Richard schnaufte durch und lehnte sich kurz gegen die Tür. Was war da gerade passiert? War das real? Er musste träumen und in einem Albtraum gefangen sein. Niemand ging wahllos zu einem Haus, um dort nach Geld zu fragen – und sich bei Nichterhalt den Kopf wegzupusten. Gott, lag da nun wirklich eine Leiche vor seiner Haustür?
„Richard?“ Dorotheas Stimme klang zittrig an sein Ohr. Ruckartig drehte er sich herum. „Was ist passiert?“
Seine Frau weilte an der Treppe ins Obergeschoss. Der graue, knielange Rock und die blütenweiße Bluse standen in so heftigem Kontrast zu dem Chaos, das gerade in seinem Kopf herrschte, dass er sich nicht helfen konnte und Dorothea verwirrt anlächelte. Ihre Haare waren, wie immer am Sonntagmorgen, sorgfältig frisiert und es fehlten nur noch ihre guten Stiefeletten und der Mantel, dann war sie bereit auszugehen, bereit, dem Herrn für die vergangene Woche zu danken.
Doch ihr Gesichtsausdruck passte nicht zu ihrem ansonsten adretten Aussehen. Verunsichert sah sie ihn an. Sie hatte den Dialog nicht mitbekommen, aber natürlich den Pistolenschuss gehört. Und sie sah ihm an, dass etwas vorgefallen war, was ihn komplett aus der Bahn geworfen hatte. Richard gab es auf, ein Lächeln aufrecht erhalten zu wollen.
„Er … er hat sich erschossen“, murmelte er fassungslos. Das Bild, wie sich das Blut auf dem Weg ergoss, schob sich vor sein inneres Auge. Das konnte nicht wirklich passiert sein. Da war ein Trick dabei, vielleicht stand der Mann schon lachend vor seiner Tür und freute sich, dass er auf seine Show hereingefallen war. Bestimmt. Aber warum hatten die beiden dieses Theater abgezogen? Er kannte sie nicht einmal! „Wir müssen die Polizei rufen“, meinte er und sah sich fahrig um, als habe er vergessen, wo das Festnetztelefon meistens lag.
„Erschossen?“, klang da die fassungslose Stimme seiner Frau an sein Ohr. Er warf ihr einen Blick zu, während er auf die kleine Kommode zuging, auf der das Telefonbuch neben der Festnetzstation stand. Dorothea war blass geworden und hatte mit einer Hand an ihr Herz gegriffen. Mit großen Augen starrte sie ihn an und er erkannte, dass sie leicht schwankte. Zittrig griff sie nach dem Treppengeländer.
„Ja, erschossen!“, antwortete er mit festerer Stimme und spürte, dass er ungehalten wurde. Wo war der verdammte Apparat? Er legte es immer hier an die Station, damit man es wieder fand, aber da war es nicht! „Wo hast du das Telefon hingelegt?!“, herrschte er Dorothea an, die ihn erschrocken ansah. Ihr Mund stand leicht offen, ihr Blick verständnislos. Richard atmete tief ein. Er musste sich beruhigen. Es brachte nichts, wenn er nun den Kopf verlor.
Der Schuss war laut gewesen. Ob die Nachbarn ihn gehört hatten? Er schalt sich einen Dummkopf. Natürlich hatten sie den lauten Knall gehört. Bestimmt hatte schon einer von ihnen die Polizei gerufen. Als hätte da jemand auf sein Stichwort gewartet, klopfte es an der Tür. Nein, es klopfte nicht – irgendwer hämmerte dagegen! Erschrocken sah sich das Ehepaar Berger an. Dorothea fing erneut an zu zittern und sah hilfesuchend zu Richard. Dieser schluckte trocken. Waren das wieder diese Männer? Halt, es war ja nur noch einer. Hatte der Mann die ganz Zeit vor der Tür gestanden? Mit der Leiche?
„Dorothea? Richard? Ist alles in Ordnung?“, hörte er da die besorgte Stimme seiner Nachbarin. Elise hatte bestimmt den Knall gehört und war herübergekommen. Richard riss die Augen auf, als er daran dachte, dass sie somit direkt bei der Leiche stehen musste. Schnellen Schrittes ging er auf die Tür zu, zögerte dann aber. Ihre Stimme klang zwar besorgt, doch es war keine Panik darin zu hören. Nichts, was darauf hindeutete, dass sie gerade eine Leiche gesehen hatte. Zögerlich öffnete er die Tür und erschrak, als diese nur einen Spalt aufging und dann gegen das immer noch eingehängte Türschloss schlug und von diesem aufgehalten wurde.
„Moment“, murmelte Richard, schob die Tür wieder zurück, sodass er das Sicherheitsschloss lösen konnte, und riss dann die Tür auf. „Elisa es ist …“ Was genau er sagen wollte, wusste er selbst nicht. Spätestens, als er auf die zurechtgemachte Elisa blickte, die ihn sorgenvoll ansah, hätte er es vergessen. Fragend runzelte sie die Stirn. Sein Blick huschte neben sie, dorthin, wo der Körper des Mannes, der sich hier erschossen hatte, gefallen war. Richard schnappte nach Luft. Da war keine Leiche! Wie hypnotisiert starrte er auf die Platten, während seine Hirnwindungen versuchten, das Gesehene einzuordnen.
„Was ist denn los Richard? Ihr seid spät dran. Wo bleibt ihr denn? Ist etwas mit Dorothea?“ Elisa sah ihn fragend an und sah ungeduldig auf die Uhr.
„Aber…“, begann Richard.
„Aber was? Seid ihr noch nicht fertig? Ich möchte nicht zu spät zum Gottesdienst kommen. Du weißt doch, wie voll es an den Feiertagen immer ist, seid die Kirchengemeinden zusammengelegt wurden!“ Verärgert rümpfte sie ihre sorgfältig gepuderte Nase. „Was ist nun?“
„Aber…“, stammelte Richard, „aber die Leiche…“
Elisa sah ihn an, als zweifle sie an seinem Gemütszustand. „Leiche? Richard, was faselst du denn da! Nun, mach endlich. Dorothea!“, rief sie in das Haus hinein und ignorierte Richard, der mit starrem Blick auf die Platten sah. Kein Blut. Da war kein Blut. Aber er hatte gesehen, wie dem Mann das Blut aus seinem Kopf … Richard schloss die Augen, als er spürte, dass sich ihm sein Magen umdrehen wollte.
Er bekam kaum mit, dass Elisa die Haustür aufdrückte. „Dorothea, da bist du ja. Was ist denn los? Wir warten auf euch! Was ist denn nur los mit euch, du siehst mich ja an, wie ein Reh im Scheinwerferlicht!“ Energisch marschierte sie an Richard vorbei und schnappte sich Dorotheas Arm. „Nun zieh dir deine Schuhe an, wir haben nicht ewig Zeit. Richard! Was starrst du da Luftlöcher an der Tür! Mach dich fertig!“
Benommen drehte sich Richard um. „Aber da war ein Mann“, begann er und ärgerte sich über seine dünne Stimme. Verhalten räusperte er sich und sprach weiter, ehe seine resolute Nachbarin den Mund aufmachen konnte. „Zwei Männer. Sie wollten Geld von mir erpressen.“
Nun hielten die beiden Frauen inne. „Was?“ Ungläubig sah Elisa ihn an.
Richard nickte zerstreut. „Zwei Männer. Einer verlangte zehntausend Euro, sonst würde er sich umbringen. Ich hab das nicht ernst genommen und da hat er … er hat …“ Mit großen Augen blickte er die Frauen an, die ihn fassungslos ansahen. „Da hat er eine Pistole genommen und sich erschossen!“
Dorothea hob reflexartig ihre Hände zu ihrem Mund und sah ihren Mann mit großen Augen an. Elisa hingegen hob argwöhnisch eine Augenbraue. „Erschossen. Hier vor eurer Haustüre?“ Sie lachte auf. „Ach Richard, dein Humor war immer schon etwas seltsam. Nun zieh deine Schuhe an, der Herrgott wartet nicht gerne.“
„Aber“, begann Richard wieder und deutete auf die Stelle, auf der eigentlich ein toter Mann liegen müsste. „Erschossen!“
Ungehalten hielt Elisa, die den Mantel für Dorothea aufhielt, inne. „Gehen jetzt die Gäule mit dir durch, Richard? Da liegt kein Toter! Was brabbelst du hier von ‚Erschossen‘? Willst du deiner Frau Angst machen?“
„Hast du denn nicht den Schuss gehört?“, wollte Richard fassungslos wissen.
„Da war kein Knall. Außer der, den du offenbar hast!“ Elisa sah auf die Uhr und seufzte. „Na toll, wir kommen auf jeden Fall zu spät.“
Richard sah sich suchend um. Ein Auto fuhr vorbei, schräg gegenüber ging der kauzige Herr Müller-Ehrmann mit seinem Hund spazieren und aus einem der Häuser schallte Babygeschrei herüber. Wo war die Leiche?
Der Mann mit dem Handy! „Der andere Mann hat die Leiche weggebracht!“, rief Richard und drehte sich zu den Frauen um. Dorothea hatte inzwischen ihren Mantel an, sah aber verwirrt zu ihm, als wüsste sie nicht, warum sie diesen trug.
Elisa verdrehte die Augen, als sie sah, dass Richard immer noch seine Hausschuhe trug. „Was für ein anderer Mann? Hast du einen Mann gesehen?“, fragte sie an Dorothea gewandt, die zögerlich den Kopf schüttelte.
„Natürlich hat sie die Männer nicht gesehen! Ich bin doch an die Tür gegangen! Gott sei Dank habe ich die Sicherheitskette vor gemacht, nicht auszudenken …“, malte sich Richard das Schlimmste aus.
Elisa, die auf die Uhr gesehen hatte, seufzte ergeben auf und kniff sich in die Nasenwurzel. „Wir werden es nicht mehr zum Gottesdienst schaffen. Was ist nur mit dir los Richard?!“
„Da waren diese beiden Männer …“
„Ja, na klar. Und einer ist tot, aber seine Leiche hat sich in Luft aufgelöst. Hat sich die Rübe weggepustet und bevor er aufgestanden ist, hat er noch schnell sein Blut weggewischt. Hör endlich auf, uns deine Lügenmärchen zu erzählen!“ Elisa funkelte ihn wütend an. „Ach, macht doch was ihr wollt!“, schimpfte sie und stampfte aus dem Haus. Bedröppelt sahen ihr die beiden Eheleute hinterher.
„Was ist denn los, Richard?“, fragte Dorothea leise.
Er wirbelte zu ihr herum. „Warum fragst du mich das? Du hast es doch auch gehört! Das Klingeln, der Schuss!“
Sorgenvoll betrachtete Dorothea ihren Mann. „Ich hab es Klingeln gehört. Vielleicht waren das die Kinder. Du weißt doch, dass sie in letzter Zeit gerne Klingelmännchen spielen.“
„Ich weiß, was ich gesehen habe!“, herrschte Richard sie an und Dorothea schreckte zusammen. „Was glaubst du denn, was das für ein Knall war, hä? Den musst du gehört haben! Und die olle Schreckschraube ebenfalls“, meinte er und deutete vage auf das Nachbarhaus, in das Elisa wieder verschwunden war.
„Das war Elisa, die den Müll rausgebracht hat“, meinte Dorothea scheu. „Ich hab sie durchs Fenster sehen können. Du regst dich doch immer darüber auf, dass sie den Deckel so laut fallen lässt, dass man denkt, da sei gerade eine Pistole losgegangen.“ Sie zog sich ihren Mantel wieder aus und hing ihn an den Haken, während Richard immer noch aus der offenen Haustür auf den Gehweg starrte. „Mal davon abgesehen – wo ist denn das ganze Blut? Und wenn wirklich ein anderer Mann dabei war – warum hat der nicht die Polizei gerufen?“ Zaghaft, als habe sie Angst, dass Richardsie wegstoßen würde, legte sie ihre Hände auf die Schultern ihres Mannes. „Du hattest so viel Stress in der letzten Zeit, da hat dir dein Verstand etwas vorgegaukelt. Du arbeitest einfach viel zu viel, mein Liebling. Und dann haben wir gestern auch noch diesen blutrünstigen Krimi gesehen. Wir hätten den nicht zuende schauen sollen. Komm, wir machen uns einen ruhigen Tag.“
Hatte er sich das alles eingebildet? Vielleicht waren es tatsächlich nur die Kinder gewesen. Und Elisa schmiss den Mülltonnendeckel wirklich zu, als wolle sie die Tonne mitsamt Inhalt in den Boden stoßen. Aber er hatte die Männer gesehen! Verwirrt rieb sich Richard über das Gesicht und starrte die Gehwegplatten an. Doch da war kein Blut. Und der penetrante Mann mit dem Handy hätte ihn bestimmt nicht plötzlich in Ruhe gelassen. ‚Ausbeuter‘, ‚Kapitalist‘ hatte er ihn genannt. Das war er nicht. Er beutete niemanden aus, zahlte seine Angestellten anständig. Und ein Kapitalist? Ja natürlich war er das. In einer kapitalistischen Gesellschaft war jeder Unternehmer ein Kapitalist.
Nachdenklich betrachtete er den Gehweg, dann schob er langsam die Tür zu, behielt die Platten im Blick, als könne, kurz bevor er die Tür schloss, plötzlich die Leiche und das Blut wieder auftauchen. Zehntausend Euro – als ob er so viel Geld im Haus hatte. Die SMS, die er vor ein paar Tagen erhalten hatte, fiel ihm ein. Sein ‚Sohn‘ brauchte Geld für ein neues Handy. Nur, dass Dorothea und er kinderlos waren. Dennoch hatte er sich über diese Enkeltricknachricht geärgert. Vielleicht ein wenig zu intensiv? War ihm das so sehr im Kopf geblieben, dass es seine Gedanken so dominierte? Allerdings drohte sein ‚Sohn‘ nicht damit, sich umzubringen, wenn er nicht sofort das Geld erhielt. Wozu auch? Was für eine Erpressung sollte das sein, in der der Erpresser damit drohte, sich selbst zu töten? Er schüttelte den Kopf, warf einen letzten Blick auf die Betonplatten. Vielleicht hatte Dorothea recht und die vergangenen Wochen waren einfach ein wenig zu viel. Gerade wollte er die Tür schließen, da fiel ihm der Blumenkübel, der an der Hauswand neben der Tür stand ins Auge. Sein Puls steigerte sich, als er die Tür wieder aufriss und zu dem Betonkübel stürzte. Mit aufgerissenen Augen starrte er die drei dicken Tropfen an, die sich rot auf dem grauen Beton absetzten. Blutrot.