Dorothea hatte Angst. Er konnte es ihren Augen ansehen. Sie hielt den Hörer in der Hand wie einen heißen Stein. Ihre Finger zitterten, die kalte Plastikoberfläche fühlte sich an, als könne sie jeden Moment bersten. Die Stimme ihres Mannes klang wie aus weiter Ferne. „Doro! Hast du angerufen?“ Richards Worte drangen kaum zu ihr durch, alles schien wie in Watte gehüllt. Sie versuchte, nicht panisch zu werden.
„Noch nicht“, flüsterte sie kaum hörbar. Ihr Blick huschte zur Tür, hinter der sich noch vor wenigen Minuten das Leben eines Mannes in einer grauenhaften Explosion entladen hatte. Sie zwang sich, nicht an das Geräusch zu denken, das es gemacht hatte. Nicht an die Farbe des Blutes, das sie durch das Fenster auf den Gartenplatten gesehen hatte. Sie schob alles weit weg.
„Doro!“ schrie er sie erneut an, während er unruhig hin und her lief, fast wie ein Tier, das im Käfig einen Ausgang suchte. „Was zur Hölle ist hier los? Wer waren diese Männer? Was, wenn das alle gesehen haben? Ich habe Nein zu ihnen gesagt…“ Er brach ab, als hätte er Angst, den Satz zu vollenden.
Dorothea schloss für einen Moment die Augen und sog die Luft tief ein. Langsam, fast unmerklich, als wollte sie unsichtbar bleiben. Ihr Kopf fühlte sich leer an, doch in ihrer Brust wuchs ein enormer Druck. Es war wie ein Luftballon kurz vorm Platzen. „Niemand hat etwas gesehen“, sagte sie. Ihre Stimme klang tonlos und passte nicht zu ihrer sonstigen Haltung.
Richard blieb stehen und sah sie einen Moment lang an. Die Augen schmal, seine Stirn in Falten gelegt. „Woher willst du das wissen? Verstehst du überhaupt, was gerade passiert ist?“ Die Frage traf sie wie ein Schlag und riss sie aus ihrer Lethargie. Ihre Knie wurden weich, doch sie zwang sich zu einem Schulterzucken. „Es ist Sonntagmorgen. Die Leute hier haben drei Optionen. Sie schlafen, sind bei der Familie oder in der Kirche.“
Richard verstand nicht, wie sie so ruhig bleiben konnte. Es schien, als wolle sie gar keine Hilfe holen. Sie stand einfach da. „Sag mal, bist du noch ganz normal? Da draußen liegt…“ Seine wütende Rede wurde vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Der Ton wirkte plötzlich fremd, schrill und beharrlich, ein Laut, der die Nerven blank legte. Er starrte das Gerät an, bevor er zögernd den Hörer abnahm. Es war, als würde er eine schlafende Schlange wecken.
„Berger.“ Dorothea beobachtete ihn aus der Küche, wo sie sich auf einen Stuhl gesetzt hatte. Die Hände klammerten sich um eine leere Tasse, die längst keine Wärme mehr spendete. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Richards Gesicht war eine Leinwand aus Misstrauen und wachsender Unruhe, und sie kannte ihn lange genug, um ihn zu lesen.
„Ja… ja, ich bin dran. Was? Woher wissen Sie…? Aber das kann nicht…? Ja, ich verstehe Sie… Natürlich… wo sollten wir auch hingehen?“ Seine Augen weiteten sich. „Nein, nein, das glaube ich nicht… Sie irren sich… das kann nicht sein…“ Langsam legte er den Hörer auf, als wollte er Zeit gewinnen, um die Worte zu begreifen, die er eben gehört hatte.
„Wer war das?“ Dorothea zwang sich, die Frage beiläufig zu stellen, doch ihre Stimme klang hohl, fast wie ein Echo in einem leeren Raum.
Richard sah sie an und schwieg. Dann schüttelte er den Kopf. „Die Polizei.“
Ihre Finger gruben sich tiefer in das Porzellan der Tasse. „Die Polizei? Warum sollten die bei uns anrufen?“
„Ich bin mir nicht sicher, aber sie wussten von alldem hier. Sie sagten, dass sie gegen eine Organisation ermitteln!“ Seine Worte schienen schwerer und bedrohlicher zu werden, je näher er ihr kam. Sie wich zurück, ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf.
„Dein Name… Sie sagten, dein Name steht auf ihrer Liste.“
Dorothea erstarrte. Das Blut in ihren Ohren pochte laut wie Trommelschläge. Sie rang nach Luft. „Was für eine Liste?“ Sie zwang sich zu einem Lächeln, doch es zerbrach mitten im Ansatz.
Er starrte sie unverwandt an. Sein Gesicht zeigte Schock. Nicht nur wegen des Toten vor der Tür, sondern auch wegen dieses Anrufs. Und sie erkannte noch etwas: Zweifel. Zweifel an ihr, seiner Frau.
„Richard, das ergibt keinen Sinn. Was habe ich damit zu tun?“ Sie ging einen Schritt auf ihn zu, doch er zog sich zurück.
„Sag mir, dass es ein Irrtum ist.“
Die Zeit schien stillzustehen, und das Schweigen zwischen ihnen war bleischwer. Dorothea atmete tief durch. Langsam und kontrolliert streckte sie die Hand nach seinem Arm aus.
„Natürlich ist das ein Irrtum“, sagte sie gefasst. „Richard, du kennst mich. Was denkst du denn? Dass ich nachts heimlich losziehe und an einer Hausfrauenverschwörung teilnehme?“
Sie schüttelte den Kopf, als sei die Vorstellung lächerlich. Richard blieb misstrauisch, doch er schien ihr für einen Moment zu trauen. Sich ihr anzunähern.
Dann klingelte es erneut. Nicht das Telefon. Die Tür.
Dorothea sah Richard an, und er erkannte es sofort. Etwas in ihrem Blick hatte sich verändert.