Seitenwind 2024 beginnt! 1. Teil

Als der Mann sein Gehirn filmreif im Vorgarten der Bergers verteilte, stand Fynn in seinem Zimmer gegenüber. Vom oberen Stockwerk hatte er die beste Aussicht auf die Grundstücke der umliegenden Nachbarn. Sein Plan, zu Mareen zu fahren, war damit vorerst Geschichte.
Sein Smartphone lag am PC, wo er es in die Hände nahm und vom Ladekabel trennte. Sein Blick schweifte beiläufig zum Fenster und fing die beiden Männer ein. Der Ältere von ihnen blieb am Tor der Bergers stehen. Er zögerte, sagte etwas zum Jüngeren und starrte verdrossen zu Boden. Schließlich überwanden sie den kleinen Vorgarten und klingelten.
Fynn überprüfte den Akkustand. 84%, das reichte für den Tag. Er packte es vorne in den Rucksack und wandte sich zum Gehen. Der erneute Blick aus dem Fenster hielt ihn davon ab. Herr Berger stand im Rahmen seiner Haustür und wirkte leicht verblüfft. Ein dicker Blutnebel flog aus dem Hinterkopf des älteren Mannes Richtung Himmel und kleine Stückchen von was auch immer schafften es bis zum Lavendel am Treppenende. Starr fiel er hintenüber und rutschte die Stufen nach unten in den Vorgarten.
Der Knall war durch das Fenster gedämpft, dennoch stolperte Fynn einen Schritt zurück. Erschrocken riss er die Hände nach oben und bedeckte den Mund. Der Laut blieb ihm in der Kehle stecken.
Es war brutal, aber anders wie in den einschlägigen Filmen. Eher unspektakulär. Dafür endgültig. Der Fremde würde nicht mehr aufstehen und im nächsten Streifen eine neue Rolle übernehmen. Außer es war ein Zombiestreifen.
Fynn war alleine im Haus, trotzdem rief er nach den Eltern. Das schien im Augenblick das Sinnvollste. Keine Antwort, was für ein Wunder. Die Haut kribbelte und die Knie trugen ihn nicht mehr. Doch er hielt die Stellung und zwang seine Blase, nicht schwach zu werden. Die Polizei anrufen? Das würde Herr Berger erledigen.
Die Bergers. Die unscheinbarsten Anwohner in ihrer Straße. Sie waren kinderlos, pilgerten jeden Sonntagmorgen in die Kirche und halfen gerne aus, wo Hilfe benötigt wurde. Daher war es umso bizarrer, dass ausgerechnet bei ihnen so etwas geschah. Wäre das bei Matteo zwei Häuser weiter passiert, hätte das niemanden verwundert. Seine ganze Erscheinung war zwielichtig. Ciao Mafia. Aber bei den Bergers?
Fynn überlegte, seinen Vater anzurufen, doch wie immer würde die automatisierte Stimme einen Rückruf zusichern. Seine Mom war im Fitnessstudio und hatte das Handy ausgeschaltet.
Er hob den Blick und sah den jüngeren Mann, wie er die Leiche mit dem Smartphone filmte und aufgeregt herumschrie. Dann rannte er davon, die Straße runter in Richtung des kleinen Gemeindeparks. Das war nicht okay.
Kurzentschlossen eilte Fynn mit wackeligen Beinen aus dem Haus und war froh, dass er sein Cube-Bike nicht abgeschlossen hatte. Schnell schmiss er sich auf den Sattel. Die Haut kribbelte nicht mehr, sie brannte. Mit klopfendem Herzen folgte er dem fliehenden Mann.

„Ruf die Polizei an!“, Richard’s Stimme wurde lauter, als er sich wiederholte. Dorothea, die im Flur wie angewurzelt dastand, erwachte aus ihrer Schockstarre und suchte hektisch ihr Telefon in ihrer Handtasche. Vor Nervosität fielen ihr ein paar Gegenstände aus der Tasche und kullerten auf den Boden. Richard verbarrikadierte die Tür, blieb aber dort stehen, um durch den Spion die Lage im Blick zu behalten. Wer war der Mann, der draußen am Weg lag? Hatte der junge Typ ihn bedroht? Warum hatte er dann nicht auf diesen gezielt? Tausend Fragen schwirrten in seinem Kopf herum. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Polizei endlich eintraf. Der Tatort wurde abgeriegelt und immer mehr Einsatzkräfte versammelten sich im Vorgarten der Familie Berger. Die Spurensicherung begann draußen mit der Arbeit und Richard und Dorothea wurden von zwei Beamten interviewt. Nachdem er ihnen die Situation geschildert hatte, schnaubte der ältere der beiden Polizisten. „Jetzt haben wir diese Spinner auch schon in unserer Stadt, die breiten sich aus wie eine Krankheit“, sagte er mürrisch und mehr zu sich selbst. „Sie meinen?“, fragte seine Frau verwundert, die sich aktuell aus der Konversation zurückgehalten hatte. Der jüngere Beamte versuchte, eine Erklärung abzugeben, doch der Andere fiel ihm ins Wort. „Wissen Sie wir haben in unserem Job mit vielen Irren zu tun, deshalb werden wir uns jetzt wieder an die Arbeit machen“, er stand energisch auf und brachte seinen Kollegen mit einem strengen Blick zum Schweigen. „Melden Sie sich, wenn Ihnen noch etwas auffallen sollte“. Mit diesen Worten verabschiedete er sich und sein Partner stapfte ihm folgsam hinterher.

Dorothea nahm die Hand ihres Mannes, sah ihn mit besorgtem Blick an und fragte: „Meinst du die haben es auf uns abgesehen?“ Richard schüttelte den Kopf und seine Stimme wurde leise: „Nein ich glaube nicht, sonst gäbe es nicht offensichtlich schon mehrere Fälle, aber die versuchen das zu vertuschen.“ Richard erhob sich vom Küchentisch und ließ Dorothea alleine dort sitzen. Er stürmte in den Vorgarten, an der Leiche und dem Trubel vorbei und auf die Straße hinaus. Er brauchte frische Luft, um klar denken zu können. Misstrauisch sah er sich an der Straße um und lehnte sich dann an eines der Fahrzeuge an. Jetzt brauchte er erstmal eine Zigarette, der Gottesdienst würde für sie heute ausfallen. Plötzlich vernahm er Stimmen vor dem Fahrzeug, während etwas eingeladen wurde. Er belauschte unfreiwillig das Gespräch. „Hast du gehört? Die Opfer in den anderen Städten waren allesamt Pfarrer, dieser hier wahrscheinlich auch“, sagte eine raue Stimme. „Wirklich? Aber nicht von unserer Kirche hier, den kenne ich nämlich“, flüsterte eine hellere Stimme, die zu einer Frau gehörte. „Ja ich hab da interne Infos von Kollegen aus Mannheim, meinst du, das ist so eine religiöse Sache?“, fragte er. „Mhm ich weiß nicht, aber in die Luft gesprengt hat sich zumindest keiner, aber wer weiß…“, sagte die Frau, bevor die Seitentür des Wagens zugeschlagen wurde. Richard zuckte zusammen und bis er jemand bemerkte, dass er das Gespräch belauscht hatte, lief er mit seiner brennenden Zigarette zurück zum Haus. Er stolperte vor Aufregung über die Türschwelle, um dann auf einem kleinen Gegenstand im Flur auszurutschen. Er fluchte, derweil rutschte ihm sein Glimmstängel aus dem Mund und er landete auf seinem Hintern. Er hob den Übeltäter, der wie ein Lippenstift seiner Frau aussah, doch die Kappe war abgefallen und er bemerkte, dass es sich um einen USB-Stick handelte. Verwundert starrte er das getarnte Teil an und schob es dann in seine Hosentasche. „Dorothea“, rief er und richtete sich stöhnend auf. Er humpelte zur Küche und öffnete die Tür. Seine Frau beendete sofort ihr Telefonat und fuhr erschrocken zu ihm um. „Mit wem hast du gesprochen“, fragte er. Sie antwortete zu schnell und er ahnte, dass sie ihn anlog, ließ sich aber vorerst nichts anmerken. Er griff in seine Tasche, behielt sein Fundstück jedoch bei sich. Was zum Teufel passierte hier nur?

Seinen Rücken presste er gegen den Türrahmen, in der Hoffnung, dass dies alles nicht Geschehen war. Die Worte des jungen Mannes hallten in seinen Ohren.
„Sie haben ihn umgebracht!“
Nein! Er hat keinen umgebracht. Oder? Man gibt nicht irgendwelchen wildfremden Leuten an der Tür zehntausend Euro, weil sie drohen sich umzubringen?
Dorothea eilte auf ihn zu „Richard? Was ist passiert?“
Bevor er antwortete, klingelte es erneut.
Sein Herzschlag pumpte in seiner Brust. Mit buttrigen Knien wendete er sich dem Spion in der Tür zu. Der Jüngere stand davor, in aller Seelenruhe, mit dem weiter filmenden Handy in der Hand.
„Öffnen Sie Herr Berger! Ihr Spiel startet jetzt und hier!“
„Ruf die Polizei Dorothea!“ Richard Berger riss die Tür auf.
„Was ist das hier für ein miserabler Scherz? Was wollen Sie von mir?“
Auf dem Plattenweg lag die Leiche des älteren, das Blut hatte sich weiter ausgebreitet. Von den Platten floss ein Blutrinnsal herunter, in das Beet, auf das dort liegende Eichenlaub. Für einen Schabernack zu echt, ebenso die roten Sprenkel und Stücke mit Haaren auf dem Buchsbaum.
Der Mann, vielleicht zwanzig, antwortete nicht. Er drehte den Bildschirm des Handys Richard zu. Es erschien das Gesicht einer jungen Frau und ihm schnürte es die Luft ab. Hinter ihm schrie Dorothea auf: „Nicole!“
Aschfahl leuchtete ihr Gesicht und die dunklen Augen sahen riesig in die Kamera.
Ihr Mund bewegte sich, der Ton war aus. Das Bild schwenkte weiter und Richard sah, dass man jemand anderes wegführte. Beide Hände hielt dieser vors Gesicht.
Der junge Mann zog das Handy wieder fort, filmte erneut.
„Sie sind dran Herr Berger. Ich Binge Sie zu unserem nächsten Teilnehmer. Erhalten Sie von ihm zehntausend Euro, lassen wir ihre Tochter und sie frei. Schaffen Sie es nicht, bringen Sie sich auf der Stelle um oder Ihre Tochter stirbt.“
„Verweigern sie die Teilnahme oder verständigen sie die Polizei -“, sein Blick huschte zu Dorothea, „ stirbt ihre Tochter. Folgen Sie mir Herr Berger."

Marion Wesp schob den Kabinentürriegel der engen Damentoilette vor. Sie klappte den Klodeckel nach unten und setzte sich. Dann schloss sie die Augen und atmete dreimal tief durch. Nach dem dritten Atemzug löste sie ihre nervös gefalteten Hände. So hatte sie sich ihren ersten Tag als leitende Ermittlerin im Morddezernat nicht vorgestellt. Nicht einmal ein eigenes Büro stand ihr zum Nachdenken zur Verfügung. Nebenan ging es zu wie in einem Bienenstock. Jeder wusste, was zu tun war. Telefonierte, recherchierte, kondolierte. Das alles hatte sie an die Kollegen delegiert. Nur was sie selbst tun sollte, darüber war sie sich überhaupt nicht klar. Musste man so einen Fall sofort beim Innenministerium melden? Sie sollte das nachher mit dem Direktor besprechen.
Beruhig dich! Was unterscheidet einen Selbstmord von einem Mord? Außer, dass einem die Presse in Ruhe lässt. Werther-Effekt.
Sie zog ihr Handy hervor und googelte „Teilnahme an einem Suizid“.
Laut StGB war die Anstiftung oder Beihilfe straffrei, sofern die Tat von einem vollverantwortlich Handelnden ausgeführt wurde. Selbstmord war keine vorsätzlich rechtswidrige Haupttat. Hmm. Diesen Fall würde sie trotzdem nicht so schnell zu den Akten legen. Bauchgefühl.
Automatisch wählte sie die oberste Nummer ihrer Anrufliste. Es war von Vorteil, wenn der eigene Vater Gerichtspsychologe war.
„Hallo Paps. Hast du schnell Zeit?“
„Hallo. Wo drückt der Schuh, Frau Inspektor?“
„Wo liegt der Unterschied, ob jemand droht dich umzubringen, wenn du ihm nicht sofort 10.000 Euro gibst, oder sich selbst umzubringen?“
Sie hörte ihren Vater lautstark Luftholen. „Das ist wirklich passiert?“
„Natürlich nur hypothetisch. Laufendes Verfahren. Du weißt schon…“
„Tja. Wenn du nicht von Haus aus ein deprimierter Säufer bist, wäre dir dein eigenes Leben um einiges mehr wert als, wieviel? 10.000 Euro?“
„Ja.“ Sie dachte an den armen Herrn Berger. Der mit den Nerven am Ende war. In diesem Fall gab es zwei Opfer. Ein totes und ihn. Er musste bis an sein Lebensende mit seiner Rolle fertig werden.
Ihr Vater spekulierte weiter: „Eine Verzweiflungstat? Wobei, wenn du so richtig am Arsch bist, helfen dir 10.000 Euro auch nicht, oder? Du kannst dir keine neue Wohnung kaufen, vielleicht noch ein altes Auto.“
„Was wenn er das Geld für eine lebensrettende Operation benötigt hätte?“
„Für 10.000? Meine Bandscheiben-OP hat schon mehr gekostet.“
„Was? Im Ernst? Das hast du gar nicht gesagt.“
„Wenn es einen selbst betrifft, spielt Geld keine Rolle. Das wolltest Du doch hören, oder mein Schatz?“
„Danke Paps. Du, ich muss dann wieder. Ruf mich an, falls Dir was dazu einfällt. Bussi.“
Sie ging zurück ins Büro. „Gibt’s schon was zum dem Mann mit dem Handy?“
Wenn er das Video live hochgeladen hatte, würden die Spezialisten der Cyber-Crime-Abteilung ihn ausfindig machen. Prabu, ihr IT-Alleskönner schüttelte nur kurz den Kopf, ohne den Blick von den drei Bildschirmen vor sich zu wenden. Er überprüfte die diversen Social Media Plattformen. Insgeheim zweifelte sie daran, dort fündig zu werden. Wenn es bei dieser Sache um Geld ginge, hätte man mit einem Spendenaufruf mehr Erfolg gehabt. Die Menschen sind so kurz vor Weihnachten doch immer sehr freizügig, wenn es um einen guten Zweck ging.
Marion sah fragend ihren Kollegen Stefan an, er hatte anhand des Ausweises, den der Tote bei sich hatte, dessen Identität überprüft und dafür gesorgt, dass die Angehörigen seelischen Beistand bekamen. Später würde sie selbst mit ihnen reden müssen. „Also? Wer ist der Tote?“
„Das ist ja das Komische. Für seine Familie kam sein Freitod aus heiterem Himmel. Er war Vorarbeiter bei BMW. Ist vor einem dreiviertel Jahr in Pension gegangen. Seither hatten er und seine Frau einen Hund, mit dem sie viel wandern und spazieren waren. Gerade hatten sie sich ein gebrauchtes Wohnmobil nett hergerichtet und wollten im Frühjahr ausgedehntere Touren unternehmen. Er war bei keiner Sekte. Keine Lebensversicherung. Von einer Lebenskrise keine Spur.“
Freitod, das Wort klang viel zu schön für den Anblick, den der Tote geboten hatte. Wie etwas, das ins Freie oder in die Freiheit führt. Aus diversen Seminaren wusste sie, dass Überlebende eines Suizidversuchs berichteten, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt nicht frei gefühlt haben.
Was ist mit Hypnose? Kann man damit einen Menschen zu so etwas zwingen? Ich hätte Paps fragen sollen! Sie wusste, auch bestimmte Arzneimittel können suizidaler Gedanken verursachen. Streng genommen war es auch Selbstmord, wenn ein Herzpatient seine Medikamente absichtlich nicht nimmt. Passiver Suizid.
„Chefin!“ Amra starrte sie bleich, mit schreckgeweiteten Augen, den Telefonhörer in der Hand, an. „Es ist gerade wieder passiert. Die Notrufzentral ist dran. Landstraße 119.“

Der Mann der Spurensicherung warf einen strafenden Blick, zuerst auf den Zigarettenstummel und dann auf den Urheber.
Hauptkommissar Daniel Hartmann trat den rauchenden Rest auf dem Bordstein aus, knöpfte sich die Jacke auf und suchte sich einen Weg vorbei an den am Boden platzierten Fähnchen und dem abgedeckten Leichnam, zum Eingang des Hauses.
»Das ist ein Tatort, verdammt nochmal«, fluchte der Mann in dem weißen Papieroverall.
Hartmann ignorierte das »Erstmal ist es ein Selbstmord. Hast du die Waffe oder Patronenhülsen gefunden?«
Der Mann verneinte und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Hartmann wendete sich an den Polizisten, der vor der Haustüre Wache stand »Wo sind die Zeugen?«
»Im Wohnzimmer, der Mann ist ziemlich fertig, ich …«, aber Hartmann hörte ihm schon nicht mehr zu. »Was wusste der schon.«

Im Haus hörte er aufgeregte Stimmen und ein schluchzen.
Bevor er in den Flur trat, betrachtete er die Haustüre genauer.
Er konnte keine Gewalteinwirkung erkennen.
Genau wie das letzte Mal. Verdammt, sie würden es wohl ernster nehmen müssen.
In der Wohnstube war reges treiben. Neben dem Polizisten und einer Rettungssanitäterin war noch ein Priester anwesend.
Die Sanitäterin hielt die Hand der Frau und sprach beruhigend auf sie ein. Daniel Hartmann winkte den Geistlichen zu sich und schlenderte die Hände in den Taschen langsam zum großen Fenster, welches die Terrasse vom Wohnraum abtrennte.
Er betrachtete den gepflegten Garten. Ein Haus in dieser Lage hatte sicher eine Stange Geld gekostet.
»Ja bitte?«, sprach ihn der Priester an.
»Hauptkommissar Hartmann, Kripo Frankfurt«, flüsterte dieser und klappte seinen Ausweis auf. »Ist er vernehmungsfähig und hat er schon was gesagt?«
Der Priester runzelte die Stirn. »Mein Name ist Wolff und ich bin Notfallseelsorger. Ob der Mann vernehmungsfähig ist, sollten sie einen Arzt fragen und alles, was er zu mir gesagt hat, fällt in meine Schweigeverpflichtung. Es tut mir leid, ihnen da nicht helfen zu können.«
»Er hat doch nicht gebeichtet und außerdem handelt es sich eventuell um ein Verbrechen«, konterte Hartmann. Der Pfarrer zuckte mit den Schultern »Das tut nichts zur Sache.«
Hartmann hatte nicht vor zu warten.
»Herr Berger?« Hartmann zog wieder seinen Ausweis hervor.
Richard Berger sah langsam an ihm hoch. Sein Blick war gebrochen und Hartmann konnte erkennen, dass er vor kurzem geweint hatte. Die roten Ränder an seinen Augen waren kaum zu übersehen.
»Hartmann, Kripo Frankfurt. Können sie erklären, was hier eben vorgefallen ist?«
»Ich äh, ja einen Moment.« Berger stand mühsam auf, zog sich seine Sonntagsjackett zurecht, wobei ihm auffiel, dass er sie immer noch trug.
»Bitte kommen sie mit, es ist nicht notwendig, dass meine Frau das nochmal hören muss.«
Der Polizist nickte und folgte ihm in die Küche.
»Kaffee?« Richard Berger zeigte auf den Vollautomaten.
»Ja bitte, schwarz.«
Das war gut. Hartmann wusste, dass man so vertrauen aufbaut. Der Mann würde ihm sagen, was er wusste.
Mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand berichtete Berger mit zitternder Stimme was er eben mit Ansehen musste.
Der Beamte wartete geduldig ab, bis Berger mit seinem Bericht fertig war.
»Kannten sie die Männer?«, Hartmann hatte sein Notizbuch gezückt und notierte sich einige Punkte.
Richard Berger verneinte das sofort.
»Können sie den Mann beschreiben, der sie gefilmt hat? Aussehen, Akzent, besondere Merkmale?«, fragte Hartmann weiter.
Richard überlegte. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich das Ganze erneut ins Gedächtnis zu rufen. Sofort sah er die rote Wolke, welche aus dem Kopf heraus stob und hörte er den Knall. Immer und immer wieder.
Der Mann mit dem Handy. Er erinnerte sich nicht, er hatte nur den anderen angesehen. Aber dann fiel ihm doch etwas ein.
»Er war jung, so um die 20. Vielleicht 25, aber nicht viel älter. Er trug so einen Kapuzenpulli, wie die jungen Leute ihn heutzutage tragen. Schwarz, glaube ich, auf jeden Fall war er dunkel. Die Haare waren blond, das Gesicht konnte ich nicht erkennen. Er sprach Deutsch. An einen Akzent kann ich mich nicht erinnern.« Er schluckte und sprach dann weiter.
»Er hat mich angeschrien, das ich schuld wäre. Das ich ihn umgebracht hätte. Aber ich habe doch nichts gemacht. Ich meine … das ist doch Erpressung oder nicht? Habe ich da etwas zu befürchten?«, stotterte Berger.
»Nein, nein. Sie sind nur Zeuge.« Hartmann winkte ab.
»Fällt ihnen noch etwas ein? Haben sie gesehen, wohin er gelaufen ist? Oder stieg er in ein Auto? Waren da vielleicht noch andere?«
Berger schüttelte mit dem Kopf »Ich habe die Tür zugeworfen und die Polizei gerufen. Ich dachte, der sprengt sich vielleicht in die Luft.«
Er notierte sich das, maß ihm aber nicht viel Bedeutung zu. In so einer Phase waren Zeugen extrem aufgewühlt und die Aussagen unzuverlässig.
Er würde die Befragung an einem anderen Tag wiederholen.

Hartmann stellte die Tasse weg, gab ihm seine Karte und die übliche Bitte sich zu melden, falls ihm noch etwas einfiel.
Richard Berger war nicht der Typ für soziale Medien, anders war es kaum zu erklären, dass er von dem anderen Vorfall noch nichts gehört hatte.
Das verbreitete sich gerade wie ein Lauffeuer und er ging davon aus, das er das heutige Video spätestens im Büro zu sehen bekam.
Hartmann trat vor die Tür und zündete sich eine Zigarette an. Er beobachtete die Bestatter dabei, wie diese den Toten in den Kombi schoben.
Dann warf er einen Blick auf den Blutfleck. Dieser war nicht so groß, wie er erwartet hatte und ihn schlussfolgern ließ, dass die Kugel den Schädel verlassen hatte, ohne größere Stücke wegzusprengen. Es war trotzdem eine Sauerei. Die Bergers würden ihren Eingang selber reinigen müssen.
In diesem Moment klingelte sein Telefon und mit einem Blick auf die Anruferkennung wusste Hartmann schon, worum es ging.
»Es ist online« hörte er die Stimme seiner Kollegin Sina.
»Genau wie beim letzten Mal. Aber diesmal geht es noch weiter.«
»Weiter?«, fragte Hartmann, blieb neben seinem Wagen stehen und hörte ihr zu.
»Ach du scheiße« fluchte er »ich bin auf dem Weg«, er startete den Wagen und gab gas.
Das hier war dabei, sich zu einem Alptraum entwickeln.

»Also was haben wir?« Kommisariatsleiter Van de Haff zog sich den Sessel unter und beugte sich nach vorne über den Tisch.
Daniel Hartmann nickte seiner Kollegin zu und Sina startete das Video.
Auf dem großen Bildschirm erschien ein mystisches Logo und in Folge erschien eine Person mit einer Guy Fawkes Maske.
Der Mann, Hartmann vermutete, dass es ein Mann war, hatte den schwarzen Hoodie über den Kopf gezogen.
Irgendwie wusste der Polizist schon, worum es ging, bevor die Person anfing zu sprechen. Die Maske wurde eigentlich immer verwendet, wenn irgendwelche selbsternannten Revolutionäre mit Umsturzplänen an die Öffentlichkeit traten. Meist begannen solche Ansprachen mit, wir müssen aufwachen oder die da oben und so weiter. Diesmal war aber etwas anders. Normalerweise blieb es bei den schlecht gemachten Videos und dem ideologischen Blödsinn. Diese Truppe hier hatte aber gehandelt, bevor sie sich offenbarten.
Der Mann fing an zu sprechen. Seine Stimme war tief und nur geringfügig verändert. Das zeigte das er selbstbewusst und angstfrei handelte. Das machte dem Polizisten sorgen.
»Es ist an der Zeit« begann die Person hinter der Maske und machte eine Pause.
»Es ist an der Zeit das sich die Dinge verändern. Wir müssen die Dinge verändern. Und wenn wir fertig sind, werden sie sich verändert haben.«
Wieder diese nervige Pause.
»Der Kapitalismus, welcher uns eine sonnige Zukunft versprach, hat sich zu einer dunklen Wolke gewandelt und treibt vom Horizont auf uns. Wir wurden in den Zielen getäuscht. In Wahrheit wurden wir zu Sklaven gemacht. Mit Zuckerbrot und Peitsche in das System gezwungen. Brot und Spiele. Brot und Spiele. Zum Wohle weniger werden viele geopfert«, sprach die Stimme langsam und verschwörerisch. Er hob den Finger und zeigte auf den die Kamera.
»Wir werden euch diese Perversion vor die eigenen Augen halten. Jeden Sonntag werden wir einen Gefallenen zu einem den Eurigen bringen, und vor die Wahl stellen ihn zu Retten oder zu töten. Mit jedem den ihr umbringt, wird euer Konstrukt mehr ins Wanken geraten und am Ende werden wir auf den Trümmern eures Egoismus eine neue Zukunft aufbauen können.«
Das Zeichen erschien erneut und dann endete das Video.
Van de Haff Gesichtsausdruck zeigte mehr als deutlich, das er das ganze für vollkommenen Blödsinn hielt.
»Was sind das denn für eine verschwurbelte Spinnerei? Konnten wir die Website zurückverfolgen?«
Hartmann sah Sina an. Sie war die Expertin für alles, was mit Nullen und Einsen zu tun hatte.
»Wir sind dran, aber nein, so einfach ist das nicht. Das Video wurde über eine unbekannte IP eingespielt und dann an zig Newsrooms verteilt. Diese waren dann mit dem Video der heutigen Aktion verlinkt. Das teilen die Menschen nun über die sozialen Medien weiter. Unmöglich das aufzuhalten und die Herkunft zu ermitteln könnte uns Monate beschäftigen. Wenn überhaupt.«
Im Anschluss spielte sie das Video ab, das am Morgen bei den Bergers aufgenommen worden war.
Das Video war stellenweise unscharf und äußerst wackelig aufgenommen. Entweder war der Filmer sehr nervös oder die Qualität der Kamera schlecht. Richard Bergers Gesicht erschien im Türspalt.
Alle im Raum Anwesenden verfolgten angespannt die Vorgänge auf dem Monitor. Als der Mann unvermittelt die Waffe zog und abdrückte, zuckte Van de Haff zusammen. Sina hatte sich die Szene bereits mehrfach ansehen müssen und ersparte sich diesmal den Anblick.
Der Mann hielt dem vollkommen geschockten Berger die Kamera direkt vor das Gesicht und schrie ihn an, für den Tod des Mannes verantwortlich zu sei. Berger knallte die Tür zu. Das Video verharrte einen Augenblick auf dem Toten, der vor den Stufen auf dem Boden lag. Man konnte nun beobachten, wie ein kurzläufiger Revolver aufgehoben und in eine Tüte verpackt wurde. Das Bild wackelte erneut und dann erschien ein Gesicht im Bild.
Mist, dachte Hartmann. Das erklärte das Fehlen der Patronenhülse.
»Einer von euch, durch euch gerichtet.«
Auch hier endete das Video mit dem Logo.
Sina schloss den Browser und blendete nun das Gesicht des toten Mannes ein.
Hartmann räusperte sich und ergriff das Wort.
»Das Video gleicht dem, welches letzten Sonntag ins Netz gestellt wurde. Dort tauchten ebenfalls zwei Männer bei … «
Hartmann öffnete sein Notizbuch » … dem Rechtsanwalt Dr. Frederik Roßkopf auf und versuchten, auch dort zehntausend Euro zu erpressen. Als Roßkopf mit der Polizei drohte, hat sich dieser Mann vor seiner Tür erschossen.«
Hartmann zeigte auf das Gesicht auf dem Monitor.
»Auch hier trug die zweite Person eine Maske und äußerte das gleiche Mantra.«
»Wer war das Opfer?«, fragte Van de Haff mit dem Blick auf den Monitor. Er war darüber natürlich unterrichtet worden, aber hatte die Ermittlung an Hartmann abgegeben, um sich nicht darum kümmern zu müssen.
»Hermann Rugen, 58 Jahre, verheiratet, zwei Kinder. Bis letztes Jahr arbeitete er für die Deutsche Bank als Anlageberater. Recht erfolgreich. Aber dann wurde er gefeuert. Wir waren bei seiner Frau, aber die weiß entweder nichts oder sagt uns nichts.«
Hartmann überlegte laut »Einer von Euch, durch Euch gerichtet.«
Sina unterbrach ihren Bericht und sah ihren Teamleiter erstaunt an.
Hartmann fuhr fort.
»Rugen gehörte zur Finanzwelt und hat sich erschossen, weil seinesgleichen nicht gewillt war, ihn zu unterstützen.«
»Sina, weswegen wurde er gefeuert? Hatte er Schulden und wenn ja bei wem? Irgendwer hatte ihn dermaßen an den Eiern, das er sich für diese Sache opfern musste. Wir müssen nochmal zu seiner Frau. Sie weiß etwas, da bin ich mir ganz sicher.«
In dem Moment klopfte es an der Tür. Sina öffnete und nahm einen Hefter entgegen.
Hartmann mutmaßte »Wurde er identifiziert?«
Sina nickte, während sie die ersten Seiten durchblätterte.
Sie reichte Hartmann das Pamphlet und warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
Van de Haff wurde ungeduldig »Was ist denn jetzt?«
Sina klärte ihn auf.
»Er war Immobilienmakler. Hatte sich bei windigen Geschäften verkalkuliert und alles verloren. Lebt seit einigen Monaten in Scheidung.«
Hartmann knallte die Unterlagen auf den Tisch.
»Die gleiche Geschichte. Die schnappen sich pleite gegangene Geschäftsleute, die nichts mehr zu verlieren haben und so wollen sie eine Welle auslösen, indem sie der Bevölkerung zeigen, dass Reiche sich gegenseitig auffressen, wenn man die richtigen Knöpfe drückt.«
»Das kann doch nicht deren Ernst sein«, sagte sein Chef.
»Ich befürchte doch.« Hartmann sehnte ich nach einer Zigarette.
»Sehen sie zu das sie diese Verrückten schnellstens aus dem Verkehr ziehen, Hartmann. Sie haben freie Hand, morgen will ich einen Bericht«, beendete Van de Haff die Sitzung und verließ das Büro.
Sina flüsterte »1 Millionen Likes und das nach nur einer Stunde.«
»Wir brauchen jede Hilfe, die wir bekommen können, bald wird es erste Nachahmer geben.«
»Warum nur 10tausend?«, fragte Sina.
Das war eine gute Frage, dachte Hartmann und griff zum Telefon.

Dorothea, die inzwischen eine feine Goldkette mit einem kleinen goldenen Anhänger in Form eines Herzens – ein Geschenk ihres Mannes zu ihrer Silberhochzeit – angelegt hatte und im Türrahmen des Wohnzimmers erschien, sah ihn an. Ihr Gesicht war blass. „Richard, was ist passiert? Was war das für ein Knall. Was ist los?“

Er brachte kein Wort heraus. Die Schreckensbilder saßen ihm wie eine Klaue im Nacken: Der Mann mit der Pistole, der Schuss, das Blut. Die schreiende Stimme des zweiten Mannes, die ihn als Mörder brandmarkte.

Berger merkte, dass er noch immer die Türklinke krampfhaft umfasste. Er ließ sie los, als hätte er sich an ihr verbrannt. Wie er sich zu Dorothea umdrehte, zitterten seine Hände.

„Da… draußen. Da draußen hat sich einer erschossen. Hat sich in den Kopf geschossen.“
Berger holte tief Luft, dann sagte mit lauter Stimme: „Nun mach schon, ruf die Polizei.“

Dorothea stieß einen erschrockenen Laut aus, drehte sich um und lief in das Wohnzimmer. Berger wandte sich wieder der Tür zu, aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie seine Frau hektisch ihre Handtasche durchsuchte und ihr dann vor lauter Aufregung fast das Smartphone aus den Händen fiel. Richard Berger starrte die Tür an, als hätte sie sich in ein eigenständiges Wesen verwandelt. Er hörte das lauter werdende Rauschen seines eigenen Blutes, die gedämpfte Stimme seiner Frau aus dem Wohnzimmer, die jetzt ins Telefon sprach. Zögernd machte er einen Schritt nach vorne und spähte nochmals durch den Spion. Da lag er, der Tote. Unverändert. Nur die Blutlache unter seinem Kopf war deutlich größer. Nie zuvor in seinem Leben hat Berger einen Toten gesehen. Er blinzelte und wunderte sich, wie viel Blut inzwischen schon die Platten bedeckte. Hatte ein Mensch so viel Blut in sich?

Im Hintergrund erkannte Berger den jüngeren Mann, der sich abgewandt hatte und das Smartphone mit beiden Händen vor das Gesicht hielt. Seine Daumen huschten schnell über den Bildschirm.

Erschrocken machte er einen Schritt zurück und wäre dabei fast über das kleine Beistelltischchen gestolpert, das in der Nähe der Tür stand und auf das er immer seine Schlüssel legte, wenn er nach der Arbeit nach Hause kam. Abermals merkte er, wie das Blut in seinen Ohren rauschte und er kaum Luft bekam, obwohl er immer wieder schnell einatmete.

Kurz nachdem der Schuss ertönte, erschien ein weiterer Mann in der schmiedeeisernen Pforte. Er hatte eine graue Stoffhose an, schwarze Lederschuhe und einen dunkelblauen Trenchcoat. Die altmodische Erscheinung wurde durch den Hut unterstrichen, einen dunkelgrauen Fedora. Unter dem Arm trug er eine leicht abgewetzte Dokumentenmappe aus Lederimitat.

Der Neuankömmling ging zu dem jüngeren Mann, der von seinem Smartphone aufschaute. Beide unterhielten sich leise miteinander, wobei es den Anschein hatte, dass der Jüngere unaufgeregt die Fragen des Älteren beantwortete. Dann erst machte er zwei Schritte nach vorne und blickte auf die reglose Gestalt hinab. Mit einem kleinen Nicken, wie um sich selbst etwas zu bestätigen, öffnete er seine Dokumentenmappe und holte ein beschriebenes Blatt Papier hervor. Dieses sah er kurz durch, bevor er aus seiner Innentasche einen Stift hervorholte und auf dem Papier, die Mappe als Unterlage nutzend, an verschiedenen Stelen einzelne Notizen machte. Den Stift steckte er dann wieder in seine Mantelinnentasche, faltete das Papier sorgsam und verstaute auch dieses in einer Tasche seines Trenchcoats. Dann ging er auf die Haustür zu und klopfte mit seiner rechten Hand dagegen.

Berger schreckte zusammen, als er das Klopfen an der Tür vernahm.

„Gehen Sie weg! Ich habe die Polizei gerufen.“ In seinen eigenen Ohren klang seine Stimme schrill.
„Herr Berger. Machen Sie bitte die Tür auf.“ Die Stimme von der anderen Seite der Tür kannte Berger nicht. Sie klang bedächtig und gefasst, fast schon vertrauenerweckend. Vorsichtig wagte er sich einen Schritt nach vorne und spähte wieder durch den Spion. Der Mann, der da vor seiner Tür stand, war ihm unbekannt. Und von der Polizei kam er sicher nicht. Hastig machte Berger wieder einen Schritt zurück.

„Nein“, schrie er förmlich. „Verschwinden Sie endlich!“

„Nun gut“, sagte die fremde Stimme. „Dann hören Sie mir wenigstens zu. Sie haben sicher erkannt, dass Sie sich in einer problematischen Situation befinden. Wie wollen Sie das alles der Polizei erklären? Ich möchte Ihnen helfen. Gemeinsam können wir Ihre Probleme aus der Welt schaffen. Ich lasse Ihnen etwas da, bitte werfen Sie einen Blick darauf.“

Der Mann im Trenchcoat lehnte einen schwarzen Papphefter, den er vorher aus seiner Dokumentenmappe gefingert hatte, gegen die Tür. Dann drehte er sich um und ging in Richtung der Pforte. Im Vorbeigehen nickte er dem jüngeren Mann kurz zu und gemeinsam verließen beide das Grundstück der Familie Berger.

Als sich Richard Berger mit einem Blick durch den Spion vergewissert hatte, dass beide gegangen waren, öffnete er die Tür. Sofort fiel ihm der Papphefter auf. Er nahm ihn in die Hand und schloss die Tür schnell wieder. Dann lehnte er sich mit den Rücken gegen die verschlossene Tür, öffnete den Hefter und nahm mehrere beschriebene Bögen Papier heraus. Er hatte seine Brille nicht auf, so konnte er nur die Überschrift erkennen:

				**Das Geld fremder Leute**

Als er - endlich! – aus der Ferne das Sirenengeheul der sich nähernden Polizei vernahm, fiel sein Blick auf seine ihm nun unpassend erscheinende Krawatte.

Zehntausend Euro
Woche eins
Von Kim Preyer

Dorothea rührte sich nicht. Sie starrte das Tor an, hinter dem die Leiche lag, als könnte ihr Blick das Eisen durchdringen, wenn sie die Augen nur weit genug aufriss.
Berger atmete drei Mal tief ein und wieder aus und wiederholte seine Aufforderung.
„Doro, ruf auf der Stelle die Polizei an. Ich weiß zwar nicht, was das da eben war, aber das man versucht uns etwas anzuhängen, das weiß ich sehr genau. Geh ins Haus und ruf die Polizei an. Bitte.“ Seine Worte waren gewählt, seine Stimme ruhig aber bestimmt. Seine Frau erwachte endlich aus ihrer Schockstarre und ging ins Haus. Richard ging zum Gartentisch und setzte sich auf einen der aus Kunststoff geflechteten Stühle. Das Gewebe ächzte synchron mit Richard unter der Last, die auf den Stuhl sank.
Jetzt endlich spürte er, wie seine Brust enger, sein Atem schneller wurde. Sein Puls begann zu rasen, kalter Schweiß brach ihm aus. Seit dem Pistolenschuss hatte er einfach nur funktioniert, Prioritäten abgewogen und das nötigste in die Wege geleitet, doch nun brach sich die Panik ihre Bahnen und vor seinem Geistigen Auge blitzte immer wieder das Bild spritzender Gehirnmasse auf und der Schuss hatte ein Echo erzeugt, dessen Widerhall noch immer in seinem Kopf herumspukte.
Er spürte eine feuchte Kälte auf seiner Brust. Aus seinem noch immer offen stehenden Mund tropfte beständig Speichel auf seine Brust. Er schloss den Mund, schluckte und blickte Richtung Tür. Seine Frau, immer noch leichenblass, kam heraus.
„Sie sind unterwegs“, brachte sie noch hervor, dann übergab sie sich auf den vor der Tür verstreuten weißen Kies. Richard half ihr in einen Stuhl und gab ihr einen Blumentopf, falls sich die letzten Mahlzeiten noch einmal ihre Bahnen brechen sollten. Dann ging er auf das schmiedeeiserne Tor zu.
„Was hast du vor?“, würgte Dorothea hervor und blickte über den Rand des Blumentopfes.
„Ich sehe nach, ob die immer noch da sind. Vielleicht kann ich sie dazu bringen, dazubleiben, bis die Polizei kommt“, wisperte ihr Mann in ihre Richtung. Dann legte er die Hand auf die Klinke und drückte sie herunter. Er presste sich gegen das Tor und öffnete sie nur einen Spalt breit. Schließlich hatte der Typ mit dem Smartphone eine Pistole. Da wäre es keine gute Idee das Tor einfach aufzureißen und sich als Zielscheibe zu präsentieren.
Er streckte eine Hand aus, so dass sie von der anderen Seite zu sehen sein musste. Nichts. Er winkte. Nichts. „Hallo? Sind Sie noch da? Ich wollte mit Ihnen noch einmal über die zehntausend Euro reden. Hallo?“ Stille. Er entfernte die Sicherheitskette, öffnete das Tor vollständig und warf vorsichtig einen Blick nach draußen.
Auf dem Boden lagen die Überreste des Mannes und bildeten eine große Lache aus gerinnendem Blut vor seinem Tor. Von dem Mann mit dem Smartphone gab es keine Spur.
Achtsam trat er auf die Straße und umrundete die Leiche, stets darauf bedachte nicht in das Blut zu treten. Es war das erste Mal, dass er einen Toten aus der Nähe, sah und bei allem Ekel, den das in ihm auslöste, durchflutete ihn auch eine Neugier, die er einfach befriedigen musste.
Aus dem Garten waren wieder Würgelaute zu hören, als Richard sich neben dem Kopf der Leiche hinhockte. Natürlich durfte man nichts berühren oder verändern, so viel verstand er immerhin von Spurensicherung und Kriminalistik, aber ein schneller Blick konnte wohl nicht schaden.
Das Loch war riesig. Hätte er sich auf den Boden gelegt und im richtigen Winkel zur einen Seite hineingeschaut, er hätte wohl einfach auf der anderen Seite, wo mal das Gesicht des Mannes gewesen war, wieder heraussehen können. In den Filmen, die er gesehen hatte, waren die Löcher viel kleiner gewesen.
Die Bröckchen, die in der Blutlache vor ihm überall verteilt waren, waren das schlimmste und so aus der Nähe betrachtet regte sich auch in seinem Magen ein unangenehmes Gefühl. Richard wollte sich grade wieder aufrichten, damit ihn nicht das gleiche Schicksal wie seine Frau ereilt und er sich auf eventuell wichtige Beweise übergibt, da viel ihm etwas auf. Mit der Jacke des Mannes stimmte etwas nicht. Als die beiden vor seiner Tür gestanden und auf ihn eingeredet hatten, da trugen beide das gleiche Outfit aus Jeans und einer Jacke aus Lederimitat, dessen war er sich ganz sicher.
In seiner Jugend hatte er für einen Kleidungsmarkt gejobbt, um sich sein Studium zu finanzieren, und dort viel über die Materialien die zur Herstellung verwendet wurden gelernt. Was ihre vor und Nachteile sind, wie sie bearbeitet und gepflegt werden und eben auch, wie man sie erkennt. Und das, was die beiden Herren vorhin anhatten, war definitiv ein billiges Imitat gewesen, das hätte er selbst im Vorbeigehen mit einem flüchtigen Blick erkannt.
Die Jacke, die nun vor ihm lag, war aber ganz anders. Echtes Leder. Gutes Leder. Büffelleder.
Er ging die Szene noch mehrfach in seinem Kopf durch, wie die beiden vor dem Tor standen und schließlich die Waffe gezogen wurde. Aber je öfter er alles nochmal vor seinem geistigen Auge wachrief, desto sicherer war er, dass das unmöglich die gleiche Jacke sein konnte.

Richard sah in Dorotheas schreckengeweitete Augen. Ihre Lippen zitterten, während sie hilflos und verwirrt die Hände rang. »Hast du nicht gehört? Ruf die Polizei verdammt nochmal.«, brüllte er, entgegen seiner sonst eher ruhigen Art. Richard wusste, dass er ihr unrecht tat und doch konnte er nicht anders. Während sein Herz raste und unaufhörlich Blut durch die Adern pumpte, verdrängte das ohrenbetäubende Rauschen jeden zusammenhängenden Gedanken. Er zuckte zusammen, als eine Melodie draußen vor der Haustür erklang.

Schwerfällig stützte er sich gegen die Tür und spähte zögerlich durch den Türspion. Der jüngere Mann hatte sich nicht von der Stelle gerührt und starrte mit hängendem Kopf auf das grellleuchtende Display seines Smartphones. Als wüsste er, dass Richard ihn beobachtete, hob er den Blick. Sein Gesicht verzerrte sich in Sekundenbruchteilen von mutloser Traurigkeit zu einer hasserfüllten bösartigen Fratze. Die Melodie des Klingeltones bimmelte derweil in einem penetrant fröhlichen Takt unaufhörlich weiter. Plötzlich sprang der junge Mann mit erhobenen Fäusten auf die Tür zu und schlug mit, einer an Todesangst grenzenden, Verzweiflung gegen das harte Holz. Erschrocken stolperte Richard zurück. Sein Fuß verfing sich in dem alten ausgetreten Perserläufer und er fiel unsanft zu Boden. Ein stechender Schmerz durchfuhr sein Handgelenk, als er sich instinktiv versucht hatte, beim Fallen abzufangen. Dorothea rannte schluchzend auf ihn zu. Sie stammelte zusammenhangslose Fetzen in einer derart schrillen Tonlage, dass es einem Kreischen gleichkam. Richards Kopf schien zu bersten, vollkommen überfordert und außerstande die Geschehnisse der letzten Minuten zu verarbeiten. Das Poltern und Schlagen an der Haustür wurde lauter und erbitterter. Das Holz knarzte. Bald würde sie nachgeben. Noch ehe der Gedanke vollendet war, brach das Schloss. Die Tür schwang auf und knallte mit voller Wucht gegen die Wand.

Die gesprengten Glieder der Sicherheitskette flogen ihm entgegen. Richard sah jedoch nur den jungen Mann schwer atmend auf sich zu taumeln, das Smartphone dabei in der Hand fest umklammert. »Du Schweinehund. An deinen Händen klebt Blut. Verrecken sollst du.« Spie er Richard hasserfüllt entgegen. Feine Speicheltröpfen benetzen sein Gesicht, als er nur mitansehen konnte, wie der Mann über ihm aufragte und dabei seine Wut sichtbar zu unterdrücken versuchte. Dorothea wimmerte ängstlich und krallte ihre Fingernägel in Richards Schulter, als sie versuchte, sich hinter ihm zu verkriechen.

Der Mann biss sich auf die Lippe und hob sein schweißnasses Gesicht der Decke entgegen. Während sein Köper gespannt wie eine Bogensehne streckte, verlor sein Gesicht jedoch jegliche Farbe und Ausdruck. Ein kleiner Blutstropfen quoll aus der aufgebissenen Stelle seiner Unterlippe. Seine schweren Atemzüge begleiteten das nicht endenwollende Klingeln des Telefons. Langsam senkte er den Kopf wieder. Sein Blick wirkte leer, während sein Daumen über dem Hörer-Symbol auf dem Display schwebte.

So als könnte ein zu lautes Keuchen den Bann der trügerischen Ruhe brechen, wagte das Ehepaar es nicht, zu atmen. Schließlich presste sich der Daumen des Mannes auf das dünne Glas, sein Blick bohrte sich dabei in Richards. Die Melodie endete abrupt und der Mann lauschte stumm der Stimme am anderen Ende der Leitung. Richard war wie gelähmt. Ein freudloses Lächeln erschien auf dem Gesicht des Mannes, während Tränen seine Sicht verschwimmen ließ. Er nickte wortlos und hielt Richard auffordernd das Telefon hin. »Er will mit dir sprechen. Hier! Jetzt nimm es endlich.« Richard schüttelte abwehrend den Kopf. Als wäre das Telefon etwas Giftiges, lehnte er sich weiter zurück, wurde jedoch durch seine Frau hinter ihm daran gehindert. »Mach was du willst. Ist mir scheißegal. Du stirbst sowieso!«, sagte er höhnisch grinsend und hielt das Telefon demonstrativ etwas höher um dann dabei zuzusehen, wie es dumpf in Richards Schoß fiel. Panisch griff Richard mit beiden Händen danach und schleuderte es von sich, den stechenden Schmerz in seinem Handgelenk, nahm er dabei gar nicht mehr wahr.

Der junge Mann schüttelte den Kopf und begann zu taumeln, dabei fasste er sich ans Ohr. Dickflüssiges rostrotes Blut quoll daraus hervor. Ein erschrockenes Johlen entschlüpfte ihm und er begann weiter zurückzuweichen. Immer weiter, bis er den Türrahmen zwischen seinen Schulterblättern spürte. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, stürmte er aus dem Haus auf die Straße. Den toten Körper würdigte er dabei keines Blickes.

Dorothea seufzte erleichtert, doch Richard war noch immer gefangen in den Klauen seiner Angst. Hinten in der Küche hörte er sein eignes Telefon klingeln. Dorothea raffte sich auf und eilte zur Anrichte. Mit ausgestrecktem Arm kam sie zurück und reichte es Richard. Eine unbekannte Nummer leuchtete auf. Richard wollte gerade keine Werbeanrufe beantworten und drückte den Anruf weg. Einen Wimpernschlag später begann wieder das Telefon des jungen Mannes fröhlich an zu bimmeln. Die böse Vorahnung wurde immer stärker und er kroch darauf zu. Auch diese Nummer war ihm unbekannt. Sein Blick wanderte zurück zu seinem Telefon. »Die selbe Nummer. Es ist die selbe Nummer.«, flüsterte er mit bebender Stimme. Plötzlich verstummte das Gerät, nur, um gleich darauf eine eingegangene Nachricht einzublenden. Die Kurzansicht des Pop-up-Symbols gab den Anfang der Nachricht wieder.

	»Habe ich jetzt deine Aufmerksamkeit, Richard?«

Der Mann mit dem Handy, welches er allerdings nun in seine Jackentasche gesteckt hatte, trommelte inzwischen mit seinen Händen an die Türe. Seltsamerweise dachte Berger nur an die Haustüre: Hoffentlich beschmiert er nicht alles mit Blut. Schließlich hat er eine Menge von dem Zeug abbekommen… und die Türe ist gerade mal ein Jahr alt.

Dorothea riss ihn aus seinen Gedanken.

»Was ist passiert?«, fragte sie so leise, dass er sie kaum verstand. »War das ein Schuss? Hat jemand auf dich geschossen? Was will der Typ an der Tür?«

»Ja und Nein. Ja, es war ein Schuss, und Nein, auf mich hat niemand geschossen.« Er seufzte. »Einer der beiden Männer da draußen hat sich erschossen. Er hat mir in die Augen geblickt, hat sich…«

Berger holte tief Luft und suchte mit beiden Daumen die Akupressurpunkte an den Schläfen, so, wie er es immer tat, wenn er kurz vor einer Panikattacke stand. Seine Therapeutin hatte ihm diese Selbsthilfemethode gezeigt.

»Er hat mir direkt in die Augen geblickt, sich die Pistole in den Mund gesteckt und sofort abgedrückt. Ich konnte nichts tun.«

»Falsch, Sie Schwein!«, schrie der andere Mann durch die Türe hindurch. Er musste gelauscht haben. »Es wäre so einfach gewesen! Sie brauchten ihm nur die zehntausend Euros zu geben und es wäre nichts passiert. Absolut nichts, gar nichts, niente, nothing, nichts. Verstehen Sie? Aber nein…«

Seltsam war, dass der Typ beim formellen »Sie« blieb und nicht zum »Du« wechselte, wie es der Großteil der Menschen in einer solchen Situation täte. Noch seltsamer war es für Berger, dass er selbst genau hierüber nachdachte.

Ganz zu schweigen von dem alptraumhaften Geschehen, welches er gerade vor der Türe erlebt hatte – wenn er das seinen Kumpels heute Abend im Golfclub erzählen würde … Was für eine Story!

»Ich verstehe nicht.« Dorotheas starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Was hast du gesagt? Es hat sich jemand erschossen? Was ist hier los?«

Berger war hin- und weg. Für einen Moment war er raus aus dieser seltsamen Situation, seine Gedanken verloren sich in Dorotheas Augen.

Oh mein Gott!! Immer wieder diese Augen. Diese Augen machen mich immer noch wahnsinnig! Eines Tages ist es soweit. Du bist so sexy! So sexy wie am ersten Tag!

Schon damals, bei ihrem ersten Date, war ihm die Besonderheit ihrer Augenfarben aufgefallen. Nicht ihre wohlgeformte Figur, nicht das winzige Tattoo in Form eines Schmetterlings am Brustansatz – nein, das war es nicht, was ihn sofort angemacht hatte. Das waren ihre Augen gewesen: das linke von strahlendem Blau, das Rechte von tiefgründigem, dunklem Braun. Bis zu diesem Tag hatte er gar nicht gewusst, dass es so etwas gibt. Hinzu kam, dass auch ihre Haarfarbe wie mit einem Strich gezogen in der Mitte geteilt war: die eine Seite hellblond, die andere braun.

Berger hatte sich sofort in Doro verliebt und war noch am selben Abend mit ihr im Bett gelandet. Das war sonst eigentlich nicht sein Fall, aber an diesem Abend und mit dieser Frau hatte er einfach nicht anders gekonnt. Seit diesem ersten Abend vor über zwanzig Jahren waren sie zusammen.

Der Typ draußen vor der Tür riss ihn aus seinen Gedanken, anscheinend hatte er sich ein Werkzeug besorgt, denn aus dem Trommeln waren dumpfe Schläge geworden.

»Er versucht die Türe aufzubrechen!« Dorotheas Stimme zitterte. »Tu was! Tu irgendetwas!«

Berger überlegte.

»Die Kommode!« Er wies auf die schwere Eichenholzkommode, die direkt an der Wand neben der Eingangstüre stand. Ein Geschenk seiner Schwiegermutter, er fand das Teil einfach schrecklich, aber Doro hatte darauf bestanden, dass sie das Ding hier aufstellen.

»Pack an! Wir schieben die Kommode vor die Türe, damit gewinnen wir jedenfalls Zeit.« Gemeinsam schoben sie das schwere Möbel vor die Türe.

Doro drückte auf den Knopf der kleinen Überwachungskamera, die sie letztes Jahr hatten installieren lassen. Mit einem kurzen Flackern schaltete sich der Bildschrim neben der Türe ein.

»Was macht der Typ da?« Ihre Stimme klang gleichzeitig ungläubig hysterisch. »Siehst du das? Siehst du, was der da macht? Das kann doch nicht sein!« Angeekelt wandte sie sich ab.

Berger schaute zum Bildschirm. Was er dort sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Der Typ vor der Tür hatte sich kein Werkzeug geholt, mit dem er versuchte, ins Haus zu kommen. Er bediente sich hierbei …

„Der hat sich einfach erschossen…“, Berger schluckte, der Boden unter seinen Füßen schien sich zu neigen, er hielt sich am Türrahmen fest. „Er wollte, dass ich ihm zehntausend Euro gebe, einfach so, und als ich – ich habe das für einen dummen Scherz gehalten – aber …“, wieder versagte seine Stimme und er nahm all seine Kraft zusammen, um weiterzusprechen, „ … ich habe gesagt, er soll es doch tun, aber das habe ich doch nicht so gemeint.“
Dorothea nahm seine Hand. „Es ist gut, Schatz, du hast alles richtig gemacht.“ Sie ging zum Telefon und wählte die Eins-Eins-Null. Trotz des Ungeheuren, was gerade geschehen war, blieb seine Frau ruhig und beherrscht, eine Wesensart, die Berger an ihr bewunderte. Sie sprach klar und sachlich, erklärte, dass sich vor ihrer Haustür jemand erschossen habe, beantwortete Fragen, die ihr gestellt wurden. Dann legte sie auf.
Berger sah seine Frau hilflos an. „Ich verstehe nicht, was da passiert ist. Warum hat er das getan?“
Sie schüttelte langsam den Kopf. „Ich weiß es nicht, Richard. Das ist so …“, sie sah aus dem Fenster, als würde sie dort die richtigen Worte finden, „… so sinnlos. Aber das Wichtigste ist“, sie sah in wieder an, „dass wir nichts falsch gemacht haben. Es war nicht unsere Schuld, Richard“. Berger war sich da nicht so sicher, nickte aber.

„Das ist eine schreckliche Tragödie“, sagte einer der Polizisten, nachdem Berger die Ereignisse mehrfach geschildert und alle Fragen beantwortet hatte. „Und Sie haben nicht beobachtet, wohin die beiden Männer verschwunden sind? Vor allem, wie?“
„Nein. Die waren einfach weg!“, Berger schüttelte energisch den Kopf. „Ich verstehe das nicht. Der ältere Mann hat sich in den Mund geschossen. Das überlebt man doch nicht. Das ganze Blut ist ja noch da. Und dass der andere, jüngere Mann ihn einfach weggetragen hat, kann ich mir nicht vorstellen. Dazu war der Alte zu groß und zu schwer“.
„Und Sie sind sich sicher, dass der zweite, der jüngere Mann, die ganze Zeit gefilmt hat?“
„Ja, … ich meine, er hat sein Telefon so hochgehalten, wie man das eben macht, wenn man ein Video aufnimmt. Warum hätte er das sonst tun sollen?“
Der Polizist nickte und klappte seinen Notizblock zu. „Danke, Herr Berger. Die Kollegen von der Spurensicherung werden noch etwas Zeit brauchen. Ich hoffe, wir können das alles zügig aufklären. Wir melden uns bei ihnen, sobald wir etwas herausfinden konnten“.
Während die Spurensicherung draußen arbeitete, setzte Berger sich zu seiner Frau auf das Sofa. „Die Polizei wird sich um alles kümmern. Sie werden herausfinden, was passiert ist.“
Doch das Geschehene ließ ihn nicht los. In den folgenden Tagen schlief Berger kaum, und in den wenigen Stunden, in den ihn der Schlaf übermannt hatte, sah er die Ereignisse vor seiner Haustür wieder und wieder in seinen Träumen. Die Frage, ob er mit einer anderen Reaktion den Tod des Alten hätte verhindern können, quälte ihn. Und die Tatsache, dass die beiden Männer ausgerechnet vor seiner Tür aufgetaucht waren, lies ihm keine Ruhe. Immer wieder rief er sich die Gesichter vor Augen und suchte in seinen Erinnerungen nach einer Verbindung, die das Unerklärliche erklärten. Doch da war einfach nichts.
Einige Tage später, Berger war alleine zu Hause – seine Frau erledigte die Einkäufe, stand ein junger Polizist vor der Haustür. „Es gibt Neuigkeiten“, begann er, nachdem Berger ihn hereingebeten und ins Wohnzimmer geführt hatte. „Offenbar sind Sie – wie soll ich es sagen – ein Zufallsopfer geworden.“
„Opfer?“, Berger sah den Uniformierten kopfschüttelnd an. „Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Der alte Mann ist doch tot, nicht ich“.
Der Polizist zögerte, bevor er weitersprach. „Nein, Herr Berger. Er ist nicht tot. Das Video, das der andere Mann gefilmt hat, wurde in den sozialen Medien verbreitet“, erklärte er. „Nachdem Sie die Tür geschlossen haben sieht man, wie der alte Mann, der in Wirklichkeit erst neunundzwanzig ist und einfach nur gut maskiert war, aufsteht und mit dem anderen gemeinsam Ihr Grundstück verlässt. Das angeblich Blut aus der vermeintlichen Schusswunde hat sich als Theaterblut, als Kunstblut, herausgestellt. Bei dem Schuss wurde eine Schreckschusspistole verwendet. Das spritzende Blut, was Sie bei dem Schuss gesehen haben, war, wie soll ich sagen, ein perfekter Trick. So wie er auch in Filmen eingesetzt wird. Ein kleiner Plastikbeutel am Hinterkopf, der im richtigen Moment punktiert wird und … naja, Sie haben es ja selbst gesehen. Das ganze war ein böser Scherz, ein Prank, wie man heute sagt“.
Berger hatte das Gefühl, sein Gleichgewicht zu verlieren, der Boden unter seinen Füßen verlöre jede Festigkeit. „Das kann nicht wahr sein“, flüsterte er. „Jemand hat sich vor meinen Augen umgebracht, oder nur so getan, um mich zu erschrecken?“
„Es tut mir leid“, sagte der Polizist mitfühlend. „Leider konnten wir die Täter noch nicht identifizieren. Sie sind also noch unterwegs und wir haben keine Ahnung, was sie noch vorhaben. Halten Sie bitte die Augen offen“. Er wollte sich schon von Berger verabschieden, hielt aber nochmals inne. „Noch etwas: Bisher konnten wir die Presse draußenhalten; Sie sollten das Ganze unbedingt von uns erfahren, bevor der Sturm losgeht. Aber er wird losgehen, darauf sollten sie gefasst sein!“
Berger nickte mechanisch. „Danke“, murmelte er und schloss die Tür. Mit einem Gefühl aus Ohnmacht und Wut fuhr er, mehr zu sich selbst, fort: „Ich werde dafür sorgen, dass diesen Sturm niemand jemals vergessen wird“.

Richard schnaufte durch und lehnte sich kurz gegen die Tür. Was war da gerade passiert? War das real? Er musste träumen und in einem Albtraum gefangen sein. Niemand ging wahllos zu einem Haus, um dort nach Geld zu fragen – und sich bei Nichterhalt den Kopf wegzupusten. Gott, lag da nun wirklich eine Leiche vor seiner Haustür?

„Richard?“ Dorotheas Stimme klang zittrig an sein Ohr. Ruckartig drehte er sich herum. „Was ist passiert?“

Seine Frau weilte an der Treppe ins Obergeschoss. Der graue, knielange Rock und die blütenweiße Bluse standen in so heftigem Kontrast zu dem Chaos, das gerade in seinem Kopf herrschte, dass er sich nicht helfen konnte und Dorothea verwirrt anlächelte. Ihre Haare waren, wie immer am Sonntagmorgen, sorgfältig frisiert und es fehlten nur noch ihre guten Stiefeletten und der Mantel, dann war sie bereit auszugehen, bereit, dem Herrn für die vergangene Woche zu danken.

Doch ihr Gesichtsausdruck passte nicht zu ihrem ansonsten adretten Aussehen. Verunsichert sah sie ihn an. Sie hatte den Dialog nicht mitbekommen, aber natürlich den Pistolenschuss gehört. Und sie sah ihm an, dass etwas vorgefallen war, was ihn komplett aus der Bahn geworfen hatte. Richard gab es auf, ein Lächeln aufrecht erhalten zu wollen.

„Er … er hat sich erschossen“, murmelte er fassungslos. Das Bild, wie sich das Blut auf dem Weg ergoss, schob sich vor sein inneres Auge. Das konnte nicht wirklich passiert sein. Da war ein Trick dabei, vielleicht stand der Mann schon lachend vor seiner Tür und freute sich, dass er auf seine Show hereingefallen war. Bestimmt. Aber warum hatten die beiden dieses Theater abgezogen? Er kannte sie nicht einmal! „Wir müssen die Polizei rufen“, meinte er und sah sich fahrig um, als habe er vergessen, wo das Festnetztelefon meistens lag.

„Erschossen?“, klang da die fassungslose Stimme seiner Frau an sein Ohr. Er warf ihr einen Blick zu, während er auf die kleine Kommode zuging, auf der das Telefonbuch neben der Festnetzstation stand. Dorothea war blass geworden und hatte mit einer Hand an ihr Herz gegriffen. Mit großen Augen starrte sie ihn an und er erkannte, dass sie leicht schwankte. Zittrig griff sie nach dem Treppengeländer.

„Ja, erschossen!“, antwortete er mit festerer Stimme und spürte, dass er ungehalten wurde. Wo war der verdammte Apparat? Er legte es immer hier an die Station, damit man es wieder fand, aber da war es nicht! „Wo hast du das Telefon hingelegt?!“, herrschte er Dorothea an, die ihn erschrocken ansah. Ihr Mund stand leicht offen, ihr Blick verständnislos. Richard atmete tief ein. Er musste sich beruhigen. Es brachte nichts, wenn er nun den Kopf verlor.

Der Schuss war laut gewesen. Ob die Nachbarn ihn gehört hatten? Er schalt sich einen Dummkopf. Natürlich hatten sie den lauten Knall gehört. Bestimmt hatte schon einer von ihnen die Polizei gerufen. Als hätte da jemand auf sein Stichwort gewartet, klopfte es an der Tür. Nein, es klopfte nicht – irgendwer hämmerte dagegen! Erschrocken sah sich das Ehepaar Berger an. Dorothea fing erneut an zu zittern und sah hilfesuchend zu Richard. Dieser schluckte trocken. Waren das wieder diese Männer? Halt, es war ja nur noch einer. Hatte der Mann die ganz Zeit vor der Tür gestanden? Mit der Leiche?

„Dorothea? Richard? Ist alles in Ordnung?“, hörte er da die besorgte Stimme seiner Nachbarin. Elise hatte bestimmt den Knall gehört und war herübergekommen. Richard riss die Augen auf, als er daran dachte, dass sie somit direkt bei der Leiche stehen musste. Schnellen Schrittes ging er auf die Tür zu, zögerte dann aber. Ihre Stimme klang zwar besorgt, doch es war keine Panik darin zu hören. Nichts, was darauf hindeutete, dass sie gerade eine Leiche gesehen hatte. Zögerlich öffnete er die Tür und erschrak, als diese nur einen Spalt aufging und dann gegen das immer noch eingehängte Türschloss schlug und von diesem aufgehalten wurde.

„Moment“, murmelte Richard, schob die Tür wieder zurück, sodass er das Sicherheitsschloss lösen konnte, und riss dann die Tür auf. „Elisa es ist …“ Was genau er sagen wollte, wusste er selbst nicht. Spätestens, als er auf die zurechtgemachte Elisa blickte, die ihn sorgenvoll ansah, hätte er es vergessen. Fragend runzelte sie die Stirn. Sein Blick huschte neben sie, dorthin, wo der Körper des Mannes, der sich hier erschossen hatte, gefallen war. Richard schnappte nach Luft. Da war keine Leiche! Wie hypnotisiert starrte er auf die Platten, während seine Hirnwindungen versuchten, das Gesehene einzuordnen.

„Was ist denn los Richard? Ihr seid spät dran. Wo bleibt ihr denn? Ist etwas mit Dorothea?“ Elisa sah ihn fragend an und sah ungeduldig auf die Uhr.

„Aber…“, begann Richard.

„Aber was? Seid ihr noch nicht fertig? Ich möchte nicht zu spät zum Gottesdienst kommen. Du weißt doch, wie voll es an den Feiertagen immer ist, seid die Kirchengemeinden zusammengelegt wurden!“ Verärgert rümpfte sie ihre sorgfältig gepuderte Nase. „Was ist nun?“

„Aber…“, stammelte Richard, „aber die Leiche…“

Elisa sah ihn an, als zweifle sie an seinem Gemütszustand. „Leiche? Richard, was faselst du denn da! Nun, mach endlich. Dorothea!“, rief sie in das Haus hinein und ignorierte Richard, der mit starrem Blick auf die Platten sah. Kein Blut. Da war kein Blut. Aber er hatte gesehen, wie dem Mann das Blut aus seinem Kopf … Richard schloss die Augen, als er spürte, dass sich ihm sein Magen umdrehen wollte.

Er bekam kaum mit, dass Elisa die Haustür aufdrückte. „Dorothea, da bist du ja. Was ist denn los? Wir warten auf euch! Was ist denn nur los mit euch, du siehst mich ja an, wie ein Reh im Scheinwerferlicht!“ Energisch marschierte sie an Richard vorbei und schnappte sich Dorotheas Arm. „Nun zieh dir deine Schuhe an, wir haben nicht ewig Zeit. Richard! Was starrst du da Luftlöcher an der Tür! Mach dich fertig!“

Benommen drehte sich Richard um. „Aber da war ein Mann“, begann er und ärgerte sich über seine dünne Stimme. Verhalten räusperte er sich und sprach weiter, ehe seine resolute Nachbarin den Mund aufmachen konnte. „Zwei Männer. Sie wollten Geld von mir erpressen.“

Nun hielten die beiden Frauen inne. „Was?“ Ungläubig sah Elisa ihn an.

Richard nickte zerstreut. „Zwei Männer. Einer verlangte zehntausend Euro, sonst würde er sich umbringen. Ich hab das nicht ernst genommen und da hat er … er hat …“ Mit großen Augen blickte er die Frauen an, die ihn fassungslos ansahen. „Da hat er eine Pistole genommen und sich erschossen!“

Dorothea hob reflexartig ihre Hände zu ihrem Mund und sah ihren Mann mit großen Augen an. Elisa hingegen hob argwöhnisch eine Augenbraue. „Erschossen. Hier vor eurer Haustüre?“ Sie lachte auf. „Ach Richard, dein Humor war immer schon etwas seltsam. Nun zieh deine Schuhe an, der Herrgott wartet nicht gerne.“

„Aber“, begann Richard wieder und deutete auf die Stelle, auf der eigentlich ein toter Mann liegen müsste. „Erschossen!“

Ungehalten hielt Elisa, die den Mantel für Dorothea aufhielt, inne. „Gehen jetzt die Gäule mit dir durch, Richard? Da liegt kein Toter! Was brabbelst du hier von ‚Erschossen‘? Willst du deiner Frau Angst machen?“

„Hast du denn nicht den Schuss gehört?“, wollte Richard fassungslos wissen.

„Da war kein Knall. Außer der, den du offenbar hast!“ Elisa sah auf die Uhr und seufzte. „Na toll, wir kommen auf jeden Fall zu spät.“

Richard sah sich suchend um. Ein Auto fuhr vorbei, schräg gegenüber ging der kauzige Herr Müller-Ehrmann mit seinem Hund spazieren und aus einem der Häuser schallte Babygeschrei herüber. Wo war die Leiche?

Der Mann mit dem Handy! „Der andere Mann hat die Leiche weggebracht!“, rief Richard und drehte sich zu den Frauen um. Dorothea hatte inzwischen ihren Mantel an, sah aber verwirrt zu ihm, als wüsste sie nicht, warum sie diesen trug.

Elisa verdrehte die Augen, als sie sah, dass Richard immer noch seine Hausschuhe trug. „Was für ein anderer Mann? Hast du einen Mann gesehen?“, fragte sie an Dorothea gewandt, die zögerlich den Kopf schüttelte.

„Natürlich hat sie die Männer nicht gesehen! Ich bin doch an die Tür gegangen! Gott sei Dank habe ich die Sicherheitskette vor gemacht, nicht auszudenken …“, malte sich Richard das Schlimmste aus.

Elisa, die auf die Uhr gesehen hatte, seufzte ergeben auf und kniff sich in die Nasenwurzel. „Wir werden es nicht mehr zum Gottesdienst schaffen. Was ist nur mit dir los Richard?!“

„Da waren diese beiden Männer …“

„Ja, na klar. Und einer ist tot, aber seine Leiche hat sich in Luft aufgelöst. Hat sich die Rübe weggepustet und bevor er aufgestanden ist, hat er noch schnell sein Blut weggewischt. Hör endlich auf, uns deine Lügenmärchen zu erzählen!“ Elisa funkelte ihn wütend an. „Ach, macht doch was ihr wollt!“, schimpfte sie und stampfte aus dem Haus. Bedröppelt sahen ihr die beiden Eheleute hinterher.

„Was ist denn los, Richard?“, fragte Dorothea leise.

Er wirbelte zu ihr herum. „Warum fragst du mich das? Du hast es doch auch gehört! Das Klingeln, der Schuss!“

Sorgenvoll betrachtete Dorothea ihren Mann. „Ich hab es Klingeln gehört. Vielleicht waren das die Kinder. Du weißt doch, dass sie in letzter Zeit gerne Klingelmännchen spielen.“

„Ich weiß, was ich gesehen habe!“, herrschte Richard sie an und Dorothea schreckte zusammen. „Was glaubst du denn, was das für ein Knall war, hä? Den musst du gehört haben! Und die olle Schreckschraube ebenfalls“, meinte er und deutete vage auf das Nachbarhaus, in das Elisa wieder verschwunden war.

„Das war Elisa, die den Müll rausgebracht hat“, meinte Dorothea scheu. „Ich hab sie durchs Fenster sehen können. Du regst dich doch immer darüber auf, dass sie den Deckel so laut fallen lässt, dass man denkt, da sei gerade eine Pistole losgegangen.“ Sie zog sich ihren Mantel wieder aus und hing ihn an den Haken, während Richard immer noch aus der offenen Haustür auf den Gehweg starrte. „Mal davon abgesehen – wo ist denn das ganze Blut? Und wenn wirklich ein anderer Mann dabei war – warum hat der nicht die Polizei gerufen?“ Zaghaft, als habe sie Angst, dass Richardsie wegstoßen würde, legte sie ihre Hände auf die Schultern ihres Mannes. „Du hattest so viel Stress in der letzten Zeit, da hat dir dein Verstand etwas vorgegaukelt. Du arbeitest einfach viel zu viel, mein Liebling. Und dann haben wir gestern auch noch diesen blutrünstigen Krimi gesehen. Wir hätten den nicht zuende schauen sollen. Komm, wir machen uns einen ruhigen Tag.“

Hatte er sich das alles eingebildet? Vielleicht waren es tatsächlich nur die Kinder gewesen. Und Elisa schmiss den Mülltonnendeckel wirklich zu, als wolle sie die Tonne mitsamt Inhalt in den Boden stoßen. Aber er hatte die Männer gesehen! Verwirrt rieb sich Richard über das Gesicht und starrte die Gehwegplatten an. Doch da war kein Blut. Und der penetrante Mann mit dem Handy hätte ihn bestimmt nicht plötzlich in Ruhe gelassen. ‚Ausbeuter‘, ‚Kapitalist‘ hatte er ihn genannt. Das war er nicht. Er beutete niemanden aus, zahlte seine Angestellten anständig. Und ein Kapitalist? Ja natürlich war er das. In einer kapitalistischen Gesellschaft war jeder Unternehmer ein Kapitalist.
Nachdenklich betrachtete er den Gehweg, dann schob er langsam die Tür zu, behielt die Platten im Blick, als könne, kurz bevor er die Tür schloss, plötzlich die Leiche und das Blut wieder auftauchen. Zehntausend Euro – als ob er so viel Geld im Haus hatte. Die SMS, die er vor ein paar Tagen erhalten hatte, fiel ihm ein. Sein ‚Sohn‘ brauchte Geld für ein neues Handy. Nur, dass Dorothea und er kinderlos waren. Dennoch hatte er sich über diese Enkeltricknachricht geärgert. Vielleicht ein wenig zu intensiv? War ihm das so sehr im Kopf geblieben, dass es seine Gedanken so dominierte? Allerdings drohte sein ‚Sohn‘ nicht damit, sich umzubringen, wenn er nicht sofort das Geld erhielt. Wozu auch? Was für eine Erpressung sollte das sein, in der der Erpresser damit drohte, sich selbst zu töten? Er schüttelte den Kopf, warf einen letzten Blick auf die Betonplatten. Vielleicht hatte Dorothea recht und die vergangenen Wochen waren einfach ein wenig zu viel. Gerade wollte er die Tür schließen, da fiel ihm der Blumenkübel, der an der Hauswand neben der Tür stand ins Auge. Sein Puls steigerte sich, als er die Tür wieder aufriss und zu dem Betonkübel stürzte. Mit aufgerissenen Augen starrte er die drei dicken Tropfen an, die sich rot auf dem grauen Beton absetzten. Blutrot.

Dorothea Berger starrte ihren Mann mit weit aufgerissenen Augen an, sprengte in Richtung Telefontisch, den sie von ihrem Schwiegervater geerbt hatte, nahm den Hörer aus der Ladestation und
wählte 110. „Polizei Frankfurt, was kann ich für sie tun?“ „Hier hat sich gerade jemand vor unseren Augen umgebracht“ Sie hatte das Gefühl, nicht sie, sondern jemand anders würde diesen Satz sprechen.

„Sagen Sie bitte ihre Adresse“ „Goethestrasse 32, Frankfurt …“ „Bleiben sie vor Ort, wir schicken einen Kranken- und einen Streifenwagen.“ Draußen schrie der Mann mit dem Smartphone „Mööörder! Sie Schwein! Sie haben ihn umgebracht!“
Richard Bergers Gesicht war kalkweiß. Er fühlte blankes Entsetzen während sich kalter Schweiß auf seiner Stirn bildete. „Was sollen wir jetzt tun?“
Er sah seine Frau panisch an und packte ihren Arm, sein Griff fest, fast schmerzhaft.
„Was…WAS sollen wir jetzt tun?“ Seine Stimme wurde energischer, seine Augen weit aufgerissen. „DAS WEISS ICH DOCH NICHT!“ schrie Dorothea zurück.
„Warum hast du ihm die 10.000 Euro nicht gegeben?“ Ihre Augen brannten, nicht nur vor Angst, sondern vor einer tiefsitzenden Wut, die sie nicht zuordnen konnte.
„Weil…, weil…“ seine Augen suchten in diesem entgrenzten Augenblick nach einer plausiblen Antwort…, aber sein Kopf war auf seltsame Art und Weise wie leergepumpt, als wenn sich alle Gedanken auf eine Weltreise verabschiedet hätten und überall nur noch gähnende Leere herrschte. Vakuum.

Und dann… Der Gedanke kam unmittelbar. Eine Erinnerung. Jahrzehntealt.
Zehntausend Euro. Diese Summe. Damals. Im Spielcasino in Wiesbaden. Er hatte vorher seinen Vater angefleht, ihm 10.000 Euro zu leihen, um ein Reisebüro zu eröffnen. Der hatte nur mit
dem Kopf geschüttelt und ihm gesagt: „Ne Jungchen, komm mal alleine klar. Geh jobben oder such dir was als Angestellter. Aber zehntausend Euro? Jungchen, wovon träumst du?“
Gekränkt und zornig hatte er sein Erspartes abgehoben – 1.500 Euro – und war ins Casino nach Wiesbaden gegangen. Ein Plan? Den hatte er nicht. Beim Roulette, beim Black Jack und am Automaten hatte er fast alles vollständig verballert.

Fast. Am Ende hatte er noch 275€ und entschied sich, den Rest in irgendeiner Spelunke zu versaufen. Er war gerade auf dem Weg nach draußen, verbittert und enttäuscht und hatte voller Wut auf die anderen Spieler geschaut, denen das Geld nur so aus den Taschen zu sprießen schien. Hier ein 500er, da 5000€, weggespielt wie Seifenblasen. Er fühlte sich wie der letzte Penner.

Und dann sah er sie, Dorothea. Ihr Parfüm wehte ihm wie eine Verheißung in die Nase und ihre grazile Gestalt vernebelte ihm alle Sinne. Er verliebte sich auf der Stelle.
Ihre Blicke trafen sich und dieses Lächeln, dass sie ihm schenkte, durchfuhr ihn wie ein Blitzschlag, ließ ihn auf dem Absatz kehrt machen. „Alles oder nichts“ dachte er sich, als er die ganze Summe auf eine Zahl setzte. „Rien ne va plus, Ladies and Gentlemen…“ Die Roulettekugel rollte, und rollte, und rollte… Richard blickte auf die andere Seite des Tisches. Dorothea schaute ihm
lasziv in die Augen, fast frech und musterte ihn. Die Kugel kam zum stehen.

Der Groupier setzte an und sagte die Nummer…

Richard Berger ging an seiner Frau vorbei in die Küche und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Dorothea schaute ihm hinterher, machte keine Anstalten, seiner Aufforderung zu folgen. Stattdessen wandte sie sich der Garderobe zu und nahm ihren roten Wollmantel vom Haken. Sie waren spät dran und sie saß gern in den vorderen Reihen in der Kirche, weil sie nicht mehr so gut sehen konnte.
„Du sollst bitte die Polizei rufen!“, wiederholte er aus der Küche.
Die Stimme ihres Mannes klang nachdrücklich. Richard Berger war eigentlich ein ruhiger, besonnener Ehemann und noch bevor Dorothea ihren Mann fragen konnte, was los ist, sagte der mit bebender Stimme: „Vor unserer Tür hat sich ein Mann erschossen, den ich nicht kenne, und sein Blut ergießt sich auf unseren Gartenweg. Also ruf bitte die Polizei und stell‘ mir jetzt keine Fragen.“
Statt der Bitte ihres Mannes nachzukommen, stellte sich Dorothea in die Küchentür. Aber als sie etwas sagen wollte, verstummte sie, weil ihr Kopf leer war. Was fragte man auf die Nachricht, es hätte sich gerade vor dem eigenen Haus ein Mann erschossen? Dorothea machte kehrt, lief den kleinen Flur entlang und öffnete die Haustür. Dort lag ein toter Mann und sie musste geradewegs in seine Augen schauen. Sie krümmte sich zusammen, und nur weil ihre Hand noch immer die Klinke umklammerte, glitt sie nicht zu Boden. Ihr Atem ging laut und tief. Sie spürte, wie ihr Mann ihr von hinten die Tür aus der Hand riss und sie erneut aufforderte, endlich die Polizei zu verständigen. Wenn sie heute noch in die Kirche wollte, fügte er hinzu. Dabei war Dorothea längst klar, dass sie den Gottesdienst verpassen würde. Zum ersten Mal in ihrem Leben.
Obwohl ihr nicht gefiel, wie ihr Mann auf sie einredete, gewann Dorothea die Fassung zurück und lief zur alten Nähmaschine, auf der das Festnetztelefon stand. Sie wählte und brabbelte etwas von einer Leiche und wo sie wohnten. Dann legte sie wieder auf und sagte nicht ein Wort.
Richard Berger wollte seine Frau fragen, wann die Polizei kommen würde. Eigentlich eine überflüssige Frage, aber in einer Stadt wie Frankfurt und an einem Sonntag fand er sie berechtigt. Und etwas anderes fiel ihm auch gerade nicht ein. Als er den Mund öffnete, lief Dorothea sprachlos und blicklos an ihm vorbei, griff ihre Tasche von der kleinen Fensterbank neben der Eingangstür und verließ das Haus. Sie handelte, als wäre er gar nicht da. Alles, was Richard sagen konnte, war:
„Lässt du mich jetzt hier allein? Wie kannst du nur in so einem Moment in die Kirche gehen?“
Und als sie schon fast aus seinem Blickfeld verschwunden war, brüllte er: „Dorothea, komm gefälligst zurück!“
Er warf die Tür zu und lief im Haus umher. Geradewegs ins Wohnzimmer zu der Schublade, in der sie die Schreckschusspistole aufbewahrten. Er wollte sie verstecken, irgendwo anders hinlegen, wo die Polizei sie nicht finden würde. Aber wohin? Er suchte mit den Augen nach einer Stelle, die ihm geeigneter erschien als die Schublade. Dort lag die Waffe gerade deshalb, weil man so schnell an sie herankam. Aber mit einem bevorstehenden Besuch der Polizei änderten sich die Prioritäten. Richard legte sie schließlich in die Schublade zurück. Warum war er überhaupt so nervös? Er hatte nichts getan. Er hatte beide Männer vor seiner Tür noch nie gesehen. Was hatte der Zweite gefaselt, dass er, Richard Berger, den Mann getötet hätte? Was sollte das heißen?
Richard fiel ein, dass der zweite Mann verschwunden war, als seine Frau aus dem Haus gestürmt war. Wieso? Wohin war er geflüchtet? In seinem Kopf tauchten immer mehr Fragen auf. Deshalb war er erleichtert, als es endlich an der Tür klingelte. Das alles war definitiv eine Angelegenheit für die Polizei!
Er lief zur Tür, bemerkte, dass seine Hände schweißgebadet waren, als er die Klinke nach unten drückte. Er nahm auch einen leichten Geruch nach Schweiß wahr, der nur von ihm kommen konnte. Aber das war nebensächlich. Er war froh, dass die Polizei endlich da war.
Eilig öffnete er die Tür. Aber statt in die ersehnten Augen eines Polizisten zu schauen, hielt ihm jemand ein Handy vors Gesicht und er hörte die Worte des jungen Mannes, die ihm seit Minuten wie ein Echo immer wieder durch den Kopf kreisten: „Du hast ihn umgebracht!“ Aus dem Handy klang dieser Satz blechern und war noch viel eindringlicher als in echt. Dann schwenkte der Film nach unten und erfasste die Leichte und wie das Blut aus dem Hinterkopf des Toten floss, das mittlerweile schon den Rosenstrauch erreicht hatte, den Richard Berger für seine Frau zur silbernen Hochzeit vor dem Eingang gepflanzt hatte.
Der Mann vor seiner Tür senkte das Handy und machte den Blick in sein Gesicht frei. Richard Berger spürte, wie er am ganzen Körper anfing zu zittern, spürte, wie Übelkeit in ihm aufkam. Das Gesicht des Mannes mit dem Handy kannte er. Er kannte es besser als nahezu jedes andere Gesicht auf der Welt. Auch wenn, als er es das letzte Mal gesehen hatte, es noch nicht von den zahlreichen Falten geprägt war, die es nun trug.
Er konnte nichts sagen und schüttelte nur sanft den Kopf. So standen sich beide minutenlang gegenüber, bis Richard Berger bemerkte, dass die Polizei noch immer nicht eingetroffen war. Und dann wurde ihm bewusst, dass das Festnetztelefon, dass seine Frau benutzt hatte, schon lange abgemeldet war und nur noch zur Erinnerung an alte Zeiten dastand.

Zehntausend Fragen

Es roch nach Linoleum und billigem Filterkaffee; irgendwo klingelte ein Telefon. Fast wie im Fernsehen, dachte sich Richard Berger, ehe seine Gedanken jäh unterbrochen wurden, weil jemand die quietschende Tür zum Verhörraum öffnete.

»Mensch, die muss dringend mal geölt werden!«, begrüßte ihn der junge Polizist und setzte sich auf den Stuhl, der ihm gegenüberstand. Er bedachte Berger mit einem makellosen Lächeln.
»Mein Name ist Nimmerfroh, aber keine Sorge, der Name ist nicht Programm!« Er gab ein glucksendes Geräusch von sich und wechselte dann blitzschnell wieder zu seinem furchtbar weißen Lächeln.
»Herr Berger …«
»Richard, bitte!«
Kommissar Nimmerfroh sah Richard Berger kurz an, ohne dabei sein Lächeln zu verlieren.
»Herr Berger, Sie haben meiner Kollegin ja bereits geschildert, was sich vor Ihrer Haustür abgespielt haben soll, aber vielleicht helfen Sie mir noch einmal kurz auf die Sprünge.«
Berger versuchte, ruhig zu bleiben. »Wie ich bereits sagte, war dieser Mann – wahrscheinlich beide Männer – völlig wahnsinnig. Vielleicht hatte er eine Krankheit … keine Ahnung, Schizophrenie oder so was Ähnliches.«
»Interessant, dass Sie das sagen.« Er legte eine dramatische Pause ein. »Ihre Frau sagte uns, dass sie selbst diesen zweiten Mann nicht sehen konnte …«
Berger stockte. Er hatte es die ganze Zeit nicht bemerkt, aber jetzt sah er es ganz deutlich: Nimmerfrohs Lächeln. Sein Mund lächelte zwar, aber seine Augen fixierten ihn unablässig.
»Ich … weiß es nicht. Vielleicht stand er so, dass Doros Sicht auf ihn blockiert war«, begann Berger zögerlich, dann: »Sie haben ihn also noch nicht gefunden?«
Nimmerfroh antwortete augenblicklich: »Bisher keine Spur, aber die Suche läuft selbstverständlich auf Hochtouren. Lassen Sie uns jedoch noch einmal über Ihren Tagesablauf sprechen: Wo waren Sie, kurz bevor diese beiden Männer an Ihre Tür geklopft haben sollen
Die Art und Weise, wie er diese Wörter betonte, gefiel Berger ganz und gar nicht. »Sollte ich dazu nicht zunächst einen Anwalt befragen?«
»Sollten Sie das?« Für einen kurzen Moment schien Kommissar Nimmerfrohs Maske zu bröckeln, dann fing er sich wieder: »Ich mach’ nur Spaß; Sie haben natürlich jedes Recht dazu! Ich sorge sofort dafür, dass Sie einen Anruf tätigen können.«
Er stand auf und ging in Richtung Tür, hielt an der Klinke jedoch noch einmal kurz inne: »Ich schaue gleich nur kurz noch mal bei Ihrer Frau vorbei und bin dann wieder ganz schnell bei Ihnen! Möchten Sie einen Kaffee?«
»Nein, danke«, gab Berger zurück. Ihm war ein wenig schlecht.
Kommissar Nimmerfroh schickte sich wieder zum Gehen an, drehte sich aber ein letztes Mal um: »Eine Frage noch: Warum haben Sie nicht einfach vorgegeben, dem Mann das Geld geben zu wollen, um ihn davon abzuhalten, sich zu erschießen?«
»Ich würde sehr gerne zuerst mit einem Anwalt sprechen.«
Nimmerfroh öffnete die Tür, die das mit einem vorwurfsvollen Quietschen kommentierte. »Jemand sollte die unbedingt mal ölen«, sagte er lachend und ging hinaus.

Das ist überhaupt nicht wie im Fernsehen, dachte sich Berger, als er wieder allein war. Keine Ahnung, ob das jetzt der Good-Cop oder der Bad-Cop war, aber eins ist klar: Der glaubt mir kein Wort.

„Was war das für ein Lärm? Ist alles in Ordnung?“ Seine Frau trat aus dem Esszimmer zu ihm in den Flur. Normalerweise war sie einen gewissen Geräuschpegel von draußen gewöhnt, der nur sporadisch eine Lautstärke erreichte, die als Lärmbelästigung, Krach oder Geschrei bezeichnet werden konnte. Sie überlies es aber gerne ihrem Mann, in diesen Fällen für Ruhe zu sorgen. So ging sie auch diesmal davon aus, dass er sich um die Ursache für den Knall und das Gebrüll kümmern würde.
Stattdessen bat er sie, die Polizei zu rufen. Es war dabei mehr sein Tonfall, als die Aufforderung selbst, die in Dorothea Berger eine leichte Beunruhigung aufkommen ließ und sie dazu brachte, Rückfragen zu stellen.
Als sie zwei Schritte in seine Richtung und damit auch zur Haustür machte, erwachte Berger aus seiner kurzzeitigen Erstarrung. Er stellte sich seiner Frau entgegen und drehte sie rüde von der Tür weg.
„Schau auf keinen Fall raus! Wir müssen sofort die Polizei rufen!“
„Richard, was ist denn los mit dir? Was ist denn da draußen?“ empörte sie sich, ließ sich aber von ihrem Mann nach hinten in das Wohnzimmer führen. Dort rief Berger selbst die Polizei und schilderte die letzten 3 Minuten, die ihm dabei immer surrealer vorkamen.
Frau Berger wurde bei seinen Worten immer fahler und sank auf den neuen Stressfrei-Sessel, den sie letztes Weihnachten geschenkt bekommen hatte.
Ihr Mann legte schließlich auf und ging zum Barwagen, um sich einen Whiskey einzuschenken.
„Ist der Mann wirklich tot? Vielleicht soll das nur ein schlechter Scherz sein.“ Mit schwacher, zittriger Stimme versuchte Frau Berger das Gehörte zu erfassen.
„Doro, bitte! Du musst doch den Schuss gehört haben. Das müssen Verrückte sein, um die sich die Polizei kümmern soll. Wir bleiben so lange hier drinnen und warten.“ Mit Schwung kippte Berger den Inhalt des Whiskeyglases hinunter.
Dann blieb er unschlüssig im Raum stehen und versuchte seinen Herzschlag zu beruhigen. In der folgenden Stille hörte er nur das Ticken der Wanduhr, den leisen Wind und ein Trommeln.
„Lass das!“, fuhr er seine Frau an.
Sie schreckte kurz auf. „Was meinst du?“
„Du trommelst mit den Fingern. Das macht mich nervös. Also lass es!“
Schnell verschränkte sie die Hände ineinander und sah ihn an.
„Ich dachte gerade, hättest du ihm nicht einfach das Geld geben sollen? Wir hätten ihm helfen können.“
„Wobei denn helfen? In welcher Situation muss man sich denn befinden, um so etwas zu tun? Und sich dabei auch noch filmen lassen. Nein, damit habe ich sicherlich nichts zu tun. Diesen Schuh ziehe ich mir nicht an. Was ist mit dem Kerl, der das Ganze aufgenommen hat?“
Beide verfielen wieder in Schweigen. Richard Berger nahm auf dem Ledersofa Platz. Es war jetzt wichtig, dass er nicht die Kontrolle verlor. Sein Herzschlag wurde immer ohrenbetäubender. Kleine Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Mit einem Taschentuch wischte er diese fahrig weg und konzentrierte sich darauf zu atmen. Der leichte Druck auf seiner Brust ließ ihn dabei aber keinen Erfolg haben.
Als es klingelte zuckten beide für einen Moment zusammen und schauten sich an. Dann lief Richard Berger entschlossen zur Haustür. Er legte seine Hand auf den Türgriff und zögerte kurz. Das Öffnen der Tür würde das Ganze vollends in der Realität verankern. Aber es half ja nichts. Es gab nur die Flucht nach vorn.
Berger öffnete die Haustür mit einem Ruck und blickte in die gespannten und freundlichen Gesichter zweier Polizeibeamtinnen. Hinter den beiden wuchsen erste kleine Moosbüschel aus den Fugen des Plattenwegs, der in der reinen hellen Sandfarbe erstrahlte, die seine Frau letzten Frühjahr ausgesucht hatte. Die Farbe Rot war darauf nicht zu sehen.

15 Minuten später klingelte es an der Tür. Berger setzte gerade seine zweite Tasse Kaffee ab. Normalerweise trank er nie so viel Kaffee. “Ich gehe schon", sagte seine Frau und ging zur Tür. “Richard, du musst kommen!” Ihre Stimme war fast panisch.
Der Flur war erhellt von Blaulicht. Die zwei Polizisten, die vor der Tür standen, betrachteten den Flur genau. “Sie sind Richard Berger?” Berger spürte ein Zittern. Normalerweise zitterte er nie. Vor dem Haus waren viele Leute. “Werden Sie uns jetzt verhaften?” fragte seine Frau die Polizisten. Berger dachte an den Fall, wo bei den Lammers eingebrochen worden war. Wochenlang hatten alle nur darüber geredet. “Sie haben Glück gehabt", sagte der eine Polizist. “Das ist der 3. Fall in diesem Jahr. Sie müssen mit auf die Wache kommen.” Seine Frau war weiß geworden. Berger ging zu ihr und drückte ihre Hand. “Ich komme danach direkt nach Hause. Holst du mir meine Jacke?” fragte er sie.
Auf dem Weg zur Straße musste er den vielen Menschen ausweichen. Der Tote lag mitten auf dem Weg, mit einer Decke verdeckt. Die Decke verdeckte den Körper, aber nicht das Blut, das sich als Lache auf den Steinen ausgebreitet hatte.
“Wir denken, dass sie Opfer eines Angriffs einer Sekte geworden sind. Die Kinder des Zorns, wie sich die Mitglieder nennen, suchen wohlhabende Unternehmer auf. Eines der Mitglieder ist ausgewählt und führt eine Prüfung durch, wie sie es nennen. Haben Sie einen der beiden Männer erkannt?” fragt der Polizist Herrn Berger. Nachdem sie eine Ewigkeit in dem Streifenwagen durch die Stadt gefahren waren, um diese Zeit war erstaunlich viel Verkehr gewesen, waren sie in der Polizeiwache angekommen. Berger war noch nie in seinem Leben in einer Polizeiwache gewesen. Er hatte einen ordentlichen Job und ansonsten führte er ein ruhiges, gesittetes Leben. Der Polizist saß ihm in einem kleinen Zimmer, welches nur einen Tisch und zwei Stühle enthielt, gegenüber. “Nein, ich kenne die beiden Männer nicht.” sagte Berger. “Da wir jeden Hinweis brauchen, um der Sekte auf die Spur zu kommen, werden sie uns den Tathergang noch einmal genau schildern müssen.” sagte der Polizist. Berger erzählte also noch einmal haarklein.
Als ihn die Polizisten wieder vor seiner Haustür abgesetzt hatten, konnte Berger auf dem Weg den großen, roten Fleck nicht übersehen. Natürlich war der Tote nicht mehr da. Und auch sonst waren alle Menschen verschwunden. Die Luft roch nicht mehr nur feucht, sondern sie hatte jetzt diesen schweren Beigeschmack. Berger hatte noch nie so viel Blut gesehen oder gerochen.
Seine Frau öffnete ihm schon die Tür, als hätte sie auf ihn gewartet. Im Haus zog Richard Berger seine Jacke aus, hängte sie auf den Haken in dem Flur, auf dem immer seine Jacke hing. Im Spiegel fiel sein Blick auf die Krawatte, die schief hing. Er zog sie gerade. “Was passiert jetzt?” fragte seine Frau mit roten Augen. In der Küche setzte er sich an den Tisch. Die Kaffeetasse, die er nicht leer getrunken hatte, stand immer noch dort. “Die Polizisten haben gesagt, dass die beiden Männer zu einer Sekte gehören. Die Kinder des Zorns heißen sie. Oder so ähnlich. Was haben wir mit einer Sekte zu tun?” Seine Frau setzte sich nicht neben ihn, wie sie es immer tat, sondern war in der Tür stehengeblieben. Sie war wieder so weiß, dass Berger Angst hatte, er müsse wegen ihr den Arzt rufen. Sie ging zu einer Küchenschublade und holte dort etwas aus der hinteren Ecke hervor. Einen Zettel legte sie vor Berger mit zitternden Händen ab. “Die Kinder des Zorns werden alle finden und prüfen. BIST DU DABEI?” war mit großen Buchstaben zu lesen. “Woher hast du das?” fährt Berger seine Frau an. “Ich habe es bei Michael in der Hosentasche gefunden.” sagt seine Frau so leise, dass er sie fast nicht verstehen konnte.

Dorothea

Von Jos Balo

Dorothea Berger war nicht von jenem Typ Frau, die sich dem Willen ihres Mannes widersetzte. Stets, wenn sie von Richard eine klare Anweisung bekam, war sie dieser gefolgt. Nur einmal hatte sie es nicht getan und darauf bestanden, einen Grund zu erfahren. Das war vor vielen Jahren, nur einen Monat nach ihrer Hochzeit. Damals hatte sie den Jähzorn ihres Manns hautnah zu spüren bekommen. Verziehen hatte sie es ihm nur, weil er sich bei ihr entschuldigte und sich bereiterklärte, Pfarrer Jakob in ihrer Gemeinde alles zu beichten. Dieses Versprechen hatte Richard gehalten.

Eine Woche später, es war an einem Vormittag mitten in der Woche, bekam Dorothea Besuch von ihrem Pfarrer.

„Er war aufrichtig“, berichtete er. „Richard bereut, was passiert ist und hat mir versprochen, sich zu mäßigen.“

Dorothe sah beschämt zu Boden und fast unmerklich nickte sie.

„Jähzorn, liebe Dorothea, ist keine Laune, es ist eine Krankheit, die nicht einfach zu heilen ist. Deshalb solltest du klug sein und ihm den Platz lassen, den er braucht. Richard ist ein guter Mann, der immer für dich sorgen wird. Glaub es mir. Schon im Brief an die Epheser, im Kapitel 5 steht geschrieben, dass ihr Frauen euch euren Männern unterordnen sollt, wie dem Herrn. Wenn du dem folgst, wir es dir bei Richard gut ergehen. Ganz sicher wird er dir dann kein Leid mehr antun.“

Tatsächlich hatte sie fortan den Rat ihres Pfarrers beherzigt. Nur jetzt nicht. Ausgerechnet jetzt, in diesem heiklen Augenblick, nachdem so unvermutet ein Schuss gefallen war, gehorchte sie ihm nicht. Paralysiert und orientierungslos blieb sie neben ihrem Mann stehen, was diesen spontan in Rage versetzte.

„Tu, was ich dir sage“, schrie er sie an, „ruf die Polizei.“

In Erwartung ihres Gehorsams wand Richard sich ab und beobachtete durch den Spion, was sich vor der Tür zutrug. Verwundert nahm er wahr, wie der Jüngere neben der Leiche des Älteren kniete und konzentriert und mit schnellen Fingern an seinem Handy hantierte. Gerade eben hatte der Mann Richard noch übel beschimpft, doch jetzt war bei dem Kerl von Betroffenheit nichts mehr zu sehen. Im Gegenteil. Er zog noch ein weiteres Handy aus der Brusttasche seiner kunstledernen Jacke und tippte auch auf dieses ein, als arbeite er eilig an einer wichtigen Sache. Nur einmal, ganz kurz, ließ er von seinen Handys ab, griff nach der Pistole, die auf dem Boden lag, und warf sie vor die Tür. Als die Waffe unten gegen die Tür polterte, zuckte Richard zusammen und sprang einen Meter zurück in den Flur. Als hätte der Kerl ihm die Waffe direkt auf die Füße geworfen.

Dorothea stand immer noch da und rührte sich nicht vom Fleck. Richard sah sie an und deutete ihr Verhalten so, dass sie ihm nicht gehorchen wollte. Dass sie unter Schock stand und ihr Kreislauf sich gerade auf den Weg in den Keller machte, kam ihm nicht in den Sinn.

„Die Polizei, hörst du“, brüllte er sie mit irrem Blick an, „lauf in die Stube und ruf endlich die Bullen an. Nun mach schon.“

Doch Dorotheas Sinne erfassten seine Worte nicht und so blieb sie, wo sie war. Richard veranlasste ihre vermeidliche Sturheit dazu, ihr unkontrolliert einen Schubs zu versetzen. Just in diesem Augenblick hätten ihr die Beine eh den Dienst versagt und sie wäre auf den Boden des Flures gesackt, so aber ließ der Schwung des Stoßes sie wie ein steifes Brett nach hinten kippen.

Als Dorothea mit dem Genick auf der unteren Stufe der Treppe aufschlug, war sie längst bewusstlos und bekam von ihrem Schicksal nichts mehr mit.

Mit weit aufgerissenen Augen blickte Richard auf das Unheil, das er soeben angerichtet hatte. Er sah, wie sich vor der Treppe schnell eine Blutlache auf den Fliesen bildete und er sah in Dorotheas tote Augen.

Einen Moment lang war es jetzt Richard Berger, der sich nicht mehr bewegen und seinem eigenen Willen nicht mehr folgen konnte.

Doch dann drangen von draußen Geräusche bis zu ihm durch, die ihn aufmerksam werden ließen. Statt sich um seine Frau zu kümmern, stellte er sich zurück an den Spion und wunderte sich ein weiteres Mal darüber, was er sah.

Der Tote lag nach wie vor dort, wo er auch gerade schon gelegen hatte, doch sein Begleiter kniete nicht mehr neben ihm. Der stand an dem weit geöffneten, eisernen Gartentor und schien seelenruhig auf etwas zu warten. Eine Hand hatte er oben auf das Tor gelegt und die andere in die Hosentasche gesteckt. Es war ein Bild, als stünde er dort um auf Besuch zu warten.

Einen Augenblick lang war Richard das Geräusch, das ihn eben noch zurück an den Spion gelockt hat, aus dem Fokus geraten, doch jetzt drang es wieder bis in seine Sinne durch.

Es war lauter geworden und er konnte es eindeutig zuordnen.

Es war das Geräusch eines sich nähernden Martinshorn.

„Wie kann das sein?“, fragte sich Richard, „Sie hat die Polizei doch gar nicht angerufen.“

Als die Lichtreflexe der Blaulichter bereits durch die Luft zuckten, sprang der Kerl an dem Tor plötzlich hinter den großen Kirschlorbeerstrauch neben der Gartentür und versteckte sich dahinter.

So flugs, wie er sich eben noch hinter dem Strauch versteckte, sprang er wieder aus seiner Deckung hervor, als ein Streifenwagen auf der Straße stoppte und sich der der erste Beamter dem Grundstück näherte.

„Hierher, schnell, kommen Sie, Herr Wachtmeister, der Kerl ist verrückt“, rief er dem Polizisten entgegen und fuchtelte dabei wild mit den Armen.

„Der ist völlig irre. Ich habe alles gefilmt. Kommen Sie. Schnell. Wir wollten doch nur fragen, ob er etwas Gartenarbeit für uns hat und der hat gleich losgeballert. Irre, total irre, sag ich Ihnen. Meinen Vater hat er eiskalt erwischt.“

Dorothea verstand nicht. Sie sah ihrem Richard an, dass er kurz davor war seine Fassung zu verlieren. Seine Augen suchten Halt in ihren Augen, sein Gesicht aschfahl, seine bebende Stimme, der Knall vor der Tür – was passierte hier?

»Richard, was ist hier los?«

»Dorothea, ruf die Polizei«

Vor der Tür schrie der Smartphone-Mann: »Blutsauger; Mörder. Es wird nicht aufhören – wir kommen wieder.«

Stille!

Das alte Ehepaar stand sich gegenüber – regungslos.

Die Kirchenglocken begannen mit ihrem Rufen, kommt ihr Gläubigen, ihr Christen, ihr Gutmenschen. Richard spürte, wie ihm übel wurde. Seine Hände fingerten an der grünen Euro-Krawatte, er versuchte sich Luft zu verschaffen. Dorothea drehte sich um, lief ins Wohnzimmer, griff zum Telefon und wählte 110.

Stunden später waren sie wieder allein. Sie saßen am Küchentisch. Dorothea erinnerte sich nicht daran, was sie der freundlichen Polizistin gesagt hatte, allein ihre aufgeregte und zu laute Stimme, mit der sie auf die junge Frau eingeredet hatte, war ihr bewusst. Noch immer konnte sie nicht begreifen, was sich heute vor ihrer Tür, ihrem Zuhause, ihrem gut sortierten Leben abgespielt hatte. Sie wollte nichts sehen, nicht den toten Mann, nicht das Blaulicht, nicht den Leichenwagen, den schwarzen Sack, in den sie den Selbstmörder gelegt hatten. Er war der Mörder ihres Lebens – das war ihr klar. Wer würde die Blut-Hirn-Lache wegputzen? Der Regen hatte sie verdünnt und vom Weg in das angrenzende Blumenbeet fließen lassen, hier wo ihre geliebten Rosen bald winterfest verpackt werden sollten. Undenkbar, dass sie jemals wieder mit ihren Händen in dieser Erde arbeiten wird, auch wird sie ihre Rosen das Böse nicht aufsagen lassen. Niemals! »Richard, wir müssen die Erde austauschen lassen.« Er starrte an ihr vorbei, hörte ihr nicht zu. Seine Gedanken fuhren Karussell, immer wieder sah er sich an der Tür stehen, durch den Spalt hindurch auf die beiden Männer schauen. Er hörte sich reden, versuchte sich an jedes Detail zu erinnern. Wie sahen sie aus? Der Jüngere hatte eine Tätowierung auf dem linken Handrücken – eine Art Minischachbrett. Was hatten die Männer gesagt? Warum hatte der bärtige Mann nicht gezögert? Warum hatte er sich umgehend erschossen? Keine Chance hatte er ihm gelassen. Was hätte er ihm gesagt*? Nehmen sie die Waffe runter. Man kann über alles reden. Sie sind verrückt.* Warum wollte er 10.000€? Was sind schon 10.000€? Das fragte er sich jetzt. Warum hatte der Mann nicht 100.000€ gefordert? War er krank? Brauchte er das Geld für eine Behandlung?

Es wird nicht aufhören – wir kommen wieder! Das hatte der jüngere Mann geschrien. Was hatte das WIR zu bedeuten? Wann werden sie wiederkommen? Wie viele? Worum ging es ihnen? Ein Kapitalist, ein Ausbeuter soll er sein. Warum hatte der junge Mann alles gefilmt? Was wird er damit machen?

»Richard, wir müssen die Erde austauschen.« Dorothea war kurz davor hysterisch zu werden. Ihre Stimme schrill in Richards Ohren. »Dorothea, was redest du?« Es war ihr ernst – todernst. Ihre geliebten Rosen, ihr ein und alles. Sie wird sie verteidigen, wenn die bösen Männer wieder kommen sollten.

Anton hatte mit der Reaktion von dem Berger-Arsch gerechnet. Er wusste, dass sich Frank heute das Leben nehmen musste. Es war ihnen allen klar gewesen. Sie waren darauf vorbereitet. Jetzt schaute er sich das Video an – immer und immer wieder. In einer Stunde werden die anderen da sein, dann wird es weitergehen. Alles lief nach Plan.

Der Mann, der die Aufnahmen machte, rannte auf die Straße. Kurz darauf stieß er mit Dr. Maximilian Forbes zusammen. Sogleich fiel Dr. Forbes zu Boden. Er hatte den Schuss gehört und wollte nachsehen, was passiert war. Er rannte zu seinen Nachbarn, nachdem er sich wieder aufgerappelt hatte. Dorothea stand derweil erschrocken hinter der Haustür und schrie. „Um Himmels Willen, Richard.“ „Ruf verdammt noch mal die Polizei.“, flehte Richard Berger sie an. Mit zitternden Händen holte Dorothea ihr Handy aus der Handtasche. Vier Mal verwählte sie sich. Der Schock mache es für sie fast unmöglich die Polizei zu rufen. Schwer atmend und mit Tränen im Gesicht versuchte sie das Erlebte zu schildern. „Hallo? Hallo… ja, Dorothea Berger hier. Bitte… b- b- bitte kommen sie schnell. Ein Toter, ja. Ein Mann, der hat sich erschossen. Was?“ Der Beamte am anderen Ende der Leitung bemühte sich, Dorothea zu beruhigen. „Wie? Ja… Nansenring 27a. Frankfurt. Lerchersberg. Ja… Ich warte. Ok.“ Dann legte sie auf. „Die Polizei ist unterwegs, Richard.“ Er nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Alles wird gut, mein Schatz.“

„Dorothea, Richard?“, rief Dr. Forbes aufgeregt von draußen und schaute erschrocken auf den Boden zur Leiche. Richard öffnete die Tür. „War das der Typ da eben, der geschossen hat? Der hat mich umgerannt.“, schrie Maximilian und zeigte gleichzeitig in die Richtung, in der der Mann verschwand und kniete sich danach auf den Boden. Sein Blick sagte alles. „Er ist tot.“ Im Aufstehen und eine Hand ans Kinn haltend, fragte er: „Habt ihr die Pol…?“ Weiter kam er nicht. „Jajajaja… Max. Haben wir. Geh lieber an die Seite.“, stammelte Richard. Dorothea klammerte sich derweil an Richards Körper, heulte in seinen Sonntagsanzug und murmelte irgendwas vor sich her.

Es dauerte gefühlte 30 Minuten, als der Notarzt und die Polizei eintrafen. Dr. Forbes stellte sich dem Notarzt vor. „Forbes, Herr Kollege.“ „Fehrenbach, hallo. Was ist passiert?“ Beide Ärzte knieten sich hinunter. Dr. Fehrenbach hob den Kopf der Leiche sanft an und entdeckte sogleich die Austrittswunde. „Glatter Durchschuss. Tja…“, murmelte er. „Ich kann hier nichts mehr tun.“ Richard Berger teilte dem Notarzt noch mit, wie sich diese Tragödie abgespielt hatte. Die Besatzung des Rettungswagens kam derweil mit einer Decke und legte sie über die Leiche. „Danke Herr Kollege. Ich werde dann einmal die ersten Förmlichkeiten übernehmen.“ Dr. Forbes nickte, bat dann aber darum, das Dorothea ein Beruhigungsmittel bekam. „Möchtest du nicht lieber auch ins Krankenhaus, Dorothea?“, fragte er noch hinterher. „Nein, nein. Ich will bei Richard bleiben.“ „Wie du meinst. Aber bitte begib dich gleich ins Bett.“ Er umarmte Dorothea. Die Beamten der Schutzpolizei sicherten derweil den Vorgarten der Bergers mit blau-weißem Flatterband ab und sperrten die Straße nach beiden Seiten. Leise unterhielten sich die Polizisten, während einer von den insgesamt sechs auf Richard Berger zuging.

Kurz darauf traf die Kripo ein. Kriminalhauptkommissar Viktor Tannhäuser stieg aus dem Dienstwagen, seine Kollegin Katrin Gröpper folge ihm. Viktor Tannhäuser zog seinen Mantel enger um sich und ging auf die Absperrung zu. Die Stille wurde nur durch das entfernte Murmeln der anwesenden Beamten unterbrochen. „Was haben wir?, fragte er einen der Beamten, der an der Absperrung wartete. „Eine Leiche, männlich, und die 50. Kopfschuss. Näheres von Doktor. Wie immer.“ „Ja, wie immer. Danke.“ Tannhäuser klopfte dem Beamten an den linken Arm und überquerte die Absperrung. Für seine Kollegin hob der Streifenbeamte das Flatterband hoch. „Wie aufmerksam. Verbindlichsten Dank.“ schmunzelte sie. „Kletterfaul?“ „Nein Viktor. Knie.“ Er blickte mit leicht gepressten Lippen drein und atmete einmal tief durch. Dann sprach Tannhäuser den Notarzt an. „Kannste schon was sagen?“ „Ja hmm… Er starb durch einen Schuss. Gezielt durch den Mund. Laut Aussagen von Herrn Berger stand er vor der Tür hielt sich die Waffe in den Mund und drückte ab. Der Schuss war sofort tödlich. Ich habe Frau Berger noch ein Beruhigungsmittel gegeben. Bitte schont sie bei der Befragung. Der Schock. Du weißt ja. Bis dann.“ „Bis dann.“, grummelte Tannhäuser. Katrin Gröpper ging derweil auf die Bergers zu. „Guten Morgen. Kriminaloberkommissarin Gröpper. Mein Kollege hinter mir ist Kriminalhauptkommissar Tannhäuser.“ Der Beamte, der noch immer bei Richard stand, salutierte etwas locker vor Katrin. Sie zeigte ihren Ausweis, gab zuerst Dorothea und dann Richard die Hand. „Ist in Ordnung, Kollege. Danke.“ Dann zog sich der Beamte mit einem Nicken diskret zurück. „Mein herzliches Beileid.“ sagte sie im Anschluss. Dann holte sie aus ihrer Jackentasche ein Notizbuch und begann mit der Frage, was genau passiert sei. „Das waren zwei Männer die hier klingelten.“, antwortete Richard Berger. „Der zweite Mann filmte alles und lief nach dem Schuss weg. In Richtung des Waldes. Und er sagte noch, dass sie wüssten, dass wir Geld haben.“ Dr. Forbes stand neben Katrin Gröpper und unterbrach sie, bevor sie eine zweite Frage stellen konnte. „Verzeihung. Forbes. Dr. Maximilian Forbes. Ich kann ihnen Näheres zu dem Mann sagen.“ „Viktor, kommst du mal bitte? Ich hab hier einen weiteren Zeugen. Viktor?“ Tannhäuser hörte nicht richtig zu, zog sich Gummihandschuhe an und durchsuchte inzwischen den Toten. Er fand einen Ausweis, einen Führerschein und etwas Bargeld. Knapp 10 Euro. „Dawid Sobieski. Aus Offenbach.“, murmelte er. Darauf nickte er dem Notarzt zu, steckte den Ausweis und Führerschein in einen Plastikbeutel und legte die Decke wieder über die Leiche. „Komme, Katrin… komme.“ Unter einem leichten Stöhnen stand Tannhäuser auf und ging auf Katrin zu. „Einen weiteren Zeugen? Wer? Oh. Entschuldigung. Tannhäuser. Kriminalhauptkommissar.“ Dr. Forbes und die Bergers gaben ihm die Hand. „Forbes. Dr. Forbes. Ich bin ein direkter Nachbar. Der Typ rannte mich um. Ich kann ihnen den Kerl beschreiben.“ Tannhäuser blickte ernst drauf ein und nahm Dr. Forbes an die Seite. „Kommen sie. Doktor? Welche Art Doktor?“, fragte er nachdenklich. „Ja ähm… Ich bin Internist und der Hausarzt vom Ehepaar Berger.“ „OK.“ Tannhäuser presste seine Lippen zusammen. „Dann haben sie also auch den Tod feststellen können?“ „Ja.“ „Nun, dann legen sie mal los.“ Kurz bevor Dr. Forbes eine genaue Beschreibung des verschwundenen Mannes abgab, erklärter er noch, das er den Schuss hörte. „Woher wissen sie, das es ein Schuss war, Herr Doktor?“, meinte Tannhäuser. „Na hören sie mal. Eine ruhige Gegend wie diese, es ist Sonntagmorgen und viele Nachbarn schlafen noch. Ein Schuss klingt doch anders, als wenn zwei Autos ineinander krachen.“ Tannhäuser nickte. „Einleuchtend. Kennen sie den Toten?“ „Nein, nie gesehen.“ In dem Moment erschienen die Beamten der Spurensicherung. Tannhäuser drehte sich um. „Sowas, sowas. Auch schon da?, entging es ihm mit einem leichten Unterton. „Viktor.“ „Sonst noch etwas?“, fragte Richard Berger nervös auf zu Katrin. „Meine Frau… sie muss sich erst mal von dem Schock erholen. Sie entschuldigen uns bitte.“ „Hm? Ja, ja sicher doch.“ Katrin nahm inzwischen den Plastikbeutel mit den Papieren des Toten an sich. „Eine Frage noch: „Kennen sie den Toten? Dawid Sobieski heißt er.“ „Nein, Frau Kommissarin. Ich kenne ihn nicht. Du Dorothea?“ Sie schluchzte, schnäuzte sich die Nase und schüttelte den Kopf.“ Nein. Den kenne ich nicht. Ich möchte dann jetzt auch bitte gehen.“ „Hmmm, OK. Natürlich. Das wäre es fürs Erste.“, antwortete Katrin. „Wir kommen auf sie zurück. Und gute Besserung Frau Berger.“ Katrin schüttelte beiden die Hände und wandte sich Tannhäuser zu. Richard Berger schloss derweil die Tür hinter sich.

Die Kommissare gingen danach auf die Straße und überließen den Tatort der Spurensicherung. „Komische Geschichte, findest du nicht auch? Viktor?“ Nach kurzem Nachdenken sah Tannhäuser ihr ins Gesicht „Ja. Irgendwie. Wie kommt man auf so eine Idee, bei jemandem zu klingeln und dann damit zu drohen sich umzubringen? Noch dazu bei jemandem, der, wie ausgesagt wurde, viel Geld hat, so wie die Bergers? OK, diese Gegend ist schon recht ähm… ein besseres Viertel, das gebe ich zu. Und wieso hat der zweite Mann alles gefilmt?“ „Vielleicht wollte er damit was beweisen. Nur was? Katrin Gröpper räusperte sich. „Auf den ersten Blick ist es erst mal kein Mord im klassischen Sinne, Katrin. Ich meine, der Mann hat sich selbst erschossen. Erinnert mich irgendwie an Agatha Christies - Ein Mord wird angekündigt -.“ „Viktor, du ließt zu viele Krimis. Das hier ist Realität. Warten wir ab, was die Obduktion ergibt.“ „Ja. Warten wir es ab.“ Dann kam Dr. Forbes auf die beiden Kommissare zu. „Entschuldigung. Sie brauchen mich nicht mehr, oder?“ „Oh Herr Dr. Forbes. Nein, im Moment nicht. Aber sie müssten dann später noch einmal ins Präsidium kommen, damit wir ihre Aussage protokollieren können. Kriminalinspektion 10. Erster Stock, Zimmer 25. Adickesalle 70. Sie bekommen dann eine Nachricht von uns, wann sie erscheinen sollen.“, sagte Viktor Tannhäuser, gab Dr. Forbes die Hand und eine Visitenkarte. „Tja, also… einen schönen Sonntag noch, die Herrschaften.“ Auch Katrin gab ihm die Hand. „Auf Wiedersehen. Herr Doktor.“

Dann ging Dr. Forbes kopfschüttelnd und langsamen Schrittes zurück zu seinem Haus. Die Kommissare schauten ihm noch so lange hinterher, bis Dr. Forbes die Tür hinter sich schloss. „Ich gehe noch mal eben zu den Bergers. Die müssen wir ja auch noch später vorladen.“, sagte Katrin und lief auf die Haustür zu. „Dann werde ich mal die Kollegen informieren und eine Fahndung einleiten. Auch was das Opfer angeht, frage ich mal nach, ob er polizeibekannt ist. Bin mal gespannt, wann und ob wir den zweiten Typen kriegen. Und was die Obduktion ergibt.“ Nachdem Katrin Gröpper auch den Bergers Bescheid gegeben hatte, wandte sie sich wieder Tannhäuser zu. „Frau Kommissarin?“, rief einer der Beamten der Spurensicherung. „Hier, das Projektil. Augenscheinlich Kaliber 9 mm.“ Er hielt das Projektil mit einer Pinzette fest und legte es in einen Plastikbeutel. „Danke Kollege. Viktor? Die Spurensicherung hat gerade das Projektil gefunden.“ „OK. Dann ab damit ins Labor.“ Katrin übergab die Beutel mit dem Projektil und den Papieren dem Beamten. Tannhäuser hielt sich derweil seine rechte Hand an den Bauch uns sagte: „Und wir beide, wir machen uns jetzt auch langsam auf den Weg. Die Fahndung läuft. Und über Dawid Sobieski hab ich auch noch keine neuen Infos. Wie wäre es mit einem Kaffee? Und Wecken?“ Ihren rechten Zeigefinger auf Tannhäusers Gesicht gerichtet, sagte sie: „Auf deine Rechnung, Viktor.“

(C) Schreibmöwe

Waren es fünf Minuten oder fünf Stunden? Völlig desillusioniert stand der Mann, mit seiner grünen Krawatte, im Gang seines idyllischen Häuschens. Seine Ohren rauschten vom Knall der donnernden Waffe. Das Bild des zitternden Selbstmörders. Das Blut, welches langsam im Vorgarten versickert. Knochensplitter und Gehirnmasse, die sich über den kalten, steinigen Weg verteilten. Dies waren die Eindrücke, die sich verewigten im verzweigten Nexus seiner Synapsen. Das dumpfe Hämmern des jüngeren Mannes gegen die Türe. Seine verurteilenden Worte hallten weit entfernt in dem Kopf des nach außen wirkenden friedliebenden Reisebüroleiters. Verursachten einen scharfen, stechenden Kopfschmerz.

Der Himmel Verdunkelte sich und ein tieffliegender Bomber kreiste über seinem Kopf. Eine entschlossene Hand packte Berger an der Schulter und zog ihn zu sich. „Augen auf Soldat!“, brüllte ihm ein uniformierter Mann mit gusseiserner Stimme und markanten Kinn entgegen.
Nein, dachte sich Berger, unmöglich! Unverkennbar war der Geruch. Eine Mischung aus Schießpulver, Fäkalien, Erbrochenem, Tod und Verderben. Einst diente er mit diesem Bruder im Krieg. Oberst Fischer. Der härteste der harten Hunde. Im Alleingang hatte er ein Bunker ausgehoben und die zwölf Feinde, die sich in dessen inneren verschanzten stumm geschaltet. Kurz vor dem Ende des Einsatzes erwischte ihn leider eine Splittergranate. Riss seinen Körper in zwei Hälften. Und doch stand er vor ihm.
„Is was Berger?“, brüllte er über das Aufschlagen der Artillerie hinweg.
„Nein Sir.“, antwortete Berger ohne Zögern.
Und wie damals bei seinem Einsatz in der Kampfzone marschierte die Einheit im Zwielicht Richtung Süden. Bevor der Trupp, bestehend aus Fischer, Berger, Düll und Martins in den vorgesehen Schützengraben hechten, erwischte Düll ein Scharfschütze. Entsetzt betrachtete der Reisebüroleiter aus Frankfurt die ihm bekannte Szene. Der Mann mit seiner grünen Krawatte. Apathisch in der Gegend stehend. Versuchend die Situation zu begreifen. Beäugte er, wie die übrigen Soldaten versuchten, den Toden erfolglos aus dem schlammigen Morast herauszuziehen. Mit einem erleichternden Stöhnen sprangen sie in den Graben. Ein letzter Blick auf den Kameraden, der im Dreck zurückgelassen wurde.
„Verdammter Feind!“, fluchte Fischer.
Schoss mit seinem Gewehr aus der Deckung. Eine kontrollierte Salve nach der Anderen. Wohlwissend, dass er so nichts traf. Ein Schnitt und es war finster. Berger bekam mit wie der Feind Martins, mit einem in Wellen geschwungenen Messer, aufschlitzte und sich Fischer zuwandt. Zitternd hob Berger einen Stein auf und schlich auf den gegnerischen Infanteristen zu. Ein Wunder, das sein Geruch niemanden aufweckte. Die Mischung aus Pisse und Blut war penetrant und Berger roch es Monate lang. Dieser Bemerkte ihn und griff an. Sie kämpften. Er schaffte es, die Klinge von sich fernzuhalten. Das Gestöhne zweier Kämpfender weckte zum Glück Fischer. Dieser schreckte auf und verpasste dem Kerl einen gezielten Tritt in die Kniekehle. Jauchzend fiel dieser zu Boden.
„Na los Soldat. Der geht aufs Haus!“, raunzte Fischer.
Berger überlegte nicht lang. Warf sich auf den Gegner, der in einer fremden Sprache um Gnade flehte. Selbst wenn er verstanden hätte, was er sagte, dem Frankfurter Reisebüroleiter war es egal. Hämmerte bis zur Unkenntlichkeit mit dem Stein auf den Kopf des Mannes. Stille. Die düsteren Wolken lichteten sich und die Sonne erstrahlte hell auf das Opfer. Ein rostiges Quietschen einer schmiedeeisernen Gartentür. Der Geruch nach der ersten feuchterdigen Herbstluft, und Berger? Berger kam zu sich. In der Rechten hielt er einen blutverschmierten Stein. Knochensplitter und Anderes klebten an ihm. Tropfen für Tropfen im rhythmischen Lied verband sich ein Blutstropfen am Boden mit seines Gleichen. Ein junger Mann, gekleidet mit Jeans und einer Jacke aus Lederimitat, der verzweifelt sein Smartphone mit der linken Hand umklammerte, lag unter dem aufrecht stehenden Soldaten. (C) FerrumCrow