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Diese entsetzliche Geschichte war an jenem Sonntagmorgen eigentlich schon alles, an was sich Berger erinnern konnte. Er träumte selten, in seiner Jugend gar nicht. Jedoch in diesem Jahr passierte es zum wiederholten Male, dass die Dinge, die ihm in der Nacht im Schlaf erschienen waren, besonders plastisch und nahezu erschreckend real wirkten.
Nun lag er keuchend in seinem ginstergelben Seidenpyjama auf dem Ehebett. Schweiß stand auf der Stirn, das Gesicht glänzte. Die leichte Sommerdecke hatte er auf die Seite zu seiner Frau herübergeschoben. Die war längst aufgestanden und bereitete in der Küche das Frühstück vor. Das Schnurren und Glucksen der Kaffeemaschine tönte hinauf bis ins Schlafzimmer.
Im Garten zwitscherten die Amseln, die Septembersonne blitzte durch die Vorhänge, Berger wirkte von der Nacht deutlich mitgenommen. So etwas war ihm, seit er denken konnte, noch nicht widerfahren. Bisher hatte es sich um vergleichbar banale Ereignisse gehandelt, die in seinen Träumen auftauchten. Einmal war er nackt in der U-Bahn gefahren. Ein anderes Mal hatte ihm seine Angestellte, die Fernreise-Expertin Susanne Grabowski, im Büro den Stinkefinger gezeigt. Als er dann protestierte, kam der Auszubildende herein – Dennis dieser Schwachmat. Der Vollidiot öffnete die Hose und urinierte ihm vor seinen Augen auf den Schreibtisch.
Schon damals war Berger wegen dieser läppischen Traumgeschichte schweißnass aufgewacht. Er konnte sich kaum erklären, warum sein Hirn nächtens so einen Bockmist zusammenreimte. Am folgenden Tag in der Arbeit lief dann alles wie gewohnt. Weder ein Stinkefinger noch eine offene Hose begegnete ihm. In der Mittagspause, sein gesamtes Personal saß wie immer gegenüber beim Billig-Chinesen, inspizierte er akribisch seinen Arbeitsplatz. Er schnüffelte am Schreibtisch und prüfte im Gegenlicht, ob etwaige Flüssigkeiten über die Resopaloberfläche gespritzt worden waren. Alles schien in Ordnung, dennoch ließ ihm die Sache vorerst keine Ruhe.
Einen Monat später, es muss im Juni gewesen sein, träumte Berger erneut Absurdes. Er saß mit Dorothea in der Kirche bei der Messe, als der Pastor ihn aufforderte, einen Choral anzustimmen. Die anderen Kirchgänger starrten todernst zu ihm herüber; er zögerte, Hitze stieg in sein Gesicht. «Steh auf und sing schon!», zischte seine Frau. Mühsam rappelte er sich hoch, bewegte seine Lippen, aber nicht der leiseste Ton wollte aus seiner Kehle hervorkommen. Und dann sah er es: Alle zeigten mit der Hand auf ihn, begannen zu lachen. «Deine Zähne, Richard, deine Zähne», zeterte Dorothea. Bergers Finger strichen über seinen geöffneten Mund, nicht einen einzigen Zahn hatte er mehr in der Kauleiste.
Berger fühlte sich bereits damals, an jenem Junimorgen, wie gerädert. Am selben Tag suchte er in der Mittagspause einen Buchladen auf, blätterte in einem Lexikon für Traumdeutung herum. Aus den Erklärungen zu den Stichworten ‚Nacktheit‘,‚Urin‘, ‚Stinkefinger‘ und ‚Zahnausfall‘ ergab sich eine klare Diagnose: Er litt unter Versagensängsten!
Das schien keine Überraschung zu sein. Denn seit der weltweiten Finanzkrise wuchsen in seinem Reisebüro die Existenzsorgen nahezu täglich. Der Kredit über hundertfünfzigtausend, den er zur Firmengründung aufgenommen hatte, sollte im kommenden Jahr zuzüglich der Zinsen zurückgezahlt werden. Aber anstatt die notwendige Summe nach und nach anzusparen, fehlten Berger mittlerweile zusätzliche zehntausend Euro auf dem Geschäftskonto. Mit den monatlichen Einnahmen konnte er knapp das Personal, die Fixkosten und die Steuer bezahlen. Wenn Dorothea nicht sämtliche Flüge und Zimmerbuchungen ihres Pharma-Konzerns über ‚Bergers Traumreisen‘ abgewickelt hätte, dann wären die Lichter in seinem Büro längst erloschen. Sich selbst gönnte er schon seit einer Ewigkeit nichts mehr. Der Laden rutschte zusehends tiefer in die Miesen. Sein letzter Rettungsanker hieß ‚Aktiendepot‘, welches sich leider wegen der Bankenkrise, wie ein zu heiß gewaschener Wollpullover auf ein Miniaturformat zusammengeschrumpelt hatte. Berger war finanziell am Ende. Auch wenn er sich täglich mit dem protzigen 350-PS-AMG-Mercedes aus der Einfahrt seines beachtlichen Einfamilienhaus-Anwesens herauskatapultierte und mit Vollgas ins Pleitebüro in die Vorstadt brauste. Das Auto kostspielig geleast, die Mini-Firma hochverschuldet, das Haus bis unters Dach beliehen – Berger war auf dem besten Weg in die Insolvenz. Dorothea ahnte von allem nichts, sie hatte von finanziellen Dingen keinen Schimmer, er im Grunde aber auch nicht. Jedoch konnte er passabel schauspielern und mimte zuhause gerne den Unbeschwerten.
Der Duft von frisch geröstetem Toast drang bis ins Ankleidezimmer vor, als Berger sich die Krawatte wickelte. Er entschied sich für die beruhigende Hellblaue. Er schmunzelte, denn so eine Grüne wie in seinem Traum besaß er gar nicht. Im Begriff den Kleiderschrank wieder zu schließen, fiel ihm die goldene Anstecknadel mit der Form des Eurozeichens auf, sie thronte auf dem Samt einer verstaubten Smokingfliege. Sein Chef bei der TUI hatte ihm das grässliche Ding kurz nach der Euro-Einführung überreicht, wegen der fetten Abschlüsse, die er für den Konzern getätigt hatte. Ja, ja, damals war noch alles in Ordnung gewesen. ‚Überflieger‘ hatten sie ihn genannt, er würde mal ganz groß rauskommen, prophezeiten die Kollegen, irgendwann stände er als TUI-CEO zur Debatte und so weiter. Mit vierzig meinte er plötzlich, sein eignes Ding machen zu müssen – auch die Big Player der Branche waren ja mal klein gestartet. Wenn er geahnt hätte, dass er selbst nach fast zehn Jahren immer noch in der Frankfurter Vorstadt eine Drei-Mann-Reisebüro-Klitsche betreiben würde und um jeden Cent kämpfen müsste, dann wäre er wahrscheinlich gleich in Richtung Dubai abgehauen. Dort boomte jedenfalls die Touristikbranche.
Die Euro-Krawattennadel hatte angeblich ein Frankfurter Juwelier aus purem Gold gefertigt. Berger wägte ab, wann er das Schmuckstück zu Geld machen würde. Mehr als hundertfünfzig würde es nicht bringen. Erstaunt nahm er zur Erkenntnis, mit welchem Einfallsreichtum sein Unterbewusstsein die Ängste des Alltags in seinen nächtlichen Traum kolportiert hatte. Die Einstecknadel mutierte zu einer Krawatte mit goldenen Eurozeichen. Und die fehlenden Zehntausend trieben einen armen Schlucker dazu, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Alles gipfelte in einem surrealen Horrorszenario, das ihm die eigene Aussichtslosigkeit drastisch aufzeigte. Selbst der filmende Mann besaß für ihn eine tiefere Bedeutung: Er stand stellvertretend für die anklagende Öffentlichkeit, vor der Berger sein Pleitedasein zu verstecken versuchte.
Das i-Tüpfelchen hatte allerdings Heiner, sein bester Freund, beigesteuert. Zum Fünfzigsten beglückte ihn dieser mit einer Tarentino-DVD-Edition. Unter der Woche, als Dorothea auf Dienstreise in Kasachstan unterwegs war, zog sich Berger Abend für Abend einen Film nach dem anderen hinein. Zwei Nächte zuvor staunte er über die Brutalität in ‚Pulp Fiction‘, den hatte er bis dato noch nie gesehen. Daher wunderte es ihn kaum, dass in seinem Traum die Gehirnmasse grausamst wie üppig durch die Gegend spritzte.
Er schob sanft die Schiebetür des Kleiderschranks zu, schlenderte ins Badezimmer, putzte die Zähne, glättete die Frisur mit Kamm und Haargel – und spähte schließlich aus dem Fenster auf die Straße. Nicht ein einziger Mensch weit und breit, die Nachbarn lagen sonntags zu dieser Zeit noch im Bett. Mit einer gewissen Genugtuung registrierte Berger, dass keine zwei Typen mit Lederimitatjacken vor seinem Haus standen. Seine Frau rief nach ihm, der Tisch wäre gedeckt und alles stünde bereit, um neun wollten sie in der Kirche sein.
Sie saßen gemeinsam in der Küche, tranken Kaffee mit Sprühsahne, aßen Toast mit Butter und Himbeermarmelade. Dorothea trug noch den Morgenmantel, sie machte sich immer erst nach dem Frühstück frisch.
Vor einigen Monaten hatte Berger die Zeitung abbestellt, genauer gesagt er hatte sie umbestellt. Als Abonnent wurde ihm die Gelegenheit unterbreitet, die ‚Frankfurter Allgemeine‘ zukünftig digital lesen zu können, obendrein gab es ein nagelneues iPad gratis – der letzte Schrei der Technik aus den USA. Trotz klammer Haushaltslage hatte er das teure Angebot angenommen. Dies führte allerdings dazu, dass die Bergers am morgendlichen Frühstückstisch nun keine Zeitung mehr teilen konnten, wie sie es seit Jahren nahezu täglich praktiziert hatten.
Während er auf dem digitalen Glastäfelchen herumwischte, begnügte sich Dorothea damit, aus einem gewaltigen Stapel von alten Restzeitungen weitgehend ungelesene Exemplare für sich zu entdecken. Berger stierte kauend auf die sinkenden Aktienkurven, die ihm sein Tablet so formidabel aus der Börsenredaktion präsentierte.
«Hast du gewusst, dass im Juni der ehemalige Trainer von Eintracht Frankfurt gestorben ist?», fragte Dorothea in eine verknitterte Zeitung starrend.
«Nein, habe ich nicht gewusst. Bis vor zwei Jahren habe ich geglaubt, Eintracht Frankfurt wäre ein Trachtenverein. Du weißt doch, Fußball ist überhaupt nicht mein Thema, da kenne ich mich null Komma null aus.»
«Darum geht es mir auch nicht. Der Name ist irgendwie komisch.»
«Wieso, welcher Name ist komisch?»
«Der von dem verstorbenen Trainer»
«Wie heißt der denn?»
«Er hieß ‚Berger‘.»
«Seit wann ist ‚Berger‘ ein komischer Name? So heißen wir doch auch! Wenn du den Namen jetzt komisch findest, hättest du mich besser nicht heiraten sollen.»
«Wie lautet denn der Name deines Auszubildenden?»
«Hä? Was ist das schon wieder für eine Frage?»
«Nun sag schon!»
«Dennis – so heißt der Blödmann.»
«Nein, ich meine den Nachnamen!»
«Den Nachnamen? Hölzenbein – Dennis Hölzenbein – der Name passt eigentlich ganz prima zu dem Vollpfosten. Oder hast du daran etwas auszusetzen?»
«Nein gar nicht – hier steht nur diese seltsame Überschrift im Sportteil aus dem Juni.»
«Was ist daran seltsam? Nun rück schon raus mit der Sprache!»
«GRABOWSKI UND HÖLZENBEIN REISEN ZUR BEERDIGUNG BERGERS»
«Bitte was?»
«Ja, genau das steht hier, deine Angestellte heißt doch Grabowski oder etwa nicht?»
Berger legte das iPad aus der Hand, stand auf, kurvte um den Küchentisch und blickte wortlos über die Schulter seiner Frau in die Zeitung. Tatsächlich, in einer knappen Meldung berichtete die FAZ, dass Bernd Hölzenbein und Jürgen Grabowski, beide WM-Helden von 1974 und Sportrepräsentanten der Frankfurter Eintracht, zum Begräbnis des verstorbenen Trainers Jörg Berger gereist waren.
«Eine gruselige Namensgleichheit – oder etwa nicht?», fragte Dorothea und sah ihn dabei an, als hätte er soeben den Fährmann am Styx bezahlt, der ihn in Bälde in das Reich der Toten überstellen würde.
«Ein blöder Zufall, außerdem sind es ja andere Vornamen», konterte Berger.
«Das wäre ja der Gipfel, wenn die Vornamen auch noch übereinstimmen würden, dann wärst du höchstwahrscheinlich tot.»
Damit hatte sich das Frühstück erledigt, nicht nur der Stimmung wegen. Während seine Frau ins obere Stockwerk verschwand, um sich für den Kirchgang zurechtzumachen, stand er eine Weile konsterniert in der Küche, bis er entschied, das Geschirr in die Spülmaschine einzuräumen. Den Küchentisch hatte er just mit einem feuchten Tuch von den Toastkrümmeln und Kaffeeflecken befreit, als es an der Haustür klingelte. Sein Puls beschleunigte, sein nächtlicher Traum grüßte ihn wie ein unheilbringendes Déjà-Vu. Hatte er diese Szene nicht schon einmal exakt so erlebt? Verdattert trocknete er sich die Hände am karierten Geschirrtuch und wirkte wie eingefroren, als Dorothea aus dem Badezimmer herunterrief: «Gehst Du zur Tür? Jemand hat geklingelt.»
Zögerlich und lautlos schlich Berger in die Diele, näherte sich vorsichtig dem Hauseingang, spähte durch den Türspion. Er erschrak so sehr, dass er wie von einem Faustschlag getroffen zu Boden sank. Am ganzen Körper zitternd saß er auf den kalten Natursteinfliesen, kaute nervös an den Fingernägeln. Berger wollte es kaum wahrhaben: Vor seinem Haus standen zwei Männer in Lederimitatjacken, einer von Ihnen telefonierte mit einem Smartphone.
Was sollte er nun tun, fragte er sich verzweifelt. Bloß nicht die Tür öffnen, das war das Einzige, das ihm unverrückbar festzustehen schien.
Die Klingel tönte erneut, Dorothea keifte aus dem Schlafzimmer: «Was ist los? Gehst du nun hin oder nicht? Sonst mache ich es!»
Berger blickte ehrfürchtig zum Treppenaufgang, auf dem seine Frau im nächsten Augenblick zu erscheinen drohte. Dann starrte er zum schmiedeeisernen Schlüsselbrett hinüber, das gleich neben dem Eingang an der Wand hing. Sein Schlüssel fehlte, wo hatte er ihn gelassen?
Die Tür konnte er gar nicht öffnen – ohne den Hausschlüssel. Nachts wurde das Haus immer bis zum Anschlag verriegelt. Dorothea bestand darauf, sie könne sonst nicht beruhigt schlafen, seit Jahren wurde ihm das eingebläut.
Mühsam zog er sich an der kalten Türklinke hoch und äugte ein weiteres Mal durch den Spion. Der Smartphone-Typ hatte das Telefonieren eingestellt, filmte mittlerweile die Fassade des Hauses. Sein graubärtiger Kollege strich mehrmals mit beiden Händen über das Gesicht. Sympathisch sieht anders aus, sagte sich Berger.
Wie eine aufgescheuchte Heuschrecke sprang er plötzlich zur Garderobe herüber, suchte fieberhaft nach dem Schlüssel. Nicht, dass er ihn versehentlich am vergangenen Abend außen an der Haustür hatte stecken lassen, als er vom Wochenendeinkauf heimgekehrt war. Dieses Missgeschick passierte schon einmal ein paar Wochen zuvor. Dorothea hatte ihm daraufhin die Hölle heiß gemacht.
Es klingelte abermals. «Was ist los, bist Du taub? Ich komme jetzt runter und mache selbst auf!», brüllte seine Gattin. Berger hörte bereits ihre entschlossenen Schritte im Flur des oberen Stockwerks. In seiner Verzweiflung griff er nach Dorotheas Handtasche am Garderobenhaken, um ihren Hausschlüssel zu verwenden – denn irgendetwas musste er unternehmen.
Berger staunte nicht schlecht, als ihm die knallrote, kalbslederne Designertasche bleischwer aus den Händen glitt und dumpf auf dem Dielenboden aufschlug. Er bückte sich, zog den endlos langen Reißverschluss auf und hielt fassungslos den Atem an. Ein blankes Rohr, ein Stück Edelstahl mit der Aufschrift ‚Smith & Wesson‘ bleckte ihm aus dem türkisen Stofffutter entgegen. Berger bugsierte einen mächtigschweren Revolver hervor, legte ihn behutsam auf die Steinfliesen. Seit wann trug seine Ehefrau eine Waffe bei sich? Von Neugier und Entsetzen angestachelt, durchwühlte er nochmals die Tasche und entdeckte neben einer Packung mit zwanzig Schuss Munition auch ein unverschlossenes, braunes Kuvert. Darin steckten zwanzig 500-Euro-Scheine – exakt zehntausend Euro.
Für jeden Schuss ein Schein, dachte Berger, als es zum vierten Male klingelte und Dorothea wutentbrannt die Treppe hinunterstolperte.
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