Seitenwind 2024 beginnt! 1. Teil

„Was war das für ein Knall?“, fragte seine Frau mit schriller Stimme.
Herr Berger konnte erstmal gar nichts mehr sagen. Er löste seine Krawatte, denn durch langsam aufsteigende Panik bekam er immer schlechter Luft.
„Vielleicht sollten wir die Polizei lieber nicht rufen, Schatz.“ Seine Frau lief auf und ab, stolperte und konnte sich gerade noch rechtzeitig fangen. „Ich weiß ja nicht, was die Männer von dir wollten. Und wenn wir jetzt die Polizei rufen, werden wir vielleicht in irgendwas mit reingezogen, was unsere Existenz bedrohen könnte. Unser schönes Leben, das wir uns mühsam aufgebaut haben, nächste Woche wollen wir auf die Malediven, da hast du dich doch auch so drauf gefreut.“
Jetzt drehte sich alles im Kopf von Herrn Berger. Schnell nahm er auf seinem Sessel Platz und schloss die Augen. Die Malediven, dachte er. Die Malediven. Weiße Strände, rotes Blut, köstliches Essen, tote Menschen. Doro redet irgendwas, sie soll bitte leise sein, überall Blut, Polizei, leckere Cocktails an der Poolbar. Frauen mit großen Brüsten in knappen Bikinis beobachten, Gefängnis.
Herr Berger konnte nicht mehr klar denken. „Ja Schatz, lassen wir das erstmal mit der Polizei, du hast Recht.“ Er öffnete seine Augen, Dorothea war verstummt. Und sie war auch nicht mehr zu sehen. „Doro?“ Herr Berger erhob sich nun aus seinem Sessel, besser gesagt, er versuchte es. Sofort fiel er wieder zurück. „Do-ro-the-a“, schrie er nun fast und Panik breitete sich in ihm aus. Stille. Stille, die Herr Berger eigentlich so liebte. Er war stolz auf sein privilegiertes Leben, wenn er auch nicht zu den oberen 10.000 gehörte, so hatte er es dennoch zu einigem Wohlstand gebracht. Aber nun legte sich diese Stille bedrohlich auf sein aufgeregtes Herz und ließ es immer schneller schlagen.
Ich kann nicht aufstehen. Mir wird immer schwindeliger. Dorothea ist hoffentlich nicht auf die Straße gegangen und hat sich das Blutbad da draußen angesehen.
„Dorolein, jetzt sag doch was. Ich kann hier nicht aufstehen, ich brauche deine Hilfe, Schatz.“
Bestimmt wird sie jetzt gleich mit einem Glas Wasser zu mir kommen. Wahrscheinlich sucht sie nur meine Blutdrucktabletten. Und im Badezimmer kann sie mich von hieraus natürlich nicht hören. Sie wird nicht auf die Straße geschaut haben. Sie ist viel zu ängstlich, sie schaut ja sonntags noch nicht mal den Tatort mit mir.
Einmal versuchte Herr Berger es noch. „Doro“. Stille, keine Dorothea. Auch von draußen war nichts mehr zu hören. Hätte nicht schon längst die Polizei vor Ort sein müssen, auch wenn seine Frau sie nicht gerufen hatte und er auch nicht? Hier gibt es doch so viele aufmerksame Nachbarn, dachte sich Herr Berger. Irgendwas stimmt hier nicht.

Zusammenfassung

Dieser Text wird ausgeblendet

»Zwei Männer, sagten Sie?« Der deutlich jünger aussehende der beiden Beamten mischte sich in die Befragung ein. »Und er hat alles mit seinem Smartphone aufgezeichnet?«
»Genauso war es, wie ich Ihnen bereits mehrmals gesagt habe.« Richard schürzte die Lippen und zog eine Augenbraue hoch.
»Entschuldigen Sie uns für einen kurzen Moment?« Der andere Beamte, der deutlich größer und leicht untersetzt war, packte den Kollegen am Arm und zog ihn in Richtung der Streifenwagen. Sie gingen ein paar Schritte, ehe er das Wort an seinen zugeordneten Neuling richtete.
»Ich führe hier die Befragung durch, ist das klar?« Eine Ader auf der rechten Seite von Eriks Stirn trat hervor und begann zu pochen.
»Jetzt mal ehrlich, da stimmt doch was nicht.«
»Jan.« Erik atmete geräuschvoll ein. Sein Blick wanderte über Jans Schulter zu den Gesichtern der Schaulustigen, die sich in der Zwischenzeit ein paar Meter hinter den Wagen angesammelt hatten. »Tu’ mir bitte einen Gefallen und kontrollier’ die Absperrung.«
»Aber…«
»Los, beweg’ dich.«
Er sah Jan nach, der sich fluchend von ihm entfernte. Seine Worte hörte er nicht, da seine volle Aufmerksamkeit auf einen jungen Burschen gerichtet war, der eine schwarze Schiebermütze trug. Tief ins Gesicht gezogen. Er beobachtete Erik. Markant schien nur eine Narbe am Kinn zu sein, sowie ein Muttermal unter dem linken Auge. Sie sahen sich einen Moment lang an. Der Mann zog einen Mundwinkel nach oben und drehte sich um. Langsam hob er eine schwarze Kapuze über seine Mütze und marschierte in die entgegengesetzte Richtung des Tatorts. Jetzt war es Erik möglich, den knielangen Mantel zu sehen, der sich sanft im Wind bewegte.
Hätte sich der 54-Jährige heute nicht freiwillig zum Dienst gemeldet, könnte er in diesem Augenblick seinen wohlverdienten Urlaub genießen. Sein Gefühl sagte ihm, dass dieser Fall alles, nur nicht gewöhnlich werden wird. Außerdem bereute er die Entscheidung für das Ausbildungsprogramm der Frischlinge. Warum hat er sich bloß dazu überreden lassen.
»Ich bin zu alt für diesen Scheiß«, murmelte er vor sich hin. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er nochmal die Menschenmenge und führte im Anschluss die Befragung fort.

Paradoxerweise gab es keine weiteren Zeugen, die etwas gehört oder gesehen hatten. Selbst wenn alle Anrainer dem Sonntagsgottesdienst beiwohnten, musste doch irgendjemand irgendetwas mitbekommen haben. Erik gab es nicht gerne zu, aber Jan hatte recht …

Zehntausend Euro
Fortsetzung von Berndibus

„Was ist denn passiert? Und was war das für ein Knall?“, wollte seine Frau wissen. Richard Berger antwortete ihr ungläubig: „Vor unserer Haustür hat sich gerade jemand erschossen!“ Seine Frau sah ihn entsetzt an und schrie kurz auf. Dann reichte sie ihm den Telefonhörer und meinte „Mach Du das bitte, ich kann das jetzt nicht.“

Sie ging zum Küchenfenster und sah vorsichtig nach draußen. Zunächst konnte sie niemanden sehen, bis sie den leblosen Körper auf dem Weg vor ihrer Haustür bemerkte und erneut einen kurzen schrillen Schrei ausstieß. Die Polizei traf ungefähr fünfzehn Minuten später ein. Die Streifenbeamten verständigten umgehend die Mordkommission und die Spurensicherung.

Hauptkommissar Ernst Wagenbrink steigt weitere zwanzig Minuten später aus seinem Dienstwagen und sieht sich um. Eine Reihenhaus-Siedlung im Westen Frankfurts, zwischendrin ein paar Architekten-Bungalows. Die Hecken aus Kirschlorbeer oder Liguster sauber gestutzt, die Vorgärten gepflegt mit Zierkies-Wegen angelegt. Hier und da eine Überwachungskamera oder Alarmanlage, aber nichts Protziges. Als Krimineller konnte man dennoch annehmen, dass es hier etwas zu holen gibt.

Die Bergers saßen in ihrem geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer mit hellen, freundlichen Echtholz-Möbeln, als sich Wagenbrink zu ihnen auf einen der Sessel setzte. „Ich hoffe, sie konnten sich inzwischen etwas beruhigen. Ihnen beiden ist ja zum Glück nichts passiert. Schildern sie mir bitte genau, wie das ganze abgelaufen ist.“, fordert der Kommissar sie mit ruhigen aber bestimmten Worten auf. Richard Berger schaute zu seiner Frau und musste sich kurz sammeln, dann begann er mit dem Läuten an der Haustür und berichtete, was bis zum Selbstmord des fremden bärtigen älteren Mannes geschah. Nachdem er geendet hatte, blickten die Eheleute den Kommissar erwartungsvoll an.

„Sie werden es wahrscheinlich nicht glauben, aber dies ist bereits der dritte Vorfall dieser Art, den wir registrieren müssen“, begann dieser nach kurzem Zögern. Richard und Dorothea Berger blickten sich an, um dann den weiteren Ausführungen Wagenbrinks gespannt zu folgen. „Nur mit großer Mühe, konnten wir bisher verhindern, dass etwas davon in die Presse gelangt ist. Der Ablauf ist in etwa immer der gleiche - so wie bei Ihnen“, fuhr der Kommissar fort. „Wir haben einen Fall in Königstein und einen weiteren in Bad Homburg - drei Selbstmorde vor den Haustüren von unbescholtenen Bürgern. Es geht immer um einen größeren Geldbetrag, den die Selbstmörder fordern. Dabei filmt ein jüngerer Mann die Szene mit einem Smartphone. Den Betroffenen ging es jeweils so wie Ihnen, Herr Berger, sie hielten das Ganze für einen schlechten Scherz, bis die Männer - und es waren in allen drei Fällen ältere Männer - tatsächlich geschossen haben.“

„Das ist ja entsetzlich, aber was steckt denn dahinter?“, wollte Dorothea Berger wissen. „Das kann ich ihnen derzeit auch noch nicht sagen. Wir ermitteln in alle Richtungen und natürlich werden wir auch in ihrem Fall klären müssen, ob es irgendeine Verbindung zwischen ihnen und den beiden Männern gab.“, erwiderte der Kommissar.

„Und was ist mit dem jungen Mann, der gefilmt hat?“, schaltete sich Richard Berger ein. Wagenbrink holte tief Luft, bevor er fortfuhr. „Er ist, wie in den beiden anderen Fällen auch, wie vom Erdboden verschluckt. Die vage Beschreibung, die sie uns gegeben haben, stimmt annähernd mit denen der anderen Betroffenen überein. Insgesamt ist das Bild zwar sehr ungenau, aber wir gehen derzeit davon aus, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Und sie sind sich sicher, ihn nie vorher gesehen zu haben?“, wandte er sich jetzt direkt an Richard Berger. Dieser zögerte bevor er etwas stockend antwortete „Es ging alles so schnell, aber ich bin mir schon ziemlich sicher. Ach, wenn ich ihn mir nur genauer angeschaut hätte.“

An diesem Abend gingen die Bergers früh zu Bett und konnten doch beide lange Zeit nicht einschlafen. Zu aufreibend waren die Ereignisse des Tages gewesen. Morgen früh würden sie gemeinsam zur Polizei gehen und ihre Aussagen aufnehmen lassen. Richard Berger sah vor seinem geistigen Auge immer wieder den gleichen Film ablaufen. Wie er die Haustür öffnet, die beiden Männer sieht, die ungeheuerliche Forderung und Drohung hört, dann das Zittern des älteren und seinen verzweifelten Gesichtsausdruck, kurz bevor er abdrückt. Und schließlich den jungen Mann, wie er ihn anschreit: „Sie haben ihn umgebracht! Sie Schwein! Sie haben ihn umgebracht! Sie Kapitalist!“

Mit einem Mal fährt er aus dem Bett hoch. Seine Frau blickt ihn erschrocken an „Was ist denn, Richard?“, will sie wissen. Er antwortet mit weit geöffneten Augen „Ich glaube, ich habe den jungen Mann doch schon mal gesehen. Und jetzt weiß ich auch wo.“

Sie hatte jede Farbe im Gesicht verloren, starrte ihn ungläubig an, schien kaum zu atmen. Schliesslich holte sie tief Luft und keuchte: „Du hast nicht einmal gefragt!“

Berger wollte seine Frau in die Armen nehmen, sie war verwirrt, natürlich schockiert, er ja auch. Doch sie schreckte vor ihm zurück.

„Thea …“ Er wusste nicht weiter. „Die Polizei … wir müssen jetzt die Polizei rufen!“ Er wandte sich ab, holte sein Mobiltelefon und wählte den Notruf. Er nannte seinen Namen, gab die Adresse durch und erklärte in knappen Worten, dass sich ein Mann vor seiner Haustür erschossen habe.

Auf die Frage, ob dieser denn noch lebe, meinte er, dass das wohl unmöglich sei. Nachdem ihm versichert wurde, dass eine Patrouille zu ihnen unterwegs sei, sah er zu wieder seiner Frau.

Sie hatte sich nicht bewegt. Nur ihre Augen schienen von der Erstarrung ausgeschlossen. Er meinte, pures Entsetzen darin zu sehen.

„Bitte Thea, komm, wir setzen uns ins Wohnzimmer, bis die Polizei da ist. Wir wissen ja nicht, was der andere Mann da draussen macht. Der scheint ja völlig durchgeknallt zu sein. Einer von der extrem linken Sorte.“

Dorothea löste sich aus ihrer Starre, wiederholte ihre Worte, doch diesmal mit deutlich erkennbarem Vorwurf: „Du hast nicht einmal gefragt!“

„Was meinst Du denn damit?“ Berger verstand absolut nicht, was in seiner Frau vorging. „Was hätte ich denn Fragen sollen? Der Mann wollte einfach Geld von mir – zehntausend Euro!“ Die Situation überforderte ihn, alles schien so surreal. „Thea, ich …“ Wiederum suchte er nach Worten, doch sie wandte sich von ihm ab, stieg die Treppe hoch und verschwand im Badezimmer.

Nachdem die Polizei die Einvernahmen durchgeführt hatte, die Spurensicherung ihre Arbeit beendet und der Tote ins Leichenschauhaus abtransportiert wurde, breitete sich eine erdrückende Stille aus.

Berger sass total erschöpft auf dem Sofa, die Krawatte hatte er längst gelöst, hing ihm schief um den Hals.

Thea sass ihm gegenüber auf einem Sessel und betrachtete ihre Fingernägel. Inzwischen zeigte sich wieder etwas Farbe auf ihren Wangen, doch schien sich ihre Stirnfalte nicht mehr lösen zu wollen. „Ich habe es Ihnen gesagt!“

Berger schreckte aus seinen Gedanken, blickte seiner Frau verwundert in die Augen. „Was meinst Du?“

„Du hast nicht einmal gefragt!“ Wiederholte sie wieder und betrachtete seine Krawatte. „Ein finanzieller Verlust an der Börse scheint kein Problem für Dich, doch ein finanzieller Verlust um ein Leben zu retten…“ Sie liess den Satz offen, er wusste auch so, was sie andeutete.

„…und Du hast nicht einmal gefragt! Kein Mitgefühl? Keine Nächstenliebe?“ Mit diesen Worten stand sie auf. Sie sah auf ihn herab und ihr Blick schien ihn zu durchbohren: „Du hast diesen verzweifelten Mann nicht einmal gefragt, wofür er das Geld so dringend braucht!“

Berger lehnte mit dem Rücken an der Tür. Seine Beine drohten den Dienst zu verweigern. Er konnte nicht glauben, was er gerade gesehen hatte. Ohne sich von seiner Stütze zu lösen, drehte er seinen Kopf und wagte er einen Blick durch den Spion. Da lag tatsächlich der alte Mann in seinem liebevoll gepflegten Vorgarten. Gerade gestern hatte Berger noch den Kies durchgeharkt und die abgefallenen Blütenblätter der japanischen Säulen-Zierkirschen mit dem Laubbläser vertrieben. Einige Äste gestutzt, um die Symmetrien wieder herzustellen. Nun färbte das Blut die Kieselsteine auf nur einer Seite des Plattenweges, der Zierbrunnen war rot-grau besprenkelt. Es war ein grausamer Anblick.

Berger sank auf den Boden. Der jüngere Mann war nicht mehr zu sehen gewesen. War er weg? Oder nur nicht mehr im Blickfeld? Saß er womöglich auch auf dem Boden? Rücken an Rücken mit ihm, nur getrennt durch die Bleche der Aluminiumtür? Berger erschauderte bei der Vorstellung.
Das Schrillen des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Er hörte seine Frau aus dem Wohnzimmer:
„Natürlich nicht.“

„Aber er kannte ihn ja nicht mal!“

„Damit hätte doch keiner rechnen können!“

„Woher weißt Du das eigentlich?“

„Oh Gott.“

Dann war es still im Haus. Bis Bergers Frau aus dem Zimmer kam, das Telefon in der Hand, den Kopf irgendwie schief auf den Schultern. Sie sagte mit tonloser Stimme: „Alle wissen es. Louisa sagt, sie hat Dich im Internet gesehen. Unser Haus. Unseren Vorgarten.“
Das Video war also live gestreamt worden. Berger versuchte, sich zu sortieren. „Schalt mal auf Lautsprecher!“ herrschte er seine Frau an.
„Wo? Auf welcher Plattform?“
„Einfach überall! Es geht gerade viral. Du bist so peinlich, Papa.“
„Wo bist Du?“
„Mit unserem Kajak auf dem Schwedlersee. Und da werde ich auch bleiben. Für immer. In die Schule kann ich nie wieder und bei den ScissorClosers brauche ich mich auch nicht mehr blicken zu lassen. Danke dafür!“

Die ScissorClosers, diese unsägliche Bande halbstarker Postkommunisten! Bildeten sich ein, sie könnten mit Aktionen wie Sitzblockaden oder Fassadenklettereien an der Deutschen Bank die angebliche Schere zwischen Arm und Reich verkleinern. Früher hat man mit dem Moped schwarze Kreise auf den Asphalt gemalt, wenn die Hormone überschossen. Das einzig Hilfreiche gegen Armut wäre, wenn sich diese Menschen am Riemen reißen und ihre Arbeitsscheu ablegen würden. Wenn seine Tochter mit diesem Gesocks keinen Umgang mehr hätte, würde die Aktion in seinem Vorgarten wenigstens nachträglich einen Sinn bekommen. Okay, vor einer Woche war ihm der Kontakt noch ganz recht gewesen, gab ihm Gelegenheit für eine kleine Wohltätigkeitsveranstaltung. Ein paar vegane Snacks (von seiner Frau) und Einladungen mit woken Sprüchen (von seiner Tochter) reichten schon, um sie auf ihren Lastenrädern herzulocken. Von den Eintrittsgeldern hatte er die Zutaten für die Häppchen, die Druckkosten und sein Outfit für den Abend abgezogen. Louisa hatte zur Bedingung gemacht, dass er nicht in seinen üblichen Klamotten dort auftaucht. In der Begründung kam das Wort ‚peinlich‘ vor, wie so oft. Danach war nicht viel übriggeblieben. Das war akzeptabel, fand Berger. Denn der eigentliche Zweck des Abends war ein anderer. Charity steht für soliden Geldadel und er arbeitete daran, endlich das Image des Neureichen loszuwerden. Huffinger hatte ihn so genannt, auf der Eröffnungsfeier des neuen Clubhauses im Jachthafen. Hinter vorgehaltener Hand zwar, aber Berger hatte es mitbekommen. Und es nagte an ihm. Um nie wieder eine solche Erniedrigung erleben zu müssen, hat er sich bei der Eröffnungsrede seines Events sogar zu Aussagen zur gerechteren Verteilung von Vermögen und zu einer möglichen, wenn nicht sogar längst überfälligen Änderung der Erbschaftssteuer, hinreißen lassen. Wieder erschauderte er.

Von draußen war jetzt Stimmengewirr zu hören, eine Polizeisirene näherte sich. Berger öffnete die Tür. Genau wusste auch er nicht, warum er das tat. Wie in Trance nahm er die zig Handys wahr, die auf ihn gerichtet waren. Von den wütenden Rufen, die ihm entgegenschallten, bohrte sich nur einer seinen Weg bis in Bergers Bewusstsein: „Scheiß geizige Neureiche!“ Da war es wieder, das Wort.
Er würde diesen Geruch nie loswerden. Egal, was er tat. Eine Welle des Mitleids durchflutete ihn. Berger ließ den Kopf hängen, er schaute an sich herab. Seine Frau hatte ihm beim Anzugkauf im letzten Thailandurlaub zu einer leichten Überlänge der Hosenbeine geraten. So wenig, wie man von seinen Schuhen noch sah, gingen sie locker als Maßschuhe durch. Das blassblaue Hemd, das heute Morgen für ihn herausgelegt war, passte vielleicht nicht ganz so gut zu der Krawatte. Aber die konnte er schließlich nur sonntags tragen, wenn er nicht im Reisebüro war. Seiner Frau und dem lieben Frieden zuliebe tat er das konsequent. Jeden Sonntag. Heute. Letzte Woche.
Und auf einmal verstand er, was passiert war. Und warum.

© Tacheles

Kurz vorher…
Der Graubärtige nimmt einen langen Zug von seiner schon zur Hälfte aufgerauchten Zigarette und wischt sich danach mit dem Handrücken derselben Hand über die schweißnasse Stirn: „Was, wenn es nicht funktioniert? Was, wenn er das Geld nicht rausrückt?“
Er tritt von einem Bein auf das andere.
„Ey, das hat schon viermal funktioniert. Wieso sollte es jetzt schief gehen?“ Der jüngere nimmt einen Schluck von seinem Flachmann. „Willst du auch nen Schluck?“
„Ronny, jeder weiß, dass der Berger ein alter Geizkragen ist. Dagegen waren die alte Müller und der verbitterte Stephansky noch einfach zu handhaben. Von den anderen beiden Pfeifen ganz zu schweigen.“ Er nimmt noch einen nervösen Zug.
„Ach komm. Einmal musst du es noch schaffen und dann bekommst du eine Million! Ich filme alles und wenn er ja sagt, ist es sofort für dich entschieden. Alle schauen zu und wissen sofort Bescheid.“
„Und wenn er nein sagt, dann muss ich abdrücken. Das ist dir doch klar. Dann ist der Deal gestorben“
Ronny zuckt mit den Schultern und lässt seinen silberglänzenden Getränkespender in der Jackeninnentasche verschwinden. „Immerhin hast du dann vierzigtausend Piepen zusammengekratzt. Das reicht doch schon für den nächsten Klon von dir. Und wenn es doch klappt, bist du reich! Also wir! Außerdem ist der Wetteinsatz viel zu hoch. Du weißt, was passiert, wenn du kneifst.“ Er klopft Gregor auf die Schulter und sagt in einem auffordernden Ton: „Auf gehts.“
Er schnippst seine Kippe auf die Straße: „Also los.“

Wenig später…
„Glauben Sie mir, ich habe ihn nicht umgebracht. Sie müssen den jungen Mann finden. Er hat alles auf Video.“ Berger fuchtelt dabei aufgeregt mit den Händen.
„Sie wollen mir allen Ernstes erzählen, dass er sich selbst umgebracht hat. Einfach so, weil er keine zehntausend Euro von Ihnen bekommen hat.“ Die Kommissarin stemmt die Hand in die Seite.
„Es ist so, wie ich Ihnen sage.“ Beharrt Richard Berger auf seiner Aussage.
„Alles klar. Wir nehmen die Leiche mit und reinigen Ihren Vorgarten. Ich habe alles aufgenommen. Wir melden uns bei Ihnen.“
Geschäftiges Treiben herrscht vor der Tür, der bärtige Mann ist bereits in einem Leichensack verstaut, zwei Polizisten verladen diesen in einen Transporter. Zwei andere schwarz gekleidete Personen wischen das Blut von den Gehwegplatten.
Obwohl der Vorgarten nicht dem eines Millionärs entspricht, ist er trotzdem schwer einsehbar. Rundherum wachsen, nahezu blickdicht, hohe Büsche und Bäume. Es ist der ganze Stolz von Hobbygärtner Richard Berger, der sich in diesem Moment wünschte, die Gewächse würden nicht da stehen, damit die neugierigen Nachbarn etwas mitbekommen hätten.
Als der Einsatztrupp verschwunden ist, sagt Dorothea das, was ihr Mann denkt: „Da stimmt etwas nicht.“

Doch seine Frau Dorothea war weg. Seine große Liebe, die er beim letzten Urlaub in Südamerika kennen gelernt hatte, war verschwunden. Damals sprang sie neben ihm auf die Rücksitzbank des Taxis. „Küss mich, oder sie werden mich töten,“ erklärte sie hastig, bevor sie ihre Lippen auf seine presste. Es war ein leidenschaftlicher Kuss. Erst später fand er heraus, dass sie wirklich geflohen war und ihn nur zur Ablenkung benutzen wollte. Doch es funkte zwischen ihnen und Richard nahm Dorothea mit nach Frankfurt. Das lag zwei Jahre zurück. Zwei Jahre voller Glück und jetzt lag ein toter Mann vor der Haustür, der sich selbst erschossen hatte und ein anderer hatte alles gefilmt.
Panik stieg in ihm auf. Alles gefilmt. Wenn seine Kunden dieses Video zu sehen bekamen, dann konnte er gleich ein Geschlossen-Schild an die Tür hängen. Andererseits die meisten seiner Kundschaft waren über 70. Viele wussten nicht mal, was Internet ist. Ansonsten würden sie online die Reisen buchen. Was sollte er nur tun?
Da hörte er einen weiteren markerschütternden Knall. Es war so laut, dass er zusammen zuckte.
Dann folgte Stille.
„Schatz, mach die Tür auf?“ Richards Augen weiteten sich. Das war die Stimme seiner Frau. Sie kam von draußen. Vorsichtig, fast in Zeitlupe wandte er sich wieder der Tür zu. Erst öffnete er sie nur einen Spalt. So viel, dass er durchsehen konnte. Zwei Meter vor der Tür stand Dorothea. In der Hand hielt sie die Schrotflinte, die sie sich von ihm zum Geburtstag gewünscht hatte. Er erkannte das Gewehr, an der „Ich liebe Dich“ Inschrift.
Direkt vor der Tür lag neben dem Selbstmörder der Kameramann auf dem Bauch. Aus den Einschusslöchern im Rücken sprudelte das Blut wie aus kleinen Vulkanen. Völlig von der Situation überwältigt starrte Richard seine Frau an, dabei öffnete er die Tür und trat einen Schritt heraus.
„Was hast du gemacht?“, fragte er geistigabwesend.
„Ich kenne diese Typen. Es ist eine neue Masche, Menschen um ihr Geld zu bringen. Sie nehmen einen armen Penner von der Straße und benutzen ihn als Köder für dieses kranke Geschäft.“
„Aber…Aber er hat sich selbst erschossen. Ich habe es gesehen!“, stotterte Richard ungläubig und wies auf den Toten.
„Der Arme wäre sowie so tot gewesen.“ Sie wandte sich um und zeigte mit der Flinte zur Hofeinfahrt am Gartentor vorbei, wo ein schwarzer Mercedes mit getönten Fenstern parkte.
„Wenn er es nicht gemacht hätte, dann hätten sie es getan. Aber keine Angst, Schatz. Ich habe mich auch darum gekümmert.“
Immer noch starrte Richard seine Frau an. Er war sich nicht sicher, ob er Angst vor ihr haben sollte oder einfach nur Stolz auf sie war. Immerhin hatte sie ihn und sein Geschäft gerettet. Diese Kerle hätten nie aufgehört, von ihm Geld zu verlangen.
Lässig mit der Waffe in der Hand kam Dorothea auf ihn zu. Ihr blondes Haar wehte leicht im Wind. Der dunkle Hosenanzug saß perfekt, obwohl sie den Typen im Wagen aus nächster Nähe ausschalten musste. Einzig, auf der weißen Bluse waren winzige Blutflecken zu sehen. Sie stieg über die beiden Leichen hinweg, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Stattdessen gab sie ihrem Mann einen liebevollen Kuss auf die Wange. Er fühlte die sanften, warmen Lippen auf der Haut. Kaum zu glauben, dass diese Frau gerade drei Männer erledigt hatte.
„Niemand, jagt meinem Schatz einen Schrecken ein und schon garnicht nimmt man uns unser Geld;“ flüsterte sie ihm leise ins Ohr.„Du bist die Beste, mein Liebling!“ Er lächelte sie verliebt an. Dann wurde sie wieder ernst. „Leider müssen wir den Kirchgang verschieben. Diese Typen arbeiten für große Clans. Es werden weitere kommen. Und die spießigen Nachbarn haben bestimmt schon die Polizei gerufen. Wir müssen verschwinden!“
„Mit Dir gehe ich überall hin. Aber meinen Wagen können wir nicht nehmen, den suchen sie als erstes“, stellte Richard fest. Dabei beugte er sich zu dem Toten herunter und nahm ihm das Handy ab. Dorothea überlegte kurz. „Ich wollte schon immer mal Mercedes fahren!“

„Die Polizei?“
Dorotheas Schritte polterten die Kellertreppe wieder herauf.
„Aber warum denn?“ Fragte sie mit den Armen voller Dinge und streckte ihren Kopf aus dem Türspalt.
Berger stemmte sich mit dem Rücken gegen die verschlossene Haustür, als wollte er ein Ungeheuer aussperren. Sein Mund öffnete und schloss sich. Doch es kam kein Ton heraus. Dorothea fühlte sich an die Kois im Gartenteich erinnert.
„Was hast du?“
Sie klemmte die Last unter einen Arm und schlug mit der freien Hand auf den Lichtschalter. Beim Anblick ihres Mannes plumpsten Richards Gore Tex, ihre Stiefeletten und der Regenschirm zu Boden.
„Oh mein Gott! Ist es wieder das Herz?“
Hektisch kreischten die Füße des Hockers über den Steinboden.
„Setz dich.“
Das dicke Polster stöhnte leise unter Bergers Gewicht. Er lehnte sich gegen die Wand und schloss für einen Moment die Augen.
„Du brauchst frische Luft.“ Sagte seine Frau und griff nach der Klinke.
„Nein! Nicht!“ Er schrie beinahe.
„Ist kein schöner Anblick.“ Setzte Berger ruhiger hinzu.
„Ist ja gut, schon gut.“
Dorothea Berger hob ihre Arme, als würde sie mit einer Waffe bedroht. Die Geste erinnerte ihn an die Geschehnisse auf der Treppe. Er schluckte trocken.
„Du musst die Polizei rufen, Jemand hat sich vor unserer Tür -“
Berger holte tief Luft, als wollte er einen Tauchgang wagen.
„- erschossen.“ Stieß er hervor.
„Wenn das einer deiner seltsamen Scherze sein soll -“
„Nein.“
Er richtete sich auf und stützte beide Hände fest auf die Knie.
„Nein. Leider nicht.“
Es klingelte.
Im Lichtausschnitt der Tür zeichneten sich die Silhouetten eines ungleichen Paares ab.
„Lass nur, ich geh schon.“ Sagte Dorothea etwas zittrig, als Berger Anstalten machte, sich zu erheben.
Ein Schwall kühler nasser Luft wehte die Gartennachbarn der Bergers herein.
„Tach auch, der Andi hat hat jemand bei euch an der Türe gesehen. An einem Sonntag! Um diese Zeit! Da kriegt ihr doch nie Besuch … Und dieses Auto! So eine kackbraune Schrottlaube und das Rücklicht ging auch nicht. Es hatte sogar eine Fehlzündung. Habt ihr das auch gehört? Um diese Zeit seid ihr doch immer in der Kirche. Und weil noch Licht war bei euch. Ich sagte Andi, wir müssen nach dem Rechten sehen. Gute Nachbarn kümmern sich doch, nicht wahr? Ist so weit alles in Ordnung?“ Sprudelte sie hervor.
Neugierig reckte die kleine Frau ihren Hals. Während sie sprach huschten ihre Augen flink in Bergers Diele umher, bereit jedes winzige Detail aufzusaugen.
„Ach, das ist aber lieb, Frau Spitzel.“ Brachte Bergers Frau heraus.
„Ute bitte. Wir waren doch schon beim Du.“
Feiner Regen setzte ein. Böiger Wind wehte ihn die Vortreppe herauf bis in den Flur.
„Danke, dass ihr so gut auf uns achtgebt. Da fühlt man sich gleich -“
„Nicht dafür, meine Liebe. Wir haben die Nachbarn immer im Blick. Man liest ja so viel und es macht doch keine Mühe. Nicht wahr, Andi?“ Fiel ihr Ute ins Wort.
Der Hocker seufzte erleichtert, als Berger sich mit neuer Energie erhob. Er quetschte sich an seiner Frau und den Spitzels vorbei, um hinaus zu spähen.
„Kommt erstmal aus der Tür. Du auch Richard.“ Rief Dorothea und sperrte das feuchte Wetter aus.
„Heute soll es den ganzen Tag wie aus Eimern schütten.“ Sagte Andi, bevor er seinen Schirm zum Trocknen aufspannte. Ein feiner Sprühregen vernebelte den großen Spiegel. Dorothea presste ihre Lippen zu einem geraden Strich.
„Wohin damit?“ Fragte der Nachbar.
„Hör auf! Du machst doch alles nass.“ Schimpfte seine Frau.
„Das ist jetzt auch egal.“ Murmelte Dorothea und musterte die schmutzige Pfütze, die sich um Utes quietschgelbe Gummistiefel gebildet hatte.
„Habt ihr da draußen niemand gesehen?“
„Bei dem Wetter lasst ihr doch euren Gast nicht draußen warten.“
Utes Augen wanderten die Stufen ins Obergeschoss hinauf.
„Was für ein Gast?“ Fragte Dorothea.
„Also der Andi sagte, es wären zwei Männer an eurer Tür gesehen…“ Antwortete Ute mit einem Seitenblick auf ihren Mann.
Andreas Spitzel hob die Schultern.
„Außer uns ist niemand hier.“
„Aber Andi-“
„-irrt sich. Auch wenn ich kein derart reges Interesse an fremden Angelegenheiten habe, was in meinem Haus vorgeht, das weiß ich ganz sicher.“ Sagte Dorothea bestimmt.
Ute Spitzel holte tief Luft. Doch Berger kam ihrem Redeschwall zuvor.
„Da war wirklich niemand? Auf dem Boden vor der Treppe?“
Entgeistert starrte Andi auf Berger hinunter.
„Ach was, das ist nur einer von Richards merkwürdigen Scherzen.“ Sagte Dorothea und kniff in Bergers Arm.
„Richtig, blöder Scherz. Ihr hättet ihn ja sehen müssen, als ihr gekommen seid.“ Sagte Berger schnell. Er schloss den Schirm und drückte ihn in Andis Hand.
„Lieben Dank für eure Sorge. Aber ihr seht selbst, es ist alles in bester Ordnung.“
Dorothea öffnete die Tür.
„Wir wollten ohnehin gerade gehen. Schade, dass die Nachbarschaft unser Engagement nicht zu schätzen weiß. In Zukunft kümmern wir uns nur noch um unsere eigenen Angelegenheiten.“ Schnappte Ute bissig.
„Wer es glaubt.“ Murmelte Berger.
Die Regenrinne am Vordach lief über und das Wasser pladderte zu beiden Seiten der Haustür auf den Boden. Sie sahen den Spitzels nach, bis sich der Regenvorhang hinter ihren Ostfriesennerzen schloss.
„Was ist eigentlich in dich gefahren?“
Eine steile Falte furchte Dorotheas Stirn.
„Jemand hat sich vor unserer Tür erschossen? Und wo ist er hin?“
„Ich weiß nicht. Ich habe keine Erklärung dafür.“
Verwirrt sah Berger sich um. Sein Blick fiel auf den Briefkasten. Die Sonntagszeitung hing zerfleddert aus dem Briefschlitz. Die obere Hälfte war durchweicht vom Regen. Er zog sie vorsichtig heraus. Als er die matschige Rolle in der Diele öffnete, fiel ein Smartphone heraus. DAS Smartphone.
Berger wich bis an die wand zurück, als wäre eine schwarze Mamba aus dem nassen Papier gekrochen.
„Dann werde ich wohl doch nicht verrückt.“ Sagte er leise.
Es war auf Vibration eingestellt. Der eingehende Anruf ließ es schnurrend über die Fliesen tanzen.
„Soll ich rangehen?“ Fragte Dorothea.

Natürlich fiel der Kirchgang aus. Als die Polizisten das Haus verlassen hatten, die Spurensicherung ihre Arbeit verrichtet hatten und die Leiche abtransportiert war, zeugte nur noch der große Blutfleck auf der Treppe und zwei vor Aufregung zitternde Menschen von dem Geschehen.
Auf der Polizeistation rätselte man über das inzwischen zugespielte Video des Tatverlaufs. Es stammte vom Handy einer 83-jährigen Dame aus dem nahen Altenheim. Sie war beginnend dement und konnte der Polizei nicht helfen. Nur eine Pflegerin sagte, sie habe den Kontakt zu ihrer Enkelin in den USA vor wenigen Tagen verloren. Das Telefon sei weg.
Was auf dem Video zu sehen sein würde, stürzte Berger in größte Sorge. Seine Bürgermeisterkandidatur war damit sicher hinfällig. Aber das Ganze war ihm völlig rätselhaft. Willkür? Plan? Er war zutiefst aufgewühlt und merkte gar nicht, wie seine Frau sich in die obere Etage begab. Erst ein Schuss dort oben riss ihn aus seinen Grübeleien.

„Warum soll ich das?“
„Vor der Tür hat sich jemand erschossen.“
„Erschossen?“, fragte Dorothea ungläubig.
„Ja, erschossen.“
„Lautlos? Da hätte ich doch etwas hören müssen“, antwortete sie misstrauisch. „Lass mich mal sehen.“ Zielstrebig und entschlossen ging sie zur Tür.
„Du kannst jetzt nicht die Tür aufmachen.“
„Kann ich doch.“
„Kannst du nicht.“
„Ich will mich vergewissern, ob du noch alle Tassen im Schrank hast.“

Dorothea drängte sich an ihm vorbei, riss die Haustür auf und schaute um sich.
„Wo? Ich kann hier niemanden sehen.“

Richard trat einen Schritt nach vorn und schaute ungläubig. Er konnte es nicht fassen.
„Tatsächlich, niemand mehr da.“ Es klang fast etwas enttäuscht.
„Hast du etwas getrunken?“, fragte Dorothea sichtlich besorgt.
„Das ist wohl jetzt nicht dein Ernst, mich so etwas zu fragen. Es war real! Er hat sich vor meinen Augen eine Waffe in den Mund gesteckt und abgedrückt.“
„Ich glaube, ich rufe besser den Notarzt an. Vielleicht stimmt etwas mit deinem Kopf nicht, damit soll man nicht spaßen.“
„Mir geht es gut“, sagte Richard bestimmt.
„Wenn du nichts getrunken hast, dann hast du halluziniert, oder einen Tagtraum, das muss auch seine Ursachen haben.“
„Du hast doch auch die Glocke gehört.“ Dorothea schaute nachdenklich.
„Hab ich, ja.“
„Und wer hat geklingelt? Eine Halluzination?“ Dorothea schaute erschrocken.

„Die Polizei anrufen, hat sich hiermit erledigt. Den Notarzt, da landest du bestimmt nicht im Krankenhaus, sondern ganz woanders und das kann dann dauern und wenn ich noch bestätige, dass ich die Klingel gehört habe, dann nehmen sie mich auch gleich mit.“ sagt Dorothea niedergeschlagen.

„Und?.. Was machen wir jetzt?“, fragt Richard enttäuscht.

„Nichts, wir gehen jetzt in die Kirche und sprechen ein paar Gebete und vertrauen auf Gott.“

Teil 2

Der Kirchgang war nicht wie sonst: Schweigend gingen sie nebeneinander her. Dorothea beobachtete Richard aufmerksam, ließ ihren Blick nicht von ihm und suchte ihn nach Auffälligkeiten ab.
„Kannst du das bitte bleiben lassen?“, unterbrach Richard das Schweigen.
„Was soll ich bleiben lassen?“
„Du starrst mich an, als wäre ich verrückt“, sagte er mürrisch.
„Das, was du vorhin abgezogen hast, kann man ja auch nicht als normal bezeichnen, oder?“
„Lassen wir das jetzt. Schwamm drüber.“
„Okay, ich versuche es.“
Dorothea sagte kein Wort mehr, beobachtete Richard aber weiterhin, diesmal vorsichtiger, sodass er es nicht merkte. Richard wirkte nervös, seine Augen suchten etwas – doch was, wusste er offenbar selbst nicht. Es war spürbar, dass er Angst hatte.
Wenn das schlimmer wird, wäre ein psychiatrischer Beistand vielleicht eine gute Option, überlegte Dorothea. Vielleicht lenkt ihn der Gottesdienst doch ein wenig ab, hoffte sie. Doch Richards Verhalten in der Kirche verbesserte sich nicht wesentlich. Auch hier schaute er ständig um sich, als würde er etwas erwarten, und war nicht bei der Sache.
Auf dem Nachhauseweg das gleiche Verhalten.
„Wir müssen reden“, fing Dorothea an. „Du musst das irgendwie verarbeiten, und da hilft nur, darüber zu sprechen.“
Richard suchte wieder die Straße nach etwas ab, doch nach was genau, schien er selbst nicht zu wissen. Als sie ihrem Haus näher kamen, bemerkte Dorothea etwas Merkwürdiges.
„Du hast vergessen, das Licht auszumachen.“
„Was?“, fragte Richard in einem harschen Ton.
Im Wohnzimmer und in der Küche brannte Licht.
„Ich bin mir sicher, dass ich es ausgemacht habe.“
„Dann muss es wohl von selbst wieder angegangen sein“, entgegnete Dorothea mit einem sarkastischen Unterton.
Am Gartentor angekommen, blieb Richard kurz stehen, öffnete langsam das Tor – das natürlich nicht lautlos aufging und Dorothea die Bemerkung entlockte:
„Das könnte auch mal ein Tröpfchen Öl vertragen.“ Wurde von Richard nur mit Kopfschütteln und einer ärgerlichen Grimasse quittiert.
„Bleib hier stehen, ich gehe allein zur Tür“, sagte Richard leise.
„Bist du dir sicher?“
„Ja, ich bin mir sicher.“ Und einem genervten „mein Gott.“ Hinterher.
Richard schlich die paar Meter bis zur Haustür, was Dorothea äußerst belustigend fand. An der Tür angekommen, steckte Richard den Schlüssel vorsichtig ins Schloss, legte sein Ohr an die Tür und verharrte kurz. Plötzlich hämmerte er mit aller Wucht dagegen.
„Was soll das denn?“, sagte Dorothea und ließ ihn vor Schreck zusammenfahren.
Richard drehte sich zu ihr um und im ärgerlichen Tonfall.
„Ich hab dir doch gesagt, du sollst am Tor stehen bleiben!“
„Ich weiß, ich weiß, aber du schleichst dich hier wie ein Indianer durch die Gegend und trommelst dann wie verrückt gegen die Tür, wo bleibt denn hier die Logik?“
„Wenn Einbrecher im Haus sind, sollen sie die Gelegenheit haben zu fliehen.“
„Interessant.“
„Was ist interessant?“
„Deine Denkweise.“
Richard zog die Augenbrauen hoch und verdrehte die Augen.
„Jetzt mach schon auf.“
„Du rührst dich aber keinen Zentimeter hier vom Fleck, bis ich Entwarnung gebe.“
„Indianer-Ehrenwort“, sagte Dorothea mit einem belustigten Lächeln.
Dorothea hatte sich wieder gefangen, ihrem Mann schien es – zumindest körperlich – gutzugehen. Die geistige Verwirrung, die sie ihrem Mann anlastete, die auch Folge eines Gehirnschlags hätte sein können, konnte sie somit ausräumen.
„Du kannst reinkommen“, rief Richard vom ersten Stock herunter, „Alles in Ordnung, muss es anscheinend doch vergessen haben, auszuschalten.“
Dorothea war erleichtert, die kurze Aufregung mit dem Licht, hat ihm anscheinend gutgetan.

Richard hielt es aber nicht lange aus untätig im Haus zu sitzen. Noch während Dorothea mit der Polizei telefonierte, öffnete er die Tür behutsam einen Spalt breit und linste vorsichtig hinaus.
Der Mann, der sich in den Kopf geschossen hatte, lag immer noch der Länge nach ausgestreckt vor seiner Tür und färbte Richards Plattenweg langsam rot ein. Obwohl die ganze Angelegenheit schrecklich war, kam Richard nicht um die Erkenntnis herum, dass so ein roter Plattenweg wohl ein beeindruckender und erhabener Anblick bieten würde.
Da er den Mann mit der Kamera nirgends erblicken konnte, wagte er sich aus der Tür hinaus und schaute sich um, aber den Kameramann sah er nicht.
Da sein Garten von einer etwa mannsgrossen Mauer umgeben war (die gehörte einfach zu der etwas in die Jahre gekommenen, rosa gestrichenen Villa, die Richard von seinem Grossonkel mütterlicherseits geerbt hatte) konnte dieser zweite Mann aber auch schon auf die Strasse hinausgeflüchtet sein, wo ihn Richard nicht mehr sehen konnte.
Richard rannte zum seinem schmiedeeisernen Gartentor, dem einzigen Durchlass in seiner Mauer, und spähte auf die Strasse hinaus. Alles war wie immer. Halb auf dem Gehsteig parkte eine lange Reihe Autos (obwohl dort Halteverbot war), herbstliches Laub bedeckte den Boden, einige Krähen hockten in den kahlen Bäumen und krächzten heiser. Keiner seiner Nachbarn schien von dem Schuss Notiz genommen zu haben.
Der einzige Mensch auf der Strasse war ein alter Mann mit langem Bart, der eine orange Leuchtweste trug. Mit einem grossen Besen kam er, die Strasse fegend auf Richards Gartentor zu. Er ging dabei methodisch und gründlich vor und erinnerte damit ein wenig an den Strassenfeger aus Michael Endes Buch „Momo“. Schritt, Atemzug, Besenstrich. Schritt, Atemzug, Besenstrich. Schritt, Atemzug …
Richard hatte genug gesehen und kehrte in seinen Garten zurück. Er wollte gerade zur Haustür zurückkehren, vor der die Leiche noch immer vor sich hin blutete, als er einen kleinen Mann hinter dem Rhododendronstrauch seiner Frau kauern sah.
Der Mann hatte einen Feldstecher dabei, mit dem er das Haus beobachtete. RICHARDS HAUS.
Der Mann hatte ihn noch nicht bemerkt. Zornig baute sich Richard hinter dem kleinen Mann, der sich wieselhaft hinter dem Strauch zusammenkauerte auf. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sagte dann vor Zorn beinahe Funken sprühend: «Was machen Sie da?»
Der kleine Mann fuhr in die Höhe, drehte sich um, erschrak noch mehr, machte einen Schritt nach hinten. stolperte über seine eigenen Fuss, kam aus dem Gleichgewicht, ruderte mit den Armen wie eine übergewichtige Gans, die losfliegen will, verlor das Gleichgewicht völlig und knallte mit der Anmut eines sterbenden Schwans der Länge nach auf den Boden, direkt in den Rhododendronstrauch, der dabei arg in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Richard rieb sich die Stirn und stöhnte frustriert. Dorothea würde wütend werden.
Er streckte dem kleinen Mann, der sich stöhnend im Strauch wand die Hand hin und zog ihn auf die Füsse. Dabei dachte er an kleine weisse Lämmchen in dem verzweifelten Versuch sich davon abzuhalten dem kleinen Mann alle Zähne aus dem Mund zu schlagen.
Als Kind hatte er immer davon geträumt eines Tages Schäfer zu werden und mit seiner Herde durchs Land zu ziehen. Auch heute stellte er sich oft vor, wie er in der Mitte einer Herde kleiner wolligen Gesellen stehe und am Horizont nach Wölfen oder Bären Ausschau halte.
Er war so in seine Betrachtung von Schafen vertieft, dass er erst beim zweiten Mal bemerkte, dass sich der Mann vorgestellt hatte.
«Was?», fragte Richard, der den Namen immer noch nicht verstanden hatte und stierte den kleinen Mann dabei mit dem Blick eines wilden Stiers an. Eines wilden Stiers vor dessen Augen sich der Torero in eine Balletttänzerin verwandelt hatte, die den Schwanensee aufführte.
Der kleine Mann machte vor diesem Blick instinktiv einen Schritt zurück und wäre dabei beinahe erneut über seine Füsse gestolpert, fing sich aber gerade noch rechtzeitig.
„Mein Name ist Hugo Täuscher“, sagte er und rieb sich dabei die kleinen Hände obwohl es gar nicht so kühl war.
Richard fand, dass dieses listig wirkende Hände reiben gut zu dem Frettchengesicht und der dickglasigen, runden Brille passte, die Hugo trug. Der ganze Mann kam ihm irgendwie schleimig vor, wie er lächelnd dastand und seine riesigen, biberzahnartigen Schneidezähne präsentierte.
Richard machte einen kleinen Schritt zurück, wie um zu verhindern, dass ein Teil des Schleims auf ihn überspringen könnte.
«Und was machen Sie in meinem Garten?», fragte er unfreundlich.
Täuscher grinste noch ein bisschen breiter und wirkte verlegen.
«Naja.», murmelte er, «Wir hatten da diese Wette um zehntausend Euro. Und die geriet irgendwie ausser Kontrolle.»
Richard atmete scharf ein. Hatte Täuscher etwas mit dem Typen zu tun, der sich in seinem Garten den Kopf weggeblasen hatte?
Seine Gedankengänge wurden unterbrochen, denn aus dem Augenwinkeln nahm er wahr, dass der alte Mann mit der orangen Leuchtweste, den Weg fegend in seinen Garten hineinschlurfte.
Er liess Täuscher stehen und nahm sich vor ihn später weiter auszuquetschen. Mit schnellen Schritten lief er auf den Alten zu und stellte sich ihm in den Weg.
«Was machen Sie da?» fragte er und machte sich eine gedankliche Notiz, dass er diese Frage an diesem Tag schon viel zu oft gestellt hatte.
«Ich fege den Fussweg.», antwortete der alte Mann ruhig.
«Ja aber der Gehsteig ist draussen. Also fegen Sie gefälligst ausserhalb meines Gartens.», antwortete Richard bissig.
«Ich fege aber den Fussweg und nicht den Gehsteig.», antwortete der alte Mann.
Richard sah ihn so verständnislos an, dass der Alte Mitleid bekam und zu einer weiteren Erklärung ansetzte. Dazu unterbrach er sogar das Fegen.
«Wie bewegen sie sich auf diesem Weg?», fragte er.
«Na zu Fuss.», antwortete Richard zögernd.
Der Alte lächelte zufrieden und antwortete: «Eben. Dann ist es ein Fussweg und ich fege ihn.»
Damit liess er Richard stehen und fegte weiter auf das Haus zu.
Richard hatte nicht lange Zeit sich über den Alten zu wundern, denn schon wieder betrat eine Gestalt seinen Garten.
Diesmal war es ein hagerere, hochaufgeschossener Mann in einem sehr korrekten Anzug, der ein kleines Aktenköfferchen in der Hand trug.
Der korrekt gekleidete Mann machte einen Kratzfuss.
„Gestatten? Mein Name ist Kratz von Fuss.“, sagte der Kratzfuss und machte, wie um seinen Namen zu unterstreichen einen zweiten Kratzfuss.
«Aha.», antwortete Richard, «Und was machen Sie hier?»
«Und Sie sind?», entgegnete Kratzfuss spitz und sichtlich pikiert darüber, dass Richard sich ihm nicht ebenfalls vorgestellt hatte.
«Ich bin Richard Berger.», antworte Richard, dem die Etikette und die Regeln der Höflichkeit inzwischen ziemlich egal waren, «Und was machen Sie hier.»
«Ich bin von der illegalen Wettkommission der Polizei. Hier soll eine illegale Wette stattgefunden haben. Stimmt das?», antwortete Kratzfuss.
«Dann kommen Sie also wegen der Leiche?», fragte Richard und wartete die Antwort gar nicht erst ab, «Sie ist da drü…»
Die Worte blieben ihm im Mund stecken, als er sich umdrehte und auf die Leiche zeigte.
Doch da war keine Leiche mehr. Da war auch kein Blut mehr. Nur ein säuberlich gefegter Plattenweg. Und nun fiel Richard auch auf, dass auch der alte Strassenfeger in der orangen Leuchtweste verschwunden war.
Nur Hugo Täuscher, der inzwischen wieder mit seinem Fernglas Richards Haus studierte, stand noch neben dem Rhododendronstrauch.

Seitenwind 2024

Seine Frau Dorothea erblasste.
„Was ist denn geschehen? Was war das für ein Lärm?“, fragte sie.
„Mach einfach, was ich dir sage und ruf die Polizei an. Sag denen unsere Adresse und dass es einen Toten gibt.“ Er drehte sich um und ging zügig in sein Büro. Dort öffnete er den Safe. Er griff nach seiner Pistole und merkte sofort, dass diese nicht seine war. Erstaunt betrachtete er sie näher: selbe Marke, selbes Kaliber, aber die Markierung am Griffstück fehlte. Nur er und seine Frau hatten Zugang zu dem Safe. Dorothea mochte keine Pistolen und kannte sich damit nicht aus. Er hatte seine Pistole letztes Silvester einmal abgefeuert und danach nie wieder benutzt. Ob es schon damals eine andere war, konnte er jetzt nicht mehr sagen. Aber wenn er sie nicht vertauscht hatte …, nein, Dorothea würde so etwas niemals tun. Sie kannten sich schon ewig und waren fast genausolange verheiratet. Er vertraute ihr völlig. Ursprünglich hatte er den Plan gefasst, die Pistole, zur Selbstverteidigung ihrer beider Leben, an sich zu nehmen. Was aber, wenn jetzt gleich die Polizei käme und er hätte eine Pistole unbekannten Ursprungs in seiner Jackentasche? Er legte sie so blitzartig wieder in den Safe, dass man denken konnte, sie hätte ihm die Hände verbrannt. Danach verschloss er den Safe und ging zügig ins Wohnzimmer, wo er seine Frau telefonierend vorfand.
„Sprichst du noch mit der Polizei?“
Sie nickte.
Er nahm ihr den Hörer aus der Hand.
„Hier spricht Richard Berger. Vor meiner Tür tauchten zwei Männer auf, der eine steckte sich seine Pistole in den Mund und drückte ab, der andere filmte das alles. Sie sagten zuvor, ich könnte das verhindern, wenn ich ihm zehntausend Euro geben würde. Kein Mensch glaubt so etwas doch ernsthaft.“ Er hörte einen Augenblick zu und entgegnete: „ Ok, wir warten.“ Dann legte er auf.
„Die Polizei ist sofort da“, sagte er zu seiner Frau.
Dorothea sank blass und zitternd in den Sessel im Wohnzimmer.
Als Richard Berger die Polizeisirene vernahm, begab er sich zur Tür, blickte durch den Spion und sah: NICHTS!
Er riss die Tür auf und davor: NICHTS!
Weder ein Toter noch Blut.

Er sah noch einmal durch den Spion. Der Mann mit dem Handy war nicht mehr zu sehen. Gott sei Dank.
Berger stand bleich und regungslos da, hielt sich an der frisch polierten Kommode aus Nussbaum fest und starrte sie an. Er dachte kurz an seinen Vater, welcher ihm die Kommode vererbt hatte. Er war im Krieg erschossen worden.
Die Stimme seiner Frau riss ihn zurück in die Gegenwart. »Die Polizei? Was war das für ein Knall?«
»Er hat sich umgebracht, einfach erschossen«, sagte Berger mit leiser Stimme zu seiner Frau.
Dorothea verstand gar nichts. Sie wusste dennoch, etwas stimmte ganz und gar nicht. So hatte Sie ihren Mann noch nie gesehen. Sie lief auf die Tür zu, nahm den Türgriff in die Hand und wollte sie öffnen, doch Berger drückte sich zwischen seine Frau und die Tür und schrie: »Mach nicht auf, da liegt ein Toter, er hat sich vor mir umgebracht, da ist alles voller Blut!«
Dorothea trat einen Schritt zurück. »Was redest Du da, was meinst Du damit, da liegt ein Toter vor der Tür?«
»Er hat sich vor unserem Haus erschossen.«
»Erschossen? Auf der Straße?« Dorothea ging wieder auf die Haustür zu, doch Berger hielt sie zurück. »Bleib hier, geh da nicht raus. Der andere ist vielleicht noch da.«
Sie drängte ihn zur Seite und sah durch den Spion und konnte den Mann auf dem Boden sehen. »Ist er tot?«
»Sieht so aus. Wir bleiben lieber im Haus. Da ist noch einer. Der hat alles gefilmt. Ruf erst mal die Polizei, ich sehe an der Terrassentüre nach. Vielleicht will er ins Haus.«
Richard Berger bekam weiche Knie. Er versuchte, tiefer und ruhiger zu atmen, doch sein Atem zitterte. Er näherte sich langsam der Terrassentür. Durch den Vorhang konnte man ihn von draußen sicher nicht sehen. Ganz nah am Vorhang sah er vorsichtig in beide Richtungen. Der Garten war leer. Während er in den Flur zurückging, fragte er sich immer wieder, ob das alles wirklich geschehen war.
Plötzlich klopfte und klingelte es an der Tür. Berger und seine Frau starrten sich an. Eine laute Stimme sagte: »Herr Berger, machen Sie die Tür auf, hier ist die Polizei!«

Mit dem Smartphone in der Hand, die Hände zitternd lief der junge Mann die Straße entlang. Ständig schossen ihm die Bilder und Gedanken durch den Kopf. Er ist tot. Mein Vater ist tot. Tränen flossen ihm über die Wange. Jetzt war es passiert. Er hatte nicht erwartet, dass der Schmerz so groß sein würde. Doch er musste ihn verdrängen. Du wolltest es doch so. Ich soll kämpfen. Es ist alles richtig.
Diese Kapitalisten-Schweine.
Dann postete er das Video.

»War das …? War das ein Schuss?«, stammelte Dorothea mit blasserem Gesicht als die Leiche vor seiner Haustür.
Berger nickte roboterhaft, eher er selbst zum Telefon griff und die drei Zahlen eingab, die er gehofft hatte, nie wählen zu müssen. Seine Hände zitterten, doch seine Frau schien noch weniger in der Lage, Hilfe zu holen.
»Polizei, wie kann ich Ihnen helfen?«, meldet sich eine männliche Stimme am Telefon.
Berger zögerte. Obwohl er sonst so redegewandt war, fehlten ihm für einen Moment die Worte. Wie beschrieb man eine solche Situation?
Er räusperte sich und sortierte die Gedanken in seinem Kopf in eine sinnvolle Reihenfolge: »Es gibt eine Leiche. Vor meiner Haustür. Ich -« Er stockte noch rechtzeitig, bevor die Schuld, die sich eigenartigerweise in seiner Brust ausbreitete, die Kontrolle übernehmen konnte. Fast hätte er gesagt, er sei schuld daran. Aber das stimmte ja gar nicht. Immerhin hatte er nicht den Abzug gedrückt. Doch war es nicht irgendwie unterlassene Hilfeleistung?
Berger schüttelte über sich selbst den Kopf. Da war ja abstrus.
Genauso abstrus wie diese Tat. Was ihm zuerst wie ein dummer Streich vorgekommen war, war nun bitterer Ernst. Da lag eine Leiche in seinem Vorgarten. Und er konnte nur hoffen, dass der andere Mann, der das Ganze auch noch gefilmt hatte, längst fort war.
Oder nicht?
Mit der Hand am Telefon riss Berger die Haustür auf und steckte seinen Kopf hinaus.
Die Leiche war zumindest noch da. Einsam lag sie auf dem Weg, der nur wenige Wochen zuvor neu von einer Gartenbaufirma verlegt worden war, die einem Bekannten aus der Kirchengemeinde gehörte. Nun waren die Steine dunkel gesprenkelt, als wäre roter Regen vom Himmel gefallen.
Poetisch, irgendwie, dachte sich Berger. Gleichsam fasziniert wie abgestoßen von dem Weg, den seine Gedanken nahmen. Dann doch lieber auf den geradlinigen zu seinen Füßen konzentrieren, auch wenn da teils graue Klümpchen lagen, über deren Bedeutung Berger sicherlich nicht weiter nachdenken wollte.
Eine Stimme an seinem Ohr riss ihn aus seiner Starre und erinnerte ihn daran, dass er immer noch mit dem Polizisten im Gespräch war, der wiederholt versuchte, aus Berger einer Adresse hervorzulocken.
Berger wollte gerade antworten, als plötzlich ein weißer Lieferwagen heranraste und mit quietschenden Reifen vor der schmiedeeisernen Gartentür hielt.
Die Seitentür rauschte auf, zwei schwarz gekleidete Gestalten sprangen über die spitzen des kleinen Tores und eilten zu der Leiche zu Bergers Füßen.
Vollkommen baff konnte Berger nur dabei zusehen, wie sie sich mit Ach und Krach abmühten, die Leiche über das Törchen zu heben und in den Schlund des Lieferwagens zu werfen. Ein Fluch folgte auf den dumpfen Aufprall des Körpers im Inneren, dann schlug die Tür wieder zu.
Einer der Vermummten, die, wie Berger nun auffiel, Masken trugen, wie man sie auf einem Kindergeburtstag wiederfand – bemalbare, stilisierte Tiergesichter – sprang zurück über den Zaun und hielt auf Berger zu.
Im Nachhinein wunderte er sich darüber, wie sein Fluchtinstinkt ihn so katastrophal verlassen haben konnte. So nahm er einfach den schwarzen Umschlag an, den der Maskierte ihm hinhielt. Während Berger zwischen Brief und Lieferwagen hin und her sah, heulte der Motor auf und ließ ihn in Stille zurück.
Erst, als er ein leises Räuspern hinter sich hörte, kam wieder Bewegung in ihn.
Seine Frau stand in der offenen Haustür, die Hände ringend, aber mit mehr Farbe in den Wangen.
»Was ist das?«, fragte sie leise und deutete auf das Papier in Bergers Fingern.
Unwillig, noch länger mit dem Blut zu seinen Füßen im Vorgarten zu stehen, drängte Berger seine Frau zurück in den Flur, wo er mit bebenden Fingern den Umschlag unsanft öffnete und das Stück Papier entfaltete, das sich darin befand.
Das Kapital hat kein Herz.
Also müssen wir ihm den Kopf abschlagen.
Beweise uns, dass dein Herz noch schlägt, und du wirst verschont.
Folge unseren Anweisungen nicht oder schalte die Polizei ein, wirst auch du untergehen.
Ach ja. Die Polizei.
Das Telefon in Bergers Hand zeigte noch immer eine offene Leitung an. Schnell presste er seinen Daumen auf den roten Hörer.
Die vage Drohung auf Papier wurde durch die Geschehnisse von vor ein paar Minuten sehr real.
Richard Berger rang mit sich. Am liebsten würde er das alles ignorieren, und einfach mit seiner Frau zur Messe gehen. Wenn da nicht die abtransportierte Leiche aus seinem Vorgarten wäre. Und das Blut. Und die –
Dorothea Bergers Neugierde gewann über ihre Zurückhaltung und sie riss ihrem Mann den Brief aus der Hand, um selbst die maschinengeschriebenen Worte zu lesen. Ihre Augen huschten Zeile für Zeile über das Papier, bevor sie es sinken ließ.
Auch sie rang mit sich, ihrem Gewissen und der Angst, dass die schrecklichen Ereignisse aus den Nachrichten, die sie jeden Abend mit Furcht auf dem Sofa verfolgte, hier im gut situierten Frankfurt eingeholt haben. »Wir sollten -«
Sie wurde jäh von Richard Bergers Smartphone-Nachrichtenton unterbrochen, der aus dem Wohnzimmer zu ihnen herüberschallte.
Berger wollte auch das gerne ignorieren. Doch zu einem Ton gesellten sich erst zwei und dann drei. Noch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, was zu tun war, fing auch das Festnetztelefon in seiner Hand an zu läuten.
Für einen Moment überfordert, strich sich Berger über seine Krawatte, die ihm seltsamerweise ein Stück Halt gab. Dann riss er sich zusammen, legte das Telefon auf den Schlüsselkasten und sah seine Frau an.
Er würde sich nicht doch jetzt nicht alles kaputtmachen lassen, das er so lange mühsam aufgebaut hat. Weder das Haus, noch seine Frau noch sein Reisebüro waren ihm in die Hände gefallen. Er hatte sich zu oft die Nacht um die Ohren geschlagen, um sich nun in all seinen erreichten Zielen niederringen zu lassen.
»Komm«, sagte er also zu seiner Frau. »Wir sollten uns beeilen, sonst verpassen wir noch die Messe.«

Richard Berger saß gedankenversunken auf dem gelben Ledersofa, das mitten in ihrem geräumigen, birkenlaminierten Wohnzimmer stand, schaute hinaus in den Garten und ließ diesen verrückten Tag Revue passieren.

Ein Selbstmord direkt vor ihrer Tür, und dann auch noch per Handy gefilmt! Aber stimmte das überhaupt? War es denn ein Selbstmord? Oder war der Mann, der sich vor seinen Augen die Pistole in den Mund gesteckt und abgedrückt hatte, von seinem Begleiter dazu gezwungen worden? Vielleicht hatten er oder irgendwelche dubiosen Hintermänner die Familie des Selbstmörders in ihrer Gewalt? Oder erpressten ihn, weil sie belastendes Material besaßen? Vielleicht war dieser graubärtige Mensch, der sich das Leben genommen hatte, in Wirklichkeit ein schmieriger Kinderschänder, und jemand hatte sich einen grausigen Witz ausgedacht, um ihn auf brutale Weise zu bestrafen?

Aber warum dann vor seiner Haustür? Darauf konnte Berger sich keinen Reim machen. Er hatte diese Typen noch nie gesehen. Was wollten sie von ihm? Warum gerade er? Und warum hatte der zweite Typ das Ganze gefilmt?

Es war Herbst, und draußen wurde es langsam dunkel. Vor einer guten Stunde hatte er sich einen kräftigen italienischen Rotwein eingegossen, einen Montepulciano, den sie im Sommerurlaub in der Toskana in den Kofferraum ihres Modells 3 geladen hatten. An Tagen, an denen sich vor der eigenen Haustür jemand umbringt, hat man sich einen kräftigen Schluck verdient, dachte er.

Berger schaute auf die Uhr. Es war fast halb acht.

„Dorothea“, rief er laut. Er hatte gerade nicht auf dem Schirm, wo genau sich seine Frau im Haus befand. War sie in der Küche? Oder oben in ihrem gemeinsamen Heimbüro? „Gleich fängt die hessenschau an. Kommst du?“

Er schnappte sich die Fernbedienung, und gerade als sich Bild und Ton aufgebaut hatten, hörte er, wie Dorothea die hölzerne Wendeltreppe aus dem ersten Stock hinunterkam.

„Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, herzlich willkommen zur hessenschau. Unser Top-Thema heute …“

Dorothea ließ sich links neben ihm auf das Sofa fallen. Sie war immer noch blass und sah angestrengt aus. Der Schuss heute Morgen hatte sie dermaßen geschockt und in Panik versetzt, dass sie nicht einmal in der Lage gewesen war, die Polizei zu rufen. Das hatte er übernehmen müssen. Einer der Rettungssanitäter, die zeitgleich mit der Polizei eingetroffen waren, hatte sich dann um sie gekümmert.

„… ist eine seltsame Gewalttat, die heute Vormittag im Frankfurter Nordend stattgefunden hat. Gegen 9.30 Uhr klingelten bei Familie B. zwei Männer an der Tür und verlangten von Herrn B. ohne Angabe von Gründen die Zahlung von 10.000 Euro. Wenige Momente später war einer der beiden Männer tot. Ein Video der Tat wurde heute auf X gespostet, vermutlich von dem überlebenden Erpresser, und bisher noch nicht entfernt. Aber sehen Sie selbst.“

Er spürte, wie seine Frau neben ihm erstarrte und den Atem anhielt, als das Bild der Moderatorin verblasste und das Video begann. Darin war nur er selbst zu sehen, mit verpixeltem Gesicht, wie er die Tür öffnete. Es war eigenartig, das, was er heute Morgen erlebt hatte, jetzt im Fernsehen aus der Perspektive der Erpresser zu sehen.

„Sie wünschen?“, hörte er sich sagen. Wieso hatten sie sein Gesicht unkenntlich gemacht, aber die Stimme nicht verfremdet? Von der hessenschau hätte er etwas mehr journalistische Sorgfalt erwartet.

„Guten Tag. Bitte geben Sie mir …“

Neben ihm stieß seine Frau einen schrillen Schrei aus. „Anton? Anton! Das ist doch die Stimme von Anton!“

Berger sprang vor Schreck vom Sofa hoch und starrte seine Frau mit halbgeöffnetem Mund einige Augenblicke an, bevor er seine Sprache wiederfand.

„Wie bitte, du kennst diesen Mann?“

Offene Enden Teil 1

Dorothea Bergers Augen irrlichterten. Mit fahriger Bewegung deutete sie auf das Flurfenster, durch das man die Nachbarhäuser sehen konnte. In etlichen Fenstern war Bewegung bemerkbar, mehrere Nachbarn waren vor die Haustür getreten, einige hielten ein Handy und telefonierten.

„Ich glaube, der Anruf bei der Polizei hat sich schon erledigt“, sagte Frau Berger, „geh lieber raus und beende dieses Mordsgeschrei!“

Herr Berger schaute durch den Türspion. Der Graubärtige lag noch immer mit dem Kopf in seinem Blut, zu seinen Füßen bemerkte er die Pistole. Der Jüngere filmte inzwischen wieder. Nach wie vor schrie er, nannte ihn einen Mörder. Da die Pistole gut zwei bis drei Meter von ihm entfernt lag, öffnete Herr Berger die Tür und trat ins Freie. Beschwichtigend hob er die Hände.

„Die Polizei wird wohl schon unterwegs sein. Bitte lassen sie uns in Ruhe ein paar Worte wechseln.“

Tatsächlich überlegte er, ob er mit drei schnellem Schritten die Waffe in seine Gewalt bringen sollte. War das vielleicht eine ganz schlechte Idee wegen der Fingerabdrücke? Wie sehr war er in Gefahr, wenn die Polizisten ihn mit der Pistole in der Hand sahen. Abwarten! Wenn der andere das Gleiche vorhatte, konnte er immer noch schneller zurück und sich hinter der Tür in Sicherheit bringen.

Der junge Mann hörte auf zu schreien, blickte kurz zur Waffe, filmte aber unbeirrt weiter. Mit einer Kinnbewegung forderte er Berger auf zu sprechen.

„Das schockiert mich alles zutiefst“, stammelte er Richtung Handy, „sie müssen mir glauben, das ich das nicht gewollt habe! Die Situation überfordert mich gerade sehr. Bitte haben sie Verständnis dafür, wenn ich im Haus auf das Eintreffen der Polizei warte.“

„Ich komme mit rein!“, sagte der junge Mann.

„Das halte ich für keine gute Idee“, kommentierte Berger. Er war bereits erleichtert, dass das Geschrei vor den Nachbarn aufgehört hatte. Ziel erreicht! Er drehte sich um, bereit wieder ins Haus zu gehen.

„Das ist im Gegenteil eine sehr gute Idee. So erfahren sie nämlich, was das ganze hier mit ihren Verlusten an der Börse zu tun hat.“

Blitzschnell fuhr Herr Berger herum, nicht schockiert wegen des Gesagten, sondern weil die Stimme dem Graubärtigen gehörte, der sich langsam aus seiner Blutlache erhob.

Fortsetzung folgt.

Rolf Schäfer

Die gut zwanzig Minuten bis zum Eintreffen der Ordnungshüter dehnten sich für Richard Berger und seiner Frau zu einer gefühlten Ewigkeit.
Dorothea saß weinend in einem Sessel im Wohnzimmer und schluchzte immer wieder: »So können wir nicht zur Kirche gehen, dabei wäre mir der Beistand des Pfarrers gerade jetzt so wichtig!« Dann war sie wieder still, während die Tränen unaufhaltsam über ihre Wangen strömten.
Die Gedanken von Richard gingen in eine andere Richtung, nun nicht völlig anders. Immer und immer wieder fragte er sich, ob er als guter Christenmensch diesen Selbstmord hätte verhindern müssen. Auch wenn das bedeutet hätte, der Erpressung nachzugeben. Aber wer hatte schon ahnen können, dass dieser Kerl seine Drohung so schnell wahrmachen würde. Eine andere Stimme in seinem Inneren beharrte darauf, dass er richtig gehandelt hatte. Wo sollte das hinführen, wenn er jeder derartigen Drohung nachgeben würde. Es war die Handlung des Selbstmörders gewesen, nicht seine, die zu diesem Suizid geführt hatte. Damit war es auch die Verantwortung dieses Kerls. Auf der anderen Seite, hätte er …
Schluss mit dem Gedanken-Karussell!, herrschte er sich selbst an. Entschlossen schritt er zum Fenster, um nach der Polizei Ausschau zu halten. Dort angekommen erstarrte er.
Die gesamte Nachbarschaft, die eigentlich ebenfalls in die Kirche hatte gehen wollen, stand am Gartenzaun und gaffte zur Haustür herüber, wo noch immer der jüngere Kerl mit dem Smartphone stand und schrie: »Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!«
Beständig kamen weitere Neugierige dazu. Richard wurden die Knie weich.

Als die Polizei endlich vorfuhr, schafften es die Beamten kaum, durch den dichten Pulk Schaulustiger bis zur Haustür durchzudringen. Zwischenzeitlich standen die ersten Gaffer sogar im Vorgarten.

Dorothea sah ihn mit fassungslosen Augen an. Ihre Hände zitterten, als sie einen Blick nach draußen wagte. Auf dem Weg zur Haustür lag ein blutüberströmter Mann mit halbem Kopf auf dem Boden; eine grau-weiße Substanz bedeckte die gelben Rosen, die sie letztes Jahr auf dem Beet vor dem Haus eingepflanzt hatte. Ein Mann mit einem Handy in der Hand schrie immer wieder: „Du Mörder, du Mörder!“

Als er sie an der Tür erblickte, sprang er plötzlich auf und stemmte sich gegen die Tür. „Dafür werdet ihr beide büßen, ihr Schweine!“ Richard Berger eilte heran und verhinderte im letzten Moment, dass der Mann sich Zutritt ins Haus verschaffen konnte.

„Richard, die Polizei… was sollen wir den Polizisten sagen?“, fragte sie.

„Ich weiß es nicht!“, keuchte er, noch immer aufgeregt und völlig desorientiert. „Wir rufen einfach die Polizei an und erklären, was geschehen ist!“

Er nahm sein Smartphone, das auf dem Sideboard des Flurs lag, und wählte den Notruf. Nach einer gequälten Minute meldete sich eine männliche Stimme mit hessischen Akzent: „Polizeinotruf, was ist Ihr Anliegen?“

„Hier ist Richard Berger! Ein Mann wurde erschossen, gerade vor meiner Haustür!“

„Bleiben Sie ruhig, ich schicke sofort ein Team. Wo sind Sie genau?“, antwortete die Stimme.

Er nannte seine Adresse und legte auf.

„Die Polizei kommt gleich“, sagte er an Dorothea gewandt, die noch immer wie erstarrt vor der Haustür stand. „Wir müssen hier weg. Was, wenn der andere Mann noch da draußen ist? Wenn er in unser Haus eindringt?“

„Aber wo sollen wir denn hin? Die Polizei wird bestimmt gleich da sein.“

Plötzlich riss ein Hämmern und Schlagen beide aus ihren Gedanken. Berger und Dorothea blickten sich an und rannten gleichzeitig zum Küchenfenster, das einen Blick auf die Haustür bot. Sie sahen, wie sich zwei Männer mit einer Brechstange an der Haustür zu schaffen machten. Der Mann mit dem Smartphone war nun nicht mehr allein.

„Wir müssen sofort hier raus“, sagte Berger. Er nahm die Hand seiner Frau und rannte mit ihr zum Wohnzimmer, das sich im hinteren Teil des Hauses befand. Er öffnete die Terrassentür zu dem etwa zweihundert Quadratmeter großen Grundstück, und sie schlüpften beide durch die Gartentür, die einen schmalen Zugang zu einem schattigen Weg hinter dem Grundstück bot. Dort parkte ihr Wagen, ein alter Opel Corsa mit verwittertem, blauem Lack.

„Wo fahren wir hin?“, fragte Dorothea.

„Zu meiner Schwester, in die Altstadt. Wir brauchen einen sicheren Ort. Von dort rufen wir dann nochmal die Polizei an und erklären alles“

Im Wagen war die Stimmung angespannt. Richard umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad und fuhr über die Brücke Richtung Altstadt. Die Gedanken an den graubärtigen Mann, der sich den Lauf der Pistole in den Mund steckte und abdrückte, hämmerten durch seinen Kopf.

Der Verkehr stockte plötzlich. Berger sah von Weitem eine Straßensperre. Dahinter und an der Straßenseite standen Streifenwagen und Polizisten. Die Wagenkolonne schob sich langsam an den Polizisten vorbei, die in jeden Wagen schauten. Dorothea blickte erleichtert zu Berger, der immer noch angespannt nach vorne blickte.

Als er mit Schrittgeschwindigkeit an dem Polizisten vorbeifuhr, anhielt und die Scheibe herunterließ, zog der Polizist unvermittelt seine Pistole aus dem Halfter und zielte auf Berger. Andere Polizisten mit gezückten Waffen postierten sich auf der Seite von Dorothea, während sich zeitgleich ein Streifenwagen sich vor seinem Wagen stellte.

„Herr Berger, Sie sind wegen Mordes vorläufig festgenommen. Bitte steigen Sie beide langsam aus Ihrem Wagen!“, schrie der Polizist.

Seitenwind 2024 Offene Enden Teil 1

Berger drehte sich um und ließ sich mit dem Rücken gegen die Haustür fallen, denn seine Beine trugen ihn nicht mehr. An das Türblatt gelehnt rutschte er nach unten in den Sitz und umarmte seine zitternden Knie. Ein schier unmögliches Gefühlschaos beschwerte seine Brust und tausende unreflektierte Gedanken flirrten in seinem Hirn. Hilfesuchend blickte er zu Dorothea.
Seine Frau hielt ihr Handy in der Hand und wirkte gefasst. Nun, sie hatte ja nicht gesehen, wie der Kerl sich den Kopf wegschoss. Richard schon – wie grässlich! Hätte er es verhindern können?
»Was ist eigentlich passiert?«, fragte Dorothea und lenkte Berger vom Grübeln ab. Wie schaffte sie es nur, so ruhig zu bleiben? Doch völlig gleichmütig war sie offenbar nicht. Als sie fortfuhr, kletterte ihre Stimme eine Terz höher: »Der Schuss? Was hat er zu bedeuten? Du hast nicht geschossen, womit auch? Braucht jemand Hilfe? Soll ich nicht lieber einen Rettungswagen rufen?«
Berger schüttelte den Kopf. »Der Alte hat sich das Gehirn zerschossen, er hat sich wirklich umgebracht.«
»Weil du ihm kein Geld gegeben hast? War der irre? Niemand hat einfach so zehntausend Euro zu Hause – auch hier nicht in unserem Viertel. Und deshalb nennt dich der junge Mann … es war doch ein junger? Seine Stimme klang so jugendlich. … deshalb behauptet er, dass du den anderen …« Sie schluckte trocken und beendete den fürchterlichen Satz nicht. »Dann ruf ich jetzt die Polizei an.« Wie immer, wenn sie telefonierte, wandte sie sich von Richard ab. Sachlich erklärte sie, was geschehen war.
Dass sie das schaffte – unglaublich. Er selber war den Tränen näher als jemals zuvor. Gute Doro … Sie wollte nicht Doro genannt werden. Doch in Gedanken liebte er diese Namensverkürzung.
Ein Gedankenkarussell drehte sich in ihm und produzierte Fragen. War dieser Selbstmord nicht völlig unsinnig? Er hätte dem Mann das Geld nicht geben können, selbst wenn er gewillt gewesen wäre. Wie war der Kerl nur auf diese hirnrissige Idee verfallen? – Ein unguter Gedanke manifestierte sich mehr und mehr, obwohl Richard versuchte, ihn zu unterdrücken.
Konnten die beiden wissen …
Unmöglich. Nicht einmal Dorothea kannte seine Geschäfte am Rande der Legalität. Niemand ahnte, wie viel Geld er in dem geheimen Tresor im Keller bunkerte. Oder doch? Diese beiden dubiosen Typen? Woher hätten sie diese Information bekommen sollen? Und warum bringt man sich wegen so was um? Weshalb haben sie nicht einfach eingebrochen und noch viel mehr erbeutet? Er hätte deswegen nicht mal Anzeige erstattet.
Doro riss ihn aus seinen sorgenvollen Gedanken. »Richard, gehts dir gut? Ich glaube, du hast einen Schock. Soll ich Dr. Rühmann anrufen? Dein Gesicht ist blass wie eine gekalkte Wand.« Bei ihr zeigten sich rote Flecken am Hals – wie immer, wenn sie aufgeregt war.
»Nein, lass mal Thea. Es geht schon wieder.« Um seine Behauptung zu beweisen, rappelte er sich auf, langsam zwar, aber bald stand er frei und schwankte nicht. Er war eben eine standhafte Eiche.
Seine Frau rannte in die Küche. Ein paar Augenblicke lang rauschte Wasser. Dann eilte sie zu ihm zurück und reichte ihm das gefüllte Glas. »Trink, das brauchst du bestimmt.«
Kaum hatte er das Glas geleert, flackerte blaues Licht durch die Fenster des Wohnzimmers, dessen Tür offenstand. »Sie kommen«, krächzte er.
Doch Dorothea war längst an der Tür und sah durch den Spion. Noch bevor es klingelte, öffnete sie die Tür, vor der zwei uniformierte Polizisten Doro und Berger anschauten. Sie begleiteten eine rothaarige Frau in schickem Trenchcoat und Jeans. Diese hatte ihren Blick auf den Toten gerichtet. Die Beamten grüßten und baten darum, eingelassen zu werden.
Etwas später trat die Frau ebenfalls ein. »Guten Tag! Obwohl – für Sie ist er bestimmt alles andere als gut. Mein Name ist Regina Mittler, Kriminaldauerdienst. Ich muss Sie befragen, Herr und Frau Berger. Wo können wir das tun?«
Ganz schön forsch, das Mädel, fand Richard. Die war doch sicher erst Mitte dreißig. Aber er straffte sich und antwortete souverän: »Gehen wir ins Wohnzimmer.«
»Frau Berger, Sie haben ja schon am Telefon kurz zusammengefasst, was passiert ist. Ich brauche die ganze Geschichte von Anfang an. Herr Berger? Sie haben die Tür geöffnet?«
Alle blieben stehen. Die Kriminalpolizistin fragte sich durch das gesamte Geschehen. Es fiel Richard schwer, von der schrecklichen Begebenheit im Zusammenhang zu berichten. Am Ende sagte die Polizistin etwas, das er nicht begriff: »Ich muss Sie bitten mitzukommen, um Spuren an Ihnen zu sichern und die Fingerabdrücke zu nehmen. Wir haben die Tatwaffe in Ihrem Müll gefunden. Damit sind Sie tatverdächtig.« Sie wies zur Tür.
Zum ersten Mal sprachlos schlug Doro die Hand vor den Mund und plumpste in den Sessel.
Richard stotterte: »Aber wie kommt die Pistole denn dahin?« Dann zog er resigniert den Kopf zwischen die Schultern, trat auf den Flur und setzte seinen Hut auf. Den Mantel hatte er ja an. Er war tatverdächtig. Konnte es noch schlimmer kommen?

©MoScho/Monika Schoppenhorst (Pseudonym: Renée Wagner)

Seine Frau reagierte nicht.
»Dorothea?!«, brüllte er in das Treppenhaus. Keine Antwort. Richard Berger spürte, wie ihn das Nichtreagieren seiner Ehefrau reizte. Dann rief er eben selbst die Polizei.

Sein Blick wanderte zu dem Festnetztelefon, in dessen Richtung er am Laufen war. Doch die Station war leer. Hektisch blinkte ihm die rote LED entgegen. »Verdammtes Telefon, dass ich es jedes Mal suchen muss«, murmelte er. Vermutlich lag es wieder einmal auf dem kleinen Esstisch in der Küche. An diesem konnte seine Frau stundenlang sitzen und mit ihrer Freundin Lisa über belangloses Zeug quatschen. Er ballte die Faust. Erneut bemerkte er einen aufkeimenden Ärger gegenüber Dorothea. Sie saß vermutlich oben und schminkte sich mit einem selbstverliebten Blick in den Spiegel, während er hier unten alleine mit letzter Kraft gegen das aufkommende Gefühl der Panik in seiner Brust kämpfen musste und zu allem Überdruss die hindernden Nachlässigkeiten seiner Frau zu umschiffen hatte.

Doch der Esstisch in der Küche war leer. Enttäuscht wanderte Richards Blick beim Hinausgehen zu dem Küchenfenster. Ihm war klar, dass der Plattenweg von der Spüle aus einsehbar war. Eine Stimme im Kopf riet ihm, nicht nach draußen zu schauen. Er konnte dem Drang nicht widerstehen.

Eine Welle der Erleichterung durchströmte ihn, als er aus dem Fenster spähte. Der junge Kerl mit dem Smartphone war nirgends zu sehen, die Leiche seltsamerweise verschwunden. War alles nur ein übler Tagtraum gewesen? Eine perverse Ausuferung seiner in letzter Zeit gereizten Nerven?
Doch schon im nächsten Moment war ihm, als hätte jemand mit voller Wucht in seine Magengrube geboxt. Ein kalter Stich durchfuhr seinen Bauch. Er hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und schließlich doch die Blutlache erkennen können, die sich zwischenzeitlich deutlich ausgebreitet hatte.

Das kalte Stechen vermischte sich mit dem panischen Gefühl in der Brust.
»Die Polizei! Mein Handy!«, war das Einzige, was die Watte in seinem Kopf durchdringen konnte. Richard fiel ein, dass sein Smartphone im Schlafzimmer liegen musste, auf dem Nachttisch.
»Dorothea?!«, er stürmte die Treppe nach oben und bemerkte nur beiläufig das Zittern in seiner Stimme. Er fand seine Frau auf dem Stuhl vor dem Schminktisch sitzend. In leicht gebeugter Haltung starrte sie auf etwas in ihrer Hand. Berger war im Begriff, sie anzuherrschen, warum sie nicht auf seine Rufe reagierte, als sie sich zu ihm umdrehte. Ihr Blick ließ ihn verstummen. Eine Mischung aus Abscheu und Ekel strahlte ihm aus ihren blauen Augen entgegen. Den Mund fest zusammengepresst, sodass die Falten um ihre blutleeren Lippen deutlich hervortraten.

»Warum hast du das getan?«, fragte Dorothea mit kraftloser Stimme in den Raum.
»Was? Wieso ich?«, stotterte Richard. »Die sind doch die Verrückten!« Er rang um Fassung.

Seine Ehefrau starrte ihn stumm an. Erst jetzt bemerkte er, dass sie sein Smartphone in den Händen hielt. Ihr Blick wanderte zu dem Telefon. Als ob sie vorher nicht realisiert hätte, wie angewidert sie von diesem »Ding« in ihren Händen war, schob sie es ihm hin.

Berger blickte auf das Gerät. Er spürte erneut dieses ungute Gefühl, wie vorhin vor der Haustür. Er hatte eine Videonachricht von einem unbekannten Absender bekommen. Er drückte auf sein Handy, um die Nachricht abzuspielen. Seine feuchten Finger hinterließen einen schmierigen Abdruck auf dem Display.

Das Video startete. Er sah sich selbst und jemand schrie: »Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein!« Dann der blutüberströmte Mann im Vorgarten der Familie Berger.

Die Szene wechselte abrupt. Zu sehen waren zwei junge Frauen, Anfang zwanzig. Die Mädchen saßen auf billigen Plastikstühlen in einem bis zur Decke gefliesten Raum, der von grellem Neonröhrenlicht beleuchtet war. Richard störte sich an dem Abfluss, der in der Mitte des Bodens zu erkennen war. Beide Frauen schluchzten und blickten mit aufgerissenen und geröteten Augen in die Kamera. Feuchte Strähnen hingen in ihren Gesichtern und vermischten sich mit verlaufener Schminke. Plötzlich sprach eine dunkle Stimme:

»Reich wird man nicht durch das, was man verdient, sondern durch das, was man nicht ausgibt.« Der Sprechende beendete den Satz mit einem Kichern und hielt kurz inne.

»Entweder du legst innerhalb der nächsten 2 Stunden 250.000 € in Goldbarren an dein hübsches Gartentürchen oder die beiden Mädchen hier werden sterben.«
Wieder ließ die dunkle Stimme das Gesagte sacken und fuhr dann fort:
»Alternativ tötest du innerhalb der nächsten 2 Stunden deine Ehefrau. Dafür verdienst du 250.000 € in Scheinen, hübsch verpackt in einer Reisetasche an deiner Gartentür.«

Das Video endete abrupt.
Richard fing an zu stammeln: »Das ist doch Irrsinn, kranker Wahnsinn!«

Er sah hilfesuchend zu Dorothea und schaute geradewegs in den Lauf einer Pistole, die seine Frau auf ihn richtete.