Seitenwind 2024 beginnt! 1. Teil

Der Mann, der die Aufnahmen machte, rannte auf die Straße. Kurz darauf stieß er mit Dr. Maximilian Forbes zusammen. Sogleich fiel Dr. Forbes zu Boden. Er hatte den Schuss gehört und wollte nachsehen, was passiert war. Er rannte zu seinen Nachbarn, nachdem er sich wieder aufgerappelt hatte. Dorothea stand derweil erschrocken hinter der Haustür und schrie. „Um Himmels Willen, Richard.“ „Ruf verdammt noch mal die Polizei.“, flehte Richard Berger sie an. Mit zitternden Händen holte Dorothea ihr Handy aus der Handtasche. Vier Mal verwählte sie sich. Der Schock mache es für sie fast unmöglich die Polizei zu rufen. Schwer atmend und mit Tränen im Gesicht versuchte sie das Erlebte zu schildern. „Hallo? Hallo… ja, Dorothea Berger hier. Bitte… b- b- bitte kommen sie schnell. Ein Toter, ja. Ein Mann, der hat sich erschossen. Was?“ Der Beamte am anderen Ende der Leitung bemühte sich, Dorothea zu beruhigen. „Wie? Ja… Nansenring 27a. Frankfurt. Lerchersberg. Ja… Ich warte. Ok.“ Dann legte sie auf. „Die Polizei ist unterwegs, Richard.“ Er nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Alles wird gut, mein Schatz.“

„Dorothea, Richard?“, rief Dr. Forbes aufgeregt von draußen und schaute erschrocken auf den Boden zur Leiche. Richard öffnete die Tür. „War das der Typ da eben, der geschossen hat? Der hat mich umgerannt.“, schrie Maximilian und zeigte gleichzeitig in die Richtung, in der der Mann verschwand und kniete sich danach auf den Boden. Sein Blick sagte alles. „Er ist tot.“ Im Aufstehen und eine Hand ans Kinn haltend, fragte er: „Habt ihr die Pol…?“ Weiter kam er nicht. „Jajajaja… Max. Haben wir. Geh lieber an die Seite.“, stammelte Richard. Dorothea klammerte sich derweil an Richards Körper, heulte in seinen Sonntagsanzug und murmelte irgendwas vor sich her.

Es dauerte gefühlte 30 Minuten, als der Notarzt und die Polizei eintrafen. Dr. Forbes stellte sich dem Notarzt vor. „Forbes, Herr Kollege.“ „Fehrenbach, hallo. Was ist passiert?“ Beide Ärzte knieten sich hinunter. Dr. Fehrenbach hob den Kopf der Leiche sanft an und entdeckte sogleich die Austrittswunde. „Glatter Durchschuss. Tja…“, murmelte er. „Ich kann hier nichts mehr tun.“ Richard Berger teilte dem Notarzt noch mit, wie sich diese Tragödie abgespielt hatte. Die Besatzung des Rettungswagens kam derweil mit einer Decke und legte sie über die Leiche. „Danke Herr Kollege. Ich werde dann einmal die ersten Förmlichkeiten übernehmen.“ Dr. Forbes nickte, bat dann aber darum, das Dorothea ein Beruhigungsmittel bekam. „Möchtest du nicht lieber auch ins Krankenhaus, Dorothea?“, fragte er noch hinterher. „Nein, nein. Ich will bei Richard bleiben.“ „Wie du meinst. Aber bitte begib dich gleich ins Bett.“ Er umarmte Dorothea. Die Beamten der Schutzpolizei sicherten derweil den Vorgarten der Bergers mit blau-weißem Flatterband ab und sperrten die Straße nach beiden Seiten. Leise unterhielten sich die Polizisten, während einer von den insgesamt sechs auf Richard Berger zuging.

Kurz darauf traf die Kripo ein. Kriminalhauptkommissar Viktor Tannhäuser stieg aus dem Dienstwagen, seine Kollegin Katrin Gröpper folge ihm. Viktor Tannhäuser zog seinen Mantel enger um sich und ging auf die Absperrung zu. Die Stille wurde nur durch das entfernte Murmeln der anwesenden Beamten unterbrochen. „Was haben wir?, fragte er einen der Beamten, der an der Absperrung wartete. „Eine Leiche, männlich, und die 50. Kopfschuss. Näheres von Doktor. Wie immer.“ „Ja, wie immer. Danke.“ Tannhäuser klopfte dem Beamten an den linken Arm und überquerte die Absperrung. Für seine Kollegin hob der Streifenbeamte das Flatterband hoch. „Wie aufmerksam. Verbindlichsten Dank.“ schmunzelte sie. „Kletterfaul?“ „Nein Viktor. Knie.“ Er blickte mit leicht gepressten Lippen drein und atmete einmal tief durch. Dann sprach Tannhäuser den Notarzt an. „Kannste schon was sagen?“ „Ja hmm… Er starb durch einen Schuss. Gezielt durch den Mund. Laut Aussagen von Herrn Berger stand er vor der Tür hielt sich die Waffe in den Mund und drückte ab. Der Schuss war sofort tödlich. Ich habe Frau Berger noch ein Beruhigungsmittel gegeben. Bitte schont sie bei der Befragung. Der Schock. Du weißt ja. Bis dann.“ „Bis dann.“, grummelte Tannhäuser. Katrin Gröpper ging derweil auf die Bergers zu. „Guten Morgen. Kriminaloberkommissarin Gröpper. Mein Kollege hinter mir ist Kriminalhauptkommissar Tannhäuser.“ Der Beamte, der noch immer bei Richard stand, salutierte etwas locker vor Katrin. Sie zeigte ihren Ausweis, gab zuerst Dorothea und dann Richard die Hand. „Ist in Ordnung, Kollege. Danke.“ Dann zog sich der Beamte mit einem Nicken diskret zurück. „Mein herzliches Beileid.“ sagte sie im Anschluss. Dann holte sie aus ihrer Jackentasche ein Notizbuch und begann mit der Frage, was genau passiert sei. „Das waren zwei Männer die hier klingelten.“, antwortete Richard Berger. „Der zweite Mann filmte alles und lief nach dem Schuss weg. In Richtung des Waldes. Und er sagte noch, dass sie wüssten, dass wir Geld haben.“ Dr. Forbes stand neben Katrin Gröpper und unterbrach sie, bevor sie eine zweite Frage stellen konnte. „Verzeihung. Forbes. Dr. Maximilian Forbes. Ich kann ihnen Näheres zu dem Mann sagen.“ „Viktor, kommst du mal bitte? Ich hab hier einen weiteren Zeugen. Viktor?“ Tannhäuser hörte nicht richtig zu, zog sich Gummihandschuhe an und durchsuchte inzwischen den Toten. Er fand einen Ausweis, einen Führerschein und etwas Bargeld. Knapp 10 Euro. „Dawid Sobieski. Aus Offenbach.“, murmelte er. Darauf nickte er dem Notarzt zu, steckte den Ausweis und Führerschein in einen Plastikbeutel und legte die Decke wieder über die Leiche. „Komme, Katrin… komme.“ Unter einem leichten Stöhnen stand Tannhäuser auf und ging auf Katrin zu. „Einen weiteren Zeugen? Wer? Oh. Entschuldigung. Tannhäuser. Kriminalhauptkommissar.“ Dr. Forbes und die Bergers gaben ihm die Hand. „Forbes. Dr. Forbes. Ich bin ein direkter Nachbar. Der Typ rannte mich um. Ich kann ihnen den Kerl beschreiben.“ Tannhäuser blickte ernst drauf ein und nahm Dr. Forbes an die Seite. „Kommen sie. Doktor? Welche Art Doktor?“, fragte er nachdenklich. „Ja ähm… Ich bin Internist und der Hausarzt vom Ehepaar Berger.“ „OK.“ Tannhäuser presste seine Lippen zusammen. „Dann haben sie also auch den Tod feststellen können?“ „Ja.“ „Nun, dann legen sie mal los.“ Kurz bevor Dr. Forbes eine genaue Beschreibung des verschwundenen Mannes abgab, erklärter er noch, das er den Schuss hörte. „Woher wissen sie, das es ein Schuss war, Herr Doktor?“, meinte Tannhäuser. „Na hören sie mal. Eine ruhige Gegend wie diese, es ist Sonntagmorgen und viele Nachbarn schlafen noch. Ein Schuss klingt doch anders, als wenn zwei Autos ineinander krachen.“ Tannhäuser nickte. „Einleuchtend. Kennen sie den Toten?“ „Nein, nie gesehen.“ In dem Moment erschienen die Beamten der Spurensicherung. Tannhäuser drehte sich um. „Sowas, sowas. Auch schon da?, entging es ihm mit einem leichten Unterton. „Viktor.“ „Sonst noch etwas?“, fragte Richard Berger nervös auf zu Katrin. „Meine Frau… sie muss sich erst mal von dem Schock erholen. Sie entschuldigen uns bitte.“ „Hm? Ja, ja sicher doch.“ Katrin nahm inzwischen den Plastikbeutel mit den Papieren des Toten an sich. „Eine Frage noch: „Kennen sie den Toten? Dawid Sobieski heißt er.“ „Nein, Frau Kommissarin. Ich kenne ihn nicht. Du Dorothea?“ Sie schluchzte, schnäuzte sich die Nase und schüttelte den Kopf.“ Nein. Den kenne ich nicht. Ich möchte dann jetzt auch bitte gehen.“ „Hmmm, OK. Natürlich. Das wäre es fürs Erste.“, antwortete Katrin. „Wir kommen auf sie zurück. Und gute Besserung Frau Berger.“ Katrin schüttelte beiden die Hände und wandte sich Tannhäuser zu. Richard Berger schloss derweil die Tür hinter sich.

Die Kommissare gingen danach auf die Straße und überließen den Tatort der Spurensicherung. „Komische Geschichte, findest du nicht auch? Viktor?“ Nach kurzem Nachdenken sah Tannhäuser ihr ins Gesicht „Ja. Irgendwie. Wie kommt man auf so eine Idee, bei jemandem zu klingeln und dann damit zu drohen sich umzubringen? Noch dazu bei jemandem, der, wie ausgesagt wurde, viel Geld hat, so wie die Bergers? OK, diese Gegend ist schon recht ähm… ein besseres Viertel, das gebe ich zu. Und wieso hat der zweite Mann alles gefilmt?“ „Vielleicht wollte er damit was beweisen. Nur was? Katrin Gröpper räusperte sich. „Auf den ersten Blick ist es erst mal kein Mord im klassischen Sinne, Katrin. Ich meine, der Mann hat sich selbst erschossen. Erinnert mich irgendwie an Agatha Christies - Ein Mord wird angekündigt -.“ „Viktor, du ließt zu viele Krimis. Das hier ist Realität. Warten wir ab, was die Obduktion ergibt.“ „Ja. Warten wir es ab.“ Dann kam Dr. Forbes auf die beiden Kommissare zu. „Entschuldigung. Sie brauchen mich nicht mehr, oder?“ „Oh Herr Dr. Forbes. Nein, im Moment nicht. Aber sie müssten dann später noch einmal ins Präsidium kommen, damit wir ihre Aussage protokollieren können. Kriminalinspektion 10. Erster Stock, Zimmer 25. Adickesalle 70. Sie bekommen dann eine Nachricht von uns, wann sie erscheinen sollen.“, sagte Viktor Tannhäuser, gab Dr. Forbes die Hand und eine Visitenkarte. „Tja, also… einen schönen Sonntag noch, die Herrschaften.“ Auch Katrin gab ihm die Hand. „Auf Wiedersehen. Herr Doktor.“

Dann ging Dr. Forbes kopfschüttelnd und langsamen Schrittes zurück zu seinem Haus. Die Kommissare schauten ihm noch so lange hinterher, bis Dr. Forbes die Tür hinter sich schloss. „Ich gehe noch mal eben zu den Bergers. Die müssen wir ja auch noch später vorladen.“, sagte Katrin und lief auf die Haustür zu. „Dann werde ich mal die Kollegen informieren und eine Fahndung einleiten. Auch was das Opfer angeht, frage ich mal nach, ob er polizeibekannt ist. Bin mal gespannt, wann und ob wir den zweiten Typen kriegen. Und was die Obduktion ergibt.“ Nachdem Katrin Gröpper auch den Bergers Bescheid gegeben hatte, wandte sie sich wieder Tannhäuser zu. „Frau Kommissarin?“, rief einer der Beamten der Spurensicherung. „Hier, das Projektil. Augenscheinlich Kaliber 9 mm.“ Er hielt das Projektil mit einer Pinzette fest und legte es in einen Plastikbeutel. „Danke Kollege. Viktor? Die Spurensicherung hat gerade das Projektil gefunden.“ „OK. Dann ab damit ins Labor.“ Katrin übergab die Beutel mit dem Projektil und den Papieren dem Beamten. Tannhäuser hielt sich derweil seine rechte Hand an den Bauch uns sagte: „Und wir beide, wir machen uns jetzt auch langsam auf den Weg. Die Fahndung läuft. Und über Dawid Sobieski hab ich auch noch keine neuen Infos. Wie wäre es mit einem Kaffee? Und Wecken?“ Ihren rechten Zeigefinger auf Tannhäusers Gesicht gerichtet, sagte sie: „Auf deine Rechnung, Viktor.“

(C) Schreibmöwe

Waren es fünf Minuten oder fünf Stunden? Völlig desillusioniert stand der Mann, mit seiner grünen Krawatte, im Gang seines idyllischen Häuschens. Seine Ohren rauschten vom Knall der donnernden Waffe. Das Bild des zitternden Selbstmörders. Das Blut, welches langsam im Vorgarten versickert. Knochensplitter und Gehirnmasse, die sich über den kalten, steinigen Weg verteilten. Dies waren die Eindrücke, die sich verewigten im verzweigten Nexus seiner Synapsen. Das dumpfe Hämmern des jüngeren Mannes gegen die Türe. Seine verurteilenden Worte hallten weit entfernt in dem Kopf des nach außen wirkenden friedliebenden Reisebüroleiters. Verursachten einen scharfen, stechenden Kopfschmerz.

Der Himmel Verdunkelte sich und ein tieffliegender Bomber kreiste über seinem Kopf. Eine entschlossene Hand packte Berger an der Schulter und zog ihn zu sich. „Augen auf Soldat!“, brüllte ihm ein uniformierter Mann mit gusseiserner Stimme und markanten Kinn entgegen.
Nein, dachte sich Berger, unmöglich! Unverkennbar war der Geruch. Eine Mischung aus Schießpulver, Fäkalien, Erbrochenem, Tod und Verderben. Einst diente er mit diesem Bruder im Krieg. Oberst Fischer. Der härteste der harten Hunde. Im Alleingang hatte er ein Bunker ausgehoben und die zwölf Feinde, die sich in dessen inneren verschanzten stumm geschaltet. Kurz vor dem Ende des Einsatzes erwischte ihn leider eine Splittergranate. Riss seinen Körper in zwei Hälften. Und doch stand er vor ihm.
„Is was Berger?“, brüllte er über das Aufschlagen der Artillerie hinweg.
„Nein Sir.“, antwortete Berger ohne Zögern.
Und wie damals bei seinem Einsatz in der Kampfzone marschierte die Einheit im Zwielicht Richtung Süden. Bevor der Trupp, bestehend aus Fischer, Berger, Düll und Martins in den vorgesehen Schützengraben hechten, erwischte Düll ein Scharfschütze. Entsetzt betrachtete der Reisebüroleiter aus Frankfurt die ihm bekannte Szene. Der Mann mit seiner grünen Krawatte. Apathisch in der Gegend stehend. Versuchend die Situation zu begreifen. Beäugte er, wie die übrigen Soldaten versuchten, den Toden erfolglos aus dem schlammigen Morast herauszuziehen. Mit einem erleichternden Stöhnen sprangen sie in den Graben. Ein letzter Blick auf den Kameraden, der im Dreck zurückgelassen wurde.
„Verdammter Feind!“, fluchte Fischer.
Schoss mit seinem Gewehr aus der Deckung. Eine kontrollierte Salve nach der Anderen. Wohlwissend, dass er so nichts traf. Ein Schnitt und es war finster. Berger bekam mit wie der Feind Martins, mit einem in Wellen geschwungenen Messer, aufschlitzte und sich Fischer zuwandt. Zitternd hob Berger einen Stein auf und schlich auf den gegnerischen Infanteristen zu. Ein Wunder, das sein Geruch niemanden aufweckte. Die Mischung aus Pisse und Blut war penetrant und Berger roch es Monate lang. Dieser Bemerkte ihn und griff an. Sie kämpften. Er schaffte es, die Klinge von sich fernzuhalten. Das Gestöhne zweier Kämpfender weckte zum Glück Fischer. Dieser schreckte auf und verpasste dem Kerl einen gezielten Tritt in die Kniekehle. Jauchzend fiel dieser zu Boden.
„Na los Soldat. Der geht aufs Haus!“, raunzte Fischer.
Berger überlegte nicht lang. Warf sich auf den Gegner, der in einer fremden Sprache um Gnade flehte. Selbst wenn er verstanden hätte, was er sagte, dem Frankfurter Reisebüroleiter war es egal. Hämmerte bis zur Unkenntlichkeit mit dem Stein auf den Kopf des Mannes. Stille. Die düsteren Wolken lichteten sich und die Sonne erstrahlte hell auf das Opfer. Ein rostiges Quietschen einer schmiedeeisernen Gartentür. Der Geruch nach der ersten feuchterdigen Herbstluft, und Berger? Berger kam zu sich. In der Rechten hielt er einen blutverschmierten Stein. Knochensplitter und Anderes klebten an ihm. Tropfen für Tropfen im rhythmischen Lied verband sich ein Blutstropfen am Boden mit seines Gleichen. Ein junger Mann, gekleidet mit Jeans und einer Jacke aus Lederimitat, der verzweifelt sein Smartphone mit der linken Hand umklammerte, lag unter dem aufrecht stehenden Soldaten. (C) FerrumCrow

Ausweg
Die Vibrationen dieser Stimme schwangen durch Dorothea`s Hirnwindungen, wollten aber den Sinn der Worte nicht sofort wiedergeben. Ihr Mund, vor Entsetzen wie zum Schrei geöffnet, blieb stumm. Dafür begann ihr rechter Fuß sich langsam in das Holzparkett zu drücken und hinterließ den Eindruck eines bockigen Kindes. Wenn da nicht das Blitzen in den sonst so friedvollen Augen nach außen gesprüht wäre.
„Warum sollte ich die Polizei rufen?“ Fragte sie mit der Fassade eines Engels.
„Tu was ich dir sage.“ Mit drohendem Ton wandte Richard sich seiner Frau zu und zeigte auf die verschlossene Tür. „Du willst das Blutspektakel vor unserem Eingang nicht sehen“. „Oh doch, das möchte ich!“ Mit spitzem Ellenbogen schubste Dorothea ihren Mann zur Seite und riss den Türflügel beinahe aus den Angeln.
„Wie ich es mir gedacht habe. Wieder einmal scheinst du mich mit deinen Verrücktheiten von unserem Kirchgang abhalten zu wollen.“

„Was glaubst du wird geschehen, wenn du es immer wieder tust? Meinst du ich habe es nicht bemerkt?“ stöhnte der sonst so gelassene Ehemann und wünschte sich lieber auf der kalten Kirchenbank sitzend. Doch daraus würde heute sicher nichts. Er müsste sich ein weiteres Mal mit seiner Gattin in ein Abenteuer stürzen, während die Aufräumer das Blut von den Platten neben dem kleinen Steinkreis schrubben würden. Falls es sich bei dem Begleiter des Toten nicht um ein KI-entwickeltes Hologramm handeln sollte, würden die Aufräumer ihm eine kleine Gehirnwäsche verabreichen und ihn in die Socialmediawelt zurückschicken.

Fast unbemerkt hatte Dorothea die Runenzeichen mit einem winzigen Feuerpunkt der aus ihrem rechten Zeigefinger sprühte in die Luft gebrannt und somit einen Vorhang um das Geschehen gelegt. Niemand würde etwas von den Ereignissen bemerken.
Dorothea - ein Name wie kein anderer verblasste ebenso schnell wie er gezeichnet wurde.
Dorothea
D - Darkness
O - Obsession
R - Rich
O - One
T - Transition
H - Hero
E - Energie
A - All

Sie war die personifizierte Dunkelheit, besessen von dem Glauben, die Einzige zu sein, die so machtvoll wäre, um mit ihrer Energie heldenhaft die Wandlung für alle bewirken zu können.

„Wir müssen schnell sein“, zischte sie ihn an. „ es schwebt noch ein kleiner Rest der rot-grauen Wolke über dem Toten. Wenn wir uns beeilen schaffen wir es noch hindurch."

Sie griff nach den Dollarzeichen um Richard’s Hals und zog ihn lautlos mit sich in eine Wolke, so rot wie Blut, so grau wie Gehirnzellen und so weiß wie ein ewiges Licht - das Portal. Im letzten Moment sahen sie den wie versteinert wirkenden Begleiter des Toten, entrissen ihm sein Handy und verschwanden.
Das Handy war noch eingeschaltet. Warm und fest spürte Berger die Spuren seines Nichtstuns in seiner Hand, und noch schwerer brannten sie sich in seine Seele. Was hätte er tun können? Er hatte keine 10.000€, wieviel er mit seinen Aktienspekulationen verloren hatte, davon hatte seine Frau keine Ahnung und diese Leute vor seiner Tür wohl auch nicht. Vielleicht war es ein glücklicher Zufall, dass sie durch das unerwartet aufgetauchte Portal jetzt verschwinden konnten.

Berger konnte sich der mächtigen Energie seiner Frau nicht entziehen, weder in diesem Moment noch auf den luxuriösen Shoppingtouren in Paris oder New York. Nie konnte er genug Geld heranschaffen, immer war es zu wenig. Sollten sie auf der anderen Seite jedoch in den Wäldern anstatt auf dem Maisfeld landen, wüßte er sich ihr gegenüber zu wehren. Hier hatte er seine Wurzeln und würde ihr seinen Namen erklären, beginnend mit der Doppelbedeutung des ersten R`s
R - roots + rules, seinen Wurzelns, seinen Regeln und endend mit

D - dance - dann würde sie nach seiner Nase tanzen.

„Dorothea, hörst du nicht?“ Mit wild klopfendem Herzen sah Herr Berger sich nach seiner Ehefrau um, die doch eben noch hinter ihm im Hausflur gestanden hatte. Er blinzelte. Ihm war gar nicht gut. „Dorothea? Dorothea!“
Dass nicht nur vor seiner Haustür, sondern auch innerhalb der vermeintlichen Sicherheit seines eigenen Heims etwas ganz und gar im Argen lag, merkte er, als er die Hintertür ins Schloss fallen hörte. Ein im Grunde unschuldiges Geräusch, für das es viele unschuldige Erklärungen geben könnte. Dorothea könnte an die frische Luft gegangen sein oder die Katze hereingelassen haben. Sie könnte sich entschieden haben, im Garten einige der noch im Spätsommer blühenden Blumen zu pflücken, um damit den Kaffeetisch nach dem Gottesdienst zu dekorieren. Doch Herr Berger spürte instinktiv, dass keine dieser Erklärungen zutraf. Und als eine kühle, fremde Männerstimme aus dem Salon erklang, kam es ihm schon fast logisch vor, dass auf den Wahnsinn von soeben, nun der nächste Wahnsinn folgen würde.
„Herr Berger. Seien Sie doch so gut und gesellen Sie sich zu mir. Kommen Sie. Nur keine Scheu.“
Mit weichen Knien betrat Herr Berger den Salon, wo ein junger Mann auf dem Sofa neben dem Bücherregal saß. Im Gegensatz zu den Männern an der Tür wirkte dieser hier in seinem grauen Sakko und mit der auf dem Salontisch abgelegten Aktentasche durchaus wie ein Vertreter.
„Wo ist mei…“ Herr Berger hielt inne, als seine Stimme sich überschlug, und räusperte sich, bis er zuversichtlich war, einen festen Tonfall anschlagen zu können. „Wo ist meine Frau?“
„Sie wurde soeben abgeholt, Herr Berger und befindet sich nun in der Obhut meines Auftraggebers. Grämen Sie sich nicht. Wenn Sie genau tun, was ich Ihnen sage, steht der baldigen Heimkehr Frau Bergers nichts im Wege. Setzen Sie sich doch.“ Einladend deutete der grausige Vertreter zum Sessel, als wäre er der Hausherr.
„In wessen Obhut? Was?“ Es fiel Herr Berger schwer, klar zu denken. Der Anblick des Toten auf dem Plattenweg ließ ihn nicht mehr los. „Vor meinem Haus hat sich jemand erschossen. Erschossen!“
„Genau, ja. Das war Herr Schätzle. Seine Zeit war abgelaufen, Herr Berger. Ihre eigene Zeit läuft jedoch gerade an. Wir sollten sie nicht vergeuden. Wollen Sie sich nicht doch lieber hinsetzen? Sie sind etwas bleich um die Nase.“
Kraftlos sank Herr Berger in seinen Lieblingssessel, dem auf einmal jede Behaglichkeit abhandengekommen zu sein schien. „Meine eigene Zeit?“
„Ja, Herr Berger. Sie müssen sich jetzt zusammenreißen, sonst haben Sie das Spiel schon so gut wie verloren.“
„Ich will nicht mitspielen“, flüsterte Herr Berger und ein kalter Schauer rieselte ihm durch alle Glieder.
„Na na, Herr Berger. Dann hätten sie Ihrem Vorgänger die zehntausend Euro geben sollen. Damit wäre das Spiel beendet gewesen. Doch jetzt geht es in die nächste Runde und Sie sind am Zug. Gelingt es Ihnen innerhalb der nächsten zwei Stunden hier in dieser Stadt einen Ihnen fremden Menschen zu finden, dem Ihr Leben zehntausend Euro wert ist, haben Sie gewonnen.“
„Das wird doch niemals klappen!“
„Und ist das nicht schrecklich?“ Der Fremde beugte sich ein wenig vor und für einen Moment flackerte in seinen Augen etwas Unstetes. „Diese Verrohung der Menschheit? Diese Kälte der Gesellschaft?“ Er lehnte sich wieder zurück und atmete tief durch. „Zu den Einzelheiten. Das ganze … nun, sagen wir: Experiment, wird dokumentiert. Ich werde Sie auf Schritt und Tritt begleiten und manchmal filmen. So wie es mein Kollege eben bei Herrn Schätzle getan hat. Wir werden uns gleich auf den Weg machen und uns unauffällig verhalten. Wie Vater und Sohn auf einem Sonntagsausflug.“
„Wieso? Das ist … das ist doch krank. Filmen? Wer will so etwas sehen?“
„Das braucht Sie zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht zu kümmern, Herr Berger. Wollen Sie sich umziehen, oder sind sie so fertig? Denken Sie an bequemes Schuhwerk. Sie werden eine Weile zu Fuß unterwegs sein. Ihr Auto dürfen Sie nicht nutzen. Über den öffentlichen Nahverkehr können wir eventuell reden.“
„Ich bitte Sie …“
„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie hier gleich unterbreche. Nicht um Mitleid heischen, Herr Berger. Sie selbst hatten doch auch keins, nicht wahr?“
Herr Berger blickte auf die Krawatte mit den goldfarbenen Eurozeichen herab, die ihn jetzt geradezu zu verspotten schien.
„Nicht verzagen, Herr Berger.“ Der Mann sprach nun tröstlich und Herr Berger hob hoffnungsvoll den Kopf. „Wenn die Zeit abgelaufen ist und Sie sich erschießen, ehe ich es für Sie tue, dann retten Sie damit Ihre Frau. Eine letzte selbstlose Tat. Die Tilgung jeglicher Schuld. Ich kann mir vorstellen, dass Herr Schätzle am Ende einen tiefen Frieden empfunden hat, und Ihnen wird es genauso ergehen.“
Kurz hatte Herr Berger das Gefühl, schlecht Luft zu bekommen und ihm wurde leicht im Kopf, als befände sich dort schon jetzt nichts mehr als rötlich-grauer Nebel. Dann zwang er sich zur Ruhe und dachte an Dorothea. Ob er ihre Entführung noch hätte verhindern können, wäre er vorhin gleich zur Hintertür gerannt? Wahrscheinlich nicht. Wenn er nun vorgab, mitzuspielen, und dann unterwegs zur Polizei floh? Doch hatte er keinen Zweifel, was das für seine Frau bedeuten würde. Nein, ihm musste etwas Klügeres einfallen, um diesem Irrsinn ein Ende zu bereiten. Würde die Polizei nicht sowieso bald auftauchen? Der Schuss musste in der ganzen Nachbarschaft zu hören gewesen sein. Lag die Leiche noch vor seiner Tür, oder war sie ebenso verschwunden wie Dorothea? Mit bangem Herzen beobachtete er, wie der Eindringling auf seine Uhr blickte und dann mit routiniertem Griff die Aktentasche öffnete.

Frau Berger sah ihren Mann fassungslos an. „Was ist denn…“ Tu was ich dir sage ", erklärte er und klang grober, als er beabsichtigte.
Sie lief zum Telefon und wählte die 110. „Sie müssen sofort kommen „, stotterte sie. „Vor unserer Tür hat sich jemand erschossen.“
Dann ging sie zurück ins Wohnzimmer, wo sich ihr Mann, trotz des frühen Morgens, einen Whisky einschenkte. Seine Hand zitterte. Immer wieder drehte er sich um, als stände zu befürchten, daß die Männer da draußen, das alles inszeniert hätten, um sich Einlass ins Haus zu verschaffen.
Was ist denn eigentlich passiert fragte Frau Berger. Ihr Mann antwortetete nicht. Fragte stattdessen:“ Kannst du mal nachsehen, ob der Mann da noch liegt?“ Seine Frau ging zum Fenster und sah eine Menschentraube auf der Straße stehen. Geschockte Gesichter starrten in Richtung ihrer Haustür. „Es scheint so“, sagte sie. „Was wollten die denn von dir?“ Herr Berger straffe seine Schultern und zog seine Krawatte straff, die sich noch gar nicht gelockert hatte. "Hatte er mich nach 10,- Euro gefragt, oder meinetwegen 50. Aber 10.000. Soweit kommt es noch, da kann ich ja gleich mein ganzes Vermögen verschenken.
„Würde der Mann dann noch Leben?“, fragte seine Frau

Mit Empörung, aber auch mit Entsetzen in der Stimme, schilderte er seiner Frau, was sich an der Haustüre soeben abgespielt hatte. Sie, die zuvor schon einen spöttischen Kommentar auf den Lippen hatte und auf seine Krawatte deutete, starrte in sein bleiches Gesicht und griff zu ihrem Telefon.
»Hallo, hier spricht Dorothea Berger, Goethestraße 10. Vor unserer Haustür hat sich soeben ein Mann mit seiner Pistole selbst erschossen und ein zweiter Mann beschuldigt meinen Mann, an dem Tod verantwortlich zu sein!« Ihre Stimme brach. Erst jetzt erreichten die eigenen Worte ihre Gefühle und sie beantwortete weitere Fragen des Polizisten stockend. Sie ging zur Türe und öffnete sie. Dann beschrieb sie dem Beamten den Toten, obwohl ihr jetzt auch der Anblick zuviel wurde.
»Entschuldigung, ich glaube, ich muss…«, Schnell schloss sie die Eingangstüre und stürzte auf die Kloschüssel der Gästetoilette dahinter zu. Doch sie brachte nur ein trockenes Würgen hervor und drehte sich zu ihrem Mann um. Dieser nahm sie in die Arme und entschuldigte sich für sein planloses Verhalten.
»Schon gut! Einer muss den Toten bewachen, bevor der zweite Mann ihn wie auch immer manipuliert…«
»Ja, du hast recht. Ich übernehme das und warte auf die Polizei!«
Da vernahmen sie auch schon die Polizeisirene und das Tatütata eines Rettungswagen. So standen sie zitternd Hand in Hand in der jetzt wieder weit geöffneten Türe und sahen mit weit aufgerissenen Augen einem Kommissar entgegen, den Blick zur Leiche und der riesigen Blutlache unter ihr vermeidend. Sie baten ihn herein, nachdem dieser mit Schutzschuhen angetan den Tatort oberflächlich inspiziert hatte.
»Meine Kollegin kommt auch gleich und die Spurensicherung ist unterwegs.«, sagte er und stellte sich als Hauptkommissar Christian Welter, vor. Zu dritt gingen sie in die wohnliche Küche und setzten sich gemeinsam jeweils auf einen der sechs Stühlen, die den schönen alten Tisch, der den Hauptteil des Raumes einnahm, umstanden. Er nahm ihre Personalien auf und fragte anschließend:
»Erzählen Sie mal der Reihe nach. Kennen Sie den Toten? Warum war er hier? Was wollte er von Ihnen? Und wissen Sie, wo der zweite Mann hin ist?« Da klingelte es an der Wohnungstüre.

Marion Kulinna©

Dorothea stand im Flur und sah ihn irritiert an. Sie war gerade im Begriff gewesen, ihren Mantel für den Kirchgang anzuziehen.
„Die Polizei?“, fragte sie alarmiert, ohne sich von der Stelle zu rühren. „Was ist denn los, um Gottes willen. Was war denn das eben für ein Knall da draußen?“
Richard stürzte auf sie zu, packte sie bei den Schultern und schrie: „Doro, ein Mann hat sich gerade vor meinen Augen erschossen! Draußen, vor unserer Haustür! Los, wir müssen die Polizei rufen!“ Mit drei Schritten war er beim Telefon, das auf dem Counter an der Garderobe stand, und drückte mit hektischen Fingern auf die Notruftaste.
„Ein Mann hat sich erschossen?“, echote seine Frau. Sie hob schockiert die Hand vor den Mund, als wollte sie einen Schrei zurückhalten.
„Ja, und ein zweiter war dabei und hat alles gefilmt. Er wollte zehntausend Euro von mir.“ Er hielt das Telefon ans Ohr. Seine Hand zitterte leicht. Aus dem Hörer war die sonore Stimme eines Beamten zu hören, die nach dem Grund des Anrufs fragte. Berger bemühte sich, seinen Atem zu beruhigen und sich unter Kontrolle zu bekommen. Seine Frau hing an seinem Arm und folgte dem Gespräch, während er die Fragen des Polizisten beantwortete.
„Ja, hallo! Ich möchte einen Vorfall melden. Ein Mann hat sich vor meiner Haustür erschossen, gerade eben. Sie müssen sofort jemanden herschicken … mein Name? Mein Name ist Richard Berger, die Adresse ist … Ja, ein Mann … vor meiner Haustür … erschossen, mit einer Pistole … ein zweiter Mann hat alles gefilmt mit seinem Handy … nein, mir völlig unbekannt … nein, keine Ahnung … Gut, meine Frau und ich bleiben im Haus. Gut!“
Berger drückte auf die Aus-Taste und stellte das Telefon zurück auf den Counter.
„Sie schicken sofort einen Streifenwagen“, informierte er seine Frau, die ihn mit angstvollen Augen ansah. Er hatte sich etwas beruhigt und war wieder in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Das Geld in dem kleinen Tresor hinter dem Aquarell im Wohnzimmer fiel ihm ein. Zehntausend Euro in bar. Der Notgroschen, den er nach dem Desaster mit den Aktien zurückgelegt hatte und der zusammen mit der Münzsammlung und dem Schmuck seiner Frau seine einzige Rücklage darstellte. Konnte es ein Zufall sein, dass der Mann gerade diese Summe verlangt hatte? Plötzlich hatte er das das zwingende Bedürfnis nachzusehen, ob das Geld noch da lag, wo es sein sollte. Er löste sich von seiner Frau und eilte ins Wohnzimmer
Dorothea blieb unschlüssig im Flur stehen. Was für ein unglaubliches Ding spielte sich hier ab? Sie lauschte. Von draußen war kein Ton zu hören. Vorsichtig näherte sie sich der Haustür und spähte durch den Spion.
„Richard!“, rief sie mit verhaltener Stimme, „komm doch mal!“ Der Klang ihrer Stimme veranlasste Berger, im Laufschritt aus dem Wohnzimmer zu herbeizueilen.
„Schau nur, da ist kein Mensch draußen!“, flüsterte seine Frau ihm zu.
Berger öffnete die Tür einen Spalt und lugte hinaus. Tatsächlich, niemand war zu sehen. Die Männer waren verschwunden, alle beide! Nur ein roter Fleck auf der Pflasterung des Weges zeugte davon, dass er nicht geträumt hatte.

»So warten Sie gefälligst. Warten Sie!«, rief Berger dem jüngeren seiner beiden frühen Besucher, der das ganze Geschehen gefilmt hatte, nach. Berger hatte sich nur kurz zu seiner Frau umgedreht und ihr das soeben Passierte für die Polizei geschildert, als er den Sprücheklopfer von seinem Anwesen rennen sah. »Verflucht, was sollte das denn? Er ist abgehauen!«, Berger fuhr mit seiner Wut genauso schnell wieder nach innen, wie sie rausgekommen war, und verfiel in einen ergründenden Zustand. Er hatte viele Fragen im Kopf. Wer waren die zwei? Wo für brauchte der Ältere das Geld? Wozu hat der Jüngere alles aufgenommen? Weswegen hat der Ältere sich das Leben genommen? Und warum waren sie ausgerechnet bei ihm noch in der Frühe an einem Sonntag? Er hatte viele Fragen im Kopf und einen Toten samt dem ganzen Blut direkt vor seiner Haustür. Die Fragen mussten noch warten, denn wie das Wetter im April immer so spielt, so fing es allmählich an zu schneien.

Nach Jahren gemeinsamer Fernsehabende, bei denen stets ein neuer Tatort geschaut wurde, wusste Berger genau, was er tat, als er die Digitalkamera seiner Frau aus der Schublade im Esszimmer herausholte und begann den Toten zu fotografieren, bevor der Schnee wichtige Spuren überdeckt und auflöst. Jeder Blutspritzer aus jeder erdenklichen Perspektive. Berger nahm alles auf und achtete darauf, nichts zu bewegen und nirgendwo reinzutreten. Er fand sich voll in seinem Element wieder, dabei hielt er es für das Beste, dass Dorothea im Haus blieb und auf weitere Anrufe der Polizei wartete.
Berger trug Handschuhe und befolgte weiterhin die im Fernsehen als typisch behandelte Prozedur. Als Nächstes musste die Tatwaffe sorgfältig aufgenommen werden. Doch wo war sie? Es war eine P6 gewesen, da war sich Berger nach all den Zeiten im Dienst vor seinem Reisebüro sicher, doch irgendetwas störte Berger an der Waffe. Sie sah nicht wie die aus, die er kannte. Wenn er sie doch nur finden und betrachten könnte. Sein Gedankenspiel wurde plötzlich und unerwartet beendet.

»Richard, lass gut sein. Die Polizei hat schon jemanden geschickt. In die Kirche schaffen wir es dann vielleicht noch oder?«, Dorothea Berger schien gänzlich unbeeindruckt, als sie die Tür für einen Spalt öffnete und ihren Mann neben einem Toten auf allen Fußspitzen umherspazieren gehen sah. »Weißt du, mein Herzblatt, ich will den jüngeren Generationen lediglich etwas unter die Arme greifen und schließlich geht es hier auch um mich.«, Berger antwortete seiner Frau vertieft in seiner Suche nach der P6. Er wusste, wenn erstmal alle Einsatzkräfte hier sind, würde er dazu nicht mehr kommen, da seine Frau in Panik ausbrechen würde. Er wusste, wenn seine Frau in Panik ausbrechen würde, dann würde er nicht länger der Vergangenheit hinterhertrauern und selber den Tatortkommissar spielen und den Fall lösen.

Ein paar Minuten der erfolglosen Suche später leuchtete das Blaulicht in abwechselnd Rhythmus vor dem Anwesen der Bergers. Eine junge Frau, die auf ihrer Uniform der Namen A. Hallbeck trug, stieg aus ihrem Auto aus, stürmte auf Berger zu und ohne sich vorzustellen, sagte sie in einem aufregenden Klang, das selbst der Tatort erfahrene Reisebüroinhaber aus seiner inneren Ruhe herausgerissen wurde und fast die Kamera fallen ließ: » Sie kennen mich nicht, doch ich kenne Sie. Sie sind in Gefahr! Warum haben Sie ihm nicht das Geld gegeben oder wenigstens das Video zerstört? Jetzt hat er Sie genau da, wo er Sie schon damals haben wollte!«

G.B.

„Goldstein, Goldstein er war hier… es ist hier bei uns passiert“. Max stolperte mit seinen langen dünnen Beinen in das offene Büro hinter seinem Schreibtisch.
„Wer, was, wo? Klein, Ich habe Ihnen schon tausend Mal gesagt, dass Sie lernen müssen sich präziser auszudrücken, wenn Sie hier erfolgreich sein möchten. Man schaut auf uns und sie ziehen mich mit runter“ Kriminaloberkommissar Jakob Goldstein war ein Polizist und Mann der alten Schule. Seine militärische Vergangenheit war sofort zu erkennen, wenn man nur wenige Sekunden im gleichen Raum mit ihm war.
„Abgesehen von ihren mangelhaften Informationen werde ich von Ihnen mit Oberkommissar, mindestens aber Herr Goldstein angesprochen, verstanden? Und jetzt ergänzen Sie ihre Informationen, aber zügig und nehmen sie dabei eine ordentliche Haltung an.“
Max atmete tief durch, stellte sich aufrecht hin und dachte für einen kurzen Moment, er hätte sich nciht bei der Polizei sondern dem Militär beworben.
„Es kam grad ein Anruf rein, Frau von dem Reisetypen, Berger.“ Max setzte ein künstliches lachen auf und begann zu singen „Sie wollen eine schöne Reise ohne ärger, jetzt zu…“
„Kommissar MAXIMILIAN KLEIN“ Max starrte mit großen Augen auf die hervorkommenden Adern an Goldsteins Hals „wenn sie die Polizeiarbeit nicht mit dem nötigen Ernst angehen, sorge ich dafür, dass dies ihre letzte Woche hier ist!“
„Ähm ja, natürlich. Also es geht um den falschen Samariter. Er war mit seinem Opfer vor der Tür der Bergers. Es ging wieder um zehntausend Euro. Wie die anderen auch, hat Herr Berger nicht gezahlt und deshalb gibt es wieder eine Leiche“.
Jetzt wurden Goldbergs Augen groß.
„Das gleiche Vorgehen, wie in Düsseldorf, Hamburg, Dresden und München?“
„Soweit ich Frau Berger bisher verstanden habe, ja.“
„Der Falsche Samariter. Hier bei uns. Klein, wir müssen sofort zu den Bergers, bevor das LKA informiert werden muss.“ Goldstein zeigte auf den Parkplatz, den er aus seinem Büro sehen konnte. „Hol unseren Wagen, ich komme sofort raus.“ Max setzte sich sofort in Bewegung „Jawohl Herr Oberkommissar, ich eile“
„Und Klein“ er führte seinen Zeigefinger vor den Mund „zu niemandem ein Wort, bis wir uns den Tatort genau angeschaut haben. wir müssen ja sicher gehen, dass es wirklich der falsche Samariter ist“.
Etwas verwirrt verließ Max das Büro und machte sich auf den Weg zum Auto. Jakob Goldstein, der penibelste Mensch der Welt, weicht vom vorgeschriebenen Meldeweg ab? Irgendetwas UNgutes ging hier vor sich. Während Max das Polizeiauto vor der Eingangstür bereitstellte, verstaute Goldstein noch letzte Dokumente in der Schreibtischschublade, damit auch alles eine Ordnung hat. Er blickte mit einem Seufzer auf ein Familienbild, dass er in der Schublade versteckt hielt. Langsam streichte er über die Frau an seiner rechten. „Nicht mehr lange kleine Schwester. Hier kommt die Chance die ich gebraucht habe. Mit dem Geld das ich dann mehr bekomme, können wir uns dann die OP für Papa leisten.
„Was wissen Sie über den falschen Samariter, Klein?“ Goldstein saß auf dem Beifahrersitz und hatte einen großen Aktenordner bei sich auf dem Schoß.
„Es ist jetzt schon der 5. Fall. Immer das gleiche Vorgehen. Der Samariter klingelt in Begleitung eines anderen Mannes im fortgeschrittenen Alter bei jemandem, der relativ Vermögend ist. Die Begleitung fordert zehntausend Euro und wenn die Leute nicht bezahlen, erschießen sie sich mit einer Pistole. Der Samariter filmt das ganze und stellt die Videos kurz danach über Telegram online. Bisher hat sich aber noch niemand ein solches Video gemeldet“.
„Und wer ist der falsche Samariter?“
„Das weiß man noch nicht genau. Er ist groß, ca. 1,90 und hat eine sportliche Figur. Hat eine Glatze, die aber wahrscheinlich selbst gewählt ist, da er laut den Beschreibungen um die 30 sein sollte. Er trägt keine auffällige Kleindung und wurde von allen als eher unscheinbar beschrieben.“
„Und die Opfer?“
„Alles Männer im fortgeschrittenem Alter. Keiner jünger als 62. Und das wichtigste: nach den neusten Erkentnissen, hatten alle Opfer eine tödliche Krankheit und nicht mehr allzulange zu leben.“
Goldstein ließ seinen Blick durch die Seitenstraßen schweifen.
„Gut, dann sind sie ja besser informiert, als ich dachte. Was können wir daraus für Schlüsse ziehen?“
„Das LKA geht davon aus, dass den Opfern das Geld versprochen wird um damit vielleicht hinterbliebene zu versorgen. Für den Fall dass das Geld nicht gezahlt wird, war bisher ja immer der Fall war, wird dann große Aufmerksamkeit auf das Thema „Die Schere zwischen arm und reich wird immer größer Bla Bla gelenkt.“
„Klein, reißen sie sich zusammen“. Goldstein warf Max einen finsteren Blick zu.
„Jawohl, warum es genau die Summe ist, weiß man bisher nicht. Keines der Opfer hatte große Geldprobleme. Was denken Sie? Geht es dem falschen Samariter um die Opfer oder um die unfaire Finanzwelt?„
„Ich glaube es ist ein Spinner, der einfach ein Aufmerksamkeitsproblem hat. Diese ganzen Jungen Leute suchen sich doch mit den absurdesten Trends ihre Likes und Follower. Wir werden sehen. Es ist auf jeden Fall eine Chance für mich, ich bin wieder soweit. Soll das LKA mal schön warten.“ Die Finger griffen immer fester um den Ordner in seinem Schoß. „Hier rechts abbiegen Klein und dann sind wir auch schon da.“
Die beiden gingen durch die schmiedeeiserne Gartentür. Unterwegs hatte Goldstein noch die wichtigsten Telefonate geführt um alle nötigen Dienststellen zu kontaktieren, ohne zu viel Wind beim LKA zu machen.
Als sie näher kamen und den Blick auf die Leiche warfen, viel Goldstein auf einmal auf die Knie.
„Herr Oberkommissar, alles gut? Was ist mit Ihnen?“
„Das… das ist mein Vater…“

Ein gutes Stück die Straße hinunter lehnte ein junger Mann rücklings an einem Sportwagen, die Arme vor der Brust verschränkt. Ein paar Strähnen des blonden Haares hingen ihm vor den Augen, die unentwegt auf die Szene gerichtet waren, die sich vor Bergers Tür abspielte.
Die Pistole verkündete ihren tödlichen Schuss und der Körper des Mannes sackte zusammen wie eine Marionette, deren Schnüre durchtrennt worden sind.
Die Mundwinkel des jungen Mannes zuckten, dann stieg er ins Auto und fuhr davon.

Blaues Blinklicht reflektierte von den Fensterscheiben in der Straße. Mehrere Fahrzeuge von Polizei und Rettungsdienst waren vor Ort. Geschäftiges Treiben sorgte für neugierige und besorgte Blicke, die durch geschlossene Vorhänge spähten und über dem Toten lag ein weißes Tuch. Nicht lange, und der Leichnam würde in den Leichenwagen geschoben werden.
“Wie hirnlos manche Leute sind”, kommentierte einer der Kriminalpolizisten leise, als er auf den Toten hinab sah, und erntete ein verstohlen belustigtes Schnauben seines Kollegen. Polizistenhumor.
Indes stand Polizeihauptmeisterin Klentmann in der Küche der Bergers, um deren Aussage aufzunehmen.
“Und wohin ist er gegangen, der Mann mit dem Smartphone?”, wollte sie wissen, aber Berger schüttelte nur den Kopf, während seine Frau fahrig im Hintergrund Kaffee zubereitete. Klentmann bemerkte dies nebenbei und wertete das als klassische Schockreaktion.
Sie sah auf ihren Notizblock, dann wieder zu Berger. Der hob die Hände und klang aufgebracht. “Wie gesagt, ich hab durch’s Fenster geschaut, nachdem meine Frau Sie angerufen hat, und der Mann war spurlos verschwunden! Keine Ahnung, wohin. Ich hoffe, Sie suchen nach ihm?” Sein Tonfall verlangte nach nichts anderem als Zustimmung.
“Natürlich, Herr Berger. Und Sie haben diese Männer noch nie zuvor gesehen?”
“Herrgott nochmal, nein, wie oft denn noch.”
Klentmann nickte. “Gut. Dann bleiben Sie bitte im Haus, bis wir draußen fertig sind. Ich gebe Ihnen dann Bescheid. Sicher, dass ich Ihnen niemanden vom Krisendienst holen soll?”
Berger sah zu seiner Frau und lächelte fahl. Wenn er eines an Dorothea liebte, dann war es ihre Art, die Dinge hinzunehmen, wie sie waren. Denn Gott tat nichts ohne Grund, so ihre Ansicht. Und was war nun heute der Grund, nicht in die Kirche gehen zu können, sondern erpresst zu werden, nur um anschließend Zeuge eines Suizids vor laufender Kamera zu sein?
“Nein, vielen Dank, Frau Klentmann. Wir kommen zurecht.”

Auf der Wache stand Klentmann vor dem Toilettenspiegel und betrachtete ihr Spiegelbild. Wie konnte man sich nur selbst umbringen, nur weil man von einem Fremden keine zehntausend Euro bekam? Was steckte dahinter und welche Rolle spielte der Kerl mit dem Smartphone?
War das wieder so eine dämliche TikTok-Challenge?
Nun, sie würde es wohl nur am Rande verfolgen können, denn das war Sache der Kriminalpolizei, nicht ihre.
Franziska Klentmann, Mitte dreißig, glücklicher Single und dem aktiven Nachtleben nicht abgeneigt. Eine stinknormale Streifenbeamtin, die ihren Job machte, aber definitiv keine von denen war, die ihr Leben dafür opfern würden wie der heroische Actionheld in den Filmen.
Wie sehr sie sich irrte.

Und irgendwo in einem der besseren Wohnviertel Frankfurts legte sich ein Finger auf eine Türklingel.

Offene Enden – zweiter Teil
Zehntausend Euro

von Frank Rychlik

Richard Berger hatte in der Nacht kein Auge zugemacht. Immer wieder hatte ihn das Traumbild des schlaff zu Boden sackenden Mannes und die Blutlache auf den Plattenweg gepeinigt, das viele Blut, vermischt mit grau-roten Gallerte, wahrscheinlich Gehirnmasse; und dann die starren Augen, die ihn vorwurfsvoll angeblickt hatten. Jedenfalls hatte er das so in diesem Moment empfunden.
Aber danach hatte er sich immer wieder eingeredet, und seine Frau bestärkte ihn darin, dass er für den Tod des alten Mannes nicht verantwortlich ist. Es ging ja auch alles so schnell. Wie konnte er ahnen, dass der Mann seine Drohung tatsächlich wahr machen würde. Nein, nein und nochmal nein, dafür konnte ihn niemand verantwortlich machen.
Wie es schien, glaubte ihm die Polizei, obwohl der jüngere Mann, der gefilmt hatte und alles hätte bezeugen können, nirgendwo mehr zu finden war. Der Kriminal-Haupt-, Ober- oder Sonstwie-Kommissar Stachlik - er konnte sich in der Aufregung nicht mehr genau an dessen Dienstgrad erinnern - hatte ihm zu seiner Beruhigung erklärt, dass er ihn nicht als Beschuldigten, sonder lediglich als Zeugen befrage. Trotzdem hatten seine Kollegen in einem sogenannten Beweissicherungs- und Dokumentationskraftwagen der Marke Volkswagen Fingerabdrücke von ihm genommen, was ihn sehr verunsichert hatte. Dann waren die Kriminalisten mit ihrem schwarzen BMW wieder weggefahren. Auch die Beamten der Spurensicherung folgten ihnen wenig später in ihrem weißen Transporter. Der Anblick war für Richard Berger beklemmend gewesen, als man anschließend den Leichnam in einen schwarzen Plastiksack legte und danach in einem Blechsarg abtransportierte. Um das Blut hatte sich niemand gekümmert. Das hatten sie Dorothea überlassen, die mit Eimer und Bürste ihr Bestes gab.
Am nächsten Morgen tauschte sich das Ehepaar Berger bei Kaffee und aufgebackenen Brötchen noch einmal ausführlich über das gestrige Geschehen aus und beschlossen, mit ihrem zwanzig Jahre alten E180er Mercedes zum Feldberg im Taunus zu fahren, um sich beim sonnigen Wetter an der frischen Luft die trüben Gedanken aus dem Kopf rauszuwandern.
Da läutete das Telefon.
»Hier Berger.«
»Hallo Richard.« Er hatte Mirko, seinen Kompagnon ihres gemeinsamen Reiseunternehmens, sofort an der Stimme erkannt. »Hast du dir heute das Morgenmagazin im Fernsehen angeschaut?«
»Nein. Wieso?«
»Du hattest mir doch gestern Abend von dem Kerl erzählt, der alles mit seinem Smartphone gefilmt hat.«
»Ja, und?«
»Die Aufnahmen kamen heute früh im Fernsehen.«
»Was?«
»Naja, wie er sich erschossen hat, haben sie natürlich nicht gezeigt, nur wie sie den Sarg abtransportiert hatten. Und natürlich warst du auch darauf zu sehen.«
Richard Berger war entsetzt.
»Dein Gesicht haben sie zwar nur unscharf abgebildet, aber aus dem Wortbeitrag geht eindeutig hervor, wer du bist, und dass es einzig und allein nur unsere Firma betreffen kann.«
»Was haben sie denn berichtet?«
»Du kannst es streamen. Mach dich aber auf alles gefasst. Ich melde mich später noch einmal.«
Richard Berger schaltete seinen Smartfernseher ein. Seine Hände zitterten, während er auf der Fernbedienung die Tasten drückte. Und dann hörte er den Kommentar der Filmreportage, dabei hatten sie auch extra die Porträtaufnahme des Selbstmörders eingespielt:
Heute Morgen hat sich in Frankfurt am Main eine tödliche Tragödie zugetragen. Der Elektriker Paul S. aus Oberursel hat sich vor dem Haus des Reiseunternehmers Richard B. und vor dessen Augen in den Kopf geschossen. Dies wurde zufällig von einem Bekannten des Opfers gefilmt. Demnach soll es sich um eine Verzweiflungstat gehandelt haben. Der Mann habe den Unternehmer um zehntausend Euro angefleht, worauf der Unternehmer ihm nicht nur die Hilfe verweigert, sondern ihn sogar aufgefordert haben soll, sich außerhalb seines Grundstückes umzubringen …
Richard Bergers Gemütszustand schwankte zwischen unsäglichem Schrecken und Wut über die diffamierende Berichterstattung.
Plötzlich hörte er ein Krachen und ein Aufschrei seiner Frau.
Auf dem Teppichboden des Wohnzimmers lagen ein faustgroßer Stein und großflächig verteilte Glassplitter. Vorsichtig schaute er durchs Fenster mit der zerbrochenen Scheibe. Vor dem Haus krakeelten ein halbes Dutzend Kerle: Mörder, Mörder, Mörder!
Das Telefon läutete erneut.
Richard Berger überlegte einen Augenblick, ob er rangehen soll. Wer weiß, wer sich meldet. Dann nahm er aber trotzdem den Hörer ab.
»Richard! Ich habe etwas herausgefunden.« Richard Berger schließt für einen Moment erlöst die Augenlider. Gott sei Dank, es ist Mirko.
»Ich weiß jetzt, wer der Mann ist.«
»Welcher Mann?«
»Na der, der sich erschossen hat. Es ist Paul Sommer, ein Kunde von uns. Stefan hat ihn im Fernsehen wiedererkannt. Er hat vor zwei Jahren bei uns eine Reise gebucht. Und jetzt kommts: Weißt du wohin?«
Vor zwei Jahren? Richard Berger ahnt Schlimmes.
»Nach den Philippinen!«
Um Gottes willen, denkt, Richard Berger. Jetzt kocht wohl die unsägliche Geschichte von damals wieder auf.
»Es kommt noch schlimmer. So ein Möchtegernjournalist, ein Blogger namens Jörg Blumentreu mit über zehntausend Followern, hat das bereits herausgefunden. – Richard! Da will uns irgendwer fertig machen!«
Aber wer um Gottes willen soll das sein?, fragte sich Richard Berger, während er sich niedergeschmettert in einen Stuhl sinken ließ.

„Was hast du gesagt? Was war denn Schatz?“, sagte Dorothea und steckte ihr Liederbuch in ihr Täschchen. „Jetzt geh und ruf die Polizei. Vor unserer Tür hat sich einer erschossen“, schrie Richard. „Quatsch, du machst dich über mich lustig. Warum sollte sich jemand vor unserer Tür erschießen? Ich bin ja schon fertig. Komm wir gehen in die Kirche“, antwortete Dorothea. „Hast du mich nicht verstanden? Ruf die Polizei, aber sofort“, sagte er fast hysterisch und zitterte. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Wie sollte er den Vorfall nur erklären? War es seine Schuld? Was hätte er anders machen können? Ob der Alte noch lebte? Aber nein, er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sich der Mann erschossen hatte. Das war keine Einbildung. Und dann dieses Video. Dorothea sah ihren Mann an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Richard, du machst mir Angst. Hör auf solche Witze zu machen. Wir gehen jetzt zur Tür und sehen nach, einverstanden?“, sagte Dorothea und nahm ihren Mann bei der Hand. „Ich habe ihn umgebracht“, stieß er hervor und ließ sich widerwillig zur Tür ziehen. „Nein, nicht Dorothea. Das ist ein schrecklicher Anblick.“ Aber da hatte sie die Tür schon entriegelt und geöffnet. „Richard schau, da ist nichts. Das hast du dir nur eingebildet“, sagte Dorothea und war erleichtert. Was war nur mit Richard los? Ja er hatte in letzter Zeit viel arbeiten müssen, es war Hochsaison im Reisebüro, aber so durcheinander hatte sie ihn noch nie gesehen. Richard kam aus der Tür und traute seinen Augen kaum. Keine Leiche, kein Blut. Er ging die Treppe hinunter und suchte den Plattenweg gründlich ab. Aber er fand keine Spur. Wie konnte das sein?
„Komm, wir sind spät dran. Du hast mich zu Tode erschreckt“, rief Dorothea und holte ihren Mantel und ihr Täschchen aus dem Haus. Dann drückte sie Richard seinen Mantel in die Hand und schloss die Tür ab.
Richard stand immer noch zitternd im Vorgarten. Das konnte doch nicht wahr sein. „Komm, ich fahre besser, so durcheinander, wie du bist“, schlug Dorothea vor und fuhr den Wagen aus der Garage. Langsam stieg Richard ein. Immer noch sprachlos.
Die Kirchenglocken läuteten und sie bekamen einen der letzten Parkplätze. Dorothea schob ihren Mann vor sich her. Da blieb Richard wie vom Blitz getroffen stehen. Das war doch der bärtige Mann, der sich gerade vor seiner Haustür erschossen hatte. Ungläubige sah er ihn an.

„Was war das für ein Knall?“, fragte seine Frau mit schriller Stimme.
Herr Berger konnte erstmal gar nichts mehr sagen. Er löste seine Krawatte, denn durch langsam aufsteigende Panik bekam er immer schlechter Luft.
„Vielleicht sollten wir die Polizei lieber nicht rufen, Schatz.“ Seine Frau lief auf und ab, stolperte und konnte sich gerade noch rechtzeitig fangen. „Ich weiß ja nicht, was die Männer von dir wollten. Und wenn wir jetzt die Polizei rufen, werden wir vielleicht in irgendwas mit reingezogen, was unsere Existenz bedrohen könnte. Unser schönes Leben, das wir uns mühsam aufgebaut haben, nächste Woche wollen wir auf die Malediven, da hast du dich doch auch so drauf gefreut.“
Jetzt drehte sich alles im Kopf von Herrn Berger. Schnell nahm er auf seinem Sessel Platz und schloss die Augen. Die Malediven, dachte er. Die Malediven. Weiße Strände, rotes Blut, köstliches Essen, tote Menschen. Doro redet irgendwas, sie soll bitte leise sein, überall Blut, Polizei, leckere Cocktails an der Poolbar. Frauen mit großen Brüsten in knappen Bikinis beobachten, Gefängnis.
Herr Berger konnte nicht mehr klar denken. „Ja Schatz, lassen wir das erstmal mit der Polizei, du hast Recht.“ Er öffnete seine Augen, Dorothea war verstummt. Und sie war auch nicht mehr zu sehen. „Doro?“ Herr Berger erhob sich nun aus seinem Sessel, besser gesagt, er versuchte es. Sofort fiel er wieder zurück. „Do-ro-the-a“, schrie er nun fast und Panik breitete sich in ihm aus. Stille. Stille, die Herr Berger eigentlich so liebte. Er war stolz auf sein privilegiertes Leben, wenn er auch nicht zu den oberen 10.000 gehörte, so hatte er es dennoch zu einigem Wohlstand gebracht. Aber nun legte sich diese Stille bedrohlich auf sein aufgeregtes Herz und ließ es immer schneller schlagen.
Ich kann nicht aufstehen. Mir wird immer schwindeliger. Dorothea ist hoffentlich nicht auf die Straße gegangen und hat sich das Blutbad da draußen angesehen.
„Dorolein, jetzt sag doch was. Ich kann hier nicht aufstehen, ich brauche deine Hilfe, Schatz.“
Bestimmt wird sie jetzt gleich mit einem Glas Wasser zu mir kommen. Wahrscheinlich sucht sie nur meine Blutdrucktabletten. Und im Badezimmer kann sie mich von hieraus natürlich nicht hören. Sie wird nicht auf die Straße geschaut haben. Sie ist viel zu ängstlich, sie schaut ja sonntags noch nicht mal den Tatort mit mir.
Einmal versuchte Herr Berger es noch. „Doro“. Stille, keine Dorothea. Auch von draußen war nichts mehr zu hören. Hätte nicht schon längst die Polizei vor Ort sein müssen, auch wenn seine Frau sie nicht gerufen hatte und er auch nicht? Hier gibt es doch so viele aufmerksame Nachbarn, dachte sich Herr Berger. Irgendwas stimmt hier nicht.

Zusammenfassung

Dieser Text wird ausgeblendet

»Zwei Männer, sagten Sie?« Der deutlich jünger aussehende der beiden Beamten mischte sich in die Befragung ein. »Und er hat alles mit seinem Smartphone aufgezeichnet?«
»Genauso war es, wie ich Ihnen bereits mehrmals gesagt habe.« Richard schürzte die Lippen und zog eine Augenbraue hoch.
»Entschuldigen Sie uns für einen kurzen Moment?« Der andere Beamte, der deutlich größer und leicht untersetzt war, packte den Kollegen am Arm und zog ihn in Richtung der Streifenwagen. Sie gingen ein paar Schritte, ehe er das Wort an seinen zugeordneten Neuling richtete.
»Ich führe hier die Befragung durch, ist das klar?« Eine Ader auf der rechten Seite von Eriks Stirn trat hervor und begann zu pochen.
»Jetzt mal ehrlich, da stimmt doch was nicht.«
»Jan.« Erik atmete geräuschvoll ein. Sein Blick wanderte über Jans Schulter zu den Gesichtern der Schaulustigen, die sich in der Zwischenzeit ein paar Meter hinter den Wagen angesammelt hatten. »Tu’ mir bitte einen Gefallen und kontrollier’ die Absperrung.«
»Aber…«
»Los, beweg’ dich.«
Er sah Jan nach, der sich fluchend von ihm entfernte. Seine Worte hörte er nicht, da seine volle Aufmerksamkeit auf einen jungen Burschen gerichtet war, der eine schwarze Schiebermütze trug. Tief ins Gesicht gezogen. Er beobachtete Erik. Markant schien nur eine Narbe am Kinn zu sein, sowie ein Muttermal unter dem linken Auge. Sie sahen sich einen Moment lang an. Der Mann zog einen Mundwinkel nach oben und drehte sich um. Langsam hob er eine schwarze Kapuze über seine Mütze und marschierte in die entgegengesetzte Richtung des Tatorts. Jetzt war es Erik möglich, den knielangen Mantel zu sehen, der sich sanft im Wind bewegte.
Hätte sich der 54-Jährige heute nicht freiwillig zum Dienst gemeldet, könnte er in diesem Augenblick seinen wohlverdienten Urlaub genießen. Sein Gefühl sagte ihm, dass dieser Fall alles, nur nicht gewöhnlich werden wird. Außerdem bereute er die Entscheidung für das Ausbildungsprogramm der Frischlinge. Warum hat er sich bloß dazu überreden lassen.
»Ich bin zu alt für diesen Scheiß«, murmelte er vor sich hin. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er nochmal die Menschenmenge und führte im Anschluss die Befragung fort.

Paradoxerweise gab es keine weiteren Zeugen, die etwas gehört oder gesehen hatten. Selbst wenn alle Anrainer dem Sonntagsgottesdienst beiwohnten, musste doch irgendjemand irgendetwas mitbekommen haben. Erik gab es nicht gerne zu, aber Jan hatte recht …

Zehntausend Euro
Fortsetzung von Berndibus

„Was ist denn passiert? Und was war das für ein Knall?“, wollte seine Frau wissen. Richard Berger antwortete ihr ungläubig: „Vor unserer Haustür hat sich gerade jemand erschossen!“ Seine Frau sah ihn entsetzt an und schrie kurz auf. Dann reichte sie ihm den Telefonhörer und meinte „Mach Du das bitte, ich kann das jetzt nicht.“

Sie ging zum Küchenfenster und sah vorsichtig nach draußen. Zunächst konnte sie niemanden sehen, bis sie den leblosen Körper auf dem Weg vor ihrer Haustür bemerkte und erneut einen kurzen schrillen Schrei ausstieß. Die Polizei traf ungefähr fünfzehn Minuten später ein. Die Streifenbeamten verständigten umgehend die Mordkommission und die Spurensicherung.

Hauptkommissar Ernst Wagenbrink steigt weitere zwanzig Minuten später aus seinem Dienstwagen und sieht sich um. Eine Reihenhaus-Siedlung im Westen Frankfurts, zwischendrin ein paar Architekten-Bungalows. Die Hecken aus Kirschlorbeer oder Liguster sauber gestutzt, die Vorgärten gepflegt mit Zierkies-Wegen angelegt. Hier und da eine Überwachungskamera oder Alarmanlage, aber nichts Protziges. Als Krimineller konnte man dennoch annehmen, dass es hier etwas zu holen gibt.

Die Bergers saßen in ihrem geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer mit hellen, freundlichen Echtholz-Möbeln, als sich Wagenbrink zu ihnen auf einen der Sessel setzte. „Ich hoffe, sie konnten sich inzwischen etwas beruhigen. Ihnen beiden ist ja zum Glück nichts passiert. Schildern sie mir bitte genau, wie das ganze abgelaufen ist.“, fordert der Kommissar sie mit ruhigen aber bestimmten Worten auf. Richard Berger schaute zu seiner Frau und musste sich kurz sammeln, dann begann er mit dem Läuten an der Haustür und berichtete, was bis zum Selbstmord des fremden bärtigen älteren Mannes geschah. Nachdem er geendet hatte, blickten die Eheleute den Kommissar erwartungsvoll an.

„Sie werden es wahrscheinlich nicht glauben, aber dies ist bereits der dritte Vorfall dieser Art, den wir registrieren müssen“, begann dieser nach kurzem Zögern. Richard und Dorothea Berger blickten sich an, um dann den weiteren Ausführungen Wagenbrinks gespannt zu folgen. „Nur mit großer Mühe, konnten wir bisher verhindern, dass etwas davon in die Presse gelangt ist. Der Ablauf ist in etwa immer der gleiche - so wie bei Ihnen“, fuhr der Kommissar fort. „Wir haben einen Fall in Königstein und einen weiteren in Bad Homburg - drei Selbstmorde vor den Haustüren von unbescholtenen Bürgern. Es geht immer um einen größeren Geldbetrag, den die Selbstmörder fordern. Dabei filmt ein jüngerer Mann die Szene mit einem Smartphone. Den Betroffenen ging es jeweils so wie Ihnen, Herr Berger, sie hielten das Ganze für einen schlechten Scherz, bis die Männer - und es waren in allen drei Fällen ältere Männer - tatsächlich geschossen haben.“

„Das ist ja entsetzlich, aber was steckt denn dahinter?“, wollte Dorothea Berger wissen. „Das kann ich ihnen derzeit auch noch nicht sagen. Wir ermitteln in alle Richtungen und natürlich werden wir auch in ihrem Fall klären müssen, ob es irgendeine Verbindung zwischen ihnen und den beiden Männern gab.“, erwiderte der Kommissar.

„Und was ist mit dem jungen Mann, der gefilmt hat?“, schaltete sich Richard Berger ein. Wagenbrink holte tief Luft, bevor er fortfuhr. „Er ist, wie in den beiden anderen Fällen auch, wie vom Erdboden verschluckt. Die vage Beschreibung, die sie uns gegeben haben, stimmt annähernd mit denen der anderen Betroffenen überein. Insgesamt ist das Bild zwar sehr ungenau, aber wir gehen derzeit davon aus, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Und sie sind sich sicher, ihn nie vorher gesehen zu haben?“, wandte er sich jetzt direkt an Richard Berger. Dieser zögerte bevor er etwas stockend antwortete „Es ging alles so schnell, aber ich bin mir schon ziemlich sicher. Ach, wenn ich ihn mir nur genauer angeschaut hätte.“

An diesem Abend gingen die Bergers früh zu Bett und konnten doch beide lange Zeit nicht einschlafen. Zu aufreibend waren die Ereignisse des Tages gewesen. Morgen früh würden sie gemeinsam zur Polizei gehen und ihre Aussagen aufnehmen lassen. Richard Berger sah vor seinem geistigen Auge immer wieder den gleichen Film ablaufen. Wie er die Haustür öffnet, die beiden Männer sieht, die ungeheuerliche Forderung und Drohung hört, dann das Zittern des älteren und seinen verzweifelten Gesichtsausdruck, kurz bevor er abdrückt. Und schließlich den jungen Mann, wie er ihn anschreit: „Sie haben ihn umgebracht! Sie Schwein! Sie haben ihn umgebracht! Sie Kapitalist!“

Mit einem Mal fährt er aus dem Bett hoch. Seine Frau blickt ihn erschrocken an „Was ist denn, Richard?“, will sie wissen. Er antwortet mit weit geöffneten Augen „Ich glaube, ich habe den jungen Mann doch schon mal gesehen. Und jetzt weiß ich auch wo.“

Zur selben Zeit an einem anderen Ort.

Je näher man kam, umso lauter wurde die schrille Musik.
Die dicken Betonwände hielten den Lärm gut ab, von innen und von außen.
Sie hatten diesen Ort gut ausgewählt. Alex würde dazu sagen, perfekt ausgewählt.
Von außen ganz unscheinbar und von innen mehr Platz als man sehen kann.
Neben der schweren Feuerschutztür stand eine Säule mit einem Display und Tasten.
Wenn man den aktuellen Code eingegeben hat, ging die schwere Tür auf.
Erst ging man einen von Licht gedimmten Gang entlang, bis hinter der nächsten Tür ein großer Raum zum Vorschein kam. Neben der Tür standen einige Sofas und Sessel. Gegenüber befand sich die Bar, dort bekam man ein paar kleine Knabbereien und etliche Getränke. Links und rechts neben der Bar hingen Monitore an den Wänden, mit Nummern drauf.

Ein Raunen zog durch den Raum.
Die Stimmung wirkte angespannt.
In diesem Raum waren junge Frauen und Männer versammelt. Einige von ihnen sahen verängstigt aus, andere wiederum hatten ein Lächeln im Gesicht.
Die schrille Musik im Hintergrund wurde leiser gestellt, ein Mikrofon knisterte.
„Okay Leute, so viel zu Monitor fünf. Ich hoffe, ihr hattet so viel Spaß wie ich. Malte geht gleich rum und sammelt eure Spenden ein.“
Hörte man eine männliche Stimme sagen. Er trat aus dem Schatten hervor und jeder konnte ein boshaft grinsendes Gesicht sehen.
„Spenden von wegen Spenden, Alex hör endlich auf damit.“
Eine junge Frau in den zwanzigern stand auf und ging auf diesen großen, sportlich aussehenden blonden jungen Mann zu.
„Sabrina, das war ja klar, dass du dich wieder aufregst. Aber du kennst die Regeln, ihr alle kennt die Regeln. Ihr alle, wie ihr hier seid habt die Verträge freiwillig unterschrieben.“
Er drehte sich um und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Seine finstere Mine ließ einem die Nackenhaare aufstellen.
„Komm Sabrina, lass uns rüber zur Bar gehen und hoffen ,das Lilly mit ihrer Mutter mehr Glück hat.“
„Ja genau Sabrina. Hör auf deine Freundin, genieße die Zeit hier, keiner weiß was als nächstes passiert. Schließlich haben wir nur noch wenige Stunden, bis der Gottesdienst beendet ist. Hopp Hopp holt euch alle noch eine Stärkung an der Bar, vielleicht steigt dann die Stimmung mal wieder.“ Antwortete Alex.
Sabrina ballte ihre Hände zu Fäusten, ihre Augen wurden feucht. Sie spürte diese Wut auf Alex, er hatte einfach alle hier reingelegt.
In diesem Moment spürte sie die Hand ihrer Freundin am Unterarm.
„Sabrina, du musst dich beruhigen, sonst sind wir die nächsten. Komm schon lass uns was trinken.“ Die Freundinnen nahmen sich in den Arm, beiden liefen Tränen über die Wangen.
„Es muss doch einen Ausweg geben, Iris.“
„Oh mein Gott, seht mal auf Monitor zwei, schnell dreht euch um.“ Mehrere Rufe halten durch den Raum.
Alle erstarrten, es war totenstille.
Dort zu sehen waren ältere Frauen und Männer aufgeteilt in zwei Zellen mit Gitterstäben. Die Männer in der einen Zelle trugen alle die gleiche Jeans und die gleichen lederimitierten Jacken. Die Frauen in der anderen Zelle trugen alle die gleichen Knielangen, grauen Röcke dazu schlichte weiße Blusen und knallrote Blazer.

„Oh nein, das ist meine Oma.“
„Er hat sich meinen Bruder geholt.“
„Ich kann meinen Vater sehen.“
„Und ich meine Mom.“
Hörte man aus verschiedenen Ecken und es hörte nicht auf.
Einige ließen sich mutlos auf die Sofas fallen, andere nahmen sich mit Tränen in den Augen in die Arme. Mittlerweile haben alle verstanden, dass mit Alex und Malte was nicht stimmte.
Einige Blicke schweiften zu Monitor fünf. Denn dort ist jetzt der junge Mann zu sehen, dessen Vater sich erschossen hat. Er lief, so schnell er konnte, die Straße hinunter bog in einen Vorgarten ein und versteckte sich in einem Schuppen. Man konnte sehen, wie sich seine Lippen bewegten, aber man hörte nichts. Alex hat den Ton abgestellt, als er die Sirenen der Einsatzfahrzeuge hörte.
Sabrina konnte aber von Lippen ablesen und flüsterte es Iris zu.
„Ihr Schweine, ihr verdammten Schweine, das werdet ihr noch bereuen.“
Die Freundinnen sahen sich mit großen Augen an.
In ihnen keimte Hoffnung auf.
Der Monitor war nun schwarz.
„So Leute, das war es erst einmal mit der fünf. Lasst uns auf den Monitor drei schauen. Lilly und ihre Mutter müssten so langsam an ihrem Ziel angekommen sein.“

Sie hatte jede Farbe im Gesicht verloren, starrte ihn ungläubig an, schien kaum zu atmen. Schliesslich holte sie tief Luft und keuchte: „Du hast nicht einmal gefragt!“

Berger wollte seine Frau in die Armen nehmen, sie war verwirrt, natürlich schockiert, er ja auch. Doch sie schreckte vor ihm zurück.

„Thea …“ Er wusste nicht weiter. „Die Polizei … wir müssen jetzt die Polizei rufen!“ Er wandte sich ab, holte sein Mobiltelefon und wählte den Notruf. Er nannte seinen Namen, gab die Adresse durch und erklärte in knappen Worten, dass sich ein Mann vor seiner Haustür erschossen habe.

Auf die Frage, ob dieser denn noch lebe, meinte er, dass das wohl unmöglich sei. Nachdem ihm versichert wurde, dass eine Patrouille zu ihnen unterwegs sei, sah er zu wieder seiner Frau.

Sie hatte sich nicht bewegt. Nur ihre Augen schienen von der Erstarrung ausgeschlossen. Er meinte, pures Entsetzen darin zu sehen.

„Bitte Thea, komm, wir setzen uns ins Wohnzimmer, bis die Polizei da ist. Wir wissen ja nicht, was der andere Mann da draussen macht. Der scheint ja völlig durchgeknallt zu sein. Einer von der extrem linken Sorte.“

Dorothea löste sich aus ihrer Starre, wiederholte ihre Worte, doch diesmal mit deutlich erkennbarem Vorwurf: „Du hast nicht einmal gefragt!“

„Was meinst Du denn damit?“ Berger verstand absolut nicht, was in seiner Frau vorging. „Was hätte ich denn Fragen sollen? Der Mann wollte einfach Geld von mir – zehntausend Euro!“ Die Situation überforderte ihn, alles schien so surreal. „Thea, ich …“ Wiederum suchte er nach Worten, doch sie wandte sich von ihm ab, stieg die Treppe hoch und verschwand im Badezimmer.

Nachdem die Polizei die Einvernahmen durchgeführt hatte, die Spurensicherung ihre Arbeit beendet und der Tote ins Leichenschauhaus abtransportiert wurde, breitete sich eine erdrückende Stille aus.

Berger sass total erschöpft auf dem Sofa, die Krawatte hatte er längst gelöst, hing ihm schief um den Hals.

Thea sass ihm gegenüber auf einem Sessel und betrachtete ihre Fingernägel. Inzwischen zeigte sich wieder etwas Farbe auf ihren Wangen, doch schien sich ihre Stirnfalte nicht mehr lösen zu wollen. „Ich habe es Ihnen gesagt!“

Berger schreckte aus seinen Gedanken, blickte seiner Frau verwundert in die Augen. „Was meinst Du?“

„Du hast nicht einmal gefragt!“ Wiederholte sie wieder und betrachtete seine Krawatte. „Ein finanzieller Verlust an der Börse scheint kein Problem für Dich, doch ein finanzieller Verlust um ein Leben zu retten…“ Sie liess den Satz offen, er wusste auch so, was sie andeutete.

„…und Du hast nicht einmal gefragt! Kein Mitgefühl? Keine Nächstenliebe?“ Mit diesen Worten stand sie auf. Sie sah auf ihn herab und ihr Blick schien ihn zu durchbohren: „Du hast diesen verzweifelten Mann nicht einmal gefragt, wofür er das Geld so dringend braucht!“

»Was ist passiert? Was war das für ein Schuss?«, fragte Frau Berger.
Ihr Mann setzte sich an den Küchentisch und löste seinen Krawattenknoten. »Der hat sich umgebracht. Vor meinen Augen.«
»Um Gottes Willen!« Sie eilte in die Diele zur Ladestation, griff nach dem Telefon und wählte 110.
Herr Berger presste sein Gesicht in die Hände und wimmerte, während seine Frau mit der Polizei sprach. Kaum hatte er seine Augen geschlossen, sah er wieder das Gesicht des Mannes vor sich mit der Pistole im Mund und der Wolke, die ihn umgab wie ein Heiligenschein aus Blut und Hirnmasse. Das war mit Abstand das Entsetzlichste, was er je hatte sehen müssen.
»Richard, komm schnell, die räumen die Leiche weg!«, rief seine Frau.
Berger schreckte hoch. »Was, jetzt schon? Du hast doch eben erst angerufen.«
Ein Motorengeräusch setzte ein, wie von einem Gartengerät. Herr Berger stand auf und eilte zurück zur Tür. Frau Berger spickte gerade durch den Spion und machte dann Platz für ihren Mann, der immer noch am ganzen Leib zitterte wie ein Tattergreis. Zwei Leute in weißen Overalls trugen den Leichnam auf einer Bare zum Gartentor. Viel erkannte er nicht durch das Guckloch, also öffnete er die Tür einen schmalen Spalt. Er wagte sich nicht hinaus, ihm kam die ganze Szenerie mehr als suspekt vor. Am Tor stand ein Transporter vom Roten Kreuz mit geöffneter Seitentür. Gerade wurde die Bare mit dem Leichnam hineingeschoben. Zwei weitere Gestalten in Overalls waren damit beschäftigt, den Plattenweg mit einem Hochdruckreiniger abzuspritzen und zu schrubben. Der junge Mann mit der Kunstlederjacke sprach mit einem untersetzten Herrn im Anzug. Dieser nickte stetig. Sein Gesicht war abgewandt. Jetzt erkannte Berger, dass die beiden auf das Smartphone schauten, mit dem der Typ vorhin gefilmt hatte.
»Der da könnte von der Polizei sein. Er schaut sich gerade das Video an.«
»Was für ein Video? Und warum ist die Polizei schon hier?«
Berger zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wurden die von Frau Hohenstein gerufen. Von gegenüber hat sie den Schuss sicher auch gehört. Ich glaube, ich geh jetzt einfach raus und frage den Mann.«
In diesem Augenblick ertönte ein Pfiff. Innerhalb von Sekunden stürmten alle in den Transporter, einschließlich des Anzugträgers und des jungen Mannes mit der Lederjacke. Noch während die Schiebetür von innen zugezogen wurde, fuhr der Wagen davon.
Herr Berger trat einen Schritt ins Freie. »Die sind weg.«
»Wie weg?« Frau Berger drängte sich neben ihn. Aus der Ferne ertönte ein Martinshorn, das schnell lauter wurde und dann verstummte. Ein Krankenwagen parkte am Zaun und kurz darauf ein Streifenwagen. Vier Leute, zwei Sanitäter und zwei Polizeibeamte, stiegen aus und kamen im Eilschritt auf sie zu.
»Guten Morgen, ich bin Kommissarin Schreiber, das ist mein Kollege, Kommissar Franz. Sie hatten einen Notruf abgesetzt?«
»Ja wegen eines Selbstmords«, antwortete Herr Berger.
»Wo befindet sich die Person?«, fragte einer der Sanitäter.
Berger verzog irritiert sein Gesicht. »Die … die Forensiker waren schon da und haben ihn mitgenommen.«
»Welche Forensiker?«, fragte die Kommissarin.
Herr Berger öffnete seinen Mund, brachte aber keinen Ton heraus.
»Da war gerade ein halbes Dutzend Männer vom Roten Kreuz, die haben die Leiche abtransportiert und den Tatort gereinigt«, antwortete Frau Berger.
»Bitte was?« Die Kommissarin schaute Frau Berger an, als habe sie gerade klingonisch gesprochen.
»Waren das gar nicht Ihre Leute?«, fragte Herr Berger.
Die Kommissarin schüttelte den Kopf. »Wir sind doch gerade erst benachrichtigt worden. Der Fall wurde natürlich noch nicht an die Kripo übergeben. Wir sind vom Streifendienst.«
»Aber …« Wieder hatte es Berger die Sprache verschlagen.
»Wo genau wurde denn dieser Suizid begangen?«, fragte der Kommissar, der bisher geschwiegen hatte.
Berger deutete auf den Boden vor sich. »Na, hier, direkt vor meinen Füßen hat er sich eine Kugel in den Kopf gejagt.«
Die beiden Beamten traten einen Schritt zurück und musterten die Steinplatten mit skeptischem Blick. Dort war nichts als blanker Granit. Keine Spur von Blut.
»Und Sie sind sich sicher, dass er abgedrückt hat?«, fragte Kommissarin Schreiber.
»Natürlich bin ich mir sicher!« Ihr Blick sprach Bände. Die nimmt mich nicht für voll, dachte Berger.
»Wir verschwinden dann mal«, sagte einer der Sanitäter mit einem Schmunzeln auf den Lippen. Dann nahm die Polizistin Bergers Aussage auf. Er hätte schwören können, dass sie dies aus reiner Pflicht tat, nicht etwa, weil sie ihm glaubte.
»Und das war es jetzt?«, fragte Frau Berger, als die beiden Beamten im Begriff waren, sich wieder auf den Weg zu machen.
»Wir werden diesen Fall an die Kripo übergeben«, sagte Kommissar Franz. »Die werden sich wieder mit Ihnen in Verbindung setzen. Selbstverständlich wird aufgrund Ihrer Aussage weiter ermittelt. Sollte Ihnen noch irgendetwas einfallen, dann melden Sie sich beim örtlichen Polizeirevier. Natürlich auch, falls Sie nochmal von diesem jungen Mann kontaktiert werden sollten.«
Die Bergers nickten bedröppelt wie zwei Kinder, denen man gerade die Wahrheit über den Weihnachtsmann erzählt hatte.
Zwei Tage später, es war bereits dunkel, saßen die Bergers auf ihrer Wohnzimmercouch und schauten Bares für Rares, als das Smartphone von Herrn Berger vibrierte. Sie rechneten mit einer Nachricht ihrer Tochter Melanie, eine der wenigen Personen, die Ihnen WhatsApp-Nachrichten schrieb. Bisher hatten sie ihr noch nichts von dem rätselhaften Selbstmord erzählt. Melanie Berger steckte gerade mitten in ihrer Masterarbeit. Eine solche Nachricht würde sie nur vom Lernen abhalten.
»Das ist nicht von Melanie. Jemand hat mir ein Video geschickt.« Berger tippte mit seinen Wurstfingern auf das Play-Symbol. Wie üblich scheiterte er an der neuen Technik, wie er sie nach Jahren der Digitalisierung immer noch nannte.
»Gib mal her.« Seine Frau nahm ihm sein Handy ab und startete das Video. Beide schauten auf das Display und ihnen gefror das Blut in den Adern.
»Das … das ist ja dieser Selbstmörder. Das sind die Aufnahmen, die der Jüngere der beiden gemacht hat.« Berger stutzte. Etwas war anders. »Spul nochmal zurück und mach den Ton lauter.«
Seine Frau tat, worum er bat. Berger rieb sich nervös im Nacken. »So war das nicht, Dorothea, so war das nicht!«
Frau Berger streichelte seinen Rücken. »Ach Richard, ich wünschte auch, es wäre nie geschehen.«
»Hörst du mir nicht zu? Dieses Video zeigt nicht die Wahrheit! Es wurde manipuliert.«
»Wie meinst du das?«
»Ich habe dir doch alles erzählt und der Polizei auch. Die sagen in diesem Video lauter Sachen, die ich so nie gehört habe. Da bin ich mir ganz sicher.«
»Wenn du die ganze Zeit redest, verstehe ich gar nicht, was die sagen.« Frau Berger spulte noch einmal zurück und beide lauschten schweigend:
»Sie wünschen?«
»Guten Tag. Wir kennen uns nur flüchtig, wir sind gemeinsam auf die Berufsschule gegangen. Das hier ist mein Sohn. Wir kommen vorbei, weil ich in eine schlimme Notsituation geraten bin und Sie sind der einzige, den ich kenne, der vermögend ist. Bitte geben Sie mir zehntausend Euro, sonst muss ich mich umbringen.«
»Was?«
Berger tippte auf Pause, diesmal klappte es. »Hast du gehört? Das hat er alles nicht gesagt. Nur den letzten Satz. Die müssen das später hinzugefügt haben.«
»Ist sowas denn möglich?«, fragte Frau Berger.
»Heutzutage ist doch alles möglich.«
Frau Berger ließ das Video weiterlaufen. Jetzt sprach der Bärtige: »Ich verstehe Ihre Skepsis, Herr Berger, aber es ist wirklich ernst. Ich werde erpresst. Mir wurden zwei Möglichkeiten gegeben: entweder, ich bringe mich um oder ich treibe 10.000 Euro auf. Beides muss innerhalb von zwei Minuten geschehen. Die Zeit läuft bereits. Schaffe ich weder das eine noch das andere, wird mein Sohn erschossen. Also: Ich brauche zehntausend Euro. Wenn Sie mir die nicht geben, bringe ich mich um.«
Die Kamera schwenkte wieder zu Berger, ohne Schnitt.
»Filmen Sie das? Wozu? Was soll das alles?«
Wie neulich, sprach jetzt der Jüngere, jedoch ebenfalls mit verändertem Text:
»Die Aufnahme wird gerade live an den Erpresser übertragen. Unsere Zeit wird knapp, wir haben nur noch dreißig Sekunden. Geben Sie ihm zehntausend Euro. Sie haben das Geld, und er braucht es.«
Dann Bergers Kopfschütteln. »Sie sind ja verrückt. Wie stellen Sie sich das vor? Ich kann doch nicht irgendjemandem einen Haufen Geld geben, nur weil er an meiner Türe klingelt. Und mir droht!«
»Ich brauche zehntausend Euro. Wenn Sie mir keine zehntausend Euro geben, bringe ich mich um.«
Schließlich Berger: »Machen Sie, was Sie wollen, aber machen Sie es bitte draußen auf der Straße, okay?«
Dann folgten der Schuss und das Geschrei: »Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!«
Das Video endete mit Berger in Großaufnahme, wie er durch den Türspalt schaute mit grüner Krawatte voller Eurozeichen.
Frau Berger legte das Handy auf den Couchtisch. »Und du bist dir sicher, dass es sich so nicht zugetragen hat?«
»Todsicher. So macht das alles einen ganz falschen Eindruck. Als sei ich ein herzloser Geizhals, dem das Schicksal der Beiden egal ist. Hätte ich von diesem Erpresser gewusst —«
In diesem Moment surrte wieder das Smartphone. Diesmal war es ein Anruf ihrer Tochter Melanie: »Papa, was ist das für ein fürchterliches Video?«
»Haben die dir das auch geschickt?« Berger warf seiner Frau einen entsetzten Blick zu.
»Geschickt? Nein, es läuft auf allen Social-Media-Kanälen.«

Dorothea Berger war nicht die Sorte Frau, die einer Aufforderung ohne zu zögern nachkam. Sie formte ihre Brauen zu einem Halbmond, kniff die Augen zusammen und fragte ihren vor Angst zitternden Ehemann, was innerhalb von zweieinhalb Minuten schon vorgefallen sein konnte, das ihn veranlasste, wie ein kleiner Junge nach der Polizei zu rufen. Ihr Mann ließ sich auf den mit Kalbsleder bezogenen Sessel aus Tessiner Manufaktur fallen, den seine Schwiegermutter Eleonora Hochstein ihnen zu ihrer silbernen Hochzeit geschenkt hatte, und erzählte ihr in knappen Worten, was geschehen war. Währenddessen entstand ein hässliches rotweißes Fleckenmuster auf seiner Stirn und dunkle Striemen liefen an den Seiten seines Hemdes herunter – offenbar Schweiß. Dorothea hasste diesen Anblick, es widerte sie an ihren Mann so hilflos zu sehen. Es war offensichtlich, dass er sich aufs Kreuz hatte nehmen lassen. Sie würde seinen Kopf einmal mehr aus der Schlinge ziehen müssen.

Mit zwei beherzten Schritten stand sie vor dem Türspion und blickte hindurch. Dort lag tatsächlich ein alter Mann in einer roten Suppe, die wie Blut aussah und wie ein Heiligenschein um seinen Hinterkopf drapiert war. Sein Gesicht wirkte verbogen und schlaff, sein Körper zeigte keine Regung. Ansonsten war da weit und breit niemand, den sie durch das Fischauge hätte erkennen können. Er sieht aus wie ein Penner, der über eine Dose Tomatensoße gestolpert und auf ihrem Inhalt eingeschlafen ist, dachte sie. Dies war niemand, den irgendwer vermissen würde. Und ganz gewiss war es niemand, für den man in die Nachrichten kommen oder zum Gesprächsthema der Nachbarn werden wollte. Sie drehte sich langsam zu Richard um. „Weißt du, Liebling, es gäbe auch noch eine andere Möglichkeit als die Polizei zu rufen“, sagte sie in einem süßlichen Tonfall, den er sonst nur aus den Unterhaltungen mit ihrem Zwergpudel Bruno kannte.

Richard blickte von seinem Sessel auf und schaute sie verdutzt an. „Was meinst du?“

Sie zog die rechte Mundhälfte hoch, seufzte und legte ihren Kopf schief. Richard erschauderte. Nach 27 Jahren Ehe hatte er noch immer Angst vor seiner Frau. Dies war der Blick, den sie aufsetzte, wenn sie einen Plan hatte, den sie unter allen Umständen umsetzen wollte, und jeder, der ihr dabei im Weg stand… wie damals, nachdem ihr Vater gestorben war und sie den neuen Geliebten ihrer Mutter… er schob den Gedanken rasch beiseite und beschloss, dass es das sicherste war keinen Widerstand zu leisten. „Warte hier“, flötete sie.

Eine Minute später kam sie mit einem ausgedruckten Blatt Papier und einer Rolle Klebeband zurück. Auf dem Bogen stand in großen Druckbuchstaben: 500.000 EURO FÜR IHR VIDEO. DISKRET UND SOFORT.

Sie hielt es vor Richard, der schlaff im Sessel saß und sich keinen Millimeter rührte.

Er vergrub seinen Kopf zwischen den Händen, im Kampf mit seinen widerstreitenden Gedanken. „Aber… wir haben doch keine 500.000 Euro?!“ brachte er schließlich hervor.

Sie blickte ihn triumphierend an: „Nun, das liegt im Auge des Betrachters, würde ich meinen.“

Ohne auf seine Antwort zu warten ging sie zur Tür, öffnete sie weit genug um hinauszuschlüpfen, und kam ein paar Sekunden später ohne das Blatt zurück. „Zeit für einen Drink“, verkündete sie freudestrahlend, drehte sich um zur Minibar neben dem Sofa und mixte sich zufrieden einen Highball.

Wenige Minuten später klingelte es an der Tür. Ohne durch den Spion zu blicken öffnete Dorothea Berger die Tür und ein Mann mittleren Alters in schwarzer Lederjacke und Jeans blickte sie an. Richard erkannte ihn aus seinem Sessel als den Mann, der vorhin das Handy gehalten hatte. Dorothea setzte ihr schönstes Lächeln auf, das sie sonst nur in der Kirche trug. „Wir haben Sie bereits erwartet“, raunte sie und trat für ihren Besucher beiseite. „Kommen wir ins Geschäft.“

Er blickte hinter sich, um zu schauen, wo sie ist, denn sie antwortete nicht. Geschockt krallte er sich an der Türklinke fest, die sich jetzt nicht mehr kalt anfühlte. Im Gegenteil, sie rutschte ihm fast aus seiner schwitzenden Hand. Erneut drückte er seine rechte Wange gegen die Tür, schaute durch den Spion. Die Welt hinter dem Guckloch - seinen Vorgarten, den Plattenweg, und den Toten, der dort lag - sah er in einem schmierigen Rot. Wie zum Teufel kommt das Blut …
Seine Gedanken zerbröselten, als er genauer auf die Leiche schaute. War die Pistole verschwunden? Und wo war der andere Kerl? Der laute Knall des Schusses blendete sich langsam aus und der Druck auf seinen Ohren wurde abgelöst von einem ziehenden Schmerz in der Magengegend, der sich krampfartig durch seinen Körper nach oben arbeitete. Sein Hals wurde trocken und er hatte Mühe, Luft zu holen. Hastig löste er den Knoten seiner Krawatte. In diesem Moment spürte Berger einen kühlen Luftzug am Hals.
»Doro?«, rief er. Keine Antwort. »Doro?!«, hakte er nach. Er wollte seine Frau alarmieren, brachte aber nicht mehr als ein Krächzen heraus. Auch jetzt keine Antwort von ihr. Er hörte sie auch nicht telefonieren, im Haus herrschte Stille. Als er die Klinke losließ, bemerkte er, dass er sich an der Wand des Flurs festhalten musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Der bogenförmige Durchgang zum Wohnbereich schien unerreichbar weit. Tastend quälte er sich am Gästebad vorbei, die Tür stand halb offen. Der Schmerz in seinem Magen krampfte erneut, als er durch die Ornamentscheibe des Badfensters einen Schatten vorbeihuschen sah. Er zwang sich weiter und erreichte den Durchgang zum Wohnbereich. Wieder spürte er den Durchzug, unwillkürlich schaute er in Richtung Terrassentür. Die Gardine bewegte sich. Mit zitternden Knien ging er weiter. Ein summendes Geräusch kam aus Richtung Küche. Die Mikrowelle war eingeschaltet.
Was hat das zu bedeuten? Wir wollten doch gerade los, warum schaltet Doro die Mikrowelle ein?
Berger trat an das Gerät, um es auszuschalten. Was er darin sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren: Ein blutendes Stück Fleisch lag im Qualm und drehte sich auf der Glasplatte. Hastig riss er die Klappe auf und ein Gestank, den er mit Verwesung in Verbindung brachte, schlug ihm entgegen.
»Doro?«, rief er noch einmal. Er rannte die Treppe zur Empore hinauf und riss die Tür zum Schlafzimmer auf. Das Bild über dem Ehebett war von der Wand gerissen, der Safe stand offen. Etliche Geldscheine lagen verstreut auf dem Bett und im Zimmer, von seiner Frau aber fehlte jede Spur. Von draußen drang das Glockengeläut der Kirche ins Haus – Zeit für den Gottesdienst.