwas ihm passieren? Der Mann hatte ihn als Kapitalist und Mörder bezeichnet… ja in einer kapitalistischen Welt ist er als Geschäftsführer ein Kapitalist, aber ein Mörder… Nein!.. Wo hätte er so schnell zehntausend Euro her nehmen sollen und woher sollte er wissen, dass der Mann es ernst meinte… Wer würde sich selbst das Leben nehmen, wenn er kein Geld bekommen würde.
Nur beiläufig bekam er Gesprächsfetzen des Telefonats mit. Nachdem Dorothea die Adresse durchgab, sagte sie warten sie kurz.und ging auf ihn zu, die Hand auf das Telefon gepresst.
„Schatz, die Polizei möchte wissen, was passiert ist…“ Dann reichte sie ihm das Telefon.
Stockend sagte er: „B bitte kommen sie schnell, vor vor unserer Tür hat sich ein Mann das Leben genommen.“ Aus der Ohrmuschel kam eine Antwort: „Bleiben sie ruhig. Ich schicke Einsatzkräfte zu Ihnen.“
Dorothea starrte ihren Mann an. „War das tatsächlich der Schuss einer Pistole?“
Noch bevor er antworten konnte, klopfte es monoton an der Tür. Vorsichtig schob er das Verdeck des Spions nach oben und spähte hindurch.
„Mörder…Mörder… Du hast ihn Umgebracht, du und dein Geiz!“ Plötzlich fing der junge Mann an zu lachen und grinste schelmisch mit aufgerissenen Augen, sodass Robert es sehen konnte. Als der Klang von Sirenen durch die Straße halte, verstand Robert nur noch einen Satz, doch dieser lies ihm das Blut in den Adern gefrieren.

„Was soll ich?“, rief sie aus dem Schlafzimmer im Obergeschoss zurück.

Berger ging in das Wohnzimmer und schenkte sich einen Cognac ein. Er nahm nicht den guten, sondern vom günstigen und leerte den Schwenker in einem Zug.
„Ruf einfach die Polizei!“ Berger versuchte, so viel Autorität wie möglich in seine Stimme zu legen, damit seine Frau Dorothea keine weiteren Fragen stellte und er das Erlebte nicht in Worte fassen musste. Hastig schenkte sich Berger nach, trotz der frühen Vormittagsstunde.
„Sie sollen sich beeilen!“, rief er noch hinterher und nahm wieder einen kräftigen Schluck Cognac. Er fühlte sich plötzlich wie betäubt, trotz der inneren Unruhe, die sich in ihm wie ein Beben ausbreitete. Das sonst so feurige Beißen des Weinbrands spürte Richard Berger kaum, er war sich selbst fremd geworden. Berger merkte erst jetzt, dass er am ganzen Körper zitterte, und setzte sich in seinen bequemen Fernsehsessel.
Er weigerte sich, das Geschehene zu erinnern, wollte die grauenhaften Bilder vor der Haustür lassen. Richard Berger wollte nicht daran denken, wie schnell sich der bärtige Mann die Pistole in den Mund gesteckt und abdrückt hatte, wie überraschend laut der Knall des Schusses gewesen war, wie dessen Hinterkopf in einer riesigen Fontäne aus Blut und Gehirn explodierte, wie abgebrüht der jüngere Mann alles filmte und ihm sofort die Schuld gab, als ob…
Rasend schnell stieg in Berger Übelkeit auf und er erbrach sich neben dem Sessel.

Der stechende Geschmack von billigem Weinbrand und Erbrochenem im Mund schärfte überraschenderweise seinen Verstand und er fühlte sich nach dem Übergeben plötzlich sehr erleichtert. Klarheit kehrte in seine Gedanken ein, sein Körper beruhigte sich langsam wieder.
Das konnte eben nicht wirklich geschehen sein. Es ergab alles keinen Sinn, dachte Richard Berger. Weshalb hatten die beiden Männer ausgerechnet bei ihnen geklingelt? Weshalb steckte sich jemand eine Pistole in den Mund, um zehntausend Euro zu erpressen, und erschießt sich dann so schnell?
Woher wollten sie wissen, ob er so viel Bargeld im Haus hatte? Seine Frau und er lebten zwar in einem besseren Stadtteil Frankfurts und er war Eigentümer eines bekannten Reisebüros, aber wer ging heutzutage noch das Risiko ein, größere Summen Bargelds zu Hause aufzubewahren. Hätte der bärtige Mann nach Gold gefragt, das wäre in dieser Gegend eine ganz andere, vielleicht sogar die bessere Wahl gewesen.

Langsam erlangte Richard Berger seine kalte Logik wieder zurück, die er als Geschäftsmann über vier Jahrzehnte erworben hatte. Seine Gedanken schienen jetzt zu fliegen. Warum filmte der jüngere Mann die Tat, warum schien ihm der Tod des älteren, bärtigen Mannes egal gewesen zu sein? Hatte er etwa den älteren Mann erpresst und zu dieser Verzweiflungstat gezwungen? Falls ja, womit? Was war so mächtig, dass sich jemand das eigene Leben nahm? Oder war der junge Mann mit dem Smartphone nur ein Komplize und jemand anderes zog im Hintergrund die Fäden? Vielleicht wurde der junge Mann selbst erpresst und ebenfalls zu der Tat gezwungen?
Das schien alles keine kleine Betrugsmasche von Amateuren sein, schlussfolgerte Berger. Wer auch immer die Fäden zog, musste ein Profi sein. Was aber will so jemand mit zehntausend Euro? Für so jemanden gab es doch viel lukrativere Geschäfte, viel schneller mehr Geld zu verdienen, allein im Drogenhandel am Hauptbahnhof. Wer könnte ihn erpressen wollen, fragte sich Richard Berger selbst. Wer wollte ihm schaden? Er hatte sein Geschäft immer ordentlich geführt, schuldete niemanden etwas und niemand schuldete ihm etwas. Seine Verluste an der Börse waren ein kalkuliertes Risiko gewesen. Der Versuch, einfach zu Reichtum zu kommen. Wie aber so viele Abkürzungen führte auch dieser kurze Weg in die Irre. Und wer den Schaden hatte, brauchte für den Spot nicht zu sorgen. Nachdenklich nahm Richard Berger seine Krawatte in die Hand und begann, mit dem breiten Schlipsende zu spielen. Das an der Börse eingesetzte Geld stammte aus seinem Privatvermögen; das Geld war ordentlich versteuert gewesen. Es ergab alles keinen Sinn.

Und womit wollte man ihn eigentlich erpressen? Er hatte keine Straftat begangen, niemanden erschossen. Er hatte sich lediglich nicht erpressen lassen, er hatte Stärke gezeigt und war hier das Opfer, aber kein Täter. Und dafür gab es sogar einen unwiderruflichen Beweis und einen Zeugen. Der junge Mann mit dem Smartphone hatte alles gefilmt. Die Erpressung des bärtigen Mannes, dessen Selbstmord und seine Beschuldigungen.
Richard Berger spürte Zuversicht in sich aufkeimen, war wieder voller Hoffnung und bereit, sich zu wehren. Es gab sogar noch einen zweiten, viel besseren Beweis, dachte er. Die Videokamera am Haustüreingang. Er sprang aus dem Sessel und ging schnellen Schrittes in den Flur, um sein Smartphone von der Kommode zu holen.
Seine Frau Dorothea kam in diesem Augenblick eilig die Treppe zum Flur herunter. „Die Polizei will wissen, was genau passiert ist, Richard.“ Sie konnte die Aufregung in ihrer Stimme kaum unterdrücken und wollte ihm das Haustelefon in die Hand drücken. „Was war das für ein Knall?“, fragte Dorothea aufgebracht.

Das Karussell seiner Gedanken und Gefühle schaffte Berger nicht in Worte fassen. „Das willst Du nicht wissen“, entgegnete er wirsch. „Es ist zu Deinem besten.“
„Doch“, beharrte Dorothea, „sag mir sofort, was los ist!“
Aus dem Telefonhörer war leise eine Frauenstimme zu vernehmen: „Hören Sie bitte, Frau Berger. Was ist bei Ihnen konkret passiert? Ein Streifenwagen ist bereits unterwegs. Ist jemand verletzt? Bleiben Sie ganz ruhig!“
Richard Berger wusste nicht, wie er alles erklären sollte.
„Dann sieh doch selbst!“, rief er seiner Frau gereizt zu und riss die Haustür auf, ohne hinauszusehen.
Dorothea ging langsam zur Tür an ihrem Mann vorbei und schaute hinaus.
„Was soll ich sehen?“, fragte sie nach einem Moment und schaute ihren Mann verwundert an.
Berger sah jetzt selbst hinaus.
Da war nichts. Keine Leiche, kein Blut. Weder auf den Treppen noch auf dem Plattenweg zum Vorgartentor.
Er aktivierte die Sicherheits-App auf seinem Smartphone und spulte die Kameraaufnahmen der letzten Minuten zurück.
Da war nichts. Keine Männer, kein Schuss, keine Leiche.
„Richard“, fragte Dorothea, „was ist hier los?“

In der Ferne waren leise Polizeisirenen zu hören.

(C) Felyx

Dorothea stand in der Tür, die von der Diele in die Küche führt. Sie war kreideweiß und unfähig, sich zu bewegen. „Was… was war das“ fragte sie mit bebender Stimme. Ihr war natürlich vollkommen klar, dass etwas Schreckliches passiert ist. Sie hatte ja mitgehört, nur hatte sie wegen der versperrten Tür nichts sehen können. Zum Glück. „Komm, setz Dich“ sagte Berger und führte sie am Arm in die Küche. Dorothea setzte sich zitternd an den soliden Küchentisch aus Massivholz, während Berger das Mobilteil des Telefons holte, das wie immer ordentlich in der Ladestation in der Diele stand. „Was war das, Richard?“ fragte sie noch einmal. Er zögerte. „Gleich. Ich schaue nach, ob er weg ist. Und Du rufst jetzt die Polizei. Ich bin gleich wieder da.“ „Sei vorsichtig“ flüsterte sie, während sie den Notruf wählte.

Berger ging zögernd zur Tür. Er drückte sich eng an der Wand entlang, wie man es in Krimis im Fernsehen sieht. Falls der zweite Mann durch die Tür schießen sollte, hatte es so eine bessere Chance, sagte er sich. Er lauschte nach draußen. Kein Geräusch war zu hören. Aus der Küche hörte er Dorothea, wie sie mit der Polizei sprach. Sie war völlig aufgelöst. „Ja, ich bleibe dran“ hörte er sie sagen. Er fasste sich ein Herz und spähte durch den Spion. Am Rande seine Blickfeldes konnte er den Toten liegen sehen. Der andere Mann war nicht zu sehen. Er öffnete die Tür vorsichtig einen Spalt. Nichts. Aus einiger Entfernung hörte er Polizeisirenen. Das war einer der Vorteile des Lebens in der Großstadt, sagte er sich. Hilfe war immer nur wenige Minuten entfernt.

Berger schloss die Tür und ging zurück zu Dorothea. Er setze sich ihr gegenüber an den Küchentisch. „Erinnerst Du Dich an meine Auslandsprojekte in Rumänien, damals nachdem Ceaușescu gestürzt war? Ich hatte damals ziemlich Stress mit ein paar der ehemaligen Parteifunktionäre, die wir aus allen Betrieben entfernt haben. Klar, wir haben denen erstmal ihre Welt auf den Kopf gestellt. Die haben uns beschimpft und uns gedroht. Aber wir haben das nicht weiter ernst genommen. Die meisten waren ja froh, dass der Spuk endlich vorüber war. Da draußen waren zwei Männer. Du hast den einen ja gehört. Der andere hat sich erschossen. Ich kannte ihn aus einem Verpackungsmittel-Betrieb in Cluj. Eigentlich wollten wir ihn loswerden, aber wir brauchten ihn als Übersetzer. Nachdem der Betrieb abgewickelt war, habe ich nie wieder etwas von ihm gehört. Bis heute, als er sich vor unserer Haustür umgebracht hat.“
Kurz darauf flackerten Blaulichter durch die Straße vor dem Haus. Berger öffnete die Haustür und setzte sich auf dem Stuhl in der Diele. Eigentlich mochte er es gar nicht, wenn etwas in der Diele herumstand. Aber Dorothea und er hatten beide bereits die sechzig überschritten. Sie erfreuten sich zwar bester Gesundheit, aber hin und wieder war es doch keine schlechte Sache, sich beim Schuhebinden setzen zu können.

Vier Polizisten in Uniform und mit schusssicheren Westen stürmten mit gezogener Waffe auf das Haus zu. Es war deutlich weniger spektakulär, als man es aus Krimis kennt. Keine schwarzen SUV, die mit quietschenden Reifen vor dem Haus stoppen und eine Menge martialisch aussehender, vermummter Krieger ausspucken. Einfach nur Polizisten, die aber einen durchaus entschlossenen Eindruck machten. Einer zielte mit der Pistole auf Berger. Der hob beschwichtigend die Hände. „Er ist weg“ teilte er dem ersten der Polizisten mit. „Ist noch jemand im Haus“ wollte der Polizist wissen. „Ja, meine Frau. In der Küche. Sie hat bei Ihnen angerufen“ . Der Polizist entspannte sich sichtlich und winkte zwei Rettungssanitäter zu sich. Seine Kollegen gingen immer noch mit der Waffe im Anschlag um das Haus herum. Auf der Straße wurden Absperrbänder gezogen, allzu neugierige Autofahrer und Passanten weggeschickt und danach die Straße abgesperrt.

Eine Frau und ein Mann kamen schnellen Schrittes vom Tor auf ihn zu gelaufen. Sie erfüllten jedes Klischee von Tatort-Kommissaren, dachte Berger und musste unwillkürlich grinsen „Kriminalhauptkommissarin Nagelsmann, das ist mein Kollege Kriminalkommissar Dombrowski“ stellte die Beamtin sich vor. Eva Nagelsmann war eine sportliche Mittvierzigerin, brünett mit wachen grau-grünen Augen. Sie trug eng anliegende dunkelblaue Jeans, schwarze Stiefeletten und über einer cremefarbenen Bluse eine offene cognacfarbene Lederjacke. Harald Dombrowski war mindestens zehn Jahre jünger, von normaler Statur. Ein klassischer Durchschnittstyp in einem dunklen Anzug der eher günstigen Preisklasse mit antrhazitfarbenem Hemd und klassischen Schuhen. Seine Waffe zeichnete sich deutlich unter dem Sakko ab.

Ein Rettungssanitäter trat auf die Beamten zu und schüttelte den Kopf. Er ist sichtlich gestresst. „Nichts zu machen, er war sofort tot. Hat sich den Hinterkopf weggeschossen. Offiziell muss natürlich der Notarzt noch den Tod feststellen.“ „OK, danke“ antwortete Dombrowski. „Wir informieren dann mal die Staatsanwaltschaft.“

„Herr Berger, können wir ins Haus gehen?“ fragte Nagelsmann. Ich würde auch gern sehen, wie es ihrer Frau geht. Sollen wir Ihnen sicherheitshalber einen Arzt holen?“ „Nein, es geht schon“ antwortete Berger. „Ich muss Ihnen etwas sagen.“ fuhr er etwas leiser fort. Nagelsmann schaute ihn verwundert an. „Was ist los? Geht es Ihnen wirklich gut?“ „Ich kenne den Mann, also ich kannte ihn, meine ich“ flüsterte Berger. Eva Nagelsmann erstarrte. „Wo ist Ihre Frau“ erkundigte sie sich. „In der Küche, da hinten gleich rechts“ antwortete Berger. „Harald“ wandte sich Nagelsmann an ihren Kollegen. „Du sprichst in der Küche mit Frau Berger und ich gehe mit Herrn Berger ins Wohnzimmer.“

Am Wohnzimmertisch angekommen erläuterte die Beamtin Berger das weitere Vorgehen. Sie bat ihn, zunächst den Vorfall genau zu schildern. Berger versuchte, kein Detail auszulassen. „Und dann hat er sein Handy auf mich gerichtet und gebrüllt, ich hätte den anderen umgebracht. Er hat mich als Ausbeuter und Kapitalist beschimpft.“ In diesem Moment summt Nagelsmanns Telefon. „Einen Moment, ich muss da kurz rangehen“ unterbricht sie das Gespräch. Sie hört aufmerksam zu, greift sich an die Stirn. „Scheisse, das fehlt mir gerade noch! Danke für die Info. Können Sie rausfinden, wer das hcohgeladen hat? Wenigstens eine IP-Adresse oder sowas? … Alles klar“. Sie legt auf. „Sie gehen gerade viral, Herr Berger.“ wandte sie sich wieder ihrem Gesprächspartner zu. „Er hat das Video online gestellt. Meine Kollegen versuchen gerade, das irgendwie einzudämmen. Wird aber eine Weile dauern und so lange verbreitet es sich weiter. Aber zurück zu Ihnen. Sie sagten, sie kennen den Toten?“ „Ja, Sein Name ist Eugen Marinescu. Ich habe ihn 1990 in Cluj-Napoca getroffen, in Rumänien. Ich war damals Unternehmensberater und wir haben nach dem Sturz Ceaușescus alte Betriebe abgewickelt. Er war ein alter Parteifunktionär. Eigentlich hätten wir ihn sofort rausgeworfen. Aber wir brauchten ihn als Übersetzer. Nach Abschluss des Projektes habe ich nie wieder von ihm gehört, bis er heute vor unserer Tür stand.“

Fünf Nullen

Nick Stein

Berger sah sich die Bescherung an. Er gab dem älteren Mann neun Punkte für die Haltungsnote und vier für die Idee. Dem jungen Schreihals schenkte er dagegen keine weitere Beachtung. Der machte was mit seinem Handy, schickte seine Sensationsmeldung wohl gerade an alle sozialen Netzwerke weiter und war bereits ein paar Schritte weiter weg.

»Da hast du dir ja was Schönes eingebrockt. War das wegen dir?« Dorothea war wie immer kritisch-spöttisch. Sie war neben ihn getreten und sah an seinem Anzug herunter auf seine schlecht geputzten Schuhe. Sie schaffte es immer, auf ihn herabzusehen, auch wenn sie einen Kopf kleiner war als er.

»Also gut. Ich rufe die Bullen. Obwohl du ja der Zeuge bist.« Und gleich kam wieder die alte Leier, die er immer hörte, wenn er einen Börsendeal verbockt hatte. »Wir könnten schon lange im Westend wohnen, wenn du mal mehr Erfolg hättest. Dann würde uns so etwas nicht passieren.«

Neben sie hatte sich ihre Afghanenhündin gesellt, die die gleichen langen Blondhaare hatte wie Dorothea und Bergers Mutter. Die Hündin litt an Ataxie, konnte kaum noch laufen und war fast blind. Dorothea sie Ramona genannt. Nach seiner Mutter. Berger hörte Dorothea im Wohnzimmer nach dem Festnetztelefon greifen.

Sie hatte ja recht. So ging das alles nicht weiter.

Berger hatte die Masche des Toten gefallen, so schnell und einfach an viel fremdes Geld zu kommen. Nur die Ausführung war schlecht, sich dann in der Konsequenz tatsächlich selber umzupusten, was brachte das denn? Auch wenn es konsequent und elegant ausgeführt worden war.

Das ging doch noch besser!

»Ramona, komm.« Die Hündin folgte ihm aufs Wort, er leinte sie an, trat hinaus und versuchte, die Hündin von der Blutlache neben der Leiche fortzuzerren.

Der Vorfall hatte etwas in Berger ausgelöst. Ein Gefühl, als ob alle Puzzleteile wie von selbst an ihren Platz fielen. Er griff zu der Pistole neben dem Toten, wischte sie an der Krawatte, die er noch nicht hatte leiden können, sauber und steckte sie ein.

Dorothea war zurück und hatte das gesehen.

»Mensch, Richard, jetzt sind da deine Fingerabdrücke drauf!« Dorothea sah ihn besorgt an. »Die Polizei ist in zehn Minuten da. Die werden dich einbuchten. Warum tust du das?«

Berger zeigte auf die Kamera über die Tür und dann auf die Nachbarn, die jetzt sämtlich hinter ihren billigen Gardinen hersahen. »Wohl kaum. Ich war’s ja nicht. Komm jetzt bitte. Ich habe eine Idee.«

Zehntausend Euro! Damit hätte er sich ein Zehntel eines Bitcoins kaufen können. Die einzige Investition, an die er nach all seinen Pleiten an der Börse noch glaubte.

»Nee, ich gehe hier nicht weg«, beschied ihm seine Frau. »Ich warte hier auf die Polizei. Du musst auch hierbleiben. Wo willst du denn jetzt hin? Mir nichts, dir nichts zur Kirche?«

Berger zog die Hündin, die inzwischen an den Spritzern auf dem Pflaster leckte, weg von der Leiche. »Doch. Wenn ich zurückkomme, ziehen wir hier weg. Ins Westend. Du wirst schon sehen.«

Berger marschierte los, den Hund an der Leine hinter sich her zerrend. »Wir müssen nur zwei Straßen weiter, Ramon. Dann hast du’s geschafft.«

Zehn Minuten später stand er vor Eschbachs Villa, drückte die Klingel und starrte in die Kamera der Überwachungsanlage. Früher einmal hatten Andreas und er als Tierschützer Hunde und Katzen aus Tierheimen befreit und viel Spaß dabei gehabt, doch seitdem der mit seinen Büchern Millionen verdiente, hatte er sich schon lange nicht mehr bei ihm blicken lassen. Immerhin erkannte Eschbach seinen früheren Kumpel noch und öffnete das schwere Stahlgitterltor vor ihm per Fernbedienung. Berger wartete, bis die nachtschwarzen Elemente mit ihren vergoldeten Spitzen komplett zur Seite geglitten waren. Seine Beine schienen schwerer zu werden, als er die weiteren Schritte über den teuren Marmorkies und dann die geschwungene Freitreppe hinaufging. Die war ebenfalls aus bestem Carrara-Marmor und immer frisch geputzt.

Eschbach machte selbst auf. Einen Spalt, mehr nicht. Berger sah kaum mehr als Auge und Nase.

»Richard? Was bringt dich denn zu mir? Es ist doch hoffentlich nichts passiert?«

Berger holte erst tief Luft und dann die Pistole aus der Tasche.

»Hunderttausend Euro. Ich brauche hunderttausend Euro, Andreas.« Er fuchtelte wild mit der Pistole herum und hielt sie Ramona an die blonden Locken. »Sofort und ohne Fragen und Fisimatenten. Sonst erschieße ich den Hund.«

Am nächsten Morgen saß Berger übernächtigt in seinem Reisebüro und starrte auf den Bildschirm des Computers. Sie hatten die Polizei nicht angerufen. Nachdem er die Haustür geschlossen hatte und mit zitternder Stimme seiner Frau von den zwei Besuchern und der Leiche in ihrem Vorgarten berichtet hatte, wandte sie sich ihm zu, sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren und murmelte. „Das ist doch absurd!“ Er starrte auf den Boden und sah die beiden Männer vor sich.

„Hast du den Schuss nicht gehört?“

„Nein, da war kein Schuss.“

„Aber der Mann ist tot. Erschossen.“

„Das ist absurd“, hatte seine Frau wiederholt, war zur Haustür gegangen und hatte sie mit weitem Schwung geöffnet.

„Hier ist kein Toter.“

Berger war aufgesprungen und vor die Haustür gerannt. Auf den Steinfliesen lag allerdings ein großer dunkler Fleck.

„Aber das Handy, er hat doch alles aufgenommen …“

„Ich mache uns jetzt einen Kaffee, für den Gottesdienst ist es ohnehin zu spät.“

Energisch hatte seine Frau die Haustür wieder geschlossen und es abgelehnt über diesen Vorgang noch ein Wort zu verlieren.

Und jetzt saß er in seinem Büro: Er hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, immer wieder den Schuss gehört und die feine rötlich-graue Wolke, die aus dem Hinterkopf des Mannes getreten war, nicht aus dem Kopf bekommen.

Ein paar Minuten später öffnete sich die Tür zu seinem Reisebüro. Bergers Herz setzte einige Schläge aus. Eisige Kälte durchdrang seinen Körper und er riss seinen Mund weit auf, ohne einen Ton herauszubringen.

Vor ihm standen die beiden Männer, von denen einer sich gestern vor seinen Augen erschossen hatte. Der Jüngere richtete sein Handy auf ihn, während der Ältere ihn traurig anblickte.

„Guten Tag, bitte geben Sie mir 15.000 Euro, sonst muss ich mich umbringen.“

„Was?“, Berger krächzte und ihm fiel auf, dass sich die gleiche Szene gestern abgespielt hatte. Nur, dass der bärtige alte Mann jetzt 5.000 Euro mehr als gestern forderte.

Der jüngere Mann trat zwei Schritte auf Berger zu, drehte sein Smartphone um und ließ einen Film ablaufen.

Berger starrte auf den kleinen Bildschirm und rang nach Luft: In dem Video sah er, einen älteren Herrn mit grauem Bart, der »Guten Tag“ sagte. Dann sah er sich mit »Was?«, antworten und in die Kamera blicken: »Filmen Sie das?«, fragte er. »Wozu? Was soll das alles?« Richard Berger schüttelte in dem Video den Kopf.
»Sie sind ja verrückt. Wie stellen Sie sich das vor?«
Berger hörte in dem Film sein unwilliges Schnauben und den Satz: »Machen Sie, was Sie wollen, aber machen Sie es bitte draußen auf der Straße, okay?«
Danach fiel in dem Video ein Schuss und man sah, wie eine Art rötlich-graue Wolke aus dem Hinterkopf des Mannes sprühte, dann stürzte dieser leblos nach hinten und hinab auf den Plattenweg, der vom Vorgartentor bis zu den Treppen vor der Haustüre führte. Blut breitete sich auf den Platten aus.
In der letzten Einstellung sah Berger sein Gesicht und hörte eine Stimme, die schrie: »Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!«

„Das ist, … das ist …“ Berger bekam noch immer keine Luft und stotterte.

„Das ist die Aufnahme eines Mordes“, erklärte der ältere Mann mit ruhiger Stimme.

„Aber sie leben doch!“ Berger schrie es hinaus und spuckte dabei kleine Speicheltropfen aus.

„In dem Film bin ich tot und die Polizei wird eine Menge Fragen haben, wenn sie das Video sieht.“

„Was soll das alles?“
Auf Bergers Stirn bildeten sich kleine Schweißtropfen. Er griff nach seiner Brust und rang nach Atem.

Der jüngere Mann hielt erneut sein Smartphone auf Berger.

„Warum haben Sie meinen Freund umgebracht? Er hat Ihnen nichts getan.“
„Sie sind völlig verrückt, ich habe niemanden umgebracht.“

Der Ältere griff in seine Jacke, holte eine Pistole aus der Jackentasche und legte sie auf Bergers Schreibtisch direkt neben den Computerbildschirm.

„Und wie kommt es dann, dass Sie die Pistole haben, mit der mein Freund erschossen wurde?“ Der jüngere Mann hielt mit dem Smartphone auf die Waffe und danach auf das verdutzte Gesicht Bergers.

Als ob ihn eine fremde Macht zwingen würde, griff Berger nach der Pistole und starrte sie an, als sei sie eine giftige Schlange.

Der Mann mit dem Bart sah auf die Pistole, auf Berger und das Smartphone des anderen Mannes und nickte leicht, worauf sein Partner das Smartphone Senktee.

„Sehr gut, jetzt sind Ihre Fingerabdrücke auf der Pistole. Er griff nach ihr und steckte sie ein.

„Es ist wohl an der Zeit, mit uns zu kooperieren.“

„Warum soll ich das?“
„Vor der Tür hat sich jemand erschossen.“
„Erschossen?“, fragte Dorothea ungläubig.
„Ja, erschossen.“
„Lautlos? Da hätte ich doch etwas hören müssen“, antwortete sie misstrauisch. „Lass mich mal sehen.“ Zielstrebig und entschlossen ging sie zur Tür.
„Du kannst jetzt nicht die Tür aufmachen.“
„Kann ich doch.“
„Kannst du nicht.“
„Ich will mich vergewissern, ob du noch alle Tassen im Schrank hast.“

Dorothea drängte sich an ihm vorbei, riss die Haustür auf und schaute um sich.
„Wo? Ich kann hier niemanden sehen.“

Richard trat einen Schritt nach vorn und schaute ungläubig. Er konnte es nicht fassen.
„Tatsächlich, niemand mehr da.“ Es klang fast etwas enttäuscht.
„Hast du etwas getrunken?“, fragte Dorothea sichtlich besorgt.
„Das ist wohl jetzt nicht dein Ernst, mich so etwas zu fragen. Es war real! Er hat sich vor meinen Augen eine Waffe in den Mund gesteckt und abgedrückt.“
„Ich glaube, ich rufe besser den Notarzt an. Vielleicht stimmt etwas mit deinem Kopf nicht, damit soll man nicht spaßen.“
„Mir geht es gut“, sagte Richard bestimmt.
„Wenn du nichts getrunken hast, dann hast du halluziniert, oder einen Tagtraum, das muss auch seine Ursachen haben.“
„Du hast doch auch die Glocke gehört.“ Dorothea schaute nachdenklich.
„Hab ich, ja.“
„Und wer hat geklingelt? Eine Halluzination?“ Dorothea schaute erschrocken.

„Die Polizei anrufen, hat sich hiermit erledigt. Den Notarzt, da landest du bestimmt nicht im Krankenhaus, sondern ganz woanders und das kann dann dauern und wenn ich noch bestätige, dass ich die Klingel gehört habe, dann nehmen sie mich auch gleich mit.“ sagt Dorothea niedergeschlagen.

„Und?.. Was machen wir jetzt?“, fragt Richard enttäuscht.

„Nichts, wir gehen jetzt in die Kirche und sprechen ein paar Gebete und vertrauen auf Gott.“

Dass dies eine unendliche Geschichte werden könnte, daran dachte zu diesem Zeitpunkt noch keiner.

„Warum hast du ihm das Geld nicht gegeben?“ Dorotheas Hand suchte Halt an der Lehne des antiken Ohrensessels. Doch er schien sie gar nicht zu hören. Seine braunen Augen starrten durch sie hindurch. Warum hatte er nicht direkt die Tür geschlossen? Oder diesen Herumtreiber mit etwas anderem abgewimmelt?
„Die Schachfiguren … die hätte er auch genommen“, stieß sie hervor. Nur mit Mühe hielt sie ihre Stimme unter Kontrolle. „Warum hast du sie ihm nicht gegeben?“
Richard drehte sich mit einem kurzen Ruck zur Schachpartie neben dem Ohrensessel und fixierte die goldenen Figuren auf dem glänzenden Marmor.
Was war bloß los mit ihm? Sie kannte diesen Mann nicht, der tatenlos da stand und in einem fort den Kopf schüttelte. Er schien den Verstand verloren zu haben.
„Richard! Reiß dich zusammen! Wir müssen Kessler anrufen!“
Er sah sie mit angstverzerrtem Gesicht an, unfähig zu handeln. Dorothea wandte den Blick ab. Es kostete sie einige Überwindung, bevor sie sich von ihrem Platz losmachte und auf ihn zutrat. Gefasst überspielte sie ihren Anflug von Abneigung und fasste ihn an den Schultern. Am liebsten hätte sie ihn wachgerüttelt. Stattdessen neigte sie sich zu ihm und flüsterte lautlos: „Du wirst immer besser Leon, aber die Story ist Mist. Was machst du heute Abend?“ Sie warf ihm einen verschmitzten Blick zu.
Er riss sich von ihr los. „Und – cut“, rief jemand hinter ihrem Rücken.
Mit professionellem Lächeln sah Leon auf sie hinab.
„Fliegen“, raunte er ihr zu.
„Alleine?“
„Das war’s für heute. Danke Leon. Connie, kannst du noch ein paar Minuten bleiben und die Voice-overs einsprechen?“
Connie seufzte und sah Leon nach, wie er vom Set verschwand. Sie gähnte demonstrativ und folgte dem Aufnahmeleiter in den angrenzenden Raum. Eine Stunde später pflanzte sie sich auf den Schminkstuhl, wo Ivy ihr half die Perücke abzunehmen.
„Dieses ganze Schach-Thema ist so abgenudelt wie sonst was. Mastermind inszeniert genialen Mordplan. Ich langweile mich zu Tode. Wäre Leon nicht dabei, hätte ich nie zugesagt. Jetzt sitze ich die nächsten Monate in dieser stupiden Hausfrauen-Rolle fest, und das nur wegen seiner Clooney-Augen. Vielleicht sollte ich den Schreiberlingen mal einen Wink geben, dass die Ehefrau ermordet wird.“
Ivy schenkte ihr ein skeptisches Lächeln und legte ein warmes feuchtes Tuch auf ihr Gesicht.
„Kessler sitzt jeden Donnerstag in der Zappbar. Kannst ihm ja mal den Vorschlag machen.“
„Wer ist das?“, fragte sie durch den Stoff.
„Der neue Autor der laufenden Staffel.“
Connie blies amüsiert Luft durch die Nase. „Kessler. Sehr originell!“
„Scheint ein schweigsamer Typ zu sein.“
Connie atmete tief durch den wohligen Geruch des Tuches, der sie schläfrig machte.
„Dann ist er bestimmt ein guter Zuhörer. Und für einen kleinen Ehefrauen-Mord sicherlich zu haben.“
Einen Moment ließ sie sich in eine tiefe Entspannung sinken.
„Connie? Ich bin jetzt weg. Vergiss dein Script für morgen nicht.“ Ivy klopfte auf den Tisch.

Die Uhr auf dem Display des Taxis zeigte 23.11 Uhr an, als sie sich auf die Rückbank des Taxis schob. Der Taxifahrer drehte sich zu ihr um.
„Zappbar?“
„Wie bitte?“
„Sie wollen doch zur Zappbar.“
„Habe ich das gesagt?“
Er nickte unbestimmt, kicherte in sich hinein und drehte sich wieder nach vorne.
Connie tat es leid, dass sie nicht die U-Bahn genommen hatte.
„Spielen Sie Schach?“
Was sollte diese Frage nun wieder. „Warum?“
Der Taxifahrer schnaufte amüsiert, fuhr los und ließ sie in Ruhe bis sie da waren.

Die Straßenbeleuchtung reichte gerade aus, um den trüben Glanz der Pfützen hervorzuheben, denen Connie mit ein paar Schritten auswich. Wo war sie eigentlich? Die Häuser schienen seit einiger Zeit unbewohnt. Klingelschilder gab es auch nicht. Anstatt im Script zu lesen, hätte sie besser aufpassen sollen, wohin der Taxifahrer sie gebracht hatte. Es fing an zu regnen, und ihr Handy war leer. Ein paar Meter weiter warf das flackernde Schild einer Neonröhre sein kühles Licht auf den Asphalt. Connie eilte zu der Stelle und stand vor dem Eingang der Zappbar. Durch die blinden Fenster war nichts zu erkennen, aber sie hörte leises Stimmengemurmel. Wenn Sie diesen Kessler überzeugen konnte, war sie vielleicht nächste Woche schon von dieser Serie erlöst. Sie trat ein.

Dorothea hielt sich zitternd eine Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihren Mann an, dann wanderte ihr Blick hektisch zur Tür, hinter der soeben etwas Unfassbares geschehen war.

„Richard, was ist da gerade passiert? War das ein Schuss?!“

Richard, der sich dazu zwang, seinen Schock nicht allzu sehr nach außen zu tragen, schluckte schwer und wiederholte: „Stell keine Fragen, ruf einfach die Polizei. Bitte. Und einen Krankenwagen.“

Er sah, wie seine sonst so besonnene Frau mit sich und ihren vielen Fragen rang. Ihr Mund bewegte sich urplötzlich und er ahnte, dass sie leise Gebete vor sich hinmurmelte, um sich zu beruhigen, wie sie es manchmal tat. Doch nach einem Moment der Stille nickte sie und holte ihr Telefon aus der Tasche im Flur. Richard fuhr sich mit den Händen durch das Haar und versuchte zu verarbeiten, was sich vor wenigen Sekunden vor seinen Augen abgespielt hatte.

Was hatte das alles nur zu bedeuten? Wer waren die beiden Männer gewesen? Warum hatte der jüngere von beiden das alles gefilmt? Und hätte er diesen Zwischenfall wirklich verhindern können, wenn er der Forderung des Mannes nachgekommen wäre?

„Sie kommen, so schnell sie können“, hörte er die leise Stimme seiner Frau. Er drehte sich zu ihr um und streckte seine Hand an.

„Komm her“, meinte er und drückte sie eng an sich, als sie die wenigen Meter zwischen ihnen überwunden hatte.

„Wirst du mir erzählen, was passiert ist?“ Ihre Stimme zitterte und er rieb ihr langsam über den Arm. Gern hätte er ihr gesagt, dass es nur ein Missverständnis gewesen war, doch sie hasste es, wenn er nicht ehrlich mit ihr war, deshalb fing er gar nicht erst damit an. Aber er wusste auch, dass sie der Polizei gleich nicht ruhig entgegentreten könnte, wenn er ihr nun alles schilderte. Daher versicherte er ihr nur, alles zu erklären, sobald die Beamten eingetroffen waren.

Es dauerte ungefähr zehn Minuten, bis er die Sirenen in der Weite heulen hören konnte. Dorothea saß in der Küche und hatte ihre Hände fest um eine Tasse Tee geschlossen. Noch immer murmelte sie leise Gebete vor sich hin. Er dagegen war erneut zur Haustür gegangen und hatte eine große Decke über den Körper auf seiner Türschwelle gelegt. Einige Nachbarn hatten mittlerweile mitbekommen, dass etwas nicht stimmte. Schreie hallten durch die sonst so ruhige Nachbarschaft und lautes Getuschel vermischte sich zu einer lauten Kakophonie an Geräuschen.

„Ist das ein Körper?“

„Habt ihr den Schuss gehört? Es war doch ein Schuss, oder?!“

„Oh Gott, und das in unserer Nachbarschaft.“

Die lauten Stimmen machten es Richard noch schwerer, sich äußerlich nichts anmerken zu lassen, denn mittlerweile hatte sich eine stattliche Menschenmenge vor seiner Gartentür gebildet, und er betete händeringend, dass die Polizei bald auftauchen würde. Er vermied es tunlichst, auf das Blut zu starren, welches den Gehweg vor seiner Tür und die Decke über dem Körper nach und nach rot färbte.

Als die Beamten sich endlich einen Weg zu ihm durchgeschlagen hatten, führte er sie direkt zu dem Mann am Boden. Einer der drei Polizisten, groß gewachsen und etwa Mitte Vierzig, kniete sich hin und hob die Decke ein Stück an. Mit ernstem Gesichtsausdruck erhob er sich wieder und nickte dem älteren Kollegen zu seiner Rechten zu. Dieser begann sofort damit, den Tatort abzusperren und die gaffende Masse zu verscheuchen. Die junge Frau zu seiner Linken wandte sich an Richard selbst. Ihre blonden Haare waren zu einem strengen Knoten gebunden und sie musterte ihn einen Moment mit ihren grünen Augen, die im Vergleich zu ihrem professionellen Äußeren sehr sanft waren.

„Guten Tag, Herr Berger, mein Name ist Carolina Enders. Dürfte ich Sie einmal nach drinnen begleiten? Ich würde mir gerne Ihre Sicht der Ereignisse anhören.“

„Natürlich, kommen Sie bitte. Meine Frau wartet in der Küche auf uns.“ Sie ließen die beiden Männer zurück und betraten Richards Haus. Sobald Frau Enders das blasse Gesicht seiner Frau sah, ließ sie ihre professionelle Maske fallen und ließ sich auf dem Stuhl neben Dorothea nieder.

„Doro, das ist Frau Enders, sie würde uns gerne ein paar Fragen stellen.“ Seine Frau blickte auf. Offensichtlich war sie so in Gedanken gewesen, dass sie die Polizistin erst in diesem Moment bemerkte. Da sie offensichtlich nicht in der Verfassung war, Fragen zu beantworten, setzte sich Richard ebenfalls an den Tisch und wandte sich an die Beamtin.

„Meine Frau hat den Vorfall nicht beobachtet, aber ich beantworte gerne Ihre Fragen.“ Frau Enders nickte und begann die Befragung. Mit jeder Frage flackerten Bilder des Geschehens vor Richards Augen auf, und er musste sich erneut zur Ruhe zwingen.

„Und Sie sagen, der zweite Mann hat alles gefilmt?“ Er nickte und blickte zum Küchenfenster. Mittlerweile hatte sich die Menge etwas zerstreut, doch er wusste, dass die Gerüchte sich rasend schnell verbreiten würden.

„Es geschah alles so schnell. Würden Sie einem wildfremden Mann, der plötzlich an Ihrer Tür klingelt, eine derart große Menge Geld überlassen, bloß weil er es fordert?“ Die Polizistin, deren Gesichtsausdruck von Minute zu Minute finsterer wurde, schrieb akribisch mit.

„Falls Sie denken, dass Sie in Schwierigkeiten stecken, kann ich Sie beruhigen. Sie waren ein Zufallsopfer eines ziemlich makabren Vorhabens. Die Art und Weise, wie Betrüger an das Geld ihrer Mitmenschen kommen wollen, wird immer drastischer.“

„Und was passiert nun? Der zweite Mann ist auf der Flucht und niemand kann sagen, was er mit den Videoaufnahmen vorhat.“ Die grünen Augen der jungen Frau waren lange Zeit nur auf ihre Notizen konzentriert, bevor sie diese schließlich wieder zu Richard und seiner Frau lenkte, deren Hand er die ganze Zeit über gehalten hatte.

„Überlassen Sie die Details uns, Herr Berger. Dank Ihrer Beschreibung werden wir den Mann sicherlich schnell ausfindig machen. Weit kann er noch nicht gekommen sein.“ Er blickte erneut zum Fenster, vor dem man mittlerweile den Rettungswagen stehen sehen konnte. Zwei Sanitäter waren gerade dabei, den verstorbenen Mann in diesen zu bugsieren. Da sein Körper in einem Leichensack steckte, blieben keine Zweifel mehr daran, dass der Mann wirklich tot war – seinetwegen?

Die Vordertür ging auf und die beiden anderen Polizisten traten ein. Der ältere von beiden, welcher vorhin die Leiche begutachtet hatte, stellte Richard ebenfalls einige Fragen. Erst, als sie ausreichend Informationen gesammelt hatten und sie auch seine Frau zu einer Aussage gedrängt hatten, verabschiedeten sie sich und verließen ihr Haus.

Die anschließende Stille waren ohrenbetäubend. Als Richard sich zur Tür wagte und einen Blick hinauswarf, zeugten nur noch die roten Flecken von dem Vorfall. Er konnte sehen, dass man den Großteil bereits zu entfernen versucht hatte, doch die hartnäckige Flüssigkeit hatte sich in den Fugen der Steinplatten festgesetzt und er rieb sich erneut das Gesicht. Mit normalem Wasser würde er diese wohl nicht entfernen können.

Doch er hatte keine Zeit, sich weiter mit diesem Problem zu beschäftigen, denn der Klang des Haustelefons durchbrach die Stille und ließ ihn ins Wohnzimmer hasten.

„Berger?“, fragte er atemlos.

„Papa, endlich gehst du ran! Ich versuche schon seit einer halben Stunde, euch zu erreichen, aber keiner ist rangegangen.“ Richard schloss die Augen, als er die aufgekratzte Stimme seiner Tochter Nele am anderen Ende hörte. Wahrscheinlich meinte sie ihre Handys, denn soweit er wusste, klingelte das Haustelefon zum ersten Mal.

„Nele, wie schön, dass du anrufst. Wie geht es Martin und den Kindern?“ Er gab sich Mühe, das Zittern aus seiner Stimme zu verdrängen, doch seine Tochter wollte davon nichts hören.

„Papa, ich weiß zu schätzen, dass du meine Nerven zu beruhigen versuchst, aber ich rufe nicht für Small Talk an.“ Da ihre Stimme sich mehrmals überschlug, konnte er sich schon denken, dass etwas nicht stimmte.

„Was ist los, Schatz?“ Sie lachte auf.

„Das fragst du mich? Papa, warum ist da ein Video von dir online zu sehen, wo sich ein Mann direkt vor deiner Tür in den Kopf schießt?“

Richard spürte, wie ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. Er schluckte mehrmals, bis er sich halbwegs gefasst hatte.

„Was meinst du damit? Es ist schon online zu finden?“ Sie bejahte.

„Es ist überall! Ich musste Zara das Handy wegnehmen, als sie es mir aufgeregt hinhielt. Es muss so frisch sein, dass es noch nicht mal zensiert ist. Man sieht alles! Tamara weint noch immer bitterlich, sie ist massiv verstört.“ Mist, manchmal verfluchte er die moderne Technik. Er hatte nie gewollt, dass seine beiden Enkeltöchter in all das hineingezogen wurden. Er war dagegen gewesen, dass sie in ihrem jungen Alter schon Smartphones bekamen, schließlich war Zara erst elf und Tamara gerade mal acht.

„Papa, was ist passiert? Geht es euch gut?“ Er seufzte tief.

„Den Umständen entsprechend. Deine Mutter steht unter Schock, zum Glück hat sie es nicht direkt gesehen.“ Er erklärte ihr, was vorgefallen war.

„Aber das ist doch verrückt oder nicht? Niemand, der über gesunden Menschenverstand verfügt, würde auf dieses Angebot eingehen. Und wer hätte so viel Geld in seinem Haus herumliegen. Ist es wirklich meine Schuld, dass er tot ist? Wieso macht jemand so etwas? Wir wollten lediglich in die Kirche gehen.“ Mittlerweile machte sich ein immer größeres schlechtes Gewissen in seinem Inneren breit und bereitete ihm Schmerzen.

„Es hätte jeden treffen können, Papa. Du bist kein schlechter Mensch, das weiß ich. Und ich weiß leider nicht, was diese Männer sich gedacht haben. Aber das ist kein Spaß mehr.“ Er liebte seine Tochter, aber er kannte sie besser als jeden anderen, und er konnte genau hören, dass sie noch etwas anderes bedrückte.

„Was verschweigst du mir?“ Sie schluchzte leise auf. Er wartete geduldig, bis sie ihre Fassung zurückerlangt hatte, bevor er sie erneut sanft darum bat, es ihm zu verraten.

„Das ist ja das Ding, Papa. Ich weiß, dass du ein guter Mensch bist. Dass du für Adrian und mich immer alle Hebel in Bewegung gesetzt hast, um uns das bestmögliche Leben zu ermöglichen… Aber die Menschen dort draußen wissen es nicht. Das Internet kann ein schrecklicher Ort sein. Ich habe nur einige Kommentare gelesen, bevor es mir zu viel wurde, aber… Es ist übel, Papa. Obwohl du ganz offensichtlich das Opfer in diesem Fall bist, stellen sich die Menschen auf die Seite des anderen Mannes.“

Für einen Moment fehlten ihm die Worte. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass ihre Worte wahr waren. Und doch wusste er nicht, was er dazu sagen sollte.

„Ich dachte nur, dass du das wissen solltest. Aber keine Sorge, Martin und ich und auch mein Bruder stehen hinter dir. Bitte melde dich, sobald ihr mehr wisst, in Ordnung?“ Er stimmte zu und legte auf. Für einen langen Moment starrte er das Telefon in seiner Hand an. Und obwohl er so etwas normalerweise nicht tat, lief er mit großen Schritten zu seinem Handy, entsperrte es und suchte nach besagtem Video.

Es dauerte auch nicht lange, bis er es fand. Auf unzähligen Seiten war es bereits zu finden – manche zeigten den Vorfall noch immer unzensiert. Als er den Schock auf seinem eigenen Gesicht sah, wurde ihm übel. Der erneute Knall der Pistole, ließ ihn zusammenzucken. Schweiß bildete sich in seinen Handflächen, während er zu den Kommentaren scrollte.

Widerlich sowas. Er hätte ihn retten können und schickt ihn kaltherzig davon. Hier sehen wir wieder, warum ich Menschen hasse !

Habt ihr gesehen, wie egal es ihm, dass der Mann ihn mit zittriger Stimme um Hilfe bittet? Abschaum der Gesellschaft. Kaum hat jemand Geld, ist ihm jeder andere scheißegal.

Kann bitte jemand eine Waffe holen und sie diesem Arschloch an den Kopf halten? Dann sehen wir ja, wie gelassen er dann noch bleibt!

Geh sterben, du ekelhaftes Stück Scheiße!

Er schaltete das Telefon aus. Das war zu viel. Warum war er nun der Böse? Er hatte nichts falsch gemacht. Wahrscheinlich hätte jeder von ihnen ähnlich reagiert. Aber er wusste auch, dass sich im Internet jeder groß aufregen konnte, sobald sie einen Fehler witterten. Dorothea durfte das auf keinen Fall sehen, das würde ihr nur das Herz brechen. Die größte Frage von allen war jedoch: Warum das Ganze? Warum hatten die beiden Männer das getan? Für die Aufmerksamkeit? Waren sie wirklich Betrüger gewesen, die es auf sein Geld abgesehen hatten? Oder steckte da etwas ganz anderes dahinter? Richard wusste nur, dass er darauf hoffen musste, dass die Polizei den jungen Mann schnell fand und ihn zur Rechenschaft zog. Sicherlich wäre der Spuk dann bald vorbei und alles würde sich beruhigen.

Gerade mal zwei Tage später, er kam gerade von der Arbeit, brachten ihn die Nachrichten im Auto dazu, eine plötzliche Vollbremsung auf der Autobahn hinzulegen, die ungemütliches Gehupe hinter ihm zur Folge hatte. Er stellte sich auf den Standstreifen und lauschte den Worten der Nachrichtensprecherin, obwohl in seinen Ohren ein lautes Rauschen zu hören war, und es ihm daher schwerfiel, sich auf irgendetwas von dem Gesagten zu konzentrieren.

„Nachdem es vor einigen Tagen bereits einen ähnlichen Vorfall in Frankfurt gegeben hatte, erreichte uns soeben die Nachricht, dass sich ein junger Mann im Süden Frankfurts vor den Augen eines Passanten in den Kopf schoss, nachdem dieser ihn vehement nach einer höheren Geldsumme bat. Wie es dazu kam, und wie genau es mit dem Vorfall vor einigen Tagen zusammenhängt, können wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Sicher ist nur, dass die Polizei um jegliche Hinweise bezüglich einer jungen Frau bittet, die die ganze Tat gefilmt hat. Sie wird als Anfang Dreißig, etwa 1,70 Meter und mit dunklen Haaren beschrieben. Augenzeugen werden darum gebeten, sich umgehend bei der Polizei zu melden…“

All das hätte Zufall sein können, doch als er parallel online Bilder des neuesten Vorfalls suchte, merkte er schnell, dass es sich bei dem jungen Mann, der sich erschossen hatte, um den gleichen handelte, der vor zwei Tagen an seiner Tür gestanden hatte. Zwar waren die Aufnahmen teilweise sehr wackelig, doch es gab keinen Zweifel. Was war hier nur los?

Richard stellte das Radio ab, blieb einige Minuten stehen und fuhr dann nach Hause. Doch dort erwartete ihn der wahre Schrecken. Er fand Doro im Schlafzimmer vor. Sie hielt einen merkwürdigen Brief in den Händen und zitterte so stark, dass er zu Boden fiel.

„Schatz, was ist los?“ Sie sah zu ihm auf, deutete jedoch nur auf den Brief hinab.

„Dieser Brief lag vor der Tür. Ich wollte ihn lesen, aber hinten steht drauf, dass nur du es lesen sollst, weil sonst etwas Schlimmes passieren würde.“

Er bückte sich nach dem Umschlag, an dem merkwürdige Flecken prangten. Ein ungutes Gefühl bildete sich in seinem Inneren. Mit zittrigen Fingern holte er das Papier heraus, welches mit roter Tinte beschrieben war.

Wenn Sie dachten, Sie seien sicher, dann muss ich Sie enttäuschen. Sie stecken bereits mittendrin. Haben Sie ein schlechtes Gewissen? Gut, das sollten Sie auch. Denn Sie werden auch mein Blut an den Händen kleben haben. Ihretwegen bin ich das nächste Opfer. Sollten Sie diesen Brief lesen, bin ich vermutlich bereits tot. Und wenn Sie den Anweisungen, die Sie in den kommenden Tagen erreichen werden, nicht Folge leisten, werden Sie der Nächste sein. Stellen Sie keine Fragen, sprechen Sie mit niemandem darüber und gehen Sie ja nicht zur Polizei, sonst wird man sich um Ihre Frau und Ihre Kinder kümmern. Seien Sie versichert, sie wissen, wo Ihre restliche Familie lebt. Das tun sie immer. Genießen Sie die Ruhe, solange Sie anhält. Denn schon bald wird ihr größer Albtraum Wahrheit werden.

Langsam flatterte das Papier zu Boden. Er hatte sich geirrt. Sehr. Dies war erst der Anfang.

Sie spielten ihr aktuelles Lieblingslied, aber die Musik war wirklich viel zu laut. Simone versuchte, sich durch die feiernden Menschen zum DJ vorzukämpfen, um ihm deutlich ihre Meinung zu sagen. Ausgelassene Stimmung hin oder her – es ergab doch einfach keinen Sinn, den Leuten ihre Trommelfelle wegzubraten. Sicher war er stolz auf seinen fetten Verstärker, dachte sie, aber irgendwas schien auch mit dem Bass-Booster nicht in Ordnung zu sein. Das rhythmische Brummen unter der Musik wollte jedenfalls so gar nicht zur Melodie passen, und der Typ an seinem Mischpult bemerkte es offenbar nicht mal. Interessanterweise schien die Lautstärke die anderen Leute gar nicht zu stören, die sich dicht auf der Tanzfläche drängten. Auch dass das gleiche Lied schon zum dritten Mal in Folge lief, machte offensichtlich niemandem etwas aus.
»Hey, Simone«, hörte sie eine Stimme hinter sich und spürte gleichzeitig eine Hand an ihrer Hüfte, und nochmal, »hey!«.
Sie drehte sich um, sah aber niemanden, der sie angesprochen haben könnte. Wieder die Hand, jetzt an ihrer Schulter. »Simone, Dein Telefon!«
Die Szenerie um sie herum verblasste, und wie durch einen Nebelschleier nahm sie zunehmend ihre wirkliche Umgebung wahr. Sie lag in Bernds Bett, und auf dem Nachttisch direkt neben ihrem Kopf lärmte und vibrierte ihr Handy. In dem Moment, als sie danach griff, hörte der Krach auf. 3 Anrufe in Abwesenheit las sie gerade noch auf dem Display, bevor es erneut zu klingeln begann.
Diesmal ging sie ran. »Katzbach, hallo?«
»Simone, hier ist Robin«, hörte sie die vertraute Stimme ihres Kollegen, »hab’ ich Dich geweckt?«
»Kein Problem«, antwortete sie schlaftrunken, »was gibt’s denn?«
»Die Kollegen haben einen Toten in Seckbach, Kopfschuss. Die Spusi ist bereits unterwegs, und ich sitze auch schon im Auto. Soll ich Dich abholen oder kommst Du direkt?«
Simone nahm das Telefon kurz vom Ohr und schaute auf die Uhr im Display. Gleich halb elf. »Wäre super, wenn Du mich einsammeln könntest – ich bin aber nicht zu Hause, sondern bei Bernd.« Sie nannte ihm die Adresse und legte auf. Noch immer nicht richtig wach schlich sie ins Bad, um sich kurz ein wenig frisch zu machen.
Zehn Minuten später saß sie bei Robin im Auto. Er hatte zwei Becher heißen Kaffee mitgebracht, die in den Becherhaltern zwischen den Sitzen vor sich hin dampften.
»Ich war schon mal kurz wach heute früh, aber offenbar bin ich nochmal richtig fest eingepennt. Okay, also was wissen wir?«, fragte sie und ließ mit einem Klacken das Gurtschloss zuschnappen.
»Männlich, um die Fünfzig. Hat bei irgendwelchen Leuten an der Tür geklingelt und Geld gefordert. Angeblich schoss er sich dann selbst in den Mund, nachdem man ihn abgewiesen hat. Die Bewohner sollen ziemlich neben der Spur sein. Sie sagen, sie kennen ihn überhaupt nicht.« Robin nippte an seinem Kaffee, während er den Peugeot durch die langsam erwachende Stadt lenkte.
»Nochmal – er hat Geld gefordert, und als er keins bekommen hat, hat er sich umgebracht?«
»Das ist das, was mir die Kollegin von der Streife am Telefon sagte.«
»Hmm. Klingt reichlich skurril, findest Du nic… - Vorsicht!«
Robin spürte am heftigen Pumpen des Bremspedals, wie das ABS die Reifen vom Blockieren abhielt, gleichzeitig zog er das Lenkrad nach links, während seine rechte Hand den Becher in die Halterung plumpsen ließ, um im nächsten Moment auf die Hupe zu drücken. Um Haaresbreite konnte er einem jungen Mann ausweichen, der völlig achtlos über die Straße gelatscht war, während er auf sein Handy starrte. Als der Wagen stand, war der Mann schon im Park verschwunden und die dunkle Kleidung hob sich nicht genug von der Umgebung ab, um irgendwelche Details erkennen zu können.
»Was für ein Vollpfosten,« schimpfte Robin, während er wieder anfuhr.
Zwei Minuten später waren sie da und bahnten sich zwischen diversen Einsatzkräften von Polizei und Rettungsdienst hindurch den Weg zur Haustür.
Ein Notarzt kam Robin und Simone entgegen. Sie zeigten ihm ihre Ausweise und Simone sprach ihn an. »Guten Morgen, Doktor, wir sind vom Kriminaldauerdienst und hier zuständig. Können Sie uns kurz Ihre Eindrücke schildern?«
»Klar,« antwortete der Arzt, »also, der Tote dürfte sofort tot gewesen sein. Schuss in den Mund, der Hinterkopf wurde sozusagen direkt weggesprengt. Uns war sofort klar, dass nichts mehr zu machen ist. Die beiden, die hier wohnen, sind deutlich schockiert und mitgenommen. Ich habe ihnen etwas Tavor zur Beruhigung gegeben und…« In dem Moment piepste sein Meldeempfänger, offenbar ein neuer Einsatz. Der Notarzt schaute kurz auf das Display und verabschiedete sich hastig: »Verkehrsunfall, Person angefahren. Ich muss los!« Und weg war er. Simone und Robin wechselten kurz einen vielsagenden Blick und gingen ins Haus.
Als Simone ins Wohnzimmer der Bergers trat und die beiden am Tisch sitzen sah, stockte sie. Irgendwie kam Herr Berger ihr bekannt vor, aber sie kam nicht drauf.
Noch nicht.

Doch anstatt die Polizei zu rufen, trat seine Frau Dorothea entschlossen neben ihn. In der Hand hielt sie das Pfefferspray, das sie immer in der Handtasche trug, wenn sie vor die Tür ging.

Richard trat zur Seite, unfähig irgendetwas zu tun oder zu sagen. Seine Frau öffnet die Tür. Der Mann mit dem Smartphone war noch draußen. Er hatte es nicht für nötig gehalten, den Tatort so schnell wie möglich zu verlassen. Im Gegenteil. Er machte Nahaufnahmen von dem Toten. Besonders das Loch im Kopf, aus dem das Hirn hinausgespritzt war, schien ihn zu faszinieren.

Mit zwei großen Schritten stand Dorothea vor ihm und sprühte ohne Vorwarnung das Spray in seine Augen. Der Mann schrie auf und hielt sich reflexartig die Hände schützend vors Gesicht. Dabei war es längst zu spät. Das Spray brannte wie Feuer in den Augen, die in Sekunden zu quollen.

Er konnte kaum mehr etwas sehen. Sein Handy fiel ihm aus der Hand und er taumelte orientierungslos auf dem Gehweg. Er versuchte jetzt so schnell wie möglich zu fliehen.

Dorothea griff nach dem Handy. Richard stand im Türrahmen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Gebannt starte er auf den jungen Mann, der sich strauchelnd geradewegs auf die Straße zu bewegte.

Aus dem Augenwinkel sah Richard von links den Tesla geräuschlos herankommen. Wie immer viel zu schnell, dacht er. Obwohl hier ein Wohngebiet war, hielten sich die wenigsten Autofahrer an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Richard sah den Mann nicht mehr. Dafür hörte er jetzt einen dumpfen Aufprall, Bremsen quietschen, Glas splitterte und etwas klatschte wieder auf den Asphalt.

Der Tesla kam relativ schnell zum Stehen. Wahrscheinlich hatte das automatische Bremssystem tadellos funktioniert und den Wagen schon abgebremst, bevor der Fahrer dazu in der Lage war. Schoss es Richard in den Kopf.

Er hatte gar nicht gemerkt, dass Dorothea ins Haus gegangen war. Jetzt kam sie mit der großen Plane aus dem Garten und warf diese über den toten Mann vor ihrem Eingang.

„Schnell, hilf mir“ Dorothea deckte den Mann mit der Plane ab. „Los Richard, komm“. In dem Moment hörte er die Glocken der nahe gelegenen Kirche läuten. Es war kurz vor 9.

Dorothea lief schon wieder an ihm vorbei, dieses Mal mit einer Gießkanne voller Wasser in der Hand. Sie spülte das Blut, die Knochensplitter und die Hirnmasse vom Gehweg.

Jetzt endlich begriff Richard, dass sie alles ungeschehen machen konnten. Sie würden den Mann vorerst ins Haus tragen und dann zum Gottesdienst gehen. Vorher musste er nur noch die Feuerwehr anrufen. Es hatte einen Unfall vor ihrem Haus gegeben.

Noch ehe in der Ferne Sirenen erklangen, konnten Richard und seine Frau aufgeregtes Stimmengewirr von draußen hören. Dorothea, noch immer in das schlichte weinrote Kleid gehüllt, das sie für den Kirchgang ausgewählt hatte, erhob sich von ihrem Stuhl und trat zum Fenster.
Vorsichtig schob sie den weißen Vorhang ein paar Zentimeter zur Seite und spähte hinaus.
„Richard“, zischte sie erschrocken, „da draußen steht eine Horde Menschen. Schau doch mal“, sie warf ihrem Mann einen kurzen Blick zu, „die haben sogar Plakate. Oh Gott, Richard.“
Berger reagierte nicht. Wie hypnotisiert starrte er den Rücken seiner Frau an.
„Wie das, was aus ihm schoss“, murmelte er vor sich hin, „all das Blut und dieser Knall. Der laute Knall.“
„Das ist doch nicht zu fassen“, Frau Berger bekam die Worte ihres Mannes nicht mit, „die, die glauben das, Richard“, sie ließ den Vorhang los und drehte sich um, „die glauben, dass du ein Mörder bist.“
Wie zur Bestätigung wurden die gedämpften Stimmen so laut, dass sie selbst durch die geschlossenen Fenster klar zu erkennen waren.
„Mörder!“, brüllten sie, „Komm raus, Geizhals, dann zeigen wir dir, was wir von Schnöseln halten!“
Die Rufe drangen an Bergers Ohr, doch keiner erreichte ihn wirklich. Erst als seine Frau in dem verzweifelten Versuch, die Menschenmenge zu übertönen, den Fernseher anschaltete, wurde Berger aus seinem Zustand gerissen.
Dorothea sog scharf Luft ein, als der Bildschirm in sämtlichen Farben flimmerte und auch Richard war fassungslos. Dort im Hintergrund der Reporterin stand sein Heim. Berger würde es unter tausenden von Häusern erkennen. Nicht, weil sich hinter der Gartentür ein sauber gestutzter Vorgarten befand. Gepflegte Gärten gab es mehr als genug in dieser Gegend. Vielmehr war es dieses kleine Detail, ein Traum, den sich Berger eines Tages erfüllt hatte, der nun für einen unübersehbaren Wiedererkennungswert sorgte. Berger sah es sofort - das Baumhaus in Form eines Cockpits, das zwischen den Blättern hervorspitzte. Sein Baumhaus. Ein Geschenk an sich selbst, als der Gewinn, den sein Reisebüro abwarf, in die Höhe schoss.
„Ich stehe nun vor jenem Haus, in dessen Vorgarten vor nicht einmal einer halben Stunde der live übertragene Suizid stattfand. Die Polizei ist noch nicht vor Ort, müsste allerdings in wenigen Minuten ebenfalls eintreffen“, erklärte die Reporterin mit Blick in die Kamera, „noch gibt es neben den Informationen, die das Video liefert, keine weiteren. Klar ist nur, dass hinter dem Gartentor eine Leiche liegt. Von der Person, die den tragischen Vorfall gefilmt hatte, fehlt jede Spur.“
„Doch Richard B.“, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu, „der Mann, der um zehntausend Euro gebeten wurde und seine Frau scheinen sich im Haus aufzuhalten. Wahrscheinlich eine gute Idee, wenn man bedenkt, welche Auswirkung die Live-Übertragung auf die Menschen in der Nähe hatte.“
Die Kamera schwenkte in die Umgebung und gab den wütenden Mob frei, über den sich die Reporterin im selben Augenblick äußerte.
Langsam, wie ein Tiger auf der Jagd, stand Berger auf und schlich auf das Bild zu, das die Umstände vor seinem Haus spiegelte.
All seine Aufmerksamkeit richtete sich auf einen kleinen Punkt inmitten der Menge.

"Warum?“ fragte Dorothea und griff nach ihrer Jacke.
„Hast Du denn Schuß nicht gehört?“ Wollte sie ihn für dumm verkaufen?
„Welchen Schuß?“ Die Jacke in der Hand sah sie ihn fragend an.
„Da draußen hat sich grad Einer vor meine Augen erschossen und sein Begleiter hat alles gefilmt! Der wollte einfach so zehntausend Euro von mir.“ versuchte er, das gerade Erlebte zusammenzufassen.
„Hast Du ihm das Geld gegeben?“ fragte sie seelenruhig weiter.
„Bitte was?!?“ Waren denn heute alle verrückt geworden?
„Ob Du ihm da Geld gegeben hast?“ Sie fragte, als wolle sie wissen, ob er beim Einkaufen an den Zucker gedacht hatte.
„Natürlich nicht! Warum sollte ich?!? Jetzt ruf endlich die Polizei!“ Sein Herz schlug mittlerweile wie ein Presslufthammer.
„Warum?“ wollte sie wieder wissen.
„Weil da draußen ein Toter liegt und man mir die Schuld in die Schuhe schieben will!“ Das war doch jetzt nicht ihr Ernst??
„Warum?“ Erneut diese nervtötende Frage. Konnte oder wollte sie ihn nicht verstehen? Er schnappte nach Luft und spürte, wie sein Herz immer mehr ins Stolpern geriet.
„Woher soll ich das wissen? Ich kenn die Beiden doch gar nicht!“
„Du hättest ihm das Geld geben sollen“ entgegnete sie ruhig.
„Warum?“ Diesmal war er derjenige, der fragte.
„Weil Du jetzt der Nächste bist.“ erklärte sie, als wäre es das Natürlichste der Welt. Sie trat an ihm vorbei, entfernte die Sicherheitskette und öffnete die Tür. Der jungen Mann trat in den Türrahmen, hielt Richard Berger erneut das Handy vor das Gesicht und filmte weiter.

Fassungslos sah er von seiner Frau auf den jungen Mann. Er wollte etwa noch etwas erwidern, doch sein Herz verweigerte nun endgültig den Dienst und ihm wurde schwarz vor Augen. Er merkte noch, dass er fiel und hörte wie aus weiter Ferne den jungen Mann sagen „Für den ersten Versuch war nichts anderes zu erwarten.“

Langsam kam er wieder zu sich. War er tot? Warum lag er dann in seinem Bett?
Er blickte auf den Radiowecker neben sich. Es war Sonntag.
Wie war das möglich. War das alles nur ein Traum gewesen?
Verstört und doch erleichtert sackte er zurück in die Kissen. Es musste ein Traum gewesen sein. Sonst läge er nicht in seinem Bett. Daran glaubte er fest, bis sie sich zum Kirchgang fertig machten und das Gartentor draußen anfing zu quietschen.

Richard und Dorothea Berger hatten fast den gesamten Tag auf der Polizeiwache verbracht. Sie wurden sowohl gemeinsam, als auch einzeln befragt. Immer wieder wurden sie nach einer Verbindung zu den zwei Männern ausgequetscht. Schließlich hatte man sie darüber informiert, dass die Polizei die Videoaufnahmen des Handys sichergestellt und überprüft hatten. Es war eindeutig, dass keiner von Ihnen ein Verbrechen begangen hatte. Sie durften gehen.

Als sie zu Hause ankamen, war sie Spurensicherung abgeschlossen. Morgen würden die Tatortreiniger kommen und unter anderem die Fassade des Hauses von den Blutspritzern befreien. Es war surreal, den Ort zu betreten, in dem sich vor einigen Stunden diese Tragödie zugetragen hatte.

Gegen alle ihre Angewohnheiten bestellten die Bergers das Abendessen, das Frau Berger am Gartentor entgegennahm, um neugierige Blicke zu vermeiden. Keiner von ihnen hatte großen Appetit und entgegen ihrer Erwartungen schliefen sie schnell ein, nachdem sie früh ins Bett gegangen waren.

Das piepende Handy weckte Herrn Berger aus dem Schlaf. Verärgert blickte er auf die Uhr. Es war 03:00 Uhr in der Früh! Wer würde ihm um diese Uhrzeit eine Nachricht schicken? Ob es neue Informationen zum Ermittlungsstand gab? Er überflog die anonym gesendeten Zeilen auf dem Smartphone:

Herzlichen Glückwunsch! Sie wurden verflucht. Sie hatten die Chance, das Leben eines Mannes zu retten und damit die Menschlichkeit über Profit und Gier zu stellen. Sie haben sich dagegen entschieden. Nun sind Sie an der Reihe. Nun sind Sie auf die Gnade anderer angewiesen. Wählen Sie eine Person aus, die Ihren Wohlstand auf mindestens genauso abscheuliche Art und Weise errungen hat, wie Sie das getan haben. Bitten Sie diese Person um 20 000 Euro. Sie haben dafür genau 48 Stunden Zeit. Sollten Sie scheitern, wird es für Sie keinen anderen Ausweg als den Suizid geben.

L.

Der Berger schnaubte wütend auf. Jemand erlaubte sich offenbar einen üblen Scherz mit ihm! Vermutlich einer der missgünstigen Nachbarn, der die Situationen heute beobachtet haben mussten. Während er noch vor sich hin grübelte vibrierte das Handy seiner Frau auf ihrem Nachttisch. Verschlafen grabschte sie nach dem Smartphone. Direkt nachdem Sie die Nachricht gelesen hatte, setze sie sich kreidebleich im Bett auf und reichte Ihrem Mann das Telefon. Er las nun ebenfalls den Text:

PS:

Sie haben sie letzten Jahrzehnte damit verbracht die Verfehlungen ihres Mannes zu beobachten. Sie haben sich dazu entschlossen, zu schweigen. Aus diesem Grund werden sie dazu verurteilt, die Geschehnisse der nächsten 48 Stunden zu beobachten, zu dokumentieren und zu schweigen.

L.

Herr Berger betrachtete seine Frau ausdruckslos. Sie las auch seine Nachricht und fing leise zu weinen an.

»Ist das real? Passiert das gerade wirklich?«

»Ach was für ein Unsinn! Da erlaubt sich jemand einen geschmacklosen Scherz. Vermutlich bekommen wir bald noch Anweisungen, an wen wir das Geld zahlen sollen. Hier will sich jemand an meinem hart verdienten und nicht einmal allzu großen Vermögen bereichern!« Herr Berger war wütend, während seine Frau immer verzweifelter wurde.

»Sollten wir damit zur Polizei gehen?« Ihre Frage war zaghaft und eigentlich wusste sie bereits die Antwort. Ihr Mann schüttelte entschlossen den Kopf. Sie begann zu zittern.

»Ich wusste, dass das irgendwann auf uns zurückfallen würde. All das Geld, dass du von den Fluggesellschaften und Hotels zurückbekommen hat, bei jeder einzelnen verdammten Stornierung. Und den lächerlich keinen Betrag, den die Leute davon zurückbekommen haben. Und ich will erst gar nicht damit anfangen, wie viele Reisewarnungen du ignoriert hast. Es ist ja auch immer gut gegangen, bis auf dieses eine Mal, als die Mutter und ihr Sohn…«

»Genug!« Herr Berger schrie seine Frau an. »Genug von diesem Unsinn! Das sind ganz gewöhnlich Geschäftspraktiken und falls irgendetwas nicht einwandfrei gelaufen sein sollte, steckst du genauso mit drin wie ich!«

Eine kurze Weile schwiegen sie beide.

»Das war bestimmt nur einer dieser verfluchten Nachbarn. Herr Fritz vielleicht, dem habe ich noch nie über den Weg getraut. Er mäht auch nie seinen Rasen! Und wenn, dann am Sonntag. Am Sonntag! Ganz zu schweigen von Frau Putz, die wohl die neugierigste und neidischste Person ist, die ich je kennengelernt habe. Ich wette auch, dass sie sich ihr neues schickes Auto gar nicht leisten kann. Und jetzt versucht einer von denen und zu erpressen.«

Dorothea Berger hatte ihren Mann nicht eines Blickes gewürdigt. Sie stand auf und ging im Pyjama in das gemeinsame Arbeitszimmer. Er folgte ihr missmutig. Sie schaltete den Computer ein. Sie erledigte vieles auf dem Handy, aber diese Sache schien zu wichtig. Diese Recherche verlangte nach einem richtigen Computer. Ihr Mann starrte sie misstrauisch an.

»Und was zum Teufel wird das?«

»Ich versuche etwas über diese Leute herauszufinden, die heute bei und geklingelt haben. Ihre Namen wurden uns ja mehr als einmal auf der Polizeiwache mitgeteilt. Vielleicht bringt das ein wenig Klarheit in die Sache. Fluch oder Fake, hier geht etwas Seltsames vor sich und vielleicht sind wir nicht die ersten … Opfer.« Das letzte Wort hatte sich nicht richtig angefühlt. Aber im Moment fiel ihr kein anderer Ausdruck sein.

»Willst du die zwei Männer einfach googeln oder wie hast du dir das vorgestellt?«

»Genau das habe ich vor.«

Berger schüttelte den Kopf und ging in die Küche. Wenige Minuten später kam er mit einem Glas Rotwein in der Hand zurück. Seine Frau starrte regungslos auf dem Bildschirm vor ihr. Als sie nicht reagierte, schob ihr Mann sie samt Bürostuhl zur Seite.

Seine Augen weiteten sich, als er sah, was seine Frau herausgefunden hatte.

Es war entsetzlich. Die Polizei benötigte drei Stunden, ehe sie den bärtigen Mann abtransportierten und Berger endlich in Ruhe damit ließen, noch mehr Details von ihm zu bekommen. Von dem jüngeren Mann mit seiner Handykamera war keine Spur mehr zu sehen gewesen, als das Blaulicht angerückt war, worüber Berger irgendwie erleichtert gewesen war. Noch erleichterter war er, als endlich wieder komplett Ruhe herrschte. Das hatte lang genug gedauert und seine Frau war mit ihren Nerven auch vollkommen am Ende. Verständlich bei dem roten Fleck, den die Polizei zurückgelassen hatte, als sie den Körper eingepackt hatten. Des Weiteren hatten sie den Gottesdienst natürlich verpasst und auf Bergers Handy waren bereits einige irritierte Nachfragen eingetroffen, wo sie denn gewesen seien. Sehr ärgerlich, das alles.
Sie aßen ein schweigsames Mittagessen und seine Frau legte sich danach hin, erschöpft von den Geschehnissen. Berger hingegen verspürte das Verlangen, den Tag nicht vollständig als verloren aufzugeben, und beschloss, wenigstens den Kirchenbesuch nachzuholen.
Nicht, dass er besonders gläubig gewesen wäre, aber vielleicht konnte ihm ein Ort der Ruhe helfen, Sinn aus dem Irrwitz des Vormittags zu ziehen.
Die Kirche lag in Laufweite und er benötigte keine fünf Minuten, ehe er sich auf den kühlen Bänken niederlassen und den Altar anstarren konnte.
Es kam keine Erleuchtung. Jesus schaute ausdruckslos von seinem Kreuz zurück, das Licht der Kerzen wirkte klein und kalt und nicht einmal in einem vergessenen Gesangsbuch, das er müßig durchblätterte, war eine Antwort zu finden. Die Frage, zu der er die Antwort suchte, war allerdings genauso schwer, er vermied bewusst, sie zu denken.
„Was sind Sie doch für ein Heuchler“, sagte eine Stimme hinter ihm und Berger fuhr überrascht zusammen. Er hatte nicht mitbekommen, dass sich jemand in der Reihe hinter ihm niedergelassen hatte. Vorsichtig drehte er den Kopf.
Der jüngere Mann vom Vormittag, der mit dem Handy, saß dort und blickte ihn unverwandt aus tiefliegenden Augen an. Berger durchlief ein Schaudern und seine Hände wurden kalt und schwitzig, als ihm bewusst wurde, dass er mit ihm sprach.
„Ja, Sie“, sagte der Mann. „Richard Berger. Inhaber eines Reisebüros, liebender Ehemann und Mörder, nicht wahr?“
Berger schluckte unwillkürlich. Trotzdem strengte er sich an, dass man ihm seine Nervosität nicht anmerkte.
„Lassen Sie mich in Ruhe“, sagte er fest. „Sie haben schon genug Schaden angerichtet.“
„Ich habe keinen Schaden angerichtet“, sagte der Mann eklig herablassend. „Sie haben. Sie sind jetzt für den Tod eines Menschen verantwortlich, nur, weil Sie ihm nicht geben wollten, was er dringend brauchte. Und ich habe alles auf Video.“
Die Situation wurde allmählich surreal. Berger verstand nicht.
„Was bitte wollen Sie?“ Er konnte nicht verhindern, dass er mit einem Mal atemlos klang.
Der Mann lächelte schmierig und holte einen langen, schmalen Gegenstand aus seiner Jacke, den er auf Berger richtete. Eine Pistole.
„Willkommen bei der Studie zur Bewertung der sozialen Tugendhaftigkeit von Frankfurts Bürgertum sowie zu seiner Ertüchtigung im Kampf gegen die westliche Dekadenz, durchgeführt von der M.O.R.A.L., der Modernen Organisation zur Realisierung einer Altruistischen Lebensweise“, sagte er in einem hochtrabenden Ton, als würde er eine Weihe vollziehen. „Sie sind Testsubjekt acht.“

Dorothea sah ihn mit ihren klaren, blauen Augen mit einem abschätzigen Blick an, den er noch nie zuvor an ihr wahrgenommen hatte und machte keine Anstalt, die Polizei anzurufen.
Sie war immer an seiner Seite gewesen: erst im Sandkasten, dann in der Tanzschule - und nach etlichen Jahren, in denen sie sich aus den Augen verloren hatten - als seine Ehefrau.
Sie baute mit ihm das Reisebüro auf, war verständnisvoll gegenüber seinen Schwächen und - wie er kleinlaut zugeben musste, da es ihm daran mangelte - voller Humor. Und er wusste: sie stand hundertprozentig hinter ihm.
„Ruf die Polizei“, brüllte er jetzt mit überkippender Stimme und kramte gleichzeitig in dem feinen Zwirn des Mantels, den er für den Kirchgang übergestreift hatte, nach seinem Handy.
Sie lächelte mit den sorgfältig nachgezogenen Lippen, zupfte kurz an der Krawatte mit den goldenen Eurozeichen, ehe er zurückzucken konnte und schob ihn dann von der Eingangstür zur Seite. Dabei sagte sie mit blecherner Stimme, die er nie zuvor bei ihr gehört hatte: „Lass das!“
Dann öffnete sie die Tür und blickte hinaus. Nichts geschah, sie stand und sah hinaus, geradeso, als sei es ein gewöhnlicher Montagmorgen, an dem sie hinausspähte um zu entscheiden, welche Jacke sie tragen wollte.
Zögernd folgte er ihr, zitternd sich auf den grausamen Anblick vorbereitend, trat er neben sie. Sein Herzschlag schien auszusetzen, um kurz darauf rasend loszutosen.
Der Treppenweg hinab zum Eingangstor glänzte unbefleckt vom nächtlichen Regen. Sonst nichts: weder der filmende junge Mann, noch ein am Boden liegender grauhaariger Mensch mit Kopfschuss.
Er stolperte hinaus, fiel dort, wo der alte Mann gelegen hatte und kroch am Boden wie ein Hund, der nach einem Leckerli schnüffelte.
„Er lag hier, er lag hier“, keuchte er dabei ein ums andere mal.