Seitenwind 2024 beginnt! 1. Teil

Am nächsten Morgen saß Berger übernächtigt in seinem Reisebüro und starrte auf den Bildschirm des Computers. Sie hatten die Polizei nicht angerufen. Nachdem er die Haustür geschlossen hatte und mit zitternder Stimme seiner Frau von den zwei Besuchern und der Leiche in ihrem Vorgarten berichtet hatte, wandte sie sich ihm zu, sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren und murmelte. „Das ist doch absurd!“ Er starrte auf den Boden und sah die beiden Männer vor sich.

„Hast du den Schuss nicht gehört?“

„Nein, da war kein Schuss.“

„Aber der Mann ist tot. Erschossen.“

„Das ist absurd“, hatte seine Frau wiederholt, war zur Haustür gegangen und hatte sie mit weitem Schwung geöffnet.

„Hier ist kein Toter.“

Berger war aufgesprungen und vor die Haustür gerannt. Auf den Steinfliesen lag allerdings ein großer dunkler Fleck.

„Aber das Handy, er hat doch alles aufgenommen …“

„Ich mache uns jetzt einen Kaffee, für den Gottesdienst ist es ohnehin zu spät.“

Energisch hatte seine Frau die Haustür wieder geschlossen und es abgelehnt über diesen Vorgang noch ein Wort zu verlieren.

Und jetzt saß er in seinem Büro: Er hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, immer wieder den Schuss gehört und die feine rötlich-graue Wolke, die aus dem Hinterkopf des Mannes getreten war, nicht aus dem Kopf bekommen.

Ein paar Minuten später öffnete sich die Tür zu seinem Reisebüro. Bergers Herz setzte einige Schläge aus. Eisige Kälte durchdrang seinen Körper und er riss seinen Mund weit auf, ohne einen Ton herauszubringen.

Vor ihm standen die beiden Männer, von denen einer sich gestern vor seinen Augen erschossen hatte. Der Jüngere richtete sein Handy auf ihn, während der Ältere ihn traurig anblickte.

„Guten Tag, bitte geben Sie mir 15.000 Euro, sonst muss ich mich umbringen.“

„Was?“, Berger krächzte und ihm fiel auf, dass sich die gleiche Szene gestern abgespielt hatte. Nur, dass der bärtige alte Mann jetzt 5.000 Euro mehr als gestern forderte.

Der jüngere Mann trat zwei Schritte auf Berger zu, drehte sein Smartphone um und ließ einen Film ablaufen.

Berger starrte auf den kleinen Bildschirm und rang nach Luft: In dem Video sah er, einen älteren Herrn mit grauem Bart, der »Guten Tag“ sagte. Dann sah er sich mit »Was?«, antworten und in die Kamera blicken: »Filmen Sie das?«, fragte er. »Wozu? Was soll das alles?« Richard Berger schüttelte in dem Video den Kopf.
»Sie sind ja verrückt. Wie stellen Sie sich das vor?«
Berger hörte in dem Film sein unwilliges Schnauben und den Satz: »Machen Sie, was Sie wollen, aber machen Sie es bitte draußen auf der Straße, okay?«
Danach fiel in dem Video ein Schuss und man sah, wie eine Art rötlich-graue Wolke aus dem Hinterkopf des Mannes sprühte, dann stürzte dieser leblos nach hinten und hinab auf den Plattenweg, der vom Vorgartentor bis zu den Treppen vor der Haustüre führte. Blut breitete sich auf den Platten aus.
In der letzten Einstellung sah Berger sein Gesicht und hörte eine Stimme, die schrie: »Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!«

„Das ist, … das ist …“ Berger bekam noch immer keine Luft und stotterte.

„Das ist die Aufnahme eines Mordes“, erklärte der ältere Mann mit ruhiger Stimme.

„Aber sie leben doch!“ Berger schrie es hinaus und spuckte dabei kleine Speicheltropfen aus.

„In dem Film bin ich tot und die Polizei wird eine Menge Fragen haben, wenn sie das Video sieht.“

„Was soll das alles?“
Auf Bergers Stirn bildeten sich kleine Schweißtropfen. Er griff nach seiner Brust und rang nach Atem.

Der jüngere Mann hielt erneut sein Smartphone auf Berger.

„Warum haben Sie meinen Freund umgebracht? Er hat Ihnen nichts getan.“
„Sie sind völlig verrückt, ich habe niemanden umgebracht.“

Der Ältere griff in seine Jacke, holte eine Pistole aus der Jackentasche und legte sie auf Bergers Schreibtisch direkt neben den Computerbildschirm.

„Und wie kommt es dann, dass Sie die Pistole haben, mit der mein Freund erschossen wurde?“ Der jüngere Mann hielt mit dem Smartphone auf die Waffe und danach auf das verdutzte Gesicht Bergers.

Als ob ihn eine fremde Macht zwingen würde, griff Berger nach der Pistole und starrte sie an, als sei sie eine giftige Schlange.

Der Mann mit dem Bart sah auf die Pistole, auf Berger und das Smartphone des anderen Mannes und nickte leicht, worauf sein Partner das Smartphone Senktee.

„Sehr gut, jetzt sind Ihre Fingerabdrücke auf der Pistole. Er griff nach ihr und steckte sie ein.

„Es ist wohl an der Zeit, mit uns zu kooperieren.“

Dorothea Berger hatte alles hinter der Gardine aus feinster Plauener Spitze beobachtet und bereits die 110 gewählt. Man versprach ihr im Frankfurter Polizeipräsidium spätestens in 15 Minuten vor Ort zu sein und gab ihr die Anweisung, sich mit ihrem Mann im Keller zu verstecken. Das tat das Ehepaar unverzüglich und mit ihren Smartphones begaben sie sich in den Fitnessraum, der die Größe des halben Kellers einnahm. Hier gab es eine Toilette und eine Dusche mit ebenerdigem Einstieg, die Herr Berger im letzten Sommer einbauen ließ. Schließlich sollte seine Dorothea mit ihren Freundinnen ungestört ihr Sportprogramm durchführen können, ohne dass Richard Berger ihnen in die Quere kam.
Sie setzten sich beide auf die Hantelbank und Richard sah mit fragendem Blick seine Frau an. „Was hat das alles zu bedeuten, ich verstehe die Welt nicht mehr? Kannst du mir erklären, warum die zwei Männer uns aufgesucht haben, um zehntausend Euro zu fordern. Wir gehören doch nun wirklich nicht zu den Reichen in Frankfurt.“
Dorothea hörte ihrem Mann nur mit halben Ohr zu , sie war zum Kellerfenster gegangen und sah hinaus, ihr Blick fiel direkt auf die Füße des toten Mannes. Er trug weiße Turnschuhe der Marke „Niki“, die Sohle war in der Mitte gebrochen, außerdem waren sie nach innen stark abgelaufen. Von dem jüngeren Mann war keine Spur zu sehen und Dorothea fragte sich, ob dieser vielleicht schon im Haus war und die Schränke nach Geld oder anderen Wertsachen durchsuchte.
Gestern erst hatte sie zehntausend Euro auf der Sparkasse abgehoben, mit denen sie die Handwerker bezahlen wollte, die übermorgen die Hauswände streichen sollten. Sie hatte das Geld vorsorglich im Tresor eingeschlossen und war sich deshalb ziemlich sicher, dass es nicht entwendet werden konnte. Ihr Mann unterdessen bekam keine Luft mehr, er röchelte heißer, lockerte den Knoten seiner Krawatte und streifte diese über seinen Kopf mit den dichten grauen Haaren ab. Seine Frau gab ihm ein Handtuch, damit er sich den Schweiß von der Stirn wischen konnte, füllte ein Glas mit Leitungswasser und reichte es ihm. „Danke, meine Liebe“, hüstelte Richard. Dorothea durchquerte wieder den Raum und blickte erneut aus dem Kellerfenster, um zu schauen, ob die Polizei inzwischen angekommen sei.
Sie war überrascht und ein Schrei schrill und lautstark, wie der einer Möwe, die ihre Jungen beschützt, fuhr aus ihrer Kehle. „Riiicharrd“; ihre Stimme überschlug sich, sie nahm noch einmal Anlauf, aber es kam kein Ton über ihre schmalen Lippen. Mit zitternden Händen zog sie ihren Mann von der Trainingsbank und zeigte mit ihren lackierten Fingernägeln auf den Weg vor dem Kellerfenster. Der tote Mann mit den weißen Turnschuhen lag nicht mehr auf dem Weg, stattdessen taumelte der junge Mann mit einer Wunde am Bauch und seinem Handy in der Hand an der Hauswand entlang. Er hielt sich mit der rechten Hand die klaffende Wunde zu, ein Küchenmesser mit hellroten Blutspuren lag vor seinen Füßen. Mit der anderen Hand filmte er wie das Blut aus seinem Körper tropfte.

„Warum hast du ihm das Geld nicht gegeben?“ Dorotheas Hand suchte Halt an der Lehne des antiken Ohrensessels. Doch er schien sie gar nicht zu hören. Seine braunen Augen starrten durch sie hindurch. Warum hatte er nicht direkt die Tür geschlossen? Oder diesen Herumtreiber mit etwas anderem abgewimmelt?
„Die Schachfiguren … die hätte er auch genommen“, stieß sie hervor. Nur mit Mühe hielt sie ihre Stimme unter Kontrolle. „Warum hast du sie ihm nicht gegeben?“
Richard drehte sich mit einem kurzen Ruck zur Schachpartie neben dem Ohrensessel und fixierte die goldenen Figuren auf dem glänzenden Marmor.
Was war bloß los mit ihm? Sie kannte diesen Mann nicht, der tatenlos da stand und in einem fort den Kopf schüttelte. Er schien den Verstand verloren zu haben.
„Richard! Reiß dich zusammen! Wir müssen Kessler anrufen!“
Er sah sie mit angstverzerrtem Gesicht an, unfähig zu handeln. Dorothea wandte den Blick ab. Es kostete sie einige Überwindung, bevor sie sich von ihrem Platz losmachte und auf ihn zutrat. Gefasst überspielte sie ihren Anflug von Abneigung und fasste ihn an den Schultern. Am liebsten hätte sie ihn wachgerüttelt. Stattdessen neigte sie sich zu ihm und flüsterte lautlos: „Du wirst immer besser Leon, aber die Story ist Mist. Was machst du heute Abend?“ Sie warf ihm einen verschmitzten Blick zu.
Er riss sich von ihr los. „Und – cut“, rief jemand hinter ihrem Rücken.
Mit professionellem Lächeln sah Leon auf sie hinab.
„Fliegen“, raunte er ihr zu.
„Alleine?“
„Das war’s für heute. Danke Leon. Connie, kannst du noch ein paar Minuten bleiben und die Voice-overs einsprechen?“
Connie seufzte und sah Leon nach, wie er vom Set verschwand. Sie gähnte demonstrativ und folgte dem Aufnahmeleiter in den angrenzenden Raum. Eine Stunde später pflanzte sie sich auf den Schminkstuhl, wo Ivy ihr half die Perücke abzunehmen.
„Dieses ganze Schach-Thema ist so abgenudelt wie sonst was. Mastermind inszeniert genialen Mordplan. Ich langweile mich zu Tode. Wäre Leon nicht dabei, hätte ich nie zugesagt. Jetzt sitze ich die nächsten Monate in dieser stupiden Hausfrauen-Rolle fest, und das nur wegen seiner Clooney-Augen. Vielleicht sollte ich den Schreiberlingen mal einen Wink geben, dass die Ehefrau ermordet wird.“
Ivy schenkte ihr ein skeptisches Lächeln und legte ein warmes feuchtes Tuch auf ihr Gesicht.
„Kessler sitzt jeden Donnerstag in der Zappbar. Kannst ihm ja mal den Vorschlag machen.“
„Wer ist das?“, fragte sie durch den Stoff.
„Der neue Autor der laufenden Staffel.“
Connie blies amüsiert Luft durch die Nase. „Kessler. Sehr originell!“
„Scheint ein schweigsamer Typ zu sein.“
Connie atmete tief durch den wohligen Geruch des Tuches, der sie schläfrig machte.
„Dann ist er bestimmt ein guter Zuhörer. Und für einen kleinen Ehefrauen-Mord sicherlich zu haben.“
Einen Moment ließ sie sich in eine tiefe Entspannung sinken.
„Connie? Ich bin jetzt weg. Vergiss dein Script für morgen nicht.“ Ivy klopfte auf den Tisch.

Die Uhr auf dem Display des Taxis zeigte 23.11 Uhr an, als sie sich auf die Rückbank des Taxis schob. Der Taxifahrer drehte sich zu ihr um.
„Zappbar?“
„Wie bitte?“
„Sie wollen doch zur Zappbar.“
„Habe ich das gesagt?“
Er nickte unbestimmt, kicherte in sich hinein und drehte sich wieder nach vorne.
Connie tat es leid, dass sie nicht die U-Bahn genommen hatte.
„Spielen Sie Schach?“
Was sollte diese Frage nun wieder. „Warum?“
Der Taxifahrer schnaufte amüsiert, fuhr los und ließ sie in Ruhe bis sie da waren.

Die Straßenbeleuchtung reichte gerade aus, um den trüben Glanz der Pfützen hervorzuheben, denen Connie mit ein paar Schritten auswich. Wo war sie eigentlich? Die Häuser schienen seit einiger Zeit unbewohnt. Klingelschilder gab es auch nicht. Anstatt im Script zu lesen, hätte sie besser aufpassen sollen, wohin der Taxifahrer sie gebracht hatte. Es fing an zu regnen, und ihr Handy war leer. Ein paar Meter weiter warf das flackernde Schild einer Neonröhre sein kühles Licht auf den Asphalt. Connie eilte zu der Stelle und stand vor dem Eingang der Zappbar. Durch die blinden Fenster war nichts zu erkennen, aber sie hörte leises Stimmengemurmel. Wenn Sie diesen Kessler überzeugen konnte, war sie vielleicht nächste Woche schon von dieser Serie erlöst. Sie trat ein.

Noch ehe in der Ferne Sirenen erklangen, konnten Richard und seine Frau aufgeregtes Stimmengewirr von draußen hören. Dorothea, noch immer in das schlichte weinrote Kleid gehüllt, das sie für den Kirchgang ausgewählt hatte, erhob sich von ihrem Stuhl und trat zum Fenster.
Vorsichtig schob sie den weißen Vorhang ein paar Zentimeter zur Seite und spähte hinaus.
„Richard“, zischte sie erschrocken, „da draußen steht eine Horde Menschen. Schau doch mal“, sie warf ihrem Mann einen kurzen Blick zu, „die haben sogar Plakate. Oh Gott, Richard.“
Berger reagierte nicht. Wie hypnotisiert starrte er den Rücken seiner Frau an.
„Wie das, was aus ihm schoss“, murmelte er vor sich hin, „all das Blut und dieser Knall. Der laute Knall.“
„Das ist doch nicht zu fassen“, Frau Berger bekam die Worte ihres Mannes nicht mit, „die, die glauben das, Richard“, sie ließ den Vorhang los und drehte sich um, „die glauben, dass du ein Mörder bist.“
Wie zur Bestätigung wurden die gedämpften Stimmen so laut, dass sie selbst durch die geschlossenen Fenster klar zu erkennen waren.
„Mörder!“, brüllten sie, „Komm raus, Geizhals, dann zeigen wir dir, was wir von Schnöseln halten!“
Die Rufe drangen an Bergers Ohr, doch keiner erreichte ihn wirklich. Erst als seine Frau in dem verzweifelten Versuch, die Menschenmenge zu übertönen, den Fernseher anschaltete, wurde Berger aus seinem Zustand gerissen.
Dorothea sog scharf Luft ein, als der Bildschirm in sämtlichen Farben flimmerte und auch Richard war fassungslos. Dort im Hintergrund der Reporterin stand sein Heim. Berger würde es unter tausenden von Häusern erkennen. Nicht, weil sich hinter der Gartentür ein sauber gestutzter Vorgarten befand. Gepflegte Gärten gab es mehr als genug in dieser Gegend. Vielmehr war es dieses kleine Detail, ein Traum, den sich Berger eines Tages erfüllt hatte, der nun für einen unübersehbaren Wiedererkennungswert sorgte. Berger sah es sofort - das Baumhaus in Form eines Cockpits, das zwischen den Blättern hervorspitzte. Sein Baumhaus. Ein Geschenk an sich selbst, als der Gewinn, den sein Reisebüro abwarf, in die Höhe schoss.
„Ich stehe nun vor jenem Haus, in dessen Vorgarten vor nicht einmal einer halben Stunde der live übertragene Suizid stattfand. Die Polizei ist noch nicht vor Ort, müsste allerdings in wenigen Minuten ebenfalls eintreffen“, erklärte die Reporterin mit Blick in die Kamera, „noch gibt es neben den Informationen, die das Video liefert, keine weiteren. Klar ist nur, dass hinter dem Gartentor eine Leiche liegt. Von der Person, die den tragischen Vorfall gefilmt hatte, fehlt jede Spur.“
„Doch Richard B.“, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu, „der Mann, der um zehntausend Euro gebeten wurde und seine Frau scheinen sich im Haus aufzuhalten. Wahrscheinlich eine gute Idee, wenn man bedenkt, welche Auswirkung die Live-Übertragung auf die Menschen in der Nähe hatte.“
Die Kamera schwenkte in die Umgebung und gab den wütenden Mob frei, über den sich die Reporterin im selben Augenblick äußerte.
Langsam, wie ein Tiger auf der Jagd, stand Berger auf und schlich auf das Bild zu, das die Umstände vor seinem Haus spiegelte.
All seine Aufmerksamkeit richtete sich auf einen kleinen Punkt inmitten der Menge.

Er drehte sich um und sah in ihr bleiches Gesicht mit dem offenen Mund. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Dorothea während der ganzen absurden Szene kein einziges Wort gesagt hatte.

»Diese Stimme …«, murmelte sie mit aufgerissenen Augen.

»Welche Stimme?«, fragte Berger irritiert zurück. Doch dann wurde ihm klar, dass seine Frau aufgrund der vorgelegten Sicherheitskette und der nur zu einem Viertel geöffneten Tür die zwei Verrückten nicht gesehen haben konnte. Außerdem stand sie zwei Meter hinter ihm.

Richard nahm ihre kalten Hände in seine. »Hast du eine Stimme erkannt?«

Dorothea zitterte. Mit glasigem Blick sah sie auf die Gebetbücher, die auf der Flurkommode lagen. »Wir sollten jetzt in die Kirche gehen«, flüsterte sie.

Berger starrte seine Frau an. Wollte sie jetzt allen Ernstes zur Tür raus, über eine Leiche steigen und einen Gottesdienst besuchen?

»Was ist los mit dir?«, fragte er.

Dorothea schluchzte. »Wir wollten doch …«

Weiter kam sie nicht. Der Schock muss tief sitzen, sagte sich Richard und kannte nur eine Lösung.

Mit einem lauten Klatschen landete seine Hand in ihrem Gesicht. »Komm zur Vernunft!«, schrie er sie an.

Das ganze unbegreifliche Geschehen legte auch bei ihm die Nerven blank. Obwohl er sich keiner Schuld bewusst war, schlängelten sich die Worte des Handyfilmers in sein Gehirn. Dieser Kerl hatte ihn an den Pranger gestellt, ihn schon am höchsten Galgen aufgeknüpft. Der Hals ging ihm zu. Er öffnete den Krawattenknoten.

Berger packte seine Frau an den Schultern und schüttelte sie.

»Was ist mit dieser Stimme? Hast du eine erkannt? Die des Selbstmörders oder die des Jüngeren?«

Sein Blick blieb an ihrer geröteten Wange hängen. Vielleicht hätte er doch nicht so fest zuschlagen sollen.

»Ich … ich … ja …«, stammelte sie und starrte ihren Mann mit tränenden Augen an.

»Was ja?«, entgegnete Berger und spürte, wie sein ohnehin angeschlagener Magen sich verkrampfte.

Dorothea schwieg. Dafür drangen aufgeregte Stimmen von draußen zu ihnen.

Krankenwagen und Polizei waren zwei der Worte, die Berger deutlich raushörte. Darum brachte er sich also nicht mehr zu kümmern. Die aufmerksamen Nachbarn hatten natürlich alles mitbekommen.

»Sprich mit mir«, versuchte er es jetzt auf die sanfte Tour und streichelte seiner Frau durch das Haar.

»Ich will hier weg«, flüsterte sie und fixierte das Gemälde der Toskana an der Wand gegenüber der Garderobe.

Das Bild hatte ihn viel Geld gekostet. Aber er hatte es gekauft, weil er mit seiner Frau damals die Flitterwochen dort verbracht hatte, kurz bevor sein eigenes Reisebüro eröffnet wurde.

Irritiert schüttelte Berger den Kopf. Was hatten diese Gedanken jetzt in seinem Kopf zu suchen? Er riss sich zusammen.

»Was hast du mir zu sagen?«, versuchte er erneut zu ihr vorzudringen. »Was ist mit dieser Stimme?«

Endlich drehte Dorothea sich zu ihm und sah ihm in die Augen.

»Die Tonlage, die Betonung der Wörter. Ich kannte den Alten«, erklärte sie. Die von der Schminke gefärbten Tränen rannen ihr übers Gesicht.

»Wer war das?«, zischte er.

Sein Magen schlug Kapriolen. Außerdem klopfte es energisch an der Tür. Berger sah die Verzweiflung im Gesicht seiner Frau.

»Mein Ex. Mein erster Freund«, brachte sie mühsam hervor.

»Wie?«, gab er zurück. Natürlich hatten beide vorher ihre Beziehungen gehabt. Schließlich hatten sie sich erst mit Mitte dreißig kennen gelernt und kurze Zeit später geheiratet. Aber was trieb diesen irren Menschen jetzt hierhin?

»Ich … ich … muss dir was erzählen«, flüsterte sie.

Abermals klopfte es an der Tür.

»Mach auf – Mutter!«, erklang die Stimme des Handyfilmers.

Dorothea sieht ihren Mann nur mit einem verwirrtem Gesichtsausdruck an. Ihre Stimme kaum zu hören.
«Richard, warum soll ich die Polizei rufen? Wer sind diese Leute und was war das für ein Knall.»
«Schatz, ich liebe dich wirklich, aber manchmal stellst du einfach zu viele Fragen. Ruf einfach die verdammte Polizei an. Vor unserer Haustür hat sich gerade jemand umgebracht.»
Es braucht einige Sekunden, bis die Information Dortheas Gehirn erreicht und sie dann, leichenblass wird und zitternd in den Sessel auf dem Flur sackt. Wie fern gesteuert greift, sie nach dem Telefon der auf einem kleinen runden Tisch liegt und wählt die Nummer der Polizei.
«Frankfurter Polizei Hr. Ludowig am Apparat. Was kann ich für Sie tun?»
«H-hallo, Dorothea Berger hier. V-vor unserer Haustüre liegt eine Leiche.»
«Wie bitte?» Der Polizist am Telefon klang geschockt.
«Mensch Frau, reich mir das Telefon, du redest nur Unsinn.» Damit nimmt Richard ihr das Telefon aus der Hand und schildert dem Polizisten alles ganz genau.
«Ich verstehe Hr. Berger, wir schicken sofort einen Streifenwagen zu ihnen. Bitte öffnen Sie nicht mehr die Tür, bis wir eingetroffen sind.»
«Verstanden, Danke, Hr. Ludowig.»
Er legt auf und auf einmal ist es toten still im Haus. Jetzt wo das Adrenalin nachlässt, merkt auch er, wie sehr seine Hände zittern. Er sieht, wie seine Frau gedankenlos auf einen unsichtbaren Punkt in der Ferne starrt. Er dreht sich um und schaut noch einmal aus dem Fenster, doch der junge Mann mit dem Handy war verschwunden. Was ihn etwas aufatmen ließ.
Zehn Minuten später traf endlich die Polizei ein und untersuchte den Tatort.
«Hallo Hr. Berger, Ludowig mein Name, wir haben telefoniert. Darf ich Ihnen einige Fragen stellen?»
«Sicher.»
«Kannten sie die beiden Herren, die bei ihnen geklingelt haben?»
«Natürlich nicht, mit solchem Gesindel habe ich nichts zu tun.», Hr. Ludowig nickt nachdenklich.
«Gut, haben Sie vielleicht irgendwelche Feinde oder schulden Sie jemandem Geld?»
«Nein, mein kleines Geschäft läuft gut und ich und meine Frau kommen gut mit unserem Geld aus. Ich habe mir noch nie von jemandem Geld geliehen.»
Mit einem Blick auf Richards Krawatte nickte Hr. Ludowig abermals und machte sich einige Notizen.
«Gut … wissen sie, ob vielleicht Ihre Frau …»
«Also Hr. Ludowig ich will ja nicht unhöflich sein, aber vor unserer Haustür lag eine Leiche. Noch einmal weder ich noch meine Frau kennen diese Leute oder haben etwas mit ihnen zu tun. Auch schulden wir niemandem etwas. Ich möchte einfach nur, dass sie diese Leute finden und einsperren.»
«Ich verstehe sie, aber Fragen stellen gehört nun einmal dazu, ich mache nur meinen Job. Das wärs dann fürs erste, falls wir noch Informationen benötigen oder wir die Verdächtigen in Gewahrsam genommen haben werden wir sie anrufen.» Damit zieht er kurz seinen Hut vor Fr. Berger und verabschiedet sich.
«Trotzdem einen schönen Sonntag noch. Sie können jetzt ihren Vorgarten wieder säubern, die Untersuchungen sind abgeschlossen.»
Als er gerade gehen will, ertönt sein Walki Talki.
„Einsatz in der langen Gasse. Mord mit Drohung. Eine Frau wurde von zwei Männern in lumpigen Kleidern bedroht, 10.000 € auszuhändigen. Worauf sich ein Mann erschoss.“ Der Polizist drehte sich noch einmal zu dem Paar um und sah sie mit erschrockenem Gesicht an.
Richard und Dorothea konnten ihren Ohren nicht trauen, sie waren nicht die einzigen.

Blaulichter drehten sich blitzend auf den Polizeiautos über die schmalen Pflasterwege vor Bergers Haustür. Die Absperrbänder flatterten im leichten Wind, während Polizisten die Menge zurückhielten, die sich dort versammelt hatte. Menschen hielten ihre Smartphones hoch, filmten, als wäre dies ein Rockkonzert und nicht der Schauplatz eines Selbstmords.

Berger stand wie versteinert im Rahmen der Haustür, das Gesicht blass. Dorothea saß auf einer Bank in der Garderobe im Hausgang, den Kopf in den Händen, eine Decke um die Schultern. Ein Sanitäter mit blondem Kinnflaum und Pickeln saß neben ihr, den Kopf gesenkt, und sprach leise beruhigend auf sie ein, während er eine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte. Ihre Schultern bebten bei jedem Atemzug, und sie war kreidebleich unter ihrem graublonden Dutt.

„Herr Berger!“ Ein Polizist trat an ihn heran. Er war groß, hatte einen leichten Buckel und einst schwarze Haare mit Oberlippenbart. „Können Sie mir sagen, warum diese Männer hier waren?“

Berger öffnete den Mund, aber die Worte wollten nicht kommen. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem Moment zurück, als der Schuss fiel. Er erinnerte sich an den Blick des Selbstmörders und das Smartphone des Filmers.

Sein Blick wanderte zum Filmer, den Polizisten eingekreist hatten. Er stand mit verschränkten Armen, sein Gesicht unbewegt, und sah den Beamten zu, die den Tatort untersuchten. Sein Handy war ein Beweisstück, doch bevor sie es ihm mit Gewalt abgenommen hatten, hatte er hochgeladen, was er konnte.

Irrsinn, dachte Berger. Ein Mann war tot, und die Jugend dachte nur daran, es irgendwo im Internet in Umlauf zu bringen. Für ein paar Klicks, Insta oder TikTok oder sonst was… Er kannte sich da nicht so aus, aber seine Tochter – 20 Jahre alt – saß auch immer vor ihrem Handy. Wegen ihrer Follower. Wegen ihres Make-up-Channels.

Er schnaufte: „Eine Tragödie…“

„Kannten Sie den Verstorbenen?“

Berger legte die Hand ans Kinn. Er wusste nicht… Irgendwoher war ihm der Selbstmörder bekannt vorgekommen. Von den Öko-Reisen, die Olaf ins Programm genommen hatte? Die Nachhaltigen, die Öko-Reisen am Bauernhof, die so schiefgelaufen waren wegen des Gutachtens? Wegen dieser beschissenen blauzüngigen Erdkröte?


„Es ist nicht geladen, oder?“ Fragte Joe, während er die Waffe unsicher in der Hand hielt. Sie fühlte sich schwer an, fast zu schwer.

„Natürlich nicht.“ Dave saß auf der Kante des abgewetzten Sofas in Joes Wohnung. Er wirkte entspannt, fast lässig. Seine Finger spielten mit dem Handy, während er Joe beobachtete. „Das hier ist kein echter Selbstmord, Joe. Es ist eine Botschaft.“

Joe nickte, aber er sah nicht überzeugt aus. „Was, wenn doch was schiefgeht?“

Dave grinste. „Das wird es nicht. Du hältst die Waffe, sagst deinen Text und drückst ab. Niemand erwartet, dass du dich wirklich erschießt. Es geht um den Moment. Um die Wahrheit.“

„Die Wahrheit?“ Joe sah ihn an, sein Gesicht voller Zweifel.

„Ja“, sagte Dave leise. „Du willst Gerechtigkeit, oder nicht? Du willst, dass die Welt sieht, was Berger getan hat.“

Joe schloss die Augen. Er dachte an seinen Vater, an den leeren Hof, an die endlosen Rechnungen, die sich aufgetürmt hatten, bis die Bank sie aus dem Haus gejagt hatte. An seine Freundin, die gegangen war, als er ihr nicht mehr das Leben bieten konnte, das sie sich vorgestellt hatte.

„Ja“, sagte er schließlich. „Ich will, dass er alles verliert.“

Daves Blick wurde für einen Moment hart. „Dann tu, was du tun musst.“


Berger riss sich aus seiner Starre, als er spürte, wie der Polizist ihm eine Hand auf die Schulter legte. „Herr Berger?“, wiederholte er. „Wussten Sie, dass der Mann, der sich hier erschossen hat, eine Waffe bei sich trug?“

Berger schüttelte den Kopf. „Nein. Ich… ich weiß nicht… Ich…“

„Kannten Sie einen der beiden Männer?“ Fragte der Polizist mit Nachdruck.

Berger schüttelte langsam den Kopf.

„Kannten Sie einen der beiden?“ Fragte er noch einmal. Berger war wie weggetreten.

Dann schüttelte er vehement den Kopf: „Nein, natürlich nicht…“

„Wir haben hier die Aussage von seinem Komplizen, Dave Maier, der etwas anderes behauptet. Sie wissen, dass es strafbar ist…“

Berger sah plötzlich auf. „Ja… ich… der Tote… ich müsste mit meinem Anwalt, mit Winkler, reden. Es kann sein, dass… Er kommt mir etwas bekannt vor, aus dem Gerichtssaal, wegen der Verhandlung. Wegen der Kröte…“

„Also kannten Sie ihn doch…“

„Ich würde nicht sagen „Kennen“… Ich glaube, er war der Gutachter. Oder der Sohn. Oder beides. Von dem Bauern wegen dem Öko-Reisen-Projekt…“

Der Polizist nickte und schrieb fleißig mit.

„Haben Sie eine Idee, woher die Waffe stammte? Es war eine Dienstwaffe aus der Justiz.“

Berger schüttelte vehement den Kopf: „Ich kenne keine Justizler.“

„Mhm“, machte der Polizist mit einer Linie als Lippe unter dem geraden Schnauzbart. Er schrieb in seinen Block und sah sich nach seinen Kollegen um. „Es tut mir leid, was Ihnen geschehen ist, aber Sie werden noch weitere Aussagen auf dem Revier machen müssen.“

Berger schluckte. „Ja, natürlich.“

„Aber nicht mehr heute. Die Kollegen von der Kripo setzen sich dann mit Ihnen in Verbindung“, erklärte der große bucklige Polizist weiter.

Berger nickte. Seine Hände zitterten leicht. Er steckte sie in die Taschen seiner Jacke. Ein ungutes Gefühl, wie ein sich windender Knoten, machte sich in seinen Eingeweiden breit.


Am nächsten Tag begann das Video sich wie ein Lauffeuer zu verbreiten. Die sozialen Medien explodierten mit Kommentaren, Vorwürfen und Verschwörungstheorien:

  • Blogpost: „Joes letzte Worte: ‚Berger hat uns zerstört.‘ Dieses Video zeigt, wie ein System unschuldige Leben ruiniert – und wie weit Menschen gehen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.“
  • Tweets:
    • - „#JusticeForJoe – Wieso werden Leute wie Berger nicht bestraft?“
    • - „Ich glaube, Dave wusste, dass die Waffe geladen war. Sein Blick… unheimlich.“
    • - „Das hier ist größer als Joe. Das ist ein Kampf gegen ein ganzes scheiß System!“

Kommentare unter dem Video:
• - „Schaut euch mal Dave an. Der Typ wusste, was passieren würde.“
• - „Joe war verzweifelt, aber das war kein Unfall. Jemand wollte, dass das passiert.“
• - „Berger verdient alles, was jetzt kommt. Aber was ist mit Dave?“

Medienüberschrift: „Von Greenwashing zur Tragödie: Selbstmord vor der Kamera löst Debatte über Verantwortung und Social Media aus.“

Für einen Moment war es still. Weder draußen noch im Haus rührte sich etwas. Richard starrte geradeaus. Der Rahmen der Tür hatte direkt vor seinen Augen eine große Kerbe. Er hatte sie ganz vergessen. Bei ihrem Einzug hatte ein ungeduldiger Freund sie mit einer Wanduhr reingeschlagen. Es hatte sehr viel Ärger gegeben, und sie waren unschlüssig gewesen, ob sie darauf bestehen sollten, dass der Schaden beglichen würde. Schließlich hatte der Freund ihnen ja freiwillig und unentgeltlich geholfen. Am Ende hatte die Versicherung den Fall übernommen und Berger das Geld für die Reparatur überwiesen. Und dann war es zuerst liegen geblieben und später völlig in Vergessenheit geraten.

Er hörte die Stimme seiner Frau, die aufgeregt ins Telefon flüsterte. „Man schießt auf uns“, verstand er. Und dann immer wieder ihre Adresse. Von draußen war nichts zu hören. Er spähte erneut durch den Türspion. Den Körper des Älteren konnte er nicht ausmachen. Er sah nur eine rote Spur, die sich den Weg hinunter zur Straße ihren Weg erkämpfte. Vorne an der Straße sah er den Jüngeren. Er saß links vom Haus auf dem Bürgersteig und redete zu seinem Handy. Berger konnte nichts hören, sah nur, wie der Kopf sich bewegte. Dann hörte er Dorothea wieder und wieder mit ihrer Adresse und einem: „Kommen Sie schnell! Die bringen uns sonst um!“ Dann war es wieder ruhig.

Ein lautes Rauschen in seinen Ohren. Ein Dauerfiepen. So laut, dass er es unmöglich ignorieren konnte und so leise, dass er Schwierigkeiten hatte, es zu greifen. Jedes Mal, wenn er kurz davor war, das Geräusch genau zu hören, war es wieder entwischt und dennoch stetig da. Wie ein unsichtbares Insekt, das in seinen Kopf schwirrte. Plötzlich riss eine Sirene ihn aus seinen Gedanken, und das Ohrrauschen verschwand wieder in den Tiefen des Alltagstrudels. War die Polizei so schnell, oder hatte seine Starre so lange gedauert?

Er spürte, wie etwas an seinem rechten hinteren Hosenbein zog und drehte sich ruckartig um. Vor ihm kauerte Dorothea und zischte ihn an, er solle sich ducken und aus der Schusslinie gehen. Sie sagte tatsächlich „Schusslinie“, dachte Richard. Ein Wort, das er noch nie von ihr gehört hatte. Er kannte den Ausdruck auch nur aus dem Fernsehen. Und ja, es war alles wie im Film. Er sah sich in Zeitlupe, seinen Kopf schütteln und sie wieder ins Wohnzimmer kriechen.

Richard drehte sich wieder zur Tür und erblickte durch den Spion einen Streifenwagen im Schneckentempo auf das Haus zurasen. Er bemerkte, wie er Äonen Zeit hatte, die Szenerie zu betrachten und sich in aller Ruhe seinen Gedanken hinzugeben konnte. So, als ob durch die Verzerrung der Linse des Türspions auch eine Verzerrung der Zeit eingesetzt hatte. Es war wirklich wie im Film. Zwei Polizisten stürmten aus dem Auto und rangen den jungen Mann, der immer noch auf sein Handy einredete, nieder. Jetzt konnte er auch Rufe und Schreie hören.

Und dann fing der Boden an, sich unter ihm zu bewegen. Seine Beine sackten einfach weg, und er sah sich an der Wand hinuntergleiten. Bis die Kamera seiner Augen mit Blick auf den Schirmständer neben der Tür zum Stehen kam. Alles in Unschärfe. Wie im Film, dachte er erneut. Und dann hörte er dumpfe Schreie seiner Frau: „Oh Gott, er ist getroffen worden!“ Sie war plötzlich über ihm und rüttelte an ihm, aber er nahm es kaum wahr.

Und nun beschleunigte sich die Welt, so als wäre er gerade eben noch in der Achterbahn den Berg hochgefahren und rase nun den steilen Abhang wieder hinab. Polizisten, die die Tür eintraten, seine Frau, die sich in der Tür zum Wohnzimmer krümmte und schrie, ein Sanitäter, der sich zu ihm runterbeugte, Menschen, die in sein Haus strömten, ihm hochhalfen, ihn in einen Sessel setzten, eine Taschenlampe, die ihm in die Augen leuchtete, etwas, das er schlucken musste… und dann Stille. Undendlich. Friedlich. Wohlig und geborgen. Und dann wachte er auf.

Er saß in seinem Sessel im Wohnzimmer. Es war hell, er hatte Hunger, und die Uhr zeigte 13:37 Uhr. Dorothea hörte er leise in der Küche reden. Neben ihm im Sessel saß eine Frau mittleren Alters mit leicht grauen Strähnen. Sie lächelte ihn an. „Herr Berger? Es geht Ihnen wieder besser? Sie haben einen Schock erlitten. Ich bin Dr. Hagebutt, von der Krisenintervention.“

„Jaja, es geht mir gut“, sagte er genervt. Warum sollte es ihm auch schlecht gehen?

„Fühlen Sie sich bereit, ein paar Fragen zu beantworten? Es ist wichtig.“

„Na selbstverständlich.“

Darauf trat von hinten eine junge Frau mit dunklen Locken und einem blauen Blazer an ihn heran, gefolgt von einem älteren Herren in einer braunen Lederjacke. Sie stellte sich vor, und Berger dachte, dass sie ganz schön jung war für eine Kommissarin. Und noch während sie ihn begrüßte, merkte er, dass er ihren Namen schon verpasst hatte. Das hasste er und hatte es sich im Geschäft ganz gut abgewöhnt. Nein, er hatte es sich richtiggehend angewöhnt, auf den Namen zu lauern und ihn sich direkt zu merken. Am besten gleich mit einer Eselsbrücke. Na gut, dieser Name war nun weg, aber was sollte es, er würde die Frau im besten Falle eh nie wiedersehen. Sie sagte ihm, dass er hier nicht als Verdächtiger, sondern als Zeuge gehört werde. Wie das denn abgelaufen sei, fragte sie, und er schilderte ihr den ganzen Vorgang, der ihm nun noch mehr wie ein absurder Traum vorkam. „Kannten Sie denn den Mann?“, fragte sie.

„Nein, noch nie gesehen.“

„Und den Jüngeren?“

„Auch nie.“

„Warum glauben Sie denn, sind die zu Ihnen gekommen?“

„Ich hab keine Ahnung! Woher soll ich denn wissen, warum diese Irren gerade mich ausgesucht haben?“, fuhr er hoch.

„Warum sind Sie denn nicht auf die Forderung eingegangen?“

Berger schaute sie entgeistert an: „Und dann ihnen 10.000 € geben und ihnen einen guten Tag wünschen?“ Und als sie sich daraufhin etwas notierte, fügte er hinzu: „Niemand ist so irre und macht das!“

„Haben Sie denn so viel Geld hier?“

„Nein, natürlich nicht.“

„Warum haben Sie denn das nicht gesagt? Ihm Hilfe versprochen und dann sich in der Zwischenzeit selber Hilfe geholt?“

„Ich hab im Leben nicht daran gedacht, dass er sich was antun wird.“

„Wie wirkte der Mann denn auf Sie? Nervös?“

Berger zögerte: „Ja, ein bisschen nervös schien er schon.“

„Und das hat Sie nicht stutzig gemacht, so als könne er es doch ernst meinen?“ „Weiß ich nicht. Nee, eigentlich nicht. Ich fand ihn unverschämt.“ Schweigen. „Was hätten Sie denn an meiner Stelle gemacht?“, fragte er nach.

Nun schaltete sich der ältere Kollege in die Befragung mit ein: „Herr Berger, wir urteilen hier nicht. Wir wollen nur wissen, wie es abgelaufen ist, und dazu ist es am einfachsten, wenn Sie einfach unsere Fragen beantworten.“

„Mach ich doch gerade die ganze Zeit. Ich hab nur den Eindruck, Sie wollen mir durch die Blume sagen, dass das Ganze meine Schuld sei. Aber ich bin hier das Opfer!“

„Hat der Mann zuerst auf Sie geschossen?“, fing die junge Kommissarin wieder an. „Nein! Er hat sich einfach nur, völlig unerwartet, die Pistole in den Mund gesteckt und abgedrückt.“

„Ihre Frau hat aber ausgesagt, dass…“

Er unterbrach sie: „Nein, er hat ganz sicher nur einmal auf sich geschossen.“ Sie notierte sich etwas. Dann: „Sind Sie Christ?“

Berger starrte sie entgeistert an: „Was soll das denn jetzt?“

Sie wies auf einen siebenarmigen Leuchter, der auf der Fensterbank stand.

„Ja das ist… wir Christen… die Menora steht für… wir wollten gerade in die Kirche… aber wissen Sie, das tut doch überhaupt nichts zur Sache“, stammelte er, immer noch völlig entgeistert.

„Herr Berger, wir müssen jeder Spur nachgehen. Vielen Dank erst einmal für Ihre Hilfe. Bitte halten Sie sich weiterhin zu unserer Verfügung. Wir lassen Ihnen einen Kollegen da, wegen der Leute draußen. Alles Gute Ihnen.“ Und damit stand sie auf.

„Was für Leute?“, fragte er weiterhin verdutzt.

„Draußen ist einiges los. Ich schlage vor, dass Sie in nächster Zeit lieber im Haus bleiben.“

„Stehen wir unter Hausarrest?“

„Nein, Sie sind völlig frei. Ich glaube nur, dass es zu Ihrem Besten ist. Und vielleicht lassen Sie das Internet auch eine Weile aus.“ Und noch bevor er nachfragen konnte, was sie denn damit meinte, hatten beide Kommissare sich umgedreht und den Raum verlassen.

Als er die Haustür hörte, drang ein Stimmengewirr einer ganzen Menschenmenge zu ihm vor. Er stand auf, ging in die Küche und lugte durch einen der Vorhänge. Vor dem Haus drängelten sich nun um die beiden Polizisten eine Schar von Reportern. Auf der ganzen Straße standen Menschen. Viele schauten nur neugierig, andere hielten Schilder hoch mit „Kapitalismus mordet“ oder „Geiz ist tödlich.“ Was zur Hölle war da draußen los?

Seine Frau stand immer noch in der Küche und kochte Kaffee. „Ich versteh das nicht. Ich habe doch nichts Falsches gemacht. Niemand hätte dem Mann Geld gegeben. Niemand auf der ganzen Welt.“

„Nein, natürlich nicht. Die sind einfach nur alle verrückt geworden. Du, ich bring schnell mal den Kaffee zu den Polizisten, die bleiben ja erst einmal hier. Also für unsere Sicherheit.“

Sie ging, und sein Handy summte. Eine Nachricht seines Bruders: „Was ist denn bei euch wieder los? Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid.“ Ja klar brauche ich Hilfe, dachte Berger, aber ich wüsste nichts, was du gerade für mich tun kannst.

Als er das Handy gerade wieder wegstecken wollte, sah er, dass er 23 weitere Nachrichten hatte. Wie konnte das sein? Das war doch vorhin erst passiert. Wie konnte… er las die erste Nachricht von der Tennisfreundin seiner Frau: „Das hätte ich nie von dir gedacht! So ein Schwein! Ich will, dass du nie wieder unser Haus betrittst.“ Er musste die Mitteilung zweimal lesen und wollte gerade zurückschreiben, dass es offenbar ein Missverständnis sei, da hatte er auch schon die nächste geöffnet. Von einem ehemaligen Angestellten: „Herr Berger, Sie haben mich immer gut behandelt, aber der wahre Charakter zeigt sich ja oftmals erst hinterher. Ich wünsche Ihnen ein ähnliches Schicksal.“ Bitte was? Was für ein wahrer Charakter? Die nächste: „Bitte melden Sie sich nie wieder!“ Und so weiter. Entsetzen, Ungläubigkeit, Abscheu, Ekel durchzogen die Nachrichten. Und mit jeder Weiteren wuchs auch sein Entsetzen an. Aber worauf zum Teufel bezogen sich alle?

Er musste nachsehen und bremste sich in letzter Sekunde, den Rat der Kommissarin beherzigend. Nur seine Mails würde er überprüfen. Da war, Gott sei Dank, keine Neue eingetroffen. Nur eine Benachrichtigungsmail eines Onlinekartendienstes. Automatisch öffnete er sie, überflog sie und wollte sie gerade löschen – es ging um eine Seitenbewertung –, als er begriff, dass es keine Seite, sondern sein Geschäft war, der dort bewertet wurde. Er hatte nie sonderlich viel daraus gemacht und auch, soweit er das bisher überblickt hatte, immer gute Rezensionen bekommen, doch nun waren diese eingebrochen. Er hatte nun eine Bewertung von 2,7 Sternen. Viele 1-Stern-Bewertungen waren hinzugekommen. Alle im Duktus: Mörder, Verbrecher, Geizhals, sollte sich lieber selber erschießen, den Laden sollte man anzünden und so weiter.

Wie konnte das sein? Die Welt schien den Verstand verloren zu haben. Sie war innerhalb weniger Stunden komplett aus den Fugen gekippt. Einfach nur irre, dachte er. Hunderte Geisterfahrer rasten auf ihn zu, und er vermochte nicht mehr auszuweichen.

Richard sah in Dorotheas schreckengeweitete Augen. Ihre Lippen zitterten, während sie hilflos und verwirrt die Hände rang. »Hast du nicht gehört? Ruf die Polizei verdammt nochmal.«, brüllte er, entgegen seiner sonst eher ruhigen Art. Richard wusste, dass er ihr unrecht tat und doch konnte er nicht anders. Während sein Herz raste und unaufhörlich Blut durch die Adern pumpte, verdrängte das ohrenbetäubende Rauschen jeden zusammenhängenden Gedanken. Er zuckte zusammen, als eine Melodie draußen vor der Haustür erklang.

Schwerfällig stützte er sich gegen die Tür und spähte zögerlich durch den Türspion. Der jüngere Mann hatte sich nicht von der Stelle gerührt und starrte mit hängendem Kopf auf das grellleuchtende Display seines Smartphones. Als wüsste er, dass Richard ihn beobachtete, hob er den Blick. Sein Gesicht verzerrte sich in Sekundenbruchteilen von mutloser Traurigkeit zu einer hasserfüllten bösartigen Fratze. Die Melodie des Klingeltones bimmelte derweil in einem penetrant fröhlichen Takt unaufhörlich weiter. Plötzlich sprang der junge Mann mit erhobenen Fäusten auf die Tür zu und schlug mit, einer an Todesangst grenzenden, Verzweiflung gegen das harte Holz. Erschrocken stolperte Richard zurück. Sein Fuß verfing sich in dem alten ausgetreten Perserläufer und er fiel unsanft zu Boden. Ein stechender Schmerz durchfuhr sein Handgelenk, als er sich instinktiv versucht hatte, beim Fallen abzufangen. Dorothea rannte schluchzend auf ihn zu. Sie stammelte zusammenhangslose Fetzen in einer derart schrillen Tonlage, dass es einem Kreischen gleichkam. Richards Kopf schien zu bersten, vollkommen überfordert und außerstande die Geschehnisse der letzten Minuten zu verarbeiten. Das Poltern und Schlagen an der Haustür wurde lauter und erbitterter. Das Holz knarzte. Bald würde sie nachgeben. Noch ehe der Gedanke vollendet war, brach das Schloss. Die Tür schwang auf und knallte mit voller Wucht gegen die Wand.

Die gesprengten Glieder der Sicherheitskette flogen ihm entgegen. Richard sah jedoch nur den jungen Mann schwer atmend auf sich zu taumeln, das Smartphone dabei in der Hand fest umklammert. »Du Schweinehund. An deinen Händen klebt Blut. Verrecken sollst du.« Spie er Richard hasserfüllt entgegen. Feine Speicheltröpfen benetzen sein Gesicht, als er nur mitansehen konnte, wie der Mann über ihm aufragte und dabei seine Wut sichtbar zu unterdrücken versuchte. Dorothea wimmerte ängstlich und krallte ihre Fingernägel in Richards Schulter, als sie versuchte, sich hinter ihm zu verkriechen.

Der Mann biss sich auf die Lippe und hob sein schweißnasses Gesicht der Decke entgegen. Während sein Köper gespannt wie eine Bogensehne streckte, verlor sein Gesicht jedoch jegliche Farbe und Ausdruck. Ein kleiner Blutstropfen quoll aus der aufgebissenen Stelle seiner Unterlippe. Seine schweren Atemzüge begleiteten das nicht endenwollende Klingeln des Telefons. Langsam senkte er den Kopf wieder. Sein Blick wirkte leer, während sein Daumen über dem Hörer-Symbol auf dem Display schwebte.

So als könnte ein zu lautes Keuchen den Bann der trügerischen Ruhe brechen, wagte das Ehepaar es nicht, zu atmen. Schließlich presste sich der Daumen des Mannes auf das dünne Glas, sein Blick bohrte sich dabei in Richards. Die Melodie endete abrupt und der Mann lauschte stumm der Stimme am anderen Ende der Leitung. Richard war wie gelähmt. Ein freudloses Lächeln erschien auf dem Gesicht des Mannes, während Tränen seine Sicht verschwimmen ließ. Er nickte wortlos und hielt Richard auffordernd das Telefon hin. »Er will mit dir sprechen. Hier! Jetzt nimm es endlich.« Richard schüttelte abwehrend den Kopf. Als wäre das Telefon etwas Giftiges, lehnte er sich weiter zurück, wurde jedoch durch seine Frau hinter ihm daran gehindert. »Mach was du willst. Ist mir scheißegal. Du stirbst sowieso!«, sagte er höhnisch grinsend und hielt das Telefon demonstrativ etwas höher um dann dabei zuzusehen, wie es dumpf in Richards Schoß fiel. Panisch griff Richard mit beiden Händen danach und schleuderte es von sich, den stechenden Schmerz in seinem Handgelenk, nahm er dabei gar nicht mehr wahr.

Der junge Mann schüttelte den Kopf und begann zu taumeln, dabei fasste er sich ans Ohr. Dickflüssiges rostrotes Blut quoll daraus hervor. Ein erschrockenes Johlen entschlüpfte ihm und er begann weiter zurückzuweichen. Immer weiter, bis er den Türrahmen zwischen seinen Schulterblättern spürte. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, stürmte er aus dem Haus auf die Straße. Den toten Körper würdigte er dabei keines Blickes.

Dorothea seufzte erleichtert, doch Richard war noch immer gefangen in den Klauen seiner Angst. Hinten in der Küche hörte er sein eignes Telefon klingeln. Dorothea raffte sich auf und eilte zur Anrichte. Mit ausgestrecktem Arm kam sie zurück und reichte es Richard. Eine unbekannte Nummer leuchtete auf. Richard wollte gerade keine Werbeanrufe beantworten und drückte den Anruf weg. Einen Wimpernschlag später begann wieder das Telefon des jungen Mannes fröhlich an zu bimmeln. Die böse Vorahnung wurde immer stärker und er kroch darauf zu. Auch diese Nummer war ihm unbekannt. Sein Blick wanderte zurück zu seinem Telefon. »Die selbe Nummer. Es ist die selbe Nummer.«, flüsterte er mit bebender Stimme. Plötzlich verstummte das Gerät, nur, um gleich darauf eine eingegangene Nachricht einzublenden. Die Kurzansicht des Pop-up-Symbols gab den Anfang der Nachricht wieder.

	»Habe ich jetzt deine Aufmerksamkeit, Richard?«

Richard Berger ging an seiner Frau vorbei in die Küche und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Dorothea schaute ihm hinterher, machte keine Anstalten, seiner Aufforderung zu folgen. Stattdessen wandte sie sich der Garderobe zu und nahm ihren roten Wollmantel vom Haken. Sie waren spät dran und sie saß gern in den vorderen Reihen in der Kirche, weil sie nicht mehr so gut sehen konnte.
„Du sollst bitte die Polizei rufen!“, wiederholte er aus der Küche.
Die Stimme ihres Mannes klang nachdrücklich. Richard Berger war eigentlich ein ruhiger, besonnener Ehemann und noch bevor Dorothea ihren Mann fragen konnte, was los ist, sagte der mit bebender Stimme: „Vor unserer Tür hat sich ein Mann erschossen, den ich nicht kenne, und sein Blut ergießt sich auf unseren Gartenweg. Also ruf bitte die Polizei und stell‘ mir jetzt keine Fragen.“
Statt der Bitte ihres Mannes nachzukommen, stellte sich Dorothea in die Küchentür. Aber als sie etwas sagen wollte, verstummte sie, weil ihr Kopf leer war. Was fragte man auf die Nachricht, es hätte sich gerade vor dem eigenen Haus ein Mann erschossen? Dorothea machte kehrt, lief den kleinen Flur entlang und öffnete die Haustür. Dort lag ein toter Mann und sie musste geradewegs in seine Augen schauen. Sie krümmte sich zusammen, und nur weil ihre Hand noch immer die Klinke umklammerte, glitt sie nicht zu Boden. Ihr Atem ging laut und tief. Sie spürte, wie ihr Mann ihr von hinten die Tür aus der Hand riss und sie erneut aufforderte, endlich die Polizei zu verständigen. Wenn sie heute noch in die Kirche wollte, fügte er hinzu. Dabei war Dorothea längst klar, dass sie den Gottesdienst verpassen würde. Zum ersten Mal in ihrem Leben.
Obwohl ihr nicht gefiel, wie ihr Mann auf sie einredete, gewann Dorothea die Fassung zurück und lief zur alten Nähmaschine, auf der das Festnetztelefon stand. Sie wählte und brabbelte etwas von einer Leiche und wo sie wohnten. Dann legte sie wieder auf und sagte nicht ein Wort.
Richard Berger wollte seine Frau fragen, wann die Polizei kommen würde. Eigentlich eine überflüssige Frage, aber in einer Stadt wie Frankfurt und an einem Sonntag fand er sie berechtigt. Und etwas anderes fiel ihm auch gerade nicht ein. Als er den Mund öffnete, lief Dorothea sprachlos und blicklos an ihm vorbei, griff ihre Tasche von der kleinen Fensterbank neben der Eingangstür und verließ das Haus. Sie handelte, als wäre er gar nicht da. Alles, was Richard sagen konnte, war:
„Lässt du mich jetzt hier allein? Wie kannst du nur in so einem Moment in die Kirche gehen?“
Und als sie schon fast aus seinem Blickfeld verschwunden war, brüllte er: „Dorothea, komm gefälligst zurück!“
Er warf die Tür zu und lief im Haus umher. Geradewegs ins Wohnzimmer zu der Schublade, in der sie die Schreckschusspistole aufbewahrten. Er wollte sie verstecken, irgendwo anders hinlegen, wo die Polizei sie nicht finden würde. Aber wohin? Er suchte mit den Augen nach einer Stelle, die ihm geeigneter erschien als die Schublade. Dort lag die Waffe gerade deshalb, weil man so schnell an sie herankam. Aber mit einem bevorstehenden Besuch der Polizei änderten sich die Prioritäten. Richard legte sie schließlich in die Schublade zurück. Warum war er überhaupt so nervös? Er hatte nichts getan. Er hatte beide Männer vor seiner Tür noch nie gesehen. Was hatte der Zweite gefaselt, dass er, Richard Berger, den Mann getötet hätte? Was sollte das heißen?
Richard fiel ein, dass der zweite Mann verschwunden war, als seine Frau aus dem Haus gestürmt war. Wieso? Wohin war er geflüchtet? In seinem Kopf tauchten immer mehr Fragen auf. Deshalb war er erleichtert, als es endlich an der Tür klingelte. Das alles war definitiv eine Angelegenheit für die Polizei!
Er lief zur Tür, bemerkte, dass seine Hände schweißgebadet waren, als er die Klinke nach unten drückte. Er nahm auch einen leichten Geruch nach Schweiß wahr, der nur von ihm kommen konnte. Aber das war nebensächlich. Er war froh, dass die Polizei endlich da war.
Eilig öffnete er die Tür. Aber statt in die ersehnten Augen eines Polizisten zu schauen, hielt ihm jemand ein Handy vors Gesicht und er hörte die Worte des jungen Mannes, die ihm seit Minuten wie ein Echo immer wieder durch den Kopf kreisten: „Du hast ihn umgebracht!“ Aus dem Handy klang dieser Satz blechern und war noch viel eindringlicher als in echt. Dann schwenkte der Film nach unten und erfasste die Leichte und wie das Blut aus dem Hinterkopf des Toten floss, das mittlerweile schon den Rosenstrauch erreicht hatte, den Richard Berger für seine Frau zur silbernen Hochzeit vor dem Eingang gepflanzt hatte.
Der Mann vor seiner Tür senkte das Handy und machte den Blick in sein Gesicht frei. Richard Berger spürte, wie er am ganzen Körper anfing zu zittern, spürte, wie Übelkeit in ihm aufkam. Das Gesicht des Mannes mit dem Handy kannte er. Er kannte es besser als nahezu jedes andere Gesicht auf der Welt. Auch wenn, als er es das letzte Mal gesehen hatte, es noch nicht von den zahlreichen Falten geprägt war, die es nun trug.
Er konnte nichts sagen und schüttelte nur sanft den Kopf. So standen sich beide minutenlang gegenüber, bis Richard Berger bemerkte, dass die Polizei noch immer nicht eingetroffen war. Und dann wurde ihm bewusst, dass das Festnetztelefon, dass seine Frau benutzt hatte, schon lange abgemeldet war und nur noch zur Erinnerung an alte Zeiten dastand.

Zehntausend Fragen

Es roch nach Linoleum und billigem Filterkaffee; irgendwo klingelte ein Telefon. Fast wie im Fernsehen, dachte sich Richard Berger, ehe seine Gedanken jäh unterbrochen wurden, weil jemand die quietschende Tür zum Verhörraum öffnete.

»Mensch, die muss dringend mal geölt werden!«, begrüßte ihn der junge Polizist und setzte sich auf den Stuhl, der ihm gegenüberstand. Er bedachte Berger mit einem makellosen Lächeln.
»Mein Name ist Nimmerfroh, aber keine Sorge, der Name ist nicht Programm!« Er gab ein glucksendes Geräusch von sich und wechselte dann blitzschnell wieder zu seinem furchtbar weißen Lächeln.
»Herr Berger …«
»Richard, bitte!«
Kommissar Nimmerfroh sah Richard Berger kurz an, ohne dabei sein Lächeln zu verlieren.
»Herr Berger, Sie haben meiner Kollegin ja bereits geschildert, was sich vor Ihrer Haustür abgespielt haben soll, aber vielleicht helfen Sie mir noch einmal kurz auf die Sprünge.«
Berger versuchte, ruhig zu bleiben. »Wie ich bereits sagte, war dieser Mann – wahrscheinlich beide Männer – völlig wahnsinnig. Vielleicht hatte er eine Krankheit … keine Ahnung, Schizophrenie oder so was Ähnliches.«
»Interessant, dass Sie das sagen.« Er legte eine dramatische Pause ein. »Ihre Frau sagte uns, dass sie selbst diesen zweiten Mann nicht sehen konnte …«
Berger stockte. Er hatte es die ganze Zeit nicht bemerkt, aber jetzt sah er es ganz deutlich: Nimmerfrohs Lächeln. Sein Mund lächelte zwar, aber seine Augen fixierten ihn unablässig.
»Ich … weiß es nicht. Vielleicht stand er so, dass Doros Sicht auf ihn blockiert war«, begann Berger zögerlich, dann: »Sie haben ihn also noch nicht gefunden?«
Nimmerfroh antwortete augenblicklich: »Bisher keine Spur, aber die Suche läuft selbstverständlich auf Hochtouren. Lassen Sie uns jedoch noch einmal über Ihren Tagesablauf sprechen: Wo waren Sie, kurz bevor diese beiden Männer an Ihre Tür geklopft haben sollen
Die Art und Weise, wie er diese Wörter betonte, gefiel Berger ganz und gar nicht. »Sollte ich dazu nicht zunächst einen Anwalt befragen?«
»Sollten Sie das?« Für einen kurzen Moment schien Kommissar Nimmerfrohs Maske zu bröckeln, dann fing er sich wieder: »Ich mach’ nur Spaß; Sie haben natürlich jedes Recht dazu! Ich sorge sofort dafür, dass Sie einen Anruf tätigen können.«
Er stand auf und ging in Richtung Tür, hielt an der Klinke jedoch noch einmal kurz inne: »Ich schaue gleich nur kurz noch mal bei Ihrer Frau vorbei und bin dann wieder ganz schnell bei Ihnen! Möchten Sie einen Kaffee?«
»Nein, danke«, gab Berger zurück. Ihm war ein wenig schlecht.
Kommissar Nimmerfroh schickte sich wieder zum Gehen an, drehte sich aber ein letztes Mal um: »Eine Frage noch: Warum haben Sie nicht einfach vorgegeben, dem Mann das Geld geben zu wollen, um ihn davon abzuhalten, sich zu erschießen?«
»Ich würde sehr gerne zuerst mit einem Anwalt sprechen.«
Nimmerfroh öffnete die Tür, die das mit einem vorwurfsvollen Quietschen kommentierte. »Jemand sollte die unbedingt mal ölen«, sagte er lachend und ging hinaus.

Das ist überhaupt nicht wie im Fernsehen, dachte sich Berger, als er wieder allein war. Keine Ahnung, ob das jetzt der Good-Cop oder der Bad-Cop war, aber eins ist klar: Der glaubt mir kein Wort.

Dorothea verstand nicht. Sie sah ihrem Richard an, dass er kurz davor war seine Fassung zu verlieren. Seine Augen suchten Halt in ihren Augen, sein Gesicht aschfahl, seine bebende Stimme, der Knall vor der Tür – was passierte hier?

»Richard, was ist hier los?«

»Dorothea, ruf die Polizei«

Vor der Tür schrie der Smartphone-Mann: »Blutsauger; Mörder. Es wird nicht aufhören – wir kommen wieder.«

Stille!

Das alte Ehepaar stand sich gegenüber – regungslos.

Die Kirchenglocken begannen mit ihrem Rufen, kommt ihr Gläubigen, ihr Christen, ihr Gutmenschen. Richard spürte, wie ihm übel wurde. Seine Hände fingerten an der grünen Euro-Krawatte, er versuchte sich Luft zu verschaffen. Dorothea drehte sich um, lief ins Wohnzimmer, griff zum Telefon und wählte 110.

Stunden später waren sie wieder allein. Sie saßen am Küchentisch. Dorothea erinnerte sich nicht daran, was sie der freundlichen Polizistin gesagt hatte, allein ihre aufgeregte und zu laute Stimme, mit der sie auf die junge Frau eingeredet hatte, war ihr bewusst. Noch immer konnte sie nicht begreifen, was sich heute vor ihrer Tür, ihrem Zuhause, ihrem gut sortierten Leben abgespielt hatte. Sie wollte nichts sehen, nicht den toten Mann, nicht das Blaulicht, nicht den Leichenwagen, den schwarzen Sack, in den sie den Selbstmörder gelegt hatten. Er war der Mörder ihres Lebens – das war ihr klar. Wer würde die Blut-Hirn-Lache wegputzen? Der Regen hatte sie verdünnt und vom Weg in das angrenzende Blumenbeet fließen lassen, hier wo ihre geliebten Rosen bald winterfest verpackt werden sollten. Undenkbar, dass sie jemals wieder mit ihren Händen in dieser Erde arbeiten wird, auch wird sie ihre Rosen das Böse nicht aufsagen lassen. Niemals! »Richard, wir müssen die Erde austauschen lassen.« Er starrte an ihr vorbei, hörte ihr nicht zu. Seine Gedanken fuhren Karussell, immer wieder sah er sich an der Tür stehen, durch den Spalt hindurch auf die beiden Männer schauen. Er hörte sich reden, versuchte sich an jedes Detail zu erinnern. Wie sahen sie aus? Der Jüngere hatte eine Tätowierung auf dem linken Handrücken – eine Art Minischachbrett. Was hatten die Männer gesagt? Warum hatte der bärtige Mann nicht gezögert? Warum hatte er sich umgehend erschossen? Keine Chance hatte er ihm gelassen. Was hätte er ihm gesagt*? Nehmen sie die Waffe runter. Man kann über alles reden. Sie sind verrückt.* Warum wollte er 10.000€? Was sind schon 10.000€? Das fragte er sich jetzt. Warum hatte der Mann nicht 100.000€ gefordert? War er krank? Brauchte er das Geld für eine Behandlung?

Es wird nicht aufhören – wir kommen wieder! Das hatte der jüngere Mann geschrien. Was hatte das WIR zu bedeuten? Wann werden sie wiederkommen? Wie viele? Worum ging es ihnen? Ein Kapitalist, ein Ausbeuter soll er sein. Warum hatte der junge Mann alles gefilmt? Was wird er damit machen?

»Richard, wir müssen die Erde austauschen.« Dorothea war kurz davor hysterisch zu werden. Ihre Stimme schrill in Richards Ohren. »Dorothea, was redest du?« Es war ihr ernst – todernst. Ihre geliebten Rosen, ihr ein und alles. Sie wird sie verteidigen, wenn die bösen Männer wieder kommen sollten.

Anton hatte mit der Reaktion von dem Berger-Arsch gerechnet. Er wusste, dass sich Frank heute das Leben nehmen musste. Es war ihnen allen klar gewesen. Sie waren darauf vorbereitet. Jetzt schaute er sich das Video an – immer und immer wieder. In einer Stunde werden die anderen da sein, dann wird es weitergehen. Alles lief nach Plan.

Kein Enkeltrick
von petias

Auf der Straße parkten ein Rettungswagen und mehrere Polizeiautos. Leute in weißen Kitteln, Handschuhen und Plastiktüten über den Schuhen liefen hin und her. Der Leichnam war mit einem Tuch abgedeckt.
Im Wohnzimmer saßen Herr und Frau Berger auf dem Sofa. Dorothea Berger wirkte verstört. Sie wusste nicht, was sie schlimmer finden sollte, dass der wöchentliche Kirchgang ausfallen musste, oder dass überall auf dem Grundstück Leute herumliefen. Die Sache mit der Leiche, die draußen auf dem Plattenweg lag, verdrängte sie komplett.
Richard Berger war einerseits erleichtert, dass er noch lebte, andererseits verstand er nicht, wie ausgerechnet ihm so etwas Skurriles passieren konnte.
Die Kriminalhauptkommissarin Furtler saß den Bergers im Sessel gegenüber. Auf der Marmorplatte des niedrigen Wohnzimmertisches standen drei Tassen Kaffee und ein Teller mit Keksen, die aber niemand anrührte.
Frau Furtler stellte ihre Kaffeetasse zurück auf den Tisch. Der Kaffee war besser als der aus dem Automaten auf der Wache, aber nicht so wie ihrer zuhause.
„Der Mann mit dem Handy war einen halben Kopf größer als der Tote, sagen sie? Das macht ihn ca. 185 m groß. Hatte er auch einen Bart?“
Herr Berger konnte sich nicht erinnern. Er sollte morgen um 9 auf die Wache kommen, um ein Phantombild zusammen mit dem Polizeizeichner zu erstellen. Viel würde nicht dabei herauskommen, ahnte die Kommissarin.


Enzo war nach ein paar Umwegen - nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand im folgte - zum Haus seines Mentors gelaufen. Er saß im Behandlungszimmer des Psychiaters und erzählte von seiner Aktion.
„Hast du denn allen Ernstes erwartet, dass der Mann dir 10000 Euro geben würde? Du hast ihn doch weder erpresst, noch kannte er den Mann, der drohte sich umzubringen. Vielleicht wenn er ein Freund gewesen wäre, oder ein Verwandter, aber ein Fremder? Ein Enkeltrick würde schließlich auch nicht funktionieren, wenn die Oma die Stimme der Enkelin nicht glaubte erkennen zu können.“

„Das ist kein Enkeltrick!“ Enzo schmunzelte. Er schien die Vorurteile seines Mentors zu genießen.
„Das war nur der erste Akt in einem Stück, von dem bald die ganze Welt sprechen wird. Du wirst schon sehen. Ich werde dir Stoff für dein nächstes Buch liefern, das mit Sicherheit ein Bestseller wird.“

„Und Du wirst in die Annalen der Kriminalgeschichte eingehen als ein Mann, gegen den Jack the Ripper und Charles Manson wie Engel aussehen!“
Der Psychiater lächelte spöttisch.
„Aber wie hast du den armen Mann dazu gebracht, sich freiwillig zu erschießen?“
Jetzt lächelte Enzo vielsagend.


Herr Berger war vor seinem Termin bei der Polizei noch eben schnell in seinem Reisebüro gewesen, um seine Angestellte Gisela wegen seiner Abwesenheit zu instruieren. Das Geschäft öffnete um 9 und Gisela sollte gegen 8:30 Uhr eintreffen.
Sie trafen beide fast zur selben Zeit am Landen ein und waren schockiert. In blutroten Buchstaben mit heruntergelaufenen Farbtropfen stand da:

Mörder! Geizhals! Schwein! Kapitalist!

Gisela war so verstört, dass ihr Chef sie nachhause schickte. Der Laden bleib zu. Richard Berger machte Fotos mit der Handykamera und fuhr auf die Polizeiwache.

Er ließ die Sache mit dem Phantombild sein und verlangte Frau Furtler zu sprechen. Nachdem er ihr die Fotos gezeigt hatte, schickte sie die Spurensicherung zum Reisebüro sowie Kollegen, die die Nachbarn befragen sollten. Sie selbst befragte Herrn Berger nach unzufriedenen Kunden, aber dem war da noch etwas anderes eingefallen. Er erinnerte sich an die Worte des Filmers: „Geben sie ihm die 10000 Euro, sie haben das Geld!“

Woher wollte der Mann das wissen? Herr Berger hatte versucht sein Geld mit Finanzspekulationen zu vermehren. In dem Zusammenhang gab es einen Post in Twitter, der sich auf die Anzeigen eines Finanz- und Erfolgscoach bezog, der nach Opfern suchte.
Herr Berger hatte ein solches Seminar besucht und allen Interessenten abgeraten, es ihm gleich zu tun Er hatte nicht ganz wahrheitsgemäß berichtet, dass er 10000 Euro gespart hatte und damit begonnen, an der Börse zu spekulieren, und es ihm gelungen wäre, schon nach wenigen Monaten die verlorenen Kosten des Seminars durch Spekulationsgewinne wieder hereinzuholen.

„Wissen sie Frau Hauptkommissarin, die Leute machen immer denselben Fehler. Wenn ein Papier anfängt zu steigen, dann steigen sie alle ein. Das Papier steigt weiter. Die Leute werden gierig und hoffen auf mehr. Sie verpassen den Ausstieg, ich meine, sie verkaufen nicht rechtzeitig und fallen dann auf die Schnauze, wenn das Paper dann ins bodenlose fällt, weil die Großinvestoren das so geplant haben, dann machen sie herbe Verluste.“

Frau Furtler war nur mäßig interessiert, sie ließ sich aber die Daten des Seminars geben, das Herr Berger besucht hatte. Sie wollte die Spur verfolgen.

Der Mann, der die Aufnahmen machte, rannte auf die Straße. Kurz darauf stieß er mit Dr. Maximilian Forbes zusammen. Sogleich fiel Dr. Forbes zu Boden. Er hatte den Schuss gehört und wollte nachsehen, was passiert war. Er rannte zu seinen Nachbarn, nachdem er sich wieder aufgerappelt hatte. Dorothea stand derweil erschrocken hinter der Haustür und schrie. „Um Himmels Willen, Richard.“ „Ruf verdammt noch mal die Polizei.“, flehte Richard Berger sie an. Mit zitternden Händen holte Dorothea ihr Handy aus der Handtasche. Vier Mal verwählte sie sich. Der Schock mache es für sie fast unmöglich die Polizei zu rufen. Schwer atmend und mit Tränen im Gesicht versuchte sie das Erlebte zu schildern. „Hallo? Hallo… ja, Dorothea Berger hier. Bitte… b- b- bitte kommen sie schnell. Ein Toter, ja. Ein Mann, der hat sich erschossen. Was?“ Der Beamte am anderen Ende der Leitung bemühte sich, Dorothea zu beruhigen. „Wie? Ja… Nansenring 27a. Frankfurt. Lerchersberg. Ja… Ich warte. Ok.“ Dann legte sie auf. „Die Polizei ist unterwegs, Richard.“ Er nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Alles wird gut, mein Schatz.“

„Dorothea, Richard?“, rief Dr. Forbes aufgeregt von draußen und schaute erschrocken auf den Boden zur Leiche. Richard öffnete die Tür. „War das der Typ da eben, der geschossen hat? Der hat mich umgerannt.“, schrie Maximilian und zeigte gleichzeitig in die Richtung, in der der Mann verschwand und kniete sich danach auf den Boden. Sein Blick sagte alles. „Er ist tot.“ Im Aufstehen und eine Hand ans Kinn haltend, fragte er: „Habt ihr die Pol…?“ Weiter kam er nicht. „Jajajaja… Max. Haben wir. Geh lieber an die Seite.“, stammelte Richard. Dorothea klammerte sich derweil an Richards Körper, heulte in seinen Sonntagsanzug und murmelte irgendwas vor sich her.

Es dauerte gefühlte 30 Minuten, als der Notarzt und die Polizei eintrafen. Dr. Forbes stellte sich dem Notarzt vor. „Forbes, Herr Kollege.“ „Fehrenbach, hallo. Was ist passiert?“ Beide Ärzte knieten sich hinunter. Dr. Fehrenbach hob den Kopf der Leiche sanft an und entdeckte sogleich die Austrittswunde. „Glatter Durchschuss. Tja…“, murmelte er. „Ich kann hier nichts mehr tun.“ Richard Berger teilte dem Notarzt noch mit, wie sich diese Tragödie abgespielt hatte. Die Besatzung des Rettungswagens kam derweil mit einer Decke und legte sie über die Leiche. „Danke Herr Kollege. Ich werde dann einmal die ersten Förmlichkeiten übernehmen.“ Dr. Forbes nickte, bat dann aber darum, das Dorothea ein Beruhigungsmittel bekam. „Möchtest du nicht lieber auch ins Krankenhaus, Dorothea?“, fragte er noch hinterher. „Nein, nein. Ich will bei Richard bleiben.“ „Wie du meinst. Aber bitte begib dich gleich ins Bett.“ Er umarmte Dorothea. Die Beamten der Schutzpolizei sicherten derweil den Vorgarten der Bergers mit blau-weißem Flatterband ab und sperrten die Straße nach beiden Seiten. Leise unterhielten sich die Polizisten, während einer von den insgesamt sechs auf Richard Berger zuging.

Kurz darauf traf die Kripo ein. Kriminalhauptkommissar Viktor Tannhäuser stieg aus dem Dienstwagen, seine Kollegin Katrin Gröpper folge ihm. Viktor Tannhäuser zog seinen Mantel enger um sich und ging auf die Absperrung zu. Die Stille wurde nur durch das entfernte Murmeln der anwesenden Beamten unterbrochen. „Was haben wir?, fragte er einen der Beamten, der an der Absperrung wartete. „Eine Leiche, männlich, und die 50. Kopfschuss. Näheres von Doktor. Wie immer.“ „Ja, wie immer. Danke.“ Tannhäuser klopfte dem Beamten an den linken Arm und überquerte die Absperrung. Für seine Kollegin hob der Streifenbeamte das Flatterband hoch. „Wie aufmerksam. Verbindlichsten Dank.“ schmunzelte sie. „Kletterfaul?“ „Nein Viktor. Knie.“ Er blickte mit leicht gepressten Lippen drein und atmete einmal tief durch. Dann sprach Tannhäuser den Notarzt an. „Kannste schon was sagen?“ „Ja hmm… Er starb durch einen Schuss. Gezielt durch den Mund. Laut Aussagen von Herrn Berger stand er vor der Tür hielt sich die Waffe in den Mund und drückte ab. Der Schuss war sofort tödlich. Ich habe Frau Berger noch ein Beruhigungsmittel gegeben. Bitte schont sie bei der Befragung. Der Schock. Du weißt ja. Bis dann.“ „Bis dann.“, grummelte Tannhäuser. Katrin Gröpper ging derweil auf die Bergers zu. „Guten Morgen. Kriminaloberkommissarin Gröpper. Mein Kollege hinter mir ist Kriminalhauptkommissar Tannhäuser.“ Der Beamte, der noch immer bei Richard stand, salutierte etwas locker vor Katrin. Sie zeigte ihren Ausweis, gab zuerst Dorothea und dann Richard die Hand. „Ist in Ordnung, Kollege. Danke.“ Dann zog sich der Beamte mit einem Nicken diskret zurück. „Mein herzliches Beileid.“ sagte sie im Anschluss. Dann holte sie aus ihrer Jackentasche ein Notizbuch und begann mit der Frage, was genau passiert sei. „Das waren zwei Männer die hier klingelten.“, antwortete Richard Berger. „Der zweite Mann filmte alles und lief nach dem Schuss weg. In Richtung des Waldes. Und er sagte noch, dass sie wüssten, dass wir Geld haben.“ Dr. Forbes stand neben Katrin Gröpper und unterbrach sie, bevor sie eine zweite Frage stellen konnte. „Verzeihung. Forbes. Dr. Maximilian Forbes. Ich kann ihnen Näheres zu dem Mann sagen.“ „Viktor, kommst du mal bitte? Ich hab hier einen weiteren Zeugen. Viktor?“ Tannhäuser hörte nicht richtig zu, zog sich Gummihandschuhe an und durchsuchte inzwischen den Toten. Er fand einen Ausweis, einen Führerschein und etwas Bargeld. Knapp 10 Euro. „Dawid Sobieski. Aus Offenbach.“, murmelte er. Darauf nickte er dem Notarzt zu, steckte den Ausweis und Führerschein in einen Plastikbeutel und legte die Decke wieder über die Leiche. „Komme, Katrin… komme.“ Unter einem leichten Stöhnen stand Tannhäuser auf und ging auf Katrin zu. „Einen weiteren Zeugen? Wer? Oh. Entschuldigung. Tannhäuser. Kriminalhauptkommissar.“ Dr. Forbes und die Bergers gaben ihm die Hand. „Forbes. Dr. Forbes. Ich bin ein direkter Nachbar. Der Typ rannte mich um. Ich kann ihnen den Kerl beschreiben.“ Tannhäuser blickte ernst drauf ein und nahm Dr. Forbes an die Seite. „Kommen sie. Doktor? Welche Art Doktor?“, fragte er nachdenklich. „Ja ähm… Ich bin Internist und der Hausarzt vom Ehepaar Berger.“ „OK.“ Tannhäuser presste seine Lippen zusammen. „Dann haben sie also auch den Tod feststellen können?“ „Ja.“ „Nun, dann legen sie mal los.“ Kurz bevor Dr. Forbes eine genaue Beschreibung des verschwundenen Mannes abgab, erklärter er noch, das er den Schuss hörte. „Woher wissen sie, das es ein Schuss war, Herr Doktor?“, meinte Tannhäuser. „Na hören sie mal. Eine ruhige Gegend wie diese, es ist Sonntagmorgen und viele Nachbarn schlafen noch. Ein Schuss klingt doch anders, als wenn zwei Autos ineinander krachen.“ Tannhäuser nickte. „Einleuchtend. Kennen sie den Toten?“ „Nein, nie gesehen.“ In dem Moment erschienen die Beamten der Spurensicherung. Tannhäuser drehte sich um. „Sowas, sowas. Auch schon da?, entging es ihm mit einem leichten Unterton. „Viktor.“ „Sonst noch etwas?“, fragte Richard Berger nervös auf zu Katrin. „Meine Frau… sie muss sich erst mal von dem Schock erholen. Sie entschuldigen uns bitte.“ „Hm? Ja, ja sicher doch.“ Katrin nahm inzwischen den Plastikbeutel mit den Papieren des Toten an sich. „Eine Frage noch: „Kennen sie den Toten? Dawid Sobieski heißt er.“ „Nein, Frau Kommissarin. Ich kenne ihn nicht. Du Dorothea?“ Sie schluchzte, schnäuzte sich die Nase und schüttelte den Kopf.“ Nein. Den kenne ich nicht. Ich möchte dann jetzt auch bitte gehen.“ „Hmmm, OK. Natürlich. Das wäre es fürs Erste.“, antwortete Katrin. „Wir kommen auf sie zurück. Und gute Besserung Frau Berger.“ Katrin schüttelte beiden die Hände und wandte sich Tannhäuser zu. Richard Berger schloss derweil die Tür hinter sich.

Die Kommissare gingen danach auf die Straße und überließen den Tatort der Spurensicherung. „Komische Geschichte, findest du nicht auch? Viktor?“ Nach kurzem Nachdenken sah Tannhäuser ihr ins Gesicht „Ja. Irgendwie. Wie kommt man auf so eine Idee, bei jemandem zu klingeln und dann damit zu drohen sich umzubringen? Noch dazu bei jemandem, der, wie ausgesagt wurde, viel Geld hat, so wie die Bergers? OK, diese Gegend ist schon recht ähm… ein besseres Viertel, das gebe ich zu. Und wieso hat der zweite Mann alles gefilmt?“ „Vielleicht wollte er damit was beweisen. Nur was? Katrin Gröpper räusperte sich. „Auf den ersten Blick ist es erst mal kein Mord im klassischen Sinne, Katrin. Ich meine, der Mann hat sich selbst erschossen. Erinnert mich irgendwie an Agatha Christies - Ein Mord wird angekündigt -.“ „Viktor, du ließt zu viele Krimis. Das hier ist Realität. Warten wir ab, was die Obduktion ergibt.“ „Ja. Warten wir es ab.“ Dann kam Dr. Forbes auf die beiden Kommissare zu. „Entschuldigung. Sie brauchen mich nicht mehr, oder?“ „Oh Herr Dr. Forbes. Nein, im Moment nicht. Aber sie müssten dann später noch einmal ins Präsidium kommen, damit wir ihre Aussage protokollieren können. Kriminalinspektion 10. Erster Stock, Zimmer 25. Adickesalle 70. Sie bekommen dann eine Nachricht von uns, wann sie erscheinen sollen.“, sagte Viktor Tannhäuser, gab Dr. Forbes die Hand und eine Visitenkarte. „Tja, also… einen schönen Sonntag noch, die Herrschaften.“ Auch Katrin gab ihm die Hand. „Auf Wiedersehen. Herr Doktor.“

Dann ging Dr. Forbes kopfschüttelnd und langsamen Schrittes zurück zu seinem Haus. Die Kommissare schauten ihm noch so lange hinterher, bis Dr. Forbes die Tür hinter sich schloss. „Ich gehe noch mal eben zu den Bergers. Die müssen wir ja auch noch später vorladen.“, sagte Katrin und lief auf die Haustür zu. „Dann werde ich mal die Kollegen informieren und eine Fahndung einleiten. Auch was das Opfer angeht, frage ich mal nach, ob er polizeibekannt ist. Bin mal gespannt, wann und ob wir den zweiten Typen kriegen. Und was die Obduktion ergibt.“ Nachdem Katrin Gröpper auch den Bergers Bescheid gegeben hatte, wandte sie sich wieder Tannhäuser zu. „Frau Kommissarin?“, rief einer der Beamten der Spurensicherung. „Hier, das Projektil. Augenscheinlich Kaliber 9 mm.“ Er hielt das Projektil mit einer Pinzette fest und legte es in einen Plastikbeutel. „Danke Kollege. Viktor? Die Spurensicherung hat gerade das Projektil gefunden.“ „OK. Dann ab damit ins Labor.“ Katrin übergab die Beutel mit dem Projektil und den Papieren dem Beamten. Tannhäuser hielt sich derweil seine rechte Hand an den Bauch uns sagte: „Und wir beide, wir machen uns jetzt auch langsam auf den Weg. Die Fahndung läuft. Und über Dawid Sobieski hab ich auch noch keine neuen Infos. Wie wäre es mit einem Kaffee? Und Wecken?“ Ihren rechten Zeigefinger auf Tannhäusers Gesicht gerichtet, sagte sie: „Auf deine Rechnung, Viktor.“

(C) Schreibmöwe

Dorothea nahm das Telefon und musste tatsächlich einen Moment darüber nachdenken, ob sie jetzt 110 oder 112 wählen musste. Ihre Hände zitterten. Richard hatte gesagt, sie solle die Polizei rufen – also das war doch 110. Ach du liebe Güte, jetzt vertippte sie sich auch noch dreimal bei den einfachen Zahlen. Sie war einfach so aufgeregt. Sie hatte schon viele Krimis gesehen, aber dass sich jemand vor ihrer eigenen Haustür eine Kugel durch den Kopf jagte – daran hätte sie im Traum niemals gedacht. Dass so etwas in ihrem Leben passieren sollte!

„Muss man denn alles selber machen?“, schrie Richard und im gleichen Moment riss Richard ihr das Telefon aus der Hand. Doch da meldete sich bereits die Polizei.

„Hier Richard Berger, Drosselweg 7 in Frankfurt. Ich möchte einen Mord melden. Nein, einen Selbstmord. Die Leiche liegt vor meiner Tür, und der Zeuge, der alles gefilmt hat, scheint sein Sohn zu sein. Ich werde versuchen, ihn festzuhalten, damit er nicht wegläuft und die Ermittlun-gen erschwert.“

Am anderen Ende wurde ihm bestätigt, dass sofort ein Streifenwagen zu ihnen herausgeschickt werde. Für Richard war die Sache damit erst einmal erledigt.

Dorothea stand mit offenem Mund da und schaute den Mann an, mit dem sie schon fast 30 Jahre verheiratet war, als wäre er ein Außerirdi-scher.

„Kaltschnäuzig!“ entfuhr es ihr.

„Was hast du gesagt?“ Richard sah sie erstaunt an.

„Ich wusste nicht, dass du so kaltschnäuzig sein kannst.“, sagte Dorothea, noch immer am ganzen Leib zitternd. „Da liegt vor unserer Tür ein toter Mann, das Blut läuft über die Steine ​​in unserem Vorgarten, und du meldest einen Selbstmord, legst auf, und dann ist für dich die Sache erledigt – oder wie?“

„Mein Gott, Dorothea! Wir kommen sowieso zu spät in die Kirche. Am besten gehen wir gar nicht erst hin. Außerdem braucht die Polizei uns jetzt hier als Zeugen. Was soll ich denn machen? Soll ich wegen eines Wildfremden in Tränen ausbrechen?“

Dorothea setzte sich hin. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ihre Finger nestelten nervös an ihrem Rock, als ob sie dringend eine Beschäftigung brauchten, um sich nicht die Haare auszureißen. Sie hatten das Gefühl, verrückt zu werden. Ihre ganze Welt war aus den Fugen geraten.

War das Richard? Der Mann, der einst so charmant war, intelligent, einfühlsam und zudem auch noch so gut aussah, dass sie sich sofort Hals über Kopf verliebt hatte – reagierte in einer solchen Ausnahmesituation eiskalt.

War ihr Alltag mit ihm, dem Geschäft, den Kindern, den Enkelkindern so eintönig geworden, dass sie so abgestumpft war, um nicht mehr zu merken, mit wem sie das Leben teilte?

Sie wagte kaum aufzuschauen, denn wenn sie es tat, würde ihr Blick aus dem Fenster und den Toten vor der Tür fallen. Dieser Gedanke jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. Doch sie brauchte nicht hinzu-sehen. Das, was sie gesehen hatte, war jetzt unauslöschlich auf ihrer Netzhaut eingebrannt. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich nie wieder ein Auge zu machen würde, ohne dieses Bild des Grauens vor sich zu sehen. Ihr wurde bewusst, dass sie einen Schock erlitten hatte.

Dorothea hörte in der Ferne den dumpfen Klang von Sirenen, die stetig näherkamen und lauter wurden. Die Polizei war unterwegs. Ihre Gedanken wirbelten wie Tornados durch ihren Kopf, sie überschlugen sich regelrecht. Sie schaute hinüber zu ihrem Mann, der auf dem Sofa saß und emotionslos, ja man könnte sagen, gelangweilt auf sein Handy starrte. Dorothea fühlte, wie sich eine unbändige Wut in ihr aufbaute und sich den Weg aus ihrem Bauch nach oben bahnte.

„Du bist ein Monster“, zischte sie schließlich leise, noch stets bemüht, das aufkommende Gefühl unter Kontrolle zu halten.

„Und was soll ich deiner Meinung nach tun?“, fragte er sie, ohne den Blick von seinem Handy zu heben. „Die Polizei wird das schon regeln.“

„Das ist nicht normal, Richard! Da liegt ein Mensch tot vor unserer Tür, und du – du …“

Ein leises Geräusch ließ sie verstummen. Es klang wie ein Schluchzen. Sie sprang auf und ging zum Fenster. Am Rand des Vorgartens sah sie den Jungen neben der Leiche seines Vaters sitzen. Sein Gesicht in seinen Händen vergraben, wurde sein Körper von einem Weinkrampf ge-schüttelt. „Mein Gott“, murmelte sie, „der ist ja mal höchstens 17 Jahre alt.“ Das Handy, womit er angeblich gefilmt hatte, lag achtlos neben ihm.

„Da ist der Junge!“, rief sie. „Der Zeuge! Er sitzt da draußen, ganz allein.“

Richard stand langsam auf und kam herüber. „Lass ihn. Die Polizei ist gleich da.“

„Lass ihn?“, fuhr sie ihn an. „Er ist ja fast noch ein Kind, Richard! Er hat gerade seinen Vater sterben sehen!“, und dann: „Ich werde versuchen, ihn festzuhalten, damit er nicht wegläuft und die Ermittlungen erschwert. Was sollte das denn? Wolltest du dich damit wichtigmachen? Du schaust ja nicht einmal nach, ob er überhaupt noch da ist!“

Keine Antwort!

Die Sirenen waren jetzt lauter, die Polizei würde jeden Moment eintreffen. Doch in Dorotheas Kopf drehte sich alles nur um die letzten Worte des Mannes: „10.000 Euro oder ich bringe mich um.“

Sie drehte sich zu Richard um, der nun mit verschränkten Armen im Wohnzimmer stand und emotionslos aus dem Fenster schaute.

„Richard … was hat er gemeint? Warum wollte er 10.000 Euro von dir?“

Richard zuckte zusammen, als habe sie ihn bei irgendetwas ertappt. „Ich weiß es nicht, Dorothea. Vielleicht war er einfach verrückt. Solche Leute sagen vieles, bevor sie … na ja …“

„Nein!“ Dorotheas Stimme wurde schrill. „Er hat dich direkt angesehen, Richard. Was hat er gemeint? Du weißt genau, wovon er gesprochen hat.“

Nun wurde Richard nervös. Er fuhr sich durch die Haare, eine seiner typischen Gesten, wenn er in einer stressigen Situation verkehrte.

„Es ist kompliziert. Das versteht du nicht.“

Dorothea war so überrascht, dass ihr die Luft wegblieb. „Was verstehe ich nicht? Was verheimlichst du mir?“ Ihre Stimme überschlug sich.

Bevor Richard antworten konnte, ertönte das Klingeln an der Tür. Zwei Polizeibeamte standen draußen, ein Mann und eine Frau, beide mit ernsten Gesichtern. Dorothea öffnete.

„Guten Abend, Frau …?“

„Dorothea Berger. Das ist mein Mann Richard.“

„Ich bin Kriminalkommissarin Ilona Becker und das ist mein Kollege Axel Brandt. Wir haben Ihren Anruf erhalten. Können Sie uns schildern, was passiert ist? Mein Kollege wird die Zeugenaussagen zu Protokoll nehmen, ich werde mich derweil um den Jungen kümmern.“ Damit kehrte sie ihnen den Rücken zu und ging zu dem am Boden kauernden Jungen.

Dorothea warf Richard einen vielsagenden Blick zu, doch er schwieg. Also begann sie dem Polizisten zu erzählen, so gut sie konnte, was geschehen war – der Schuss, die Drohung des Mannes, seine letzten Worte.

„10.000 Euro oder ich bringe mich um?“ fragte der Polizist, der nun Richard ins Visier nahm. „Kannten Sie den Mann, Herr Berger?“

Richard zögerte eine Sekunde zu lange. „Nein … nicht wirklich. Ich habe ihn vielleicht einmal zufällig irgendwo gesehen, aber ich wüsste nicht wo und bei welcher Gelegenheit. Und außerdem: warum sollte er 10.000 Euro von mir verlangen?“

Dorothea fühlte, wie erneut die Wut in ihr aufstieg. „Er hat dich angeschrien, Richard. Direkt vor unserer Haustür. Ich hatte schon den Eindruck, dass er dich kennt! Warum sollte er bei einem Wildfremden klingeln und so viel Geld fordern?“

„Dorothea, das reicht jetzt!“ Richard drehte sich abrupt zur Polizei. „Der Mann war offensichtlich verzweifelt. Ich habe keine Ahnung, wovon er gesprochen hat.“

Der Polizist blickte skeptisch, sagte aber nichts weiter. Er machte sich einige Notizen und erklärte dem Ehepaar, dass sie sich weiterhin zur Verfügung halten müssten. Dann ging er hinaus und sicherte den Tatort. Seine Kollegin hatte inzwischen die Spurensicherung und eine Psychologin für den traumatisierten Jungen angefordert.

Nachdem die Polizei alle Formalitäten geklärt und die Leiche abtransportiert hatte, griff Richard sofort nach einer Flasche Wein.

„Das war’s, Dorothea. Wir können jetzt nichts mehr tun.“

Doch Dorothea hatte genug. „Nein, Richard. Das war’s noch lange nicht.“ Sie ging entschlossen ins Schlafzimmer und begann zu suchen. In seinem Schreibtischschubladen, in den Unterlagen. Es musste etwas geben, das erklärte, wer dieser Mann war und warum er sich vor Richards Augen getötet hatte.

Schließlich fand sie einen Umschlag, versteckt unter einem Stapel alter Kontoauszüge. Als sie ihn öffnete, stockte ihr der Atem.

Ausweg
Die Vibrationen dieser Stimme schwangen durch Dorothea`s Hirnwindungen, wollten aber den Sinn der Worte nicht sofort wiedergeben. Ihr Mund, vor Entsetzen wie zum Schrei geöffnet, blieb stumm. Dafür begann ihr rechter Fuß sich langsam in das Holzparkett zu drücken und hinterließ den Eindruck eines bockigen Kindes. Wenn da nicht das Blitzen in den sonst so friedvollen Augen nach außen gesprüht wäre.
„Warum sollte ich die Polizei rufen?“ Fragte sie mit der Fassade eines Engels.
„Tu was ich dir sage.“ Mit drohendem Ton wandte Richard sich seiner Frau zu und zeigte auf die verschlossene Tür. „Du willst das Blutspektakel vor unserem Eingang nicht sehen“. „Oh doch, das möchte ich!“ Mit spitzem Ellenbogen schubste Dorothea ihren Mann zur Seite und riss den Türflügel beinahe aus den Angeln.
„Wie ich es mir gedacht habe. Wieder einmal scheinst du mich mit deinen Verrücktheiten von unserem Kirchgang abhalten zu wollen.“

„Was glaubst du wird geschehen, wenn du es immer wieder tust? Meinst du ich habe es nicht bemerkt?“ stöhnte der sonst so gelassene Ehemann und wünschte sich lieber auf der kalten Kirchenbank sitzend. Doch daraus würde heute sicher nichts. Er müsste sich ein weiteres Mal mit seiner Gattin in ein Abenteuer stürzen, während die Aufräumer das Blut von den Platten neben dem kleinen Steinkreis schrubben würden. Falls es sich bei dem Begleiter des Toten nicht um ein KI-entwickeltes Hologramm handeln sollte, würden die Aufräumer ihm eine kleine Gehirnwäsche verabreichen und ihn in die Socialmediawelt zurückschicken.

Fast unbemerkt hatte Dorothea die Runenzeichen mit einem winzigen Feuerpunkt der aus ihrem rechten Zeigefinger sprühte in die Luft gebrannt und somit einen Vorhang um das Geschehen gelegt. Niemand würde etwas von den Ereignissen bemerken.
Dorothea - ein Name wie kein anderer verblasste ebenso schnell wie er gezeichnet wurde.
Dorothea
D - Darkness
O - Obsession
R - Rich
O - One
T - Transition
H - Hero
E - Energie
A - All

Sie war die personifizierte Dunkelheit, besessen von dem Glauben, die Einzige zu sein, die so machtvoll wäre, um mit ihrer Energie heldenhaft die Wandlung für alle bewirken zu können.

„Wir müssen schnell sein“, zischte sie ihn an. „ es schwebt noch ein kleiner Rest der rot-grauen Wolke über dem Toten. Wenn wir uns beeilen schaffen wir es noch hindurch."

Sie griff nach den Dollarzeichen um Richard’s Hals und zog ihn lautlos mit sich in eine Wolke, so rot wie Blut, so grau wie Gehirnzellen und so weiß wie ein ewiges Licht - das Portal. Im letzten Moment sahen sie den wie versteinert wirkenden Begleiter des Toten, entrissen ihm sein Handy und verschwanden.
Das Handy war noch eingeschaltet. Warm und fest spürte Berger die Spuren seines Nichtstuns in seiner Hand, und noch schwerer brannten sie sich in seine Seele. Was hätte er tun können? Er hatte keine 10.000€, wieviel er mit seinen Aktienspekulationen verloren hatte, davon hatte seine Frau keine Ahnung und diese Leute vor seiner Tür wohl auch nicht. Vielleicht war es ein glücklicher Zufall, dass sie durch das unerwartet aufgetauchte Portal jetzt verschwinden konnten.

Berger konnte sich der mächtigen Energie seiner Frau nicht entziehen, weder in diesem Moment noch auf den luxuriösen Shoppingtouren in Paris oder New York. Nie konnte er genug Geld heranschaffen, immer war es zu wenig. Sollten sie auf der anderen Seite jedoch in den Wäldern anstatt auf dem Maisfeld landen, wüßte er sich ihr gegenüber zu wehren. Hier hatte er seine Wurzeln und würde ihr seinen Namen erklären, beginnend mit der Doppelbedeutung des ersten R`s
R - roots + rules, seinen Wurzelns, seinen Regeln und endend mit

D - dance - dann würde sie nach seiner Nase tanzen.

„Goldstein, Goldstein er war hier… es ist hier bei uns passiert“. Max stolperte mit seinen langen dünnen Beinen in das offene Büro hinter seinem Schreibtisch.
„Wer, was, wo? Klein, Ich habe Ihnen schon tausend Mal gesagt, dass Sie lernen müssen sich präziser auszudrücken, wenn Sie hier erfolgreich sein möchten. Man schaut auf uns und sie ziehen mich mit runter“ Kriminaloberkommissar Jakob Goldstein war ein Polizist und Mann der alten Schule. Seine militärische Vergangenheit war sofort zu erkennen, wenn man nur wenige Sekunden im gleichen Raum mit ihm war.
„Abgesehen von ihren mangelhaften Informationen werde ich von Ihnen mit Oberkommissar, mindestens aber Herr Goldstein angesprochen, verstanden? Und jetzt ergänzen Sie ihre Informationen, aber zügig und nehmen sie dabei eine ordentliche Haltung an.“
Max atmete tief durch, stellte sich aufrecht hin und dachte für einen kurzen Moment, er hätte sich nciht bei der Polizei sondern dem Militär beworben.
„Es kam grad ein Anruf rein, Frau von dem Reisetypen, Berger.“ Max setzte ein künstliches lachen auf und begann zu singen „Sie wollen eine schöne Reise ohne ärger, jetzt zu…“
„Kommissar MAXIMILIAN KLEIN“ Max starrte mit großen Augen auf die hervorkommenden Adern an Goldsteins Hals „wenn sie die Polizeiarbeit nicht mit dem nötigen Ernst angehen, sorge ich dafür, dass dies ihre letzte Woche hier ist!“
„Ähm ja, natürlich. Also es geht um den falschen Samariter. Er war mit seinem Opfer vor der Tür der Bergers. Es ging wieder um zehntausend Euro. Wie die anderen auch, hat Herr Berger nicht gezahlt und deshalb gibt es wieder eine Leiche“.
Jetzt wurden Goldbergs Augen groß.
„Das gleiche Vorgehen, wie in Düsseldorf, Hamburg, Dresden und München?“
„Soweit ich Frau Berger bisher verstanden habe, ja.“
„Der Falsche Samariter. Hier bei uns. Klein, wir müssen sofort zu den Bergers, bevor das LKA informiert werden muss.“ Goldstein zeigte auf den Parkplatz, den er aus seinem Büro sehen konnte. „Hol unseren Wagen, ich komme sofort raus.“ Max setzte sich sofort in Bewegung „Jawohl Herr Oberkommissar, ich eile“
„Und Klein“ er führte seinen Zeigefinger vor den Mund „zu niemandem ein Wort, bis wir uns den Tatort genau angeschaut haben. wir müssen ja sicher gehen, dass es wirklich der falsche Samariter ist“.
Etwas verwirrt verließ Max das Büro und machte sich auf den Weg zum Auto. Jakob Goldstein, der penibelste Mensch der Welt, weicht vom vorgeschriebenen Meldeweg ab? Irgendetwas UNgutes ging hier vor sich. Während Max das Polizeiauto vor der Eingangstür bereitstellte, verstaute Goldstein noch letzte Dokumente in der Schreibtischschublade, damit auch alles eine Ordnung hat. Er blickte mit einem Seufzer auf ein Familienbild, dass er in der Schublade versteckt hielt. Langsam streichte er über die Frau an seiner rechten. „Nicht mehr lange kleine Schwester. Hier kommt die Chance die ich gebraucht habe. Mit dem Geld das ich dann mehr bekomme, können wir uns dann die OP für Papa leisten.
„Was wissen Sie über den falschen Samariter, Klein?“ Goldstein saß auf dem Beifahrersitz und hatte einen großen Aktenordner bei sich auf dem Schoß.
„Es ist jetzt schon der 5. Fall. Immer das gleiche Vorgehen. Der Samariter klingelt in Begleitung eines anderen Mannes im fortgeschrittenen Alter bei jemandem, der relativ Vermögend ist. Die Begleitung fordert zehntausend Euro und wenn die Leute nicht bezahlen, erschießen sie sich mit einer Pistole. Der Samariter filmt das ganze und stellt die Videos kurz danach über Telegram online. Bisher hat sich aber noch niemand ein solches Video gemeldet“.
„Und wer ist der falsche Samariter?“
„Das weiß man noch nicht genau. Er ist groß, ca. 1,90 und hat eine sportliche Figur. Hat eine Glatze, die aber wahrscheinlich selbst gewählt ist, da er laut den Beschreibungen um die 30 sein sollte. Er trägt keine auffällige Kleindung und wurde von allen als eher unscheinbar beschrieben.“
„Und die Opfer?“
„Alles Männer im fortgeschrittenem Alter. Keiner jünger als 62. Und das wichtigste: nach den neusten Erkentnissen, hatten alle Opfer eine tödliche Krankheit und nicht mehr allzulange zu leben.“
Goldstein ließ seinen Blick durch die Seitenstraßen schweifen.
„Gut, dann sind sie ja besser informiert, als ich dachte. Was können wir daraus für Schlüsse ziehen?“
„Das LKA geht davon aus, dass den Opfern das Geld versprochen wird um damit vielleicht hinterbliebene zu versorgen. Für den Fall dass das Geld nicht gezahlt wird, war bisher ja immer der Fall war, wird dann große Aufmerksamkeit auf das Thema „Die Schere zwischen arm und reich wird immer größer Bla Bla gelenkt.“
„Klein, reißen sie sich zusammen“. Goldstein warf Max einen finsteren Blick zu.
„Jawohl, warum es genau die Summe ist, weiß man bisher nicht. Keines der Opfer hatte große Geldprobleme. Was denken Sie? Geht es dem falschen Samariter um die Opfer oder um die unfaire Finanzwelt?„
„Ich glaube es ist ein Spinner, der einfach ein Aufmerksamkeitsproblem hat. Diese ganzen Jungen Leute suchen sich doch mit den absurdesten Trends ihre Likes und Follower. Wir werden sehen. Es ist auf jeden Fall eine Chance für mich, ich bin wieder soweit. Soll das LKA mal schön warten.“ Die Finger griffen immer fester um den Ordner in seinem Schoß. „Hier rechts abbiegen Klein und dann sind wir auch schon da.“
Die beiden gingen durch die schmiedeeiserne Gartentür. Unterwegs hatte Goldstein noch die wichtigsten Telefonate geführt um alle nötigen Dienststellen zu kontaktieren, ohne zu viel Wind beim LKA zu machen.
Als sie näher kamen und den Blick auf die Leiche warfen, viel Goldstein auf einmal auf die Knie.
„Herr Oberkommissar, alles gut? Was ist mit Ihnen?“
„Das… das ist mein Vater…“

Ein gutes Stück die Straße hinunter lehnte ein junger Mann rücklings an einem Sportwagen, die Arme vor der Brust verschränkt. Ein paar Strähnen des blonden Haares hingen ihm vor den Augen, die unentwegt auf die Szene gerichtet waren, die sich vor Bergers Tür abspielte.
Die Pistole verkündete ihren tödlichen Schuss und der Körper des Mannes sackte zusammen wie eine Marionette, deren Schnüre durchtrennt worden sind.
Die Mundwinkel des jungen Mannes zuckten, dann stieg er ins Auto und fuhr davon.

Blaues Blinklicht reflektierte von den Fensterscheiben in der Straße. Mehrere Fahrzeuge von Polizei und Rettungsdienst waren vor Ort. Geschäftiges Treiben sorgte für neugierige und besorgte Blicke, die durch geschlossene Vorhänge spähten und über dem Toten lag ein weißes Tuch. Nicht lange, und der Leichnam würde in den Leichenwagen geschoben werden.
“Wie hirnlos manche Leute sind”, kommentierte einer der Kriminalpolizisten leise, als er auf den Toten hinab sah, und erntete ein verstohlen belustigtes Schnauben seines Kollegen. Polizistenhumor.
Indes stand Polizeihauptmeisterin Klentmann in der Küche der Bergers, um deren Aussage aufzunehmen.
“Und wohin ist er gegangen, der Mann mit dem Smartphone?”, wollte sie wissen, aber Berger schüttelte nur den Kopf, während seine Frau fahrig im Hintergrund Kaffee zubereitete. Klentmann bemerkte dies nebenbei und wertete das als klassische Schockreaktion.
Sie sah auf ihren Notizblock, dann wieder zu Berger. Der hob die Hände und klang aufgebracht. “Wie gesagt, ich hab durch’s Fenster geschaut, nachdem meine Frau Sie angerufen hat, und der Mann war spurlos verschwunden! Keine Ahnung, wohin. Ich hoffe, Sie suchen nach ihm?” Sein Tonfall verlangte nach nichts anderem als Zustimmung.
“Natürlich, Herr Berger. Und Sie haben diese Männer noch nie zuvor gesehen?”
“Herrgott nochmal, nein, wie oft denn noch.”
Klentmann nickte. “Gut. Dann bleiben Sie bitte im Haus, bis wir draußen fertig sind. Ich gebe Ihnen dann Bescheid. Sicher, dass ich Ihnen niemanden vom Krisendienst holen soll?”
Berger sah zu seiner Frau und lächelte fahl. Wenn er eines an Dorothea liebte, dann war es ihre Art, die Dinge hinzunehmen, wie sie waren. Denn Gott tat nichts ohne Grund, so ihre Ansicht. Und was war nun heute der Grund, nicht in die Kirche gehen zu können, sondern erpresst zu werden, nur um anschließend Zeuge eines Suizids vor laufender Kamera zu sein?
“Nein, vielen Dank, Frau Klentmann. Wir kommen zurecht.”

Auf der Wache stand Klentmann vor dem Toilettenspiegel und betrachtete ihr Spiegelbild. Wie konnte man sich nur selbst umbringen, nur weil man von einem Fremden keine zehntausend Euro bekam? Was steckte dahinter und welche Rolle spielte der Kerl mit dem Smartphone?
War das wieder so eine dämliche TikTok-Challenge?
Nun, sie würde es wohl nur am Rande verfolgen können, denn das war Sache der Kriminalpolizei, nicht ihre.
Franziska Klentmann, Mitte dreißig, glücklicher Single und dem aktiven Nachtleben nicht abgeneigt. Eine stinknormale Streifenbeamtin, die ihren Job machte, aber definitiv keine von denen war, die ihr Leben dafür opfern würden wie der heroische Actionheld in den Filmen.
Wie sehr sie sich irrte.

Und irgendwo in einem der besseren Wohnviertel Frankfurts legte sich ein Finger auf eine Türklingel.

Offene Enden – zweiter Teil

Von Michael Fritz

»Was war das für ein Knall«, fragte seine Frau Dorothea und starrte Ihren Mann an. »Ruf die Polizei« sagte Richard, wie auf Autopilot, erneut. »Was, wieso?«, fragte sie, und ihr Blick huschte zwischen Ihrem Mann und der geschlossenen Eingangstür hin und her. »Vor unserer Tür hat sich jemand erschossen.« Dorothea sah ihrem Mann ungläubig an. Sie war, verwirrt, wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Dann rannte Dorothea zum Fenster mit Blick zum Vorgarten und schaute mit Anspannung hinaus. Dort sah sie den leblosen Körper eines Mannes auf dem Gehweg ihres Vorgartens liegen. Nach einer kurzen Schockstarre löste Sie sich von dem Anblick und rannte hektisch zu ihrem Smartphone, das auf dem Tisch neben Ihrer Tasche lag. Adrenalin schoss mittlerweile in Ihren Blutkreislauf. Ihre Hände zitterten, so dass sie kaum in der Lage war das Smartphone anzuheben, geschweige denn den Notruf zu wählen.

Richard Berger stand regungslos und unter Schock im Flur. Er beobachtete, wie seine Frau vergeblich versuchte, Ihr Smartphone in ihre zitternden Hände zu bekommen. Alles lief wie in Zeitlupe ab. Er wusste nicht, was er glauben sollte. Das alles war so surreal. War das gerade wirklich passiert?

Der zweite Mann mit dem Smartphone stand noch immer vor Bergers Tür. Jetzt fing er wieder an wütend rumzuschreien. »Sie haben ihn umgebracht! Sie sind genauso wie alle diese Kapitalistenschweine! Ihr Geld, Ihre Regeln, Ihre Welt!«

Richard durchfuhr auf einmal ein eisiger Schauer, eine Vorahnung, dass das hier erst der Auftakt zu etwas schlimmeren war. Nachdem er sich gefangen hatte, schlich er langsam zurück zur Tür und sah durch den Spion, um einen Blick nach draußen zu werfen. Als er sah, dass der junge Mann bei der Leiche stand öffnete Berger die Tür einen Spalt. Der Fremde hatte den Toten inzwischen zur Seite geschoben, als wolle er ihn loswerden. Jetzt schwenkte er seine Smartphone-Kamera auf Berger.

Richard beobachtete den jungen Mann. Im fielen sofort seine hektischen unkoordinierten Bewegungen auf. Das Zittern und den Schweißausbruch auf dessen Stirn waren ebenfalls nicht zu übersehen.

Mit zitternder, aber unüberhörbarer Wut in der Stimme schrie er. »Das werden Sie bereuen, verstehen Sie? Es gibt kein Entkommen!«

»Wovon reden Sie?«, kam es von Berger mit gefestigter, aber dünner Stimme zurück.

»Von Gerechtigkeit!«, schrie der andere, und der Wahn in seinen Augen war jetzt nicht mehr zu übersehen. Doch dann wurde er ruhig, senkte den Kopf und schüttelte ihn. Als er ihn wieder anhob, war er wie ausgewechselt. Konzentriert und mit festem Blick.

»Sie haben keine Ahnung«, sagte er plötzlich, fast schon sanft. »Aber Sie werden es bald verstehen. Wenn nicht… dann wird es jemand anderes tun.«

Mit einem Ruck drehte er sich um und verschwand aus Bergers Sichtfeld.

Richard fühlte sich wie in einem Alptraum gefangen. Wie ein Mann, der in einem falschen Film gelandet war, ohne zu wissen, ob er der Held oder der Bösewicht war.

»Hast Du die Polizei erreicht?«, fragte er seine Frau. Seine Stimme klang dabei dünn.

»Ja, sie sind unterwegs« sagte Sie und ging auf Ihrem Mann zu, der noch immer an der Tür stand.

In der Ferne hörte man Sirenen. Der Wind hatte gedreht. Es roch nach Regen.

Richard ließ die Tür ins Schloss fallen und ging, von der ganzen Situation überfordert, seiner Frau entgegen. Er nahm sie fest in die Arme. Sein Blick wanderte von seiner Frau durch den Raum und blieb am Fenster des Vorgartens haften. Da erblickte er, einen großen schwarzen SUV, mit abgedunkelten Scheiben, der vor dem Haus hielt.

»Richard, ich… ich weiß nicht, was das war«, murmelte seine Frau in seinen Armen. Fest die ihren auch um ihn geschlungen. »Als ich es endlich geschafft hatte, mit meinen zitternden Händen, das Smartphone vom Tisch anzuheben, durchfuhr mich ein Schauer. Ich hatte das Gefühl, dass sich etwas Schlimmes zusammenbraut. Ein Unheil, das tief in der Stadt schlummert, weiter als bis vor unsere Haustür. Verstehst Du das?«

Berger atmete schwer. »Nicht wirklich, aber eben hatte ich ein sehr ähnliches Gefühl.«.

Das Einzige, was er wusste, war, dass die Geschichte noch nicht zu Ende war.

Diese entsetzliche Geschichte war an jenem Sonntagmorgen eigentlich schon alles, an was sich Berger erinnern konnte. Er träumte selten, in seiner Jugend gar nicht. Jedoch in diesem Jahr passierte es zum wiederholten Male, dass die Dinge, die ihm in der Nacht im Schlaf erschienen waren, besonders plastisch und nahezu erschreckend real wirkten.

Nun lag er keuchend in seinem ginstergelben Seidenpyjama auf dem Ehebett. Schweiß stand auf der Stirn, das Gesicht glänzte. Die leichte Sommerdecke hatte er auf die Seite zu seiner Frau herübergeschoben. Die war längst aufgestanden und bereitete in der Küche das Frühstück vor. Das Schnurren und Glucksen der Kaffeemaschine tönte hinauf bis ins Schlafzimmer.

Im Garten zwitscherten die Amseln, die Septembersonne blitzte durch die Vorhänge, Berger wirkte von der Nacht deutlich mitgenommen. So etwas war ihm, seit er denken konnte, noch nicht widerfahren. Bisher hatte es sich um vergleichbar banale Ereignisse gehandelt, die in seinen Träumen auftauchten. Einmal war er nackt in der U-Bahn gefahren. Ein anderes Mal hatte ihm seine Angestellte, die Fernreise-Expertin Susanne Grabowski, im Büro den Stinkefinger gezeigt. Als er dann protestierte, kam der Auszubildende herein – Dennis dieser Schwachmat. Der Vollidiot öffnete die Hose und urinierte ihm vor seinen Augen auf den Schreibtisch.

Schon damals war Berger wegen dieser läppischen Traumgeschichte schweißnass aufgewacht. Er konnte sich kaum erklären, warum sein Hirn nächtens so einen Bockmist zusammenreimte. Am folgenden Tag in der Arbeit lief dann alles wie gewohnt. Weder ein Stinkefinger noch eine offene Hose begegnete ihm. In der Mittagspause, sein gesamtes Personal saß wie immer gegenüber beim Billig-Chinesen, inspizierte er akribisch seinen Arbeitsplatz. Er schnüffelte am Schreibtisch und prüfte im Gegenlicht, ob etwaige Flüssigkeiten über die Resopaloberfläche gespritzt worden waren. Alles schien in Ordnung, dennoch ließ ihm die Sache vorerst keine Ruhe.

Einen Monat später, es muss im Juni gewesen sein, träumte Berger erneut Absurdes. Er saß mit Dorothea in der Kirche bei der Messe, als der Pastor ihn aufforderte, einen Choral anzustimmen. Die anderen Kirchgänger starrten todernst zu ihm herüber; er zögerte, Hitze stieg in sein Gesicht. «Steh auf und sing schon!», zischte seine Frau. Mühsam rappelte er sich hoch, bewegte seine Lippen, aber nicht der leiseste Ton wollte aus seiner Kehle hervorkommen. Und dann sah er es: Alle zeigten mit der Hand auf ihn, begannen zu lachen. «Deine Zähne, Richard, deine Zähne», zeterte Dorothea. Bergers Finger strichen über seinen geöffneten Mund, nicht einen einzigen Zahn hatte er mehr in der Kauleiste.

Berger fühlte sich bereits damals, an jenem Junimorgen, wie gerädert. Am selben Tag suchte er in der Mittagspause einen Buchladen auf, blätterte in einem Lexikon für Traumdeutung herum. Aus den Erklärungen zu den Stichworten ‚Nacktheit‘,Urin‘, ‚Stinkefinger‘ und ‚Zahnausfall‘ ergab sich eine klare Diagnose: Er litt unter Versagensängsten!

Das schien keine Überraschung zu sein. Denn seit der weltweiten Finanzkrise wuchsen in seinem Reisebüro die Existenzsorgen nahezu täglich. Der Kredit über hundertfünfzigtausend, den er zur Firmengründung aufgenommen hatte, sollte im kommenden Jahr zuzüglich der Zinsen zurückgezahlt werden. Aber anstatt die notwendige Summe nach und nach anzusparen, fehlten Berger mittlerweile zusätzliche zehntausend Euro auf dem Geschäftskonto. Mit den monatlichen Einnahmen konnte er knapp das Personal, die Fixkosten und die Steuer bezahlen. Wenn Dorothea nicht sämtliche Flüge und Zimmerbuchungen ihres Pharma-Konzerns über ‚Bergers Traumreisen‘ abgewickelt hätte, dann wären die Lichter in seinem Büro längst erloschen. Sich selbst gönnte er schon seit einer Ewigkeit nichts mehr. Der Laden rutschte zusehends tiefer in die Miesen. Sein letzter Rettungsanker hieß ‚Aktiendepot‘, welches sich leider wegen der Bankenkrise, wie ein zu heiß gewaschener Wollpullover auf ein Miniaturformat zusammengeschrumpelt hatte. Berger war finanziell am Ende. Auch wenn er sich täglich mit dem protzigen 350-PS-AMG-Mercedes aus der Einfahrt seines beachtlichen Einfamilienhaus-Anwesens herauskatapultierte und mit Vollgas ins Pleitebüro in die Vorstadt brauste. Das Auto kostspielig geleast, die Mini-Firma hochverschuldet, das Haus bis unters Dach beliehen – Berger war auf dem besten Weg in die Insolvenz. Dorothea ahnte von allem nichts, sie hatte von finanziellen Dingen keinen Schimmer, er im Grunde aber auch nicht. Jedoch konnte er passabel schauspielern und mimte zuhause gerne den Unbeschwerten.

Der Duft von frisch geröstetem Toast drang bis ins Ankleidezimmer vor, als Berger sich die Krawatte wickelte. Er entschied sich für die beruhigende Hellblaue. Er schmunzelte, denn so eine Grüne wie in seinem Traum besaß er gar nicht. Im Begriff den Kleiderschrank wieder zu schließen, fiel ihm die goldene Anstecknadel mit der Form des Eurozeichens auf, sie thronte auf dem Samt einer verstaubten Smokingfliege. Sein Chef bei der TUI hatte ihm das grässliche Ding kurz nach der Euro-Einführung überreicht, wegen der fetten Abschlüsse, die er für den Konzern getätigt hatte. Ja, ja, damals war noch alles in Ordnung gewesen. ‚Überflieger‘ hatten sie ihn genannt, er würde mal ganz groß rauskommen, prophezeiten die Kollegen, irgendwann stände er als TUI-CEO zur Debatte und so weiter. Mit vierzig meinte er plötzlich, sein eignes Ding machen zu müssen – auch die Big Player der Branche waren ja mal klein gestartet. Wenn er geahnt hätte, dass er selbst nach fast zehn Jahren immer noch in der Frankfurter Vorstadt eine Drei-Mann-Reisebüro-Klitsche betreiben würde und um jeden Cent kämpfen müsste, dann wäre er wahrscheinlich gleich in Richtung Dubai abgehauen. Dort boomte jedenfalls die Touristikbranche.

Die Euro-Krawattennadel hatte angeblich ein Frankfurter Juwelier aus purem Gold gefertigt. Berger wägte ab, wann er das Schmuckstück zu Geld machen würde. Mehr als hundertfünfzig würde es nicht bringen. Erstaunt nahm er zur Erkenntnis, mit welchem Einfallsreichtum sein Unterbewusstsein die Ängste des Alltags in seinen nächtlichen Traum kolportiert hatte. Die Einstecknadel mutierte zu einer Krawatte mit goldenen Eurozeichen. Und die fehlenden Zehntausend trieben einen armen Schlucker dazu, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Alles gipfelte in einem surrealen Horrorszenario, das ihm die eigene Aussichtslosigkeit drastisch aufzeigte. Selbst der filmende Mann besaß für ihn eine tiefere Bedeutung: Er stand stellvertretend für die anklagende Öffentlichkeit, vor der Berger sein Pleitedasein zu verstecken versuchte.

Das i-Tüpfelchen hatte allerdings Heiner, sein bester Freund, beigesteuert. Zum Fünfzigsten beglückte ihn dieser mit einer Tarentino-DVD-Edition. Unter der Woche, als Dorothea auf Dienstreise in Kasachstan unterwegs war, zog sich Berger Abend für Abend einen Film nach dem anderen hinein. Zwei Nächte zuvor staunte er über die Brutalität in ‚Pulp Fiction‘, den hatte er bis dato noch nie gesehen. Daher wunderte es ihn kaum, dass in seinem Traum die Gehirnmasse grausamst wie üppig durch die Gegend spritzte.

Er schob sanft die Schiebetür des Kleiderschranks zu, schlenderte ins Badezimmer, putzte die Zähne, glättete die Frisur mit Kamm und Haargel – und spähte schließlich aus dem Fenster auf die Straße. Nicht ein einziger Mensch weit und breit, die Nachbarn lagen sonntags zu dieser Zeit noch im Bett. Mit einer gewissen Genugtuung registrierte Berger, dass keine zwei Typen mit Lederimitatjacken vor seinem Haus standen. Seine Frau rief nach ihm, der Tisch wäre gedeckt und alles stünde bereit, um neun wollten sie in der Kirche sein.

Sie saßen gemeinsam in der Küche, tranken Kaffee mit Sprühsahne, aßen Toast mit Butter und Himbeermarmelade. Dorothea trug noch den Morgenmantel, sie machte sich immer erst nach dem Frühstück frisch.

Vor einigen Monaten hatte Berger die Zeitung abbestellt, genauer gesagt er hatte sie umbestellt. Als Abonnent wurde ihm die Gelegenheit unterbreitet, die ‚Frankfurter Allgemeine‘ zukünftig digital lesen zu können, obendrein gab es ein nagelneues iPad gratis – der letzte Schrei der Technik aus den USA. Trotz klammer Haushaltslage hatte er das teure Angebot angenommen. Dies führte allerdings dazu, dass die Bergers am morgendlichen Frühstückstisch nun keine Zeitung mehr teilen konnten, wie sie es seit Jahren nahezu täglich praktiziert hatten.

Während er auf dem digitalen Glastäfelchen herumwischte, begnügte sich Dorothea damit, aus einem gewaltigen Stapel von alten Restzeitungen weitgehend ungelesene Exemplare für sich zu entdecken. Berger stierte kauend auf die sinkenden Aktienkurven, die ihm sein Tablet so formidabel aus der Börsenredaktion präsentierte.

«Hast du gewusst, dass im Juni der ehemalige Trainer von Eintracht Frankfurt gestorben ist?», fragte Dorothea in eine verknitterte Zeitung starrend.

«Nein, habe ich nicht gewusst. Bis vor zwei Jahren habe ich geglaubt, Eintracht Frankfurt wäre ein Trachtenverein. Du weißt doch, Fußball ist überhaupt nicht mein Thema, da kenne ich mich null Komma null aus.»

«Darum geht es mir auch nicht. Der Name ist irgendwie komisch.»

«Wieso, welcher Name ist komisch?»

«Der von dem verstorbenen Trainer»

«Wie heißt der denn?»

«Er hieß ‚Berger‘.»

«Seit wann ist ‚Berger‘ ein komischer Name? So heißen wir doch auch! Wenn du den Namen jetzt komisch findest, hättest du mich besser nicht heiraten sollen.»

«Wie lautet denn der Name deines Auszubildenden?»

«Hä? Was ist das schon wieder für eine Frage?»

«Nun sag schon!»

«Dennis – so heißt der Blödmann.»

«Nein, ich meine den Nachnamen!»

«Den Nachnamen? Hölzenbein – Dennis Hölzenbein – der Name passt eigentlich ganz prima zu dem Vollpfosten. Oder hast du daran etwas auszusetzen?»

«Nein gar nicht – hier steht nur diese seltsame Überschrift im Sportteil aus dem Juni.»

«Was ist daran seltsam? Nun rück schon raus mit der Sprache!»

«GRABOWSKI UND HÖLZENBEIN REISEN ZUR BEERDIGUNG BERGERS»

«Bitte was?»

«Ja, genau das steht hier, deine Angestellte heißt doch Grabowski oder etwa nicht?»

Berger legte das iPad aus der Hand, stand auf, kurvte um den Küchentisch und blickte wortlos über die Schulter seiner Frau in die Zeitung. Tatsächlich, in einer knappen Meldung berichtete die FAZ, dass Bernd Hölzenbein und Jürgen Grabowski, beide WM-Helden von 1974 und Sportrepräsentanten der Frankfurter Eintracht, zum Begräbnis des verstorbenen Trainers Jörg Berger gereist waren.

«Eine gruselige Namensgleichheit – oder etwa nicht?», fragte Dorothea und sah ihn dabei an, als hätte er soeben den Fährmann am Styx bezahlt, der ihn in Bälde in das Reich der Toten überstellen würde.

«Ein blöder Zufall, außerdem sind es ja andere Vornamen», konterte Berger.

«Das wäre ja der Gipfel, wenn die Vornamen auch noch übereinstimmen würden, dann wärst du höchstwahrscheinlich tot.»

Damit hatte sich das Frühstück erledigt, nicht nur der Stimmung wegen. Während seine Frau ins obere Stockwerk verschwand, um sich für den Kirchgang zurechtzumachen, stand er eine Weile konsterniert in der Küche, bis er entschied, das Geschirr in die Spülmaschine einzuräumen. Den Küchentisch hatte er just mit einem feuchten Tuch von den Toastkrümmeln und Kaffeeflecken befreit, als es an der Haustür klingelte. Sein Puls beschleunigte, sein nächtlicher Traum grüßte ihn wie ein unheilbringendes Déjà-Vu. Hatte er diese Szene nicht schon einmal exakt so erlebt? Verdattert trocknete er sich die Hände am karierten Geschirrtuch und wirkte wie eingefroren, als Dorothea aus dem Badezimmer herunterrief: «Gehst Du zur Tür? Jemand hat geklingelt.»

Zögerlich und lautlos schlich Berger in die Diele, näherte sich vorsichtig dem Hauseingang, spähte durch den Türspion. Er erschrak so sehr, dass er wie von einem Faustschlag getroffen zu Boden sank. Am ganzen Körper zitternd saß er auf den kalten Natursteinfliesen, kaute nervös an den Fingernägeln. Berger wollte es kaum wahrhaben: Vor seinem Haus standen zwei Männer in Lederimitatjacken, einer von Ihnen telefonierte mit einem Smartphone.

Was sollte er nun tun, fragte er sich verzweifelt. Bloß nicht die Tür öffnen, das war das Einzige, das ihm unverrückbar festzustehen schien.

Die Klingel tönte erneut, Dorothea keifte aus dem Schlafzimmer: «Was ist los? Gehst du nun hin oder nicht? Sonst mache ich es!»

Berger blickte ehrfürchtig zum Treppenaufgang, auf dem seine Frau im nächsten Augenblick zu erscheinen drohte. Dann starrte er zum schmiedeeisernen Schlüsselbrett hinüber, das gleich neben dem Eingang an der Wand hing. Sein Schlüssel fehlte, wo hatte er ihn gelassen?

Die Tür konnte er gar nicht öffnen – ohne den Hausschlüssel. Nachts wurde das Haus immer bis zum Anschlag verriegelt. Dorothea bestand darauf, sie könne sonst nicht beruhigt schlafen, seit Jahren wurde ihm das eingebläut.

Mühsam zog er sich an der kalten Türklinke hoch und äugte ein weiteres Mal durch den Spion. Der Smartphone-Typ hatte das Telefonieren eingestellt, filmte mittlerweile die Fassade des Hauses. Sein graubärtiger Kollege strich mehrmals mit beiden Händen über das Gesicht. Sympathisch sieht anders aus, sagte sich Berger.

Wie eine aufgescheuchte Heuschrecke sprang er plötzlich zur Garderobe herüber, suchte fieberhaft nach dem Schlüssel. Nicht, dass er ihn versehentlich am vergangenen Abend außen an der Haustür hatte stecken lassen, als er vom Wochenendeinkauf heimgekehrt war. Dieses Missgeschick passierte schon einmal ein paar Wochen zuvor. Dorothea hatte ihm daraufhin die Hölle heiß gemacht.

Es klingelte abermals. «Was ist los, bist Du taub? Ich komme jetzt runter und mache selbst auf!», brüllte seine Gattin. Berger hörte bereits ihre entschlossenen Schritte im Flur des oberen Stockwerks. In seiner Verzweiflung griff er nach Dorotheas Handtasche am Garderobenhaken, um ihren Hausschlüssel zu verwenden – denn irgendetwas musste er unternehmen.

Berger staunte nicht schlecht, als ihm die knallrote, kalbslederne Designertasche bleischwer aus den Händen glitt und dumpf auf dem Dielenboden aufschlug. Er bückte sich, zog den endlos langen Reißverschluss auf und hielt fassungslos den Atem an. Ein blankes Rohr, ein Stück Edelstahl mit der Aufschrift ‚Smith & Wesson‘ bleckte ihm aus dem türkisen Stofffutter entgegen. Berger bugsierte einen mächtigschweren Revolver hervor, legte ihn behutsam auf die Steinfliesen. Seit wann trug seine Ehefrau eine Waffe bei sich? Von Neugier und Entsetzen angestachelt, durchwühlte er nochmals die Tasche und entdeckte neben einer Packung mit zwanzig Schuss Munition auch ein unverschlossenes, braunes Kuvert. Darin steckten zwanzig 500-Euro-Scheine – exakt zehntausend Euro.

Für jeden Schuss ein Schein, dachte Berger, als es zum vierten Male klingelte und Dorothea wutentbrannt die Treppe hinunterstolperte.