Er blickte hinter sich, um zu schauen, wo sie ist, denn sie antwortete nicht. Geschockt krallte er sich an der Türklinke fest, die sich jetzt nicht mehr kalt anfühlte. Im Gegenteil, sie rutschte ihm fast aus seiner schwitzenden Hand. Erneut drückte er seine rechte Wange gegen die Tür, schaute durch den Spion. Die Welt hinter dem Guckloch - seinen Vorgarten, den Plattenweg, und den Toten, der dort lag - sah er in einem schmierigen Rot. Wie zum Teufel kommt das Blut …
Seine Gedanken zerbröselten, als er genauer auf die Leiche schaute. War die Pistole verschwunden? Und wo war der andere Kerl? Der laute Knall des Schusses blendete sich langsam aus und der Druck auf seinen Ohren wurde abgelöst von einem ziehenden Schmerz in der Magengegend, der sich krampfartig durch seinen Körper nach oben arbeitete. Sein Hals wurde trocken und er hatte Mühe, Luft zu holen. Hastig löste er den Knoten seiner Krawatte. In diesem Moment spürte Berger einen kühlen Luftzug am Hals.
»Doro?«, rief er. Keine Antwort. »Doro?!«, hakte er nach. Er wollte seine Frau alarmieren, brachte aber nicht mehr als ein Krächzen heraus. Auch jetzt keine Antwort von ihr. Er hörte sie auch nicht telefonieren, im Haus herrschte Stille. Als er die Klinke losließ, bemerkte er, dass er sich an der Wand des Flurs festhalten musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Der bogenförmige Durchgang zum Wohnbereich schien unerreichbar weit. Tastend quälte er sich am Gästebad vorbei, die Tür stand halb offen. Der Schmerz in seinem Magen krampfte erneut, als er durch die Ornamentscheibe des Badfensters einen Schatten vorbeihuschen sah. Er zwang sich weiter und erreichte den Durchgang zum Wohnbereich. Wieder spürte er den Durchzug, unwillkürlich schaute er in Richtung Terrassentür. Die Gardine bewegte sich. Mit zitternden Knien ging er weiter. Ein summendes Geräusch kam aus Richtung Küche. Die Mikrowelle war eingeschaltet.
Was hat das zu bedeuten? Wir wollten doch gerade los, warum schaltet Doro die Mikrowelle ein?
Berger trat an das Gerät, um es auszuschalten. Was er darin sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren: Ein blutendes Stück Fleisch lag im Qualm und drehte sich auf der Glasplatte. Hastig riss er die Klappe auf und ein Gestank, den er mit Verwesung in Verbindung brachte, schlug ihm entgegen.
»Doro?«, rief er noch einmal. Er rannte die Treppe zur Empore hinauf und riss die Tür zum Schlafzimmer auf. Das Bild über dem Ehebett war von der Wand gerissen, der Safe stand offen. Etliche Geldscheine lagen verstreut auf dem Bett und im Zimmer, von seiner Frau aber fehlte jede Spur. Von draußen drang das Glockengeläut der Kirche ins Haus – Zeit für den Gottesdienst.
Ohne Leiche kein Verbrechen
Keine fünfzehn Minuten später klopfte es an der Tür von Richard Berger. Er und seine Frau hatten sich bis dahin ängstlich in die Küche zurückgezogen. Leise schlich er nun in den Flur und spähte durch den Türspion. Erleichtert erkannte er die zwei Polizeibeamten.
»Gott sei Dank sind Sie da«, sagte er hastig, als er die Tür öffnete. Während die Polizisten eintraten, verbarg er selbst sich hinter der Eingangstür und wagte es nicht, nach draußen zu blicken. Er wollte den Toten nicht noch einmal ansehen müssen.
»Sie haben uns gerufen, weil sich jemand erschossen hat«, fragte der breitschultrige Beamte mit tiefer Stimme. Sein Blick huschte aufmerksam durch den Flur.
Eilig nickte Berger. »Genau, direkt vor meiner Haustür.«
Der Polizist sah seine Kollegin an und zog die Augenbrauen hoch. »Vor Ihrer Haustür? Und wo ist die Leiche nun?«
Berger stutze. »Wie meinen Sie das? Wo die Leiche ist? Sie liegt vor meiner Haustür.«
Wieder ein Blick des Polizisten zu seiner Kollegin, ehe er sich räusperte. »Wenn vor der Tür eine Leiche liegen würde, hätten wir sie gesehen.« Sein Blick sprach Bände. Er hielt Berger für völlig durchgeknallt.
»Der Mann hat sich direkt vor meinen Augen erschossen. Natürlich liegt er noch draußen«, brauste dieser auf. Energisch öffnete er die Tür, auf alles gefasst. Doch zu seinem Entsetzen hatte der Polizist recht. Da war niemand.
»Aber, wie kann das sein, hier war überall Blut«, stammelte er.
Langsam trat nun die Polizistin auf ihn zu. »Nehmen Sie irgendwelche Medikamente? Oder haben Sie Alkohol oder Drogen konsumiert«, fragte sie mit ruhiger Stimme.
Genervt schüttelte Richard Berger den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Der Mann hat sich hier direkt vor meinen Augen erschossen. Er wollte zehntausend Euro von mir. Als ich ihm das Geld nicht gegeben habe, hat er abgedrückt.« Seine Stimme war zu laut, das war ihm selbst klar.
»Na schön. Und Ihre Frau war dabei, als das geschah«, wollte die Polizistin nun wissen.
Berger schüttelte den Kopf. »Nein, Dorothea war im Haus.«
»Aber das heißt, dass sie den Schuss gehört haben muss, sollte es tatsächlich einen gegeben haben«, hakte der männliche Beamte nach.
Ja, natürlich, sie hatte ihn bestimmt gehört. Eilig drehte Richard Berger sich um und rief nach seiner Gattin. Ängstlich trat sie aus dem Haus.
»Frau Berger, ihr Mann behauptet, dass sich jemand vor Ihrem Haus erschossen hat. Können Sie dies bestätigen? Haben Sie den Schuss gehört«, fragte der Beamte sie.
Dorothea Berger zögerte einen Moment. »Also wenn ich ehrlich bin, nein. Ich habe weder etwas gehört, noch gesehen. Mein Mann hat gesagt, dass ich die Polizei rufen soll und mir erzählt, was passiert ist.«
Fassungslos starrte Richard Berger sie an. Das war unmöglich? Der Knall war so laut gewesen, sie musste es gehört haben!
»Dorothea, bitte, denk nach. Du hast den Schuss bestimmt gehört.« Fester als beabsichtigt packte er sie am Arm. Ihr Gesicht verzog sich schmerzerfüllt.
»Lassen Sie sie sofort los. Und beruhigen Sie sich. Es scheint nicht, als ob hier tatsächlich etwas passiert wäre. Herr Berger, ich muss Sie eindringlich darauf hinweisen, dass Ihr Verhalten Konsequenzen mit sich ziehen wird. Sie behindern unsere Arbeit. Es wird eine Anzeige auf Sie zukommen«, sagte der Beamte. Seine Miene war verärgert.
»Aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ich bilde mir das nicht ein. Fordern Sie die Spurensicherung an. Das hier ist ein Tatort«, brauste Berger wieder auf.
»Guter Mann, wenn sich hier gerade jemand erschossen hätte, wären irgendwo Blutspuren zu sehen. Ich ordne mit Sicherheit keinen Forensiker an, wo es doch keinen Hinweis auf ein Verbrechen gibt. Ich denke, es wäre am Besten, wenn wir Sie in eine Klinik bringen. Sie sollten mit einem Arzt sprechen«, gab der Uniformierte zurück.
Sofort schüttelte Berger den Kopf und trat einen Schritt zurück. Doch der Polizist griff bereits nach seinem Arm.
»Es wäre wesentlich einfacher, wenn Sie freiwillig mit uns kommen«, redete die Beamtin auf ihn ein.
Bevor Richard Berger noch wusste, wie ihm geschah, fand er sich auf der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses wieder. Er musste unzählige Untersuchungen über sich ergehen lassen. Mehrere Ärzte sprachen mit ihm, doch niemand schenkte ihm Glauben.
Am Abend starrte er, völlig mit den Nerven am Ende, auf die Zimmerdecke eines Einzelzimmers, dass man ihm zugewiesen hatte. Was war nur geschehen? Hatte er sich wirklich alles eingebildet?
Plötzlich wurde die Tür leise aufgeschoben. Er hob den Kopf und sah in die Dunkelheit. Rasche Schritte näherten sich ihm.
»Ich bin hier, um Ihnen Blut abzunehmen«, sagte eine Stimme, die ihm vage bekannt vorkam. Sofort breitete sich eine Gänsehaut auf seinem Körper aus.
Angestrengt kniff er die Augen zusammen. Und dann, als der Mann in den schwachen Lichtstrahl des Mondes trat, erkannte Richard Berger ihn. Es war der jüngere Mann, der am Vormittag alles gefilmt hatte.
«Die Polizei einzuschalten wirft womöglich Fragen auf, die weder du, noch ich, beantworten möchten», warnte Dorothea Berger, in bemerkenswert ruhigem Tonfall; obwohl sie im Hintergrund alles mit angehört hatte.
Beeindruckt über den Weitblick seiner Frau, die im Gegensatz zu ihm einen klaren Kopf behielt, starrte Richard sein Gegenüber an. Dorothea hielt seinem forschenden Blick mit erstaunlicher Gelassenheit stand.
«Liebling, direkt vor unserer Haustür liegt eine blutüberströmte Leiche!»
«Nun, der horrende Aufpreis für dieses mit zwei Meter hohen Hecken eingefasste Grundstück hat sich gerade ausgezahlt.»
Richard schob sich die randlose Brille auf seiner Nase zurecht. Er verspürte das dringende Bedürfnis, das Gestell abzunehmen und mit einem Brillenputztuch, das vorsorglich in seiner Brusttasche stak, über die leicht beschlagenen Gläser zu reiben. - Diese Handlung hätte, dass Abziehbild des blutüberströmten Toten jedoch auch nicht aus seinem Gedächtnis gelöscht. Anstatt dem Drang nachzugeben, erwiderte Richard Dorotheas beruhigendes Lächeln nur halbherzig. Ihr unschuldiges Kleinmädchenlächeln hatte früher im Handumdrehen sein Herz zum Schmelzen gebracht, inzwischen passte es allerdings nicht so recht zu einer inzwischen Mitte Vierzigerin. Insgeheim gab er seiner besseren Hälfte jedoch uneingeschränkt recht.
Die Polizei einzuschalten wäre zu riskant. Trotz der allgegenwärtigen Gefahr, dass die Quellen seines Zusatzverdienstes auffliegen könnten, fiel es ihm, selbst nach zwei Jahren und einem Umzug in eine anonyme Großstadt, schwer, zu akzeptieren, dass er anscheinend nachlässig geworden war.
War etwas mit den letzten Überweisungen schiefgegangen? Was könnte er übersehen haben, das zu dieser Scharade geführt hatte?
Seine Frau zu fragen würde nichts bringen. Sie interessierte sich nicht für seine Arbeit. Zumindest hatte er dies bisher angenommen. Ihr ungewöhnliches Verhalten deutete jedoch auf das genaue Gegenteil hin. Richard schien es an der Zeit ihre Aufmerksamkeit von ihm wegzulenken.
«Der Knall war ziemlich laut», gab er zu bedenken.
«Das sind Fehlzündungen beim Start eines Fahrzeugs ebenfalls», hielt Dorothea dagegen.
In einer Großstadt zu leben hatte eindeutig seine Vorteile.
Richard hob zögerlich seinen Arm. In Begriff Dorothea eine hervorblitzende wasserstoffblonde Haarsträhne, die unter ihrem Hut, der keck auf ihrem dem Haupt saß, an Ort und Stelle zurückzuschieben, überlegte er es sich, im letzten Moment, anders und fuhr sich mit der Hand, durch seinen bereits an den Schläfen ergrauten Haarschopf.
«Der Zweite hat alles gefilmt, der Kerl hat die Flucht ergriffen, was sollen wir jetzt mit der Leiche anstellen?»
«Richard, bitte beruhige dich. Du bist nicht der Einzige, der das Ganze mitverfolgt hat. Der Mann war extrem nervös. Was will er mit einem Video, indem nicht du, sondern er der Mittäter ist? Facto, existiert kein verwertbarer Videobeweis, höchstens die Möglichkeit einer Erpressung. Denk doch einmal nach. Sieht so die Arbeit eines Profis aus?» Dorothea ging dicht an Richard heran. Kurz bevor sich ihre Nasenspitzen berührten, trat sie einen Schritt seitwärts und lugte durch den Spion.
«Wie ich es mir dachte, dass waren mitnichten Profis! Wer bitte, nimmt nach einem fehlgeschlagenen Überfall eine blutüberströmte Leiche mit?»
«Wer bei klarem Verstand würde sie an Ort und Stelle belassen?»
«Ich schätze die Steinplatten müssen ausgetauscht werden. Bis dahin sollten einige Eimer heißes Laugenwasser genügen. Ich übernehme das. Geh dich bitte umziehen, du siehst sehr unappetitlich aus. Stopf das ruinierte Seidenhemd, die Krawatte und den befleckten Geldschein in einen der schwarzen Säcke, die du in der Garage aufbewahrst. Vergiss nicht die Krawattenklammer abzunehmen», überging Dorothea, seinen Einwurf.
Richard blickte seiner Frau nach, die bereits in Richtung der Hochglanzküche, die an ein geräumiges Wohnzimmer angrenzte, unterwegs war. Er bewunderte Dorothea für deren messerscharfen Verstand. - Er war einer der Gründe, weshalb er sie vor fünfzehn Jahren geheiratet hatte; wenn nicht gar der Hauptgrund.
Du warst diejenige, die wollte, dass ich spaßeshalber einen echten Geldschein an dieser dämliche Krawatte anhefte.
Zehn Minuten später umrundete Richard mit gemischten Gefühlen, die feuchten Steinplatten, deren dunkler und verwaschener Farbton, sich von den restlichen Platten unterschied, und ließ seiner Frau, die zuvor an seinem Arm eingehakt, neben ihm gegangen war, diplomatisch den Vortritt.
«Ab heute schließe ich das gusseiserne Tor vorsorglich ab. Morgen kontaktiere ich einen Sicherheitsdienst, und lasse ein moderneres Haus-Überwachungssystem installieren», sagte Richard.
Dorothea hob ihre manikürte Hand und zupfte ihrem Mann ein langes blondes Haar, vom Ärmel seines dunkelblauen Mantels.
«Geht es dir gut?», fragte Richard verunsichert.
«Die weit dringenderen Fragen wären: Wer waren diese beiden Männer? Weshalb wurde auf zehntausend Euro beharrt, anstatt den hundert Euroschein zu nehmen, den du für jeden sichtbar an der Klammer bei dir getragen hast, und warum hat dieser bärtige Mann seine Drohung in die Tat umgesetzt und sich vor deinen Augen erschossen?»
Richard drehte drei Mal den Schlüssel im stabilen Schloss des schmiedeeisernen Gartentores. Er wusste nicht zu sagen, ob das schnarrende Geräusch bei jeder Umdrehung, oder die Worte seiner Frau, für den eisigen Schauer der ihm über den Rücken ran, verantwortlich war.
Seit wann ist Dorothea derart abgebrüht? Nach unserem Einzug, vor drei Monaten, hat sie sich stark verändert.
Richard zog den schweren Schlüssel ab und schob ihn in seine Hosentasche. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Dorothea seinen BMW umrundete, die Fahrertür öffnete, dann jedoch innehielt, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen.
«Also?», fragte seine Frau, die ihm über den Wagen hinweg einen unnachgiebigen Blick zuwarf.
«Woher soll ich das wissen? Vielleicht haben sich die beiden in der Hausnummer geirrt», beantworte Richard die zuvor gestellten Fragen mit reichlich Verzögerung.
Dorothea schien mit seiner Antwort zufrieden, sie stieg ein und wartete, bis Richard den schwarzen Müllsack, der zwischen seinen Füßen auf dem Boden stand, aufgenommen und im Kofferraum verstaut hatte.
Beweismittel im eigenen Haus aufzubewahren, wäre eine sträfliche Dummheit. Ich überlege mir später, wo ich den Müllsack entsorge.
Richard schlug den Kofferraum zu und nahm widerwillig auf dem Beifahrersitz platz. Das seine Frau, die sich für gewöhnlich nur um den Haushalt und die notwendigen gesellschaftlichen Anlässe kümmerte, wie selbstverständlich das Ruder übernahm, war er nicht gewohnt. Er fühlte sich jedoch außerstande, sich dagegen aufzulehnen und eine kräfteraubende Diskussion zu riskieren. Das ungute Gefühl, dass Dorothea in ihm den Täter, oder zumindest einen Mittäter sah, und nicht ein unschuldiges Opfer, verstärkte sich unter ihrem missbilligenden Seitenblick, mit dem seine Frau ihn bedachte.
«Unterhalten wir uns heute Abend weiter, nach der Frühmesse trifft sich die Vorbereitungsgruppe für das anstehende Erntedankfest.»
«Das passt gut, ich wollte eh noch kurz im Reisebüro vorbeischauen. Ich hole dich im Anschluss an dein Treffen ab.»
«Bitte sei wenigstens heute pünktlich. Du weißt, wir erwarten Gäste», bat Dorothea, die einen schnellen Blick in den Rückspiegel warf, bevor sie anfuhr.
Richard blickte ebenfalls in den Außenspiegel, ihm blieben die Worte «Ich bin maximal zwei Stunde weg», im Hals stecken. Einige Meter entfernt, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, meinte er in einer Reihe am Bordstein parkender Autos, die blutrote Schnauze eines Minis zu erhaschen, der ihm vertraut war.
Vermutlich spielt mir mein Gehirn nur einen fiesen Streich. Viktoria wohnt am anderen Ende der Stadt. Sie müsste sich bereits auf dem Weg ins Büro befinden.
Richard lehnte sich, durch die vorangegangenen Ereignisse spürbar erschöpft, im Sitz zurück und schloss die Augen.
(C) Nellie.A
Offene Enden – zweiter Teil
Zehntausend Euro
Von Gitti Weiss (Brigitte Raspovic)
„Das habe ich bereits getan, nachdem ich den Schuss gehört hatte“, gab sie mit
zitternder Stimme und bleichem Gesicht zur Antwort. „Die Rettungskräfte, sowie die
Polizei werden bald hier sein. Ich hatte fürchterliche Angst und vermutete, Dir wäre
etwas zugestoßen. Ich bin so froh, dass Dir nichts passiert ist,“ sprach sie weiter,
während sie ihm um den Hals fiel. Er drückte sie an sich und erzählte in kurzen
Sätzen, was sich zugetragen hatte. Unmittelbar danach schob er sie beiseite, da
draußen das Martinshorn und die Polizeisirenen ertönten. Die Sirenen verstummten.
Augenblicklich war ein Durcheinander von lauten Männer- und Frauenstimmen,
sowie das mehrmalige Zuschlagen von Autotüren zu vernehmen.
Das Ehepaar begab sich in den Flur und spähte abwechselnd durch den Türspion.
Es war wieder alles ruhig. Zu sehen war nichts.
Richard meinte verwundert: „Seltsam, dass die Polizisten nicht bei uns geläutet
haben. Normalerweise nehmen die doch ein Protokoll auf.“ Dorothea zuckte mit den
Achseln und entgegnete: „Vielleicht kommen sie ja später nochmal vorbei.“
Nach einer Weile öffnete er vorsichtig die Haustür und trat, gefolgt von seiner Gattin,
nach draußen.
Beide erschauderten, denn es bot sich ihnen ein Anblick des Grauens. Zwei blut-
überströmte Polizisten torkelten auf sie zu und sanken zwei Schritte vor ihnen zu
Boden.
Die Leiche des Selbstmörders und dessen Begleiter, waren spurlos verschwunden.
Auch von einem Polizeiauto war weit und breit nichts zu sehen.
Richard Berger und seine Frau Dorothea waren unfähig, etwas zu tun. Ihre Glieder
schlotterten vor Entsetzen. Es dauerte einige Minuten, bis sich der Reisebüroinhaber
und seine Frau einigermaßen gefangen hatten. Ihre Blicke galten jetzt den zwei am
Boden liegenden furchtbar zugerichteten Männern in Uniform.
Teil 2
»Was ist passiert«, fragte Dorothea. »Das hörte sich an wie ein Schuss.«
»Nichts, was uns irgendwas angeht«, sagte Richard. »Aber es wäre gut, wenn du die Polizei rufst. Sicher ist sicher.«
»Und was soll ich sagen?«
Richard fühlte das Brennen seiner Magensäure im Hals, das übliche Aufstoßen, wenn er stress hatte. Und den hatte er. »Sag einfach, sie sollen vorbeikommen. Es wäre dringend.« Er schob seine Frau sanft Richtung Wohnzimmer, wo das Telefon stand. »Kannst du das erledigen?«, krächzte er. »Mein Magen, das ewige Sodbrennen.«
Es dauerte ewig, bis die Polizei kam. Richard Berger schätzte, fast eine halbe Stunde. In der Zwischenzeit hatte er seine Frau mit beruhigenden Worten von der Haustür ferngehalten, was nicht einfach gewesen war. Vor allem, weil die Konaks, seine Lieblingsnachbarn von schräg gegenüber, die sich wie immer für alles interessierten, was sie nichts anging, auf ihr Haus zu gerannt waren und nicht nur Sturm geschellt, sondern rhythmisch an die Haustür gewummert hatten. »Nichts, was uns irgendwas angeht«, hatte er immer wieder gemurmelt und gehofft, dass die Polizei kam und endlich für Ordnung sorgte.
Natürlich schellte die Polizei auch bei ihnen, zwei junge Männer, vielleicht Mitte Zwanzig, die vor allem überfordert wirkten. »Und sie sind sich sicher, dass Sie den Mann nicht kannten«, fragte der Blonde mit dem Dreitagebart. »Und den anderen Mann auch nicht.« Er wirkte nicht überzeugt.
Richard zuckte nur hilflos mit den Achseln.
Wenigsten organisierten die Polizisten einen Reinigungstrupp, der die Sauerei vor ihrer Haustür beseitigte, mehr schlecht als recht, wie Richard sich eingestand, aber wenigstens so, dass sich ihm nicht gleich der Magen umdrehte.
Die böse Überraschung folgte am Montag. Richard hatte noch nicht seinen Platz im Großraumbüro der Versicherung eingenommen, für die er im Hauptberuf als Schadensregulierer arbeitete, als ihn die Blicke seiner Kollegen und Kolleginnen aufschreckten. Beunruhigt sah er sich um. Alle starrten ihn an.
„Die Polizei?“
Dorotheas Schritte polterten die Kellertreppe wieder herauf.
„Aber warum denn?“ Fragte sie mit den Armen voller Dinge und streckte ihren Kopf aus dem Türspalt.
Berger stemmte sich mit dem Rücken gegen die verschlossene Haustür, als wollte er ein Ungeheuer aussperren. Sein Mund öffnete und schloss sich. Doch es kam kein Ton heraus. Dorothea fühlte sich an die Kois im Gartenteich erinnert.
„Was hast du?“
Sie klemmte die Last unter einen Arm und schlug mit der freien Hand auf den Lichtschalter. Beim Anblick ihres Mannes plumpsten Richards Gore Tex, ihre Stiefeletten und der Regenschirm zu Boden.
„Oh mein Gott! Ist es wieder das Herz?“
Hektisch kreischten die Füße des Hockers über den Steinboden.
„Setz dich.“
Das dicke Polster stöhnte leise unter Bergers Gewicht. Er lehnte sich gegen die Wand und schloss für einen Moment die Augen.
„Du brauchst frische Luft.“ Sagte seine Frau und griff nach der Klinke.
„Nein! Nicht!“ Er schrie beinahe.
„Ist kein schöner Anblick.“ Setzte Berger ruhiger hinzu.
„Ist ja gut, schon gut.“
Dorothea Berger hob ihre Arme, als würde sie mit einer Waffe bedroht. Die Geste erinnerte ihn an die Geschehnisse auf der Treppe. Er schluckte trocken.
„Du musst die Polizei rufen, Jemand hat sich vor unserer Tür -“
Berger holte tief Luft, als wollte er einen Tauchgang wagen.
„- erschossen.“ Stieß er hervor.
„Wenn das einer deiner seltsamen Scherze sein soll -“
„Nein.“
Er richtete sich auf und stützte beide Hände fest auf die Knie.
„Nein. Leider nicht.“
Es klingelte.
Im Lichtausschnitt der Tür zeichneten sich die Silhouetten eines ungleichen Paares ab.
„Lass nur, ich geh schon.“ Sagte Dorothea etwas zittrig, als Berger Anstalten machte, sich zu erheben.
Ein Schwall kühler nasser Luft wehte die Gartennachbarn der Bergers herein.
„Tach auch, der Andi hat hat jemand bei euch an der Türe gesehen. An einem Sonntag! Um diese Zeit! Da kriegt ihr doch nie Besuch … Und dieses Auto! So eine kackbraune Schrottlaube und das Rücklicht ging auch nicht. Es hatte sogar eine Fehlzündung. Habt ihr das auch gehört? Um diese Zeit seid ihr doch immer in der Kirche. Und weil noch Licht war bei euch. Ich sagte Andi, wir müssen nach dem Rechten sehen. Gute Nachbarn kümmern sich doch, nicht wahr? Ist so weit alles in Ordnung?“ Sprudelte sie hervor.
Neugierig reckte die kleine Frau ihren Hals. Während sie sprach huschten ihre Augen flink in Bergers Diele umher, bereit jedes winzige Detail aufzusaugen.
„Ach, das ist aber lieb, Frau Spitzel.“ Brachte Bergers Frau heraus.
„Ute bitte. Wir waren doch schon beim Du.“
Feiner Regen setzte ein. Böiger Wind wehte ihn die Vortreppe herauf bis in den Flur.
„Danke, dass ihr so gut auf uns achtgebt. Da fühlt man sich gleich -“
„Nicht dafür, meine Liebe. Wir haben die Nachbarn immer im Blick. Man liest ja so viel und es macht doch keine Mühe. Nicht wahr, Andi?“ Fiel ihr Ute ins Wort.
Der Hocker seufzte erleichtert, als Berger sich mit neuer Energie erhob. Er quetschte sich an seiner Frau und den Spitzels vorbei, um hinaus zu spähen.
„Kommt erstmal aus der Tür. Du auch Richard.“ Rief Dorothea und sperrte das feuchte Wetter aus.
„Heute soll es den ganzen Tag wie aus Eimern schütten.“ Sagte Andi, bevor er seinen Schirm zum Trocknen aufspannte. Ein feiner Sprühregen vernebelte den großen Spiegel. Dorothea presste ihre Lippen zu einem geraden Strich.
„Wohin damit?“ Fragte der Nachbar.
„Hör auf! Du machst doch alles nass.“ Schimpfte seine Frau.
„Das ist jetzt auch egal.“ Murmelte Dorothea und musterte die schmutzige Pfütze, die sich um Utes quietschgelbe Gummistiefel gebildet hatte.
„Habt ihr da draußen niemand gesehen?“
„Bei dem Wetter lasst ihr doch euren Gast nicht draußen warten.“
Utes Augen wanderten die Stufen ins Obergeschoss hinauf.
„Was für ein Gast?“ Fragte Dorothea.
„Also der Andi sagte, es wären zwei Männer an eurer Tür gesehen…“ Antwortete Ute mit einem Seitenblick auf ihren Mann.
Andreas Spitzel hob die Schultern.
„Außer uns ist niemand hier.“
„Aber Andi-“
„-irrt sich. Auch wenn ich kein derart reges Interesse an fremden Angelegenheiten habe, was in meinem Haus vorgeht, das weiß ich ganz sicher.“ Sagte Dorothea bestimmt.
Ute Spitzel holte tief Luft. Doch Berger kam ihrem Redeschwall zuvor.
„Da war wirklich niemand? Auf dem Boden vor der Treppe?“
Entgeistert starrte Andi auf Berger hinunter.
„Ach was, das ist nur einer von Richards merkwürdigen Scherzen.“ Sagte Dorothea und kniff in Bergers Arm.
„Richtig, blöder Scherz. Ihr hättet ihn ja sehen müssen, als ihr gekommen seid.“ Sagte Berger schnell. Er schloss den Schirm und drückte ihn in Andis Hand.
„Lieben Dank für eure Sorge. Aber ihr seht selbst, es ist alles in bester Ordnung.“
Dorothea öffnete die Tür.
„Wir wollten ohnehin gerade gehen. Schade, dass die Nachbarschaft unser Engagement nicht zu schätzen weiß. In Zukunft kümmern wir uns nur noch um unsere eigenen Angelegenheiten.“ Schnappte Ute bissig.
„Wer es glaubt.“ Murmelte Berger.
Die Regenrinne am Vordach lief über und das Wasser pladderte zu beiden Seiten der Haustür auf den Boden. Sie sahen den Spitzels nach, bis sich der Regenvorhang hinter ihren Ostfriesennerzen schloss.
„Was ist eigentlich in dich gefahren?“
Eine steile Falte furchte Dorotheas Stirn.
„Jemand hat sich vor unserer Tür erschossen? Und wo ist er hin?“
„Ich weiß nicht. Ich habe keine Erklärung dafür.“
Verwirrt sah Berger sich um. Sein Blick fiel auf den Briefkasten. Die Sonntagszeitung hing zerfleddert aus dem Briefschlitz. Die obere Hälfte war durchweicht vom Regen. Er zog sie vorsichtig heraus. Als er die matschige Rolle in der Diele öffnete, fiel ein Smartphone heraus. DAS Smartphone.
Berger wich bis an die wand zurück, als wäre eine schwarze Mamba aus dem nassen Papier gekrochen.
„Dann werde ich wohl doch nicht verrückt.“ Sagte er leise.
Es war auf Vibration eingestellt. Der eingehende Anruf ließ es schnurrend über die Fliesen tanzen.
„Soll ich rangehen?“ Fragte Dorothea.
Richard Berger rief selbst bei der Polizei an. Seine Frau Dorothea wollte ihm nicht glauben. Kein Wunder, wer würde solch ein Irrwitzige Sache auch glauben. Herr Berger verstand ja selbst nicht was er da erlebt hatte. Doch nachzusehen traute sich seine Frau auch nicht, zumindest soviel Verstand hatte Sie in der Situation noch behalten. Der Anblick…Herr Berger konnte seinen Gedanken nicht zu Ende fassen. Das schrille Geräusch der alten Klinge lies Ihn Inne halten. Er hatte schon ein Muster in den Teppich gelaufen, so energisch ist er im Kreis gelaufen. Die Polizei würde doch bestimmt mit einem Großaufgebot auftauchen. Ein Mord vor der eigenen Haustüre. Ein Albtraum wird wahr und sie waren mittendrin. Wieso hatte er nur die Sirenen nicht gehört? Diese Situation verstörte Ihn wohl mehr als er es sich selbst eingestehen wollte. Abermals klingelte es. „Richard, nun geht doch endlich an die Tür“ ermahnte ihn Dorothea. Selbst traute sie sich nicht vor die Tür. Sie blieb stur in ihrem Lederimitatsessel sitzen und strich zum hundertsten mal über das Blumenmuster des Sesselschoners. Mit schweissnassen Händen öffnete Herr Berger die Tür. Ihm graute vor dem Anblick…
Zwei Polizisten, eine brünette Dame mit strengem Pferdeschwanz und ein eher schlaksiger junger Typ standen vor seiner Türe. „Sind sie Herr Berger?“ fragte die Polizistin streng. Zögerlich nickte er. „Uns wurde mitgeteilt, dass sich hier ein Schuss ereignet haben soll?“ wieder nickte er, denn er brachte kein Wort mehr heraus. „Sie haben bei ihrem Anruf berichtet, jemand sei erschossen worden?“ abermals ein Nicken. „Nun erzählen Sie uns endlich was vorgefallen ist, schliesslich haben Sie uns her gerufen Herr Berger.“ Die Polizistin stemmt die Hände in die Hüften und der hochgewachsene Mann zog die Augenbrauen skeptisch in die Höhe. Doch Richard Berger brachte kein Wort heraus. Er war blass wie ein Stück Papier – und ich rede hier nicht von diesem braunstichigem Recyclingpapier, sondern dem Hellweißen.
Unterhalb der Treppen lag keine Leiche mehr!
Fortsetzung, Teil 1.
(Zweites Ereignis, an einem anderen Ort, am selben Tag. Eine Art Iteration)
Alvara Pech lebte noch vor zwei Jahren in Winnemucca und kam dann nach Deutschland. Wann immer sie gefragt wurde, wo denn bitte dieses Winnewas – also Winnemucca – liegt, antwortete sie: »In Nevada.«
Weitere Fragen dazu blieben in der Regel aus. Stattdessen folgten mitfühlende Blicke, als Einleitung zur unvermeidlichen Kette von Ratschlägen. Überhaupt schienen die meisten Deutschen sehr hilfsbereit zu sein, auch wenn es manchmal etwas irritierend herüberkam.
Nicht wenige aus ihrem neuen Bekanntenkreis standen Alvara zu Beginn etwas unterkühlt gegenüber, wurden aber freundlich und zugänglicher, nachdem das zwischenmenschliche Eis denn endlich geschmolzen war.
Zudem gab es da noch ihren Nachnamen.
Pech.
Ein verbreiteter Name unter Hispanic Americans – und immer wieder ein Aufhänger vonseiten ihrer Gesprächspartner – jedoch nur selten angenehm für sie selbst. Pech war eben auch ein bitterlustiges Wort der deutschen Ironie. Pechsache war hierbei ein Klassiker, gerade wenn es um Alvaras gesamte Situation ging, Pech gehabt ein wiederkehrendes Phänomen in Sachen Politik und das berühmte Zusammenhalten wie Pech und Schwefel kam ihr ebenfalls in so mancher Form entgegen – in solchen Fällen als Solidaritätsbekundung. Für genau diese war Alvara sehr dankbar, wenn man bedachte, dass sie so gerade eben aus den Good Ol´USA flüchten konnte, nachdem sie bereits in eines der berüchtigten texanischen Deportation Camps gesteckt worden war – Eject Hubs, wie manche diese zynisch nannten. Extrem traumatisch. Über Details hielt sie sich vorzugsweise bedeckt, was mehr aussagte, als verschwieg. Vom Tag ihrer Flucht an galt sie offiziell als staatenlos.
Ihre Eltern flohen nach Portugal. Alvara jedoch zog es jedoch nach Deutschland.
Vielleicht war ihr Nachname ein Grund gewesen, warum sie sich bereits während ihrer Jugendzeit dazu entschlossen hatte Deutsch zu lernen, doch daran konnte sie sich nicht mehr erinnern.
Dank europäischer Sonderregelungen, für gut gebildete Flüchtlinge und Migranten aus den USA, war es ihr schnell vergönnt, einen attraktiven Job zu finden. Ihre Sprachkenntnisse erwiesen sich als ein Riesenplus.
Ein Privileg des Schicksals eben.
Fate und Karma.
Sie saß gedankenverloren auf einer Parkbank und starrt den Screen ihres Pads an. Das tägliche Doomscrolling am Vormittag. Eigentlich überflog sie nur die Headlines. Zu viele schlechte Nachrichten – in detaillierter Form ein Overkill, den sie nicht brauchte. Deutsche News-Portale wurden hierbei von ihr bevorzugt; für Alvara eine Art kulturelle Abgrenzung von der alten Heimat, auch wenn es inhaltlich nur allzu oft um eben diese ging.
Wieder einmal tauchte diese eine Überschrift auf. Vielleicht ein typisches Beispiel für den deutschen Erklärungszwang. Vermisster Sohn des Technikgenies Matas Kudirka wohl tot – Leiche stark verwest. Wie kompostiert muss jemand sein, bis er in Deutschland als wirklich verstorben gilt?
»Ist das normal?«, fragte sie und drehte sich zur Seite – in der Erwartung ihren Arbeitskollegen Jörg Ahlhorn neben sich zu sehen, mit dem sie an diesem Sonntag im Alsterpark saß. Dieser war wortlos aufgestanden und lief schnellen Schrittes auf jemanden zu – sein Smartphone hielt er hoch, als würde er filmen. Er schien sehr aufgebracht zu sein. Nur kurz zuvor hatte er einen sehr entspannten Eindruck gemacht und über banale Dinge des Alltags gesprochen.
Erschrocken beobachtete sie, wie Jörg nach der Tasche eines bärtigen Mannes zu greifen versuchte und einen Schlag ins Gesicht dafür kassierte. Dieser rieb sich anschließend seine geballte Faust und sah zu einem anderen Mann herüber. Beide trugen Jeans und Jacken aus Lederimitat, blickten sehr ernst drein und schienen nicht überrascht zu sein. Sie wirkten eher unauffällig – wie Vater und Sohn in niveauarmer Kleidung.
»Ich will nur zehntausend Euro, mehr nicht! Das sind doch Peanuts!«, schrie Jörg wie irre, zog nach kurzem Zögern einen Kugelschreiber aus seiner Jackentasche und stach dem älteren Mann durch das rechte Auge in den Kopf. Dieser sackte sofort zusammen.
Danach rannte Jörg mit wutverzerrt schäumendem Mund davon. Sein Smartphone hielt er filmend vor sich her, als ob er jemandem damit folgte.
Der jüngere Mann kniete sich zu dem Toten nieder, sprach leise vor sich hin und schien völlig gelassen zu sein – als ob ihn das Ganze kaum berührte.
Alvara war zutiefst erschüttert. Sie blieb auf der Bank sitzen und blickte in die Abgründe eines Déjà-vu.
Fate und Karma.
Dann rief sie die Polizei.
…
Er ging zu dem kleinen Teewagen, der neben der schweren Ledercouch stand und füllte einen wuchtigen, aufwendig geschliffenen Becher zweifingerbreit mit Whisky. Er ließ sich auf die Couch fallen und nahm einen tiefen Schluck. Seine Frau kam, mit dem Telefon in der Hand wieder ins Zimmer und sah ihn fragend an. „Hast du die Polizei gerufen?“, fragte Berger seine Frau. Der Vorfall vor der Haustüre und der Whisky schnürten ihm die Kehle zu und seine Stimme klang krächzend und rau. „Was ist den passiert und warum die Polizei?“ Dorothea schaute ihren Mann verständnislos an. „Vor unserer Haustüre hat sich Einer erschossen, das ist passiert!“ Richard Berger schrie die Antwort förmlich heraus. Seine Frau stieß einen spitzen Schrei aus und ließ das Telefon fallen. Berger stand auf hob den Apparat auf und wählte die 110. Er erklärte dem Beamten am anderen Ende kurz den Grund seines Anrufs, dann setzte er sich wieder und trank das Glas leer, während seine Frau immer noch wie erstarrt dastand und ihn ungläubig anstarrte. Erst nach endlos scheinenden Minuten hatte sich Dorothea wieder gefangen. Sie setzte sich zu Richard und klammerte sich an seinen Arm. Auf die Frage von ihr ob sie vielleicht nachsehen sollten, weil alles nur eine Einbildung sein könnte reagierte ihr Mann nicht. Er schenkte sich noch einen Whisky ein, aber Dorothea nahm ihm ebenso wortlos das Glas aus der Hand und trank es in einem Zug leer. Die Türklingel schreckte sie auf. „Na endlich,“ seufzte Richard und ging zur Türe. Er sah durch den Spion zwei Polizeibeamte und öffnete erleichtert. Die beiden Beamten grüßten förmlich.
„Polizeihauptmeister Huber,“ stellte sich einer der Beiden vor. Bevor er weiterreden konnte fiel ihm Berger ins Wort. „Gut dass sie da sind! Wir wollten gerade zur Kirche, da klingelte es und ein Mann hat sich vor meinen Augen erschossen. „So, so, vor ihren Augen,“ wiederholte Huber und sah dabei seinen Kollegen vielsagend an. „Wo soll das den gewesen sein?“ wollte dieser wissen und er sah dabei seinen Kollegen lächelnd an. Da wurde es Berger zu dumm und er forderte die beiden Polizisten auf zur Seite zu gehen, dann würden sie den Toten liegen sehen. Die Beamten gingen demonstrativ weit auseinander und gaben Treppe und Weg frei, aber es war nichts zu sehen. Der Weg vom Gartentor zum Haus war wie immer nichts deutete darauf hin, dass hier ein Verbrechen geschah.
Richard hielt es aber nicht lange aus untätig im Haus zu sitzen. Noch während Dorothea mit der Polizei telefonierte, öffnete er die Tür behutsam einen Spalt breit und linste vorsichtig hinaus.
Der Mann, der sich in den Kopf geschossen hatte, lag immer noch der Länge nach ausgestreckt vor seiner Tür und färbte Richards Plattenweg langsam rot ein. Obwohl die ganze Angelegenheit schrecklich war, kam Richard nicht um die Erkenntnis herum, dass so ein roter Plattenweg wohl ein beeindruckender und erhabener Anblick bieten würde.
Da er den Mann mit der Kamera nirgends erblicken konnte, wagte er sich aus der Tür hinaus und schaute sich um, aber den Kameramann sah er nicht.
Da sein Garten von einer etwa mannsgrossen Mauer umgeben war (die gehörte einfach zu der etwas in die Jahre gekommenen, rosa gestrichenen Villa, die Richard von seinem Grossonkel mütterlicherseits geerbt hatte) konnte dieser zweite Mann aber auch schon auf die Strasse hinausgeflüchtet sein, wo ihn Richard nicht mehr sehen konnte.
Richard rannte zum seinem schmiedeeisernen Gartentor, dem einzigen Durchlass in seiner Mauer, und spähte auf die Strasse hinaus. Alles war wie immer. Halb auf dem Gehsteig parkte eine lange Reihe Autos (obwohl dort Halteverbot war), herbstliches Laub bedeckte den Boden, einige Krähen hockten in den kahlen Bäumen und krächzten heiser. Keiner seiner Nachbarn schien von dem Schuss Notiz genommen zu haben.
Der einzige Mensch auf der Strasse war ein alter Mann mit langem Bart, der eine orange Leuchtweste trug. Mit einem grossen Besen kam er, die Strasse fegend auf Richards Gartentor zu. Er ging dabei methodisch und gründlich vor und erinnerte damit ein wenig an den Strassenfeger aus Michael Endes Buch „Momo“. Schritt, Atemzug, Besenstrich. Schritt, Atemzug, Besenstrich. Schritt, Atemzug …
Richard hatte genug gesehen und kehrte in seinen Garten zurück. Er wollte gerade zur Haustür zurückkehren, vor der die Leiche noch immer vor sich hin blutete, als er einen kleinen Mann hinter dem Rhododendronstrauch seiner Frau kauern sah.
Der Mann hatte einen Feldstecher dabei, mit dem er das Haus beobachtete. RICHARDS HAUS.
Der Mann hatte ihn noch nicht bemerkt. Zornig baute sich Richard hinter dem kleinen Mann, der sich wieselhaft hinter dem Strauch zusammenkauerte auf. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sagte dann vor Zorn beinahe Funken sprühend: «Was machen Sie da?»
Der kleine Mann fuhr in die Höhe, drehte sich um, erschrak noch mehr, machte einen Schritt nach hinten. stolperte über seine eigenen Fuss, kam aus dem Gleichgewicht, ruderte mit den Armen wie eine übergewichtige Gans, die losfliegen will, verlor das Gleichgewicht völlig und knallte mit der Anmut eines sterbenden Schwans der Länge nach auf den Boden, direkt in den Rhododendronstrauch, der dabei arg in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Richard rieb sich die Stirn und stöhnte frustriert. Dorothea würde wütend werden.
Er streckte dem kleinen Mann, der sich stöhnend im Strauch wand die Hand hin und zog ihn auf die Füsse. Dabei dachte er an kleine weisse Lämmchen in dem verzweifelten Versuch sich davon abzuhalten dem kleinen Mann alle Zähne aus dem Mund zu schlagen.
Als Kind hatte er immer davon geträumt eines Tages Schäfer zu werden und mit seiner Herde durchs Land zu ziehen. Auch heute stellte er sich oft vor, wie er in der Mitte einer Herde kleiner wolligen Gesellen stehe und am Horizont nach Wölfen oder Bären Ausschau halte.
Er war so in seine Betrachtung von Schafen vertieft, dass er erst beim zweiten Mal bemerkte, dass sich der Mann vorgestellt hatte.
«Was?», fragte Richard, der den Namen immer noch nicht verstanden hatte und stierte den kleinen Mann dabei mit dem Blick eines wilden Stiers an. Eines wilden Stiers vor dessen Augen sich der Torero in eine Balletttänzerin verwandelt hatte, die den Schwanensee aufführte.
Der kleine Mann machte vor diesem Blick instinktiv einen Schritt zurück und wäre dabei beinahe erneut über seine Füsse gestolpert, fing sich aber gerade noch rechtzeitig.
„Mein Name ist Hugo Täuscher“, sagte er und rieb sich dabei die kleinen Hände obwohl es gar nicht so kühl war.
Richard fand, dass dieses listig wirkende Hände reiben gut zu dem Frettchengesicht und der dickglasigen, runden Brille passte, die Hugo trug. Der ganze Mann kam ihm irgendwie schleimig vor, wie er lächelnd dastand und seine riesigen, biberzahnartigen Schneidezähne präsentierte.
Richard machte einen kleinen Schritt zurück, wie um zu verhindern, dass ein Teil des Schleims auf ihn überspringen könnte.
«Und was machen Sie in meinem Garten?», fragte er unfreundlich.
Täuscher grinste noch ein bisschen breiter und wirkte verlegen.
«Naja.», murmelte er, «Wir hatten da diese Wette um zehntausend Euro. Und die geriet irgendwie ausser Kontrolle.»
Richard atmete scharf ein. Hatte Täuscher etwas mit dem Typen zu tun, der sich in seinem Garten den Kopf weggeblasen hatte?
Seine Gedankengänge wurden unterbrochen, denn aus dem Augenwinkeln nahm er wahr, dass der alte Mann mit der orangen Leuchtweste, den Weg fegend in seinen Garten hineinschlurfte.
Er liess Täuscher stehen und nahm sich vor ihn später weiter auszuquetschen. Mit schnellen Schritten lief er auf den Alten zu und stellte sich ihm in den Weg.
«Was machen Sie da?» fragte er und machte sich eine gedankliche Notiz, dass er diese Frage an diesem Tag schon viel zu oft gestellt hatte.
«Ich fege den Fussweg.», antwortete der alte Mann ruhig.
«Ja aber der Gehsteig ist draussen. Also fegen Sie gefälligst ausserhalb meines Gartens.», antwortete Richard bissig.
«Ich fege aber den Fussweg und nicht den Gehsteig.», antwortete der alte Mann.
Richard sah ihn so verständnislos an, dass der Alte Mitleid bekam und zu einer weiteren Erklärung ansetzte. Dazu unterbrach er sogar das Fegen.
«Wie bewegen sie sich auf diesem Weg?», fragte er.
«Na zu Fuss.», antwortete Richard zögernd.
Der Alte lächelte zufrieden und antwortete: «Eben. Dann ist es ein Fussweg und ich fege ihn.»
Damit liess er Richard stehen und fegte weiter auf das Haus zu.
Richard hatte nicht lange Zeit sich über den Alten zu wundern, denn schon wieder betrat eine Gestalt seinen Garten.
Diesmal war es ein hagerere, hochaufgeschossener Mann in einem sehr korrekten Anzug, der ein kleines Aktenköfferchen in der Hand trug.
Der korrekt gekleidete Mann machte einen Kratzfuss.
„Gestatten? Mein Name ist Kratz von Fuss.“, sagte der Kratzfuss und machte, wie um seinen Namen zu unterstreichen einen zweiten Kratzfuss.
«Aha.», antwortete Richard, «Und was machen Sie hier?»
«Und Sie sind?», entgegnete Kratzfuss spitz und sichtlich pikiert darüber, dass Richard sich ihm nicht ebenfalls vorgestellt hatte.
«Ich bin Richard Berger.», antworte Richard, dem die Etikette und die Regeln der Höflichkeit inzwischen ziemlich egal waren, «Und was machen Sie hier.»
«Ich bin von der illegalen Wettkommission der Polizei. Hier soll eine illegale Wette stattgefunden haben. Stimmt das?», antwortete Kratzfuss.
«Dann kommen Sie also wegen der Leiche?», fragte Richard und wartete die Antwort gar nicht erst ab, «Sie ist da drü…»
Die Worte blieben ihm im Mund stecken, als er sich umdrehte und auf die Leiche zeigte.
Doch da war keine Leiche mehr. Da war auch kein Blut mehr. Nur ein säuberlich gefegter Plattenweg. Und nun fiel Richard auch auf, dass auch der alte Strassenfeger in der orangen Leuchtweste verschwunden war.
Nur Hugo Täuscher, der inzwischen wieder mit seinem Fernglas Richards Haus studierte, stand noch neben dem Rhododendronstrauch.
Es dauerte eine gute Dreiviertelstunde, bis es erneut an der Haustür klingelte.
Berger sass im Wohnzimmer auf der ledernen Couch und hatte einen leeren Cognac-Schwenker vor sich auf dem Couchtisch stehen. Seine Hände zitterten leicht.
„Gehst Du bitte an die Tür und schaust nach, wer das ist?“ bat er seine Frau. „Es wird hoffentlich die Polizei sein.“ Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Aber sei vorsichtig!“
Dorothea Berger ging mit leisen Schritten zur Haustür und sah durch den Türspion. Zwei uniformierte Polizeibeamte standen vor der Tür, eine junge, dunkelhaarige Beamtin mit einem schmalen Gesicht, und ein älterer, etwas fülliger Beamte. Beide drängten sich unter das schmale Vordach, weil es draussen in Strömen goss. Im Hintergrund sah sie am Strassenrand einen Streifenwagen parken.
Frau Berger öffnete die Tür. „Guten Morgen“, begrüsste sie die Besucher mit leicht schwankender Stimme. „Es ist gut, dass Sie da sind. Es ist etwas Schreckliches passiert.“
„Sie haben bei uns angerufen?“ fragte der Beamte. „Sie sind Frau Berger?“, setzte er nach, ohne eine Antwort abzuwarten.
„Ja“, fuhr Dorothea Berger fort, „mein Mann war an der Haustür und hatte einen Streit mit zwei unbekannten Männern. Einer von ihnen hat sich vor seinen Augen erschossen….in den Kopf geschossen.“
„Haben Sie den Vorgang beobachtet?, fragte die junge Beamtin.
„Nein. Ich stand im Flur vor dem Garderobenspiegel. Wir hatten uns gerade für die Kirche fertig gemacht.“
„Wo ist Ihr Mann jetzt?“ Der ältere Beamte nahm aus einer Umhängetasche ein Notizbuch. „Könnten wir ihn sprechen?“
„Ja, natürlich“, antwortete Frau Berger. „Er sitzt im Wohnzimmer und erholt sich von dem Schock.“
Sie ging vor zum Wohnzimmer, die Beamten folgten ihr.
„Richard, die Polizei ist da“, sagte sie kurz. „Die Beamten möchten mit dir sprechen.“
Berger, der eingesunken auf der Couch gesessen hatte, erhob sich kurz zur Begrüssung und bekannte dann: „Ich bin noch ganz durcheinander.“
Der ältere Beamte begann: „Erzählen Sie uns, was heute Morgen vor Ihrer Haustür passiert ist.“
„Ich habe so etwas noch nie erlebt.“ Berger schüttelte ein wenig den Kopf. Dann schilderte er die Ereignisse, die mit dem Klingeln begannen und mit der Bluttat endeten.
Der ältere Beamte machte sich Notizen.
Berger beendete nach einer Viertelstunde seinen Bericht. Er wirkte erschöpft.
„Und Sie haben unmittelbar nach dem Schuss die Tür geschlossen und sich ins Wohnzimmer zurückgezogen?“, hakte die junge Beamtin nach.
„Ich stand unter Schock. Ich glaube, ich habe mich instinktiv in Sicherheit gebracht.“
„Und ihre Frau?“
„Sie hat die Polizei angerufen und ist zu mir ins Wohnzimmer gekommen.“ Berger fügte hinzu: „Wir haben uns beide vor da draussen gefürchtet.“
Der ältere Beamte schaute von seinen Notizen auf und wandte sich an Dorothea Berger: „Was haben Sie von den Vorkommnissen an der Haustür mitbekommen?“
„Ich habe zwei fremde Männerstimmen gehört, die einen heftiger werdenden Wortwechsel mit meinem Mann hatten….und dann fiel dieser eine Schuss.“
„Gesehen haben Sie nichts?“
„Nein. Ich stand im Flur. Die Haustür war nur einen Spalt offen. Und mein Mann stand davor.“
„Das ist erst einmal alles“, sagte der ältere Beamte und klappte sein Notizbuch zu. „Wir werden den Vorfall zu Protokoll nehmen. Ich gehe davon aus, dass sich demnächst ein Kommissar bei Ihnen melden wird, um weitere Untersuchungen einzuleiten.“
Er verabschiedete sich und wandte sich mit seiner Kollegin zum Gehen. „Noch etwas“, sagte er im Hinausgehen, „sagen Sie uns bitte Bescheid, wenn sich diese Typen bei Ihnen wieder melden.“
Als sie wieder allein waren, schaute Dorothea Berger ihren Mann an: „Du, Richard, ist Dir nichts aufgefallen?“
„Ich weiss nicht.“ Berger schaute auf sein Glas.
„Die Polizei ist doch durch die Gartentür zu unserer Haustür gegangen.“
„Ja?“
„Sie hätten doch etwas sehen müssen.“
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Dorothea Berger nahm ab und meldete sich.
„Für Dich“, sagte sie und gab ihrem Mann den Hörer. Berger sagte kurz seinen Namen. Die Stimme am anderen Ende war die eines Mannes. Er erkannte sie sofort. Es war der jüngere Mann von der Haustür.
Seitenwind 2024
Seine Frau Dorothea erblasste.
„Was ist denn geschehen? Was war das für ein Lärm?“, fragte sie.
„Mach einfach, was ich dir sage und ruf die Polizei an. Sag denen unsere Adresse und dass es einen Toten gibt.“ Er drehte sich um und ging zügig in sein Büro. Dort öffnete er den Safe. Er griff nach seiner Pistole und merkte sofort, dass diese nicht seine war. Erstaunt betrachtete er sie näher: selbe Marke, selbes Kaliber, aber die Markierung am Griffstück fehlte. Nur er und seine Frau hatten Zugang zu dem Safe. Dorothea mochte keine Pistolen und kannte sich damit nicht aus. Er hatte seine Pistole letztes Silvester einmal abgefeuert und danach nie wieder benutzt. Ob es schon damals eine andere war, konnte er jetzt nicht mehr sagen. Aber wenn er sie nicht vertauscht hatte …, nein, Dorothea würde so etwas niemals tun. Sie kannten sich schon ewig und waren fast genausolange verheiratet. Er vertraute ihr völlig. Ursprünglich hatte er den Plan gefasst, die Pistole, zur Selbstverteidigung ihrer beider Leben, an sich zu nehmen. Was aber, wenn jetzt gleich die Polizei käme und er hätte eine Pistole unbekannten Ursprungs in seiner Jackentasche? Er legte sie so blitzartig wieder in den Safe, dass man denken konnte, sie hätte ihm die Hände verbrannt. Danach verschloss er den Safe und ging zügig ins Wohnzimmer, wo er seine Frau telefonierend vorfand.
„Sprichst du noch mit der Polizei?“
Sie nickte.
Er nahm ihr den Hörer aus der Hand.
„Hier spricht Richard Berger. Vor meiner Tür tauchten zwei Männer auf, der eine steckte sich seine Pistole in den Mund und drückte ab, der andere filmte das alles. Sie sagten zuvor, ich könnte das verhindern, wenn ich ihm zehntausend Euro geben würde. Kein Mensch glaubt so etwas doch ernsthaft.“ Er hörte einen Augenblick zu und entgegnete: „ Ok, wir warten.“ Dann legte er auf.
„Die Polizei ist sofort da“, sagte er zu seiner Frau.
Dorothea sank blass und zitternd in den Sessel im Wohnzimmer.
Als Richard Berger die Polizeisirene vernahm, begab er sich zur Tür, blickte durch den Spion und sah: NICHTS!
Er riss die Tür auf und davor: NICHTS!
Weder ein Toter noch Blut.
Die Tatwaffe
Von Paulina Goldbach
Dorothea hob den Kopf von ihrer Zeitung und hechtete zum Telefon. Mit zittrigen Fingern tippte sie den Notruf ein: »Was ist los?«, sie verstand gar nichts.
Er riss ihr den Apparat aus der Hand: »Kommen Sie schnell. Am Buchrain 13 am Kronberg. Hier liegt ein Toter vor der Tür. Der wollte mich erpressen.« Hektisch wanderte sein Blick immer wieder zum Eingang. »Nein, ich habe ihn nicht umgebracht, weil er mich erpressen wollte. Er hat sich selbst erschossen. Da ist ein zweiter, der lebt aber noch.«
Dorothea Bergers Augen weiteten sich mit jeder zusätzlichen Erklärung ihres Mannes. Sie wandte den Blick kaum von der Haustür, während sie sich den Schürhaken vom Kamin griff. »Jetzt kommen Sie doch einfach, wir sind in Gefahr«, drängte Richard Berger den Gesetzeshüter. Entschlossen drückte er den Beamten weg: »Nu‘ müsen sie auftauchen, nur wann?« Richard und Dorothea Berger standen wie paralysiert in ihrem Haus.
Es klopfte. Frau Berger wimmerte. Ihr Ehemann schlicht zur Haustür und schaute aus dem seitlichen Fenster. Unberührt lag die Leiche vor seinem Haus. Es hämmerte. Dorothea Berger stieß aus: »Der soll abhauen! Was will der? Wie ist das passiert, Richard?« Lautstärke und Schrillheit ihrer Worte steigerten sich. »Was weiß ich?«, blaffte Richard.
Erneutes Klopfen, schneller und lauter: »Öffnen Sie die Tür. Sie haben meinen Vater umgebracht. Das werden Sie büßen.« Die Stimme des Fremden trug seinen Hass ins Haus. »Aus reinem Geiz bringen Sie Menschen um. Das kommentieren Sie auch noch sarkastisch.« Das Ehepaar umklammerte sich, den Schürhaken zwischen sich. Richard Berger schlich erneut zur Tür, um sich den jüngeren Mann genauer anzuschauen. Er musste herausfinden, was der Kerl vorhat und weshalb er nicht verschwunden ist. Richard drohte: »Wir haben die Polizei gerufen. Sie werden gleich festgenommen und wir haben unsere Ruhe.« Die Antwort des Fremden klang leiser und entfernter. »Sie werden die Probleme bekommen. Sie sind der mit der Leiche vor der Tür. Wie wollen Sie das denn erklären? Oder die sauber abgewischte Tatwaffe in Ihrem Haus?« Ein dezentes Klicken ertönte an der Hintertür des Gebäudes. Die Katzenklappe schwang auf und nach einem lauteren, metallischen Klappern, fiel sie zurück in die geschlossene Position.
Die Augen der Bergers weiteten sich, sie sprinteten in ihren kleinen Abstellraum neben ihrer Küche. Auf dem Boden schimmerte die Pistole im Licht des Flures. Sie erstarrten, verharrten. Die Waffe fixierten sie einige Sekunden. Dorothea schnappte nach Luft, das Atmen hatte sie kurzzeitig vergessen. Sie schrie: »Was machen wir denn jetzt? Verdammt, die Polizei ist gleich hier.«
Sie hörten noch keine Polizeisirenen.
„Ach… und danach noch den Reinigungsdienst. Da draußen hat sich einer umgebracht“, fügte er noch hinzu. Dorothea Berger sah ihn entgeistert an: „Machst du Witze? Ich habe gestern Abend alles auf Hochglanz gebracht im Stiegenhaus.“ Ihr Mann schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern: „Was soll ich machen, diese Internet-Challenges werden immer blöder. Ich hab ihm sogar noch gesagt, er soll nach draußen gehen. Es tut mir leid, Schatz - gehen wir nachher was essen, so als Entschädigung?“ Sein Lächeln und die versprochene Einladung zum Essen besänftigten Dorothea. Sie waren schon lange nicht mehr ausgegangen. Überhaupt war ihr Leben in den letzten Wochen ein wenig trist verlaufen. Zuerst starb ihr Hamster Alois, dann verlor sie ihre Stelle in der örtlichen Pfandleihe, und jetzt kam auch noch ein Toter vor der Tür dazu. Richard war ständig unterwegs, um neue Reisedestinationen zu testen, und sie saß alleine zu Hause und sah Quizsendungen. Naja, es würde bald besser werden, schließlich liefen die Buchungen gut in seinem Büro, und mittlerweile waren ihm seine Routen ja geläufig. Seine Klientel stellte eine eher kleine Gruppe dar, aber eine, die nicht geizte, wenn es um ihren besonderen Geschmack ging. Dorothea war sich recht sicher, dass es in Frankfurt nicht viele Reiseagenten gab, die Touren in die verbotenen Zonen anboten. Sie konnte sich noch gut erinnern, als Richard, mehr aus einer Notlage heraus, eine Explorationslizenz beantragte und seinen ersten Reisegast über die Alpen brachte. Dem Impuls damals, diesen Verrückten sofort zu verlassen, gab sie nicht nach. Es war gefährlich dort, das Militär und die Kirche setzten den Bann nun seit einem Jahrzehnt durch. Früher, in ihren Kindertagen, war ein Urlaub am Mittelmeer mit ihren Eltern etwas, worauf man sich freute. Das Meer… das war nun schon seit über 20 Jahren verschwunden. Zurück blieb damals ein stinkender Pfuhl aus sterbenden Fischen und was sonst noch alles im Meer lebte. Es gab Quellen dort, aber nicht viele. Für jene, die aus den Äquatorregionen flohen, die einzige Chance zu überleben. Die Kirche versprach, in etwa hundert Jahren würde sich der ehemalige Meeresgrund in fruchtbares Ackerland verwandelt haben, und dann würde die Gefolgschaft des großen Ernährers dort ihr gelobtes Land finden. Bis dahin hieß es ausharren zwischen dem Eis weiter nördlich und den Alpen, hinter denen die Hitze lauerte. Bis zu 70 °C im Sommer waren keine Seltenheit. Der schmale Streifen, der sich quer durch Europa zog wie ein Band des Lebens, beherbergte alle, die die große Säuberung überlebt hatten. Auch eine Notwendigkeit, die sie nicht verstand… nicht verstehen musste. Ihre Aufgabe war es, Richard eine brave Frau zu sein und jeden Sonntag die Kirche zu besuchen. Mittlerweile wurde niemand mehr hingerichtet, wenn er oder sie einen Gottesdienst versäumte, aber auch Stockschläge wollte sie vermeiden. Der Glaube gab ihnen letztlich so viel.
„Los jetzt, der geistliche Gönner wartet nicht“, schelmisch gab Richard ihr einen Klaps auf den Po. Sie warfen sich die erdfarbenen Büßerroben über und öffneten die Tür. Von der Stadtwache war noch nichts zu sehen, der Reinigungsdienst fuhr gerade vor. Die Herren Polizisten würden Pech haben, dachte er bei sich. Wer zuerst kam, bekam die Leiche. Umständlich stieg das Ehepaar über den Toten hinweg. Es war viel Blut, das sich über die glänzenden Fliesen ergoss. Gut gelaunt schritten sie den Weg zur Straße hinunter. Fröhlich pfeifend kamen ihnen die Ordnungskräfte der städtischen Hygieneabteilung, wie der Reinigungsdienst offiziell hieß, entgegen. „Mojen Mester“, rief der Größere der beiden, der auch den Wagen mit den Utensilien schob. Dorothea und Richard winkten freundlich und erreichten kurz darauf das Tor. Richard sah sich um. Von dem anderen, der alles filmte, war nichts mehr zu sehen. Er hoffte, dass die Polizei ihn aufgriff oder einer der Glaubenshüter. Die Kids waren noch immer der Meinung, wenn sie irgendwelche Dinge ins Netz stellten, die Welt verändern zu können. Das hatte man ja gesehen während der großen Wende. Hätten die damals mal besser gearbeitet, anstatt nur vom Klimawandel zu sprechen und das Internet damit zuzupflastern, wäre die Sache vielleicht anders ausgegangen. Manche lernten es nie. Die ganze Siedlung war bereits auf dem Weg in die Kirche. Früher handelte es sich um ein katholisches Gotteshaus. Die Erkenntnis, die letztlich die große Säuberung auslöste, merzte das Übel der alten Religionen aus, Gott sei Dank. Nur wer aufrecht bereit war, den Kampf zu suchen, wurde von der Vorsehung belohnt und vom großen Ernährer bei der letzten Speisung bedacht. Das war kein Glaube, das war Gewissheit.
Sie traten durch das Tor und mussten feststellen, dass ihr üblicher Platz von den Meiers belegt war. Das alte Ehepaar kniete bereits und presste die Gesichter zu Boden. „Ist deren Zeit nicht bald gekommen?“, raunte Dorothea Richard zu. Er nickte: „Ja, ich glaube, die werden bald abgeholt. Sie muss schon über 60 sein und er hat die 40 auch bald erreicht.“ Partnerschaften waren verpflichtend, und wenn gemeinsam die 100 erreicht wurde, war es eine Ehre, den Weg der ersten Gläubigen zu gehen und eins zu werden mit dem Quell der Existenz.
Sie fanden eine freie Stelle in der Nähe der großen Schale, die im Zentrum des Kirchenschiffs von den Gläubigen umringt wurde. Die frühere Architektur mit einem Altar am Ende des Raums und Bänken, die dorthin ausgerichtet den Menschen Sitzplätze boten, war lange überholt. Buße im Sitzen war zur Häresie geworden. Nackte Knie auf rauem Stein – der Büßer musste fühlen, dass seine Nahrung ihm Opfer abverlangte. In tiefer Demut pressten nun auch Dorothea und Richard ihre Gesichter auf den Boden, der sich nach den Jahren der Buße schon lange nicht mehr wirklich rau anfühlte. Es wurde still im Haus des Glaubens, und sie hörten den Gong der Ewigkeit, der das Erscheinen des Gönners ankündigte. Gesegnet durch den großen Ernährer, hatten die geistlichen Gönner nicht mehr viel Menschliches an sich. Jener dieser Kirche ragte beinahe vier Meter in die Höhe. Seine dürre Gestalt konnten die Büßer natürlich nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen. Er schritt über die Körper der kauernden Menschen hin zur Treppe, die ihn zur Mitte der großen Schale führte. „Erleuchtete“, sprach er, und obwohl seine Stimme nicht laut war, konnte jeder sie hören. Ein Gönner sprach nicht nur akustisch, er drang in die Köpfe der Menschen, ließ seine Worte aus ihrem Inneren tönen.
„Euer Opfer heute wird vom Ernährer akzeptiert“, setzte er fort, und ein erleichtertes Raunen ging durch die Menge. Für diese Woche war eine Diebin auserkoren worden, statt ihrer Strafe den Weg der ersten Gläubigen in vollem Bewusstsein zu beschreiten. Dorothea zitterte beim Rasseln der Ketten, an denen, wie sie wusste, der Käfig mit der Auserwählten von der Decke gesenkt wurde. Wie jeden Sonntag, begann auch das heutige Opfer schrill zu schreien, als es den Gönner erblickte. Zumindest vermuteten Dorothea und Richard das. Die Schale des erlösenden Nektars musste sie ja zuvor schon gesehen haben. Hätte ihr diese Angst eingejagt, wären ihre Schreie doch schon früher zu hören gewesen. Im Gegensatz zu Richard verspürte Dorothea ein Gefühl der Angst und auch so etwas wie Mitgefühl für das Opfer. Natürlich wusste auch sie, dass es keine größere Ehre gab für einen Menschen. Dennoch, es waren fast immer Frauen, die, ohne betäubt zu werden, langsam in der Schale Erlösung fanden. „Es ist eine Schande, dass sie immer so schreien“, flüsterte ihr Mann. Dorothea zitterte. Richards Worte gefielen ihr überhaupt nicht. „Das junge Ding wird gleich quälend langsam in Säure aufgelöst, da würdest du auch schreien“, gab sie ihm verärgert zur Antwort. Plötzlich die Stimme des Gönners in all ihren Köpfen: „Höre ich den Wunsch einer Büßerin, den Platz des Opfers einzunehmen?“ Sofort schwiegen Dorothea und Richard und pressten ihre Gesichter noch fester auf den Stein. Wieder waren nur die spitzen Schreie zu hören. Der Gong ertönte, als Zeichen, die Zeremonie beginnen zu lassen. Für die Büßer war er das Signal, ihre Gebete zu sprechen, immerfort, bis das Opfer dargebracht war. Die Ketten rasselten wieder. Gleich würde es beginnen, dachte Dorothea. Sie biss die Zähne zusammen und rechnete jeden Moment damit, die Angstschreie in einen Ausbruch puren Schmerzes wechseln zu hören. Plötzlich fühlte sie mit Entsetzen, wie zwei kräftige Hände sich mit dünnen Fingern wie Greifzangen um ihre Schultern schlossen…
Gerald G.
»War das …? War das ein Schuss?«, stammelte Dorothea mit blasserem Gesicht als die Leiche vor seiner Haustür.
Berger nickte roboterhaft, eher er selbst zum Telefon griff und die drei Zahlen eingab, die er gehofft hatte, nie wählen zu müssen. Seine Hände zitterten, doch seine Frau schien noch weniger in der Lage, Hilfe zu holen.
»Polizei, wie kann ich Ihnen helfen?«, meldet sich eine männliche Stimme am Telefon.
Berger zögerte. Obwohl er sonst so redegewandt war, fehlten ihm für einen Moment die Worte. Wie beschrieb man eine solche Situation?
Er räusperte sich und sortierte die Gedanken in seinem Kopf in eine sinnvolle Reihenfolge: »Es gibt eine Leiche. Vor meiner Haustür. Ich -« Er stockte noch rechtzeitig, bevor die Schuld, die sich eigenartigerweise in seiner Brust ausbreitete, die Kontrolle übernehmen konnte. Fast hätte er gesagt, er sei schuld daran. Aber das stimmte ja gar nicht. Immerhin hatte er nicht den Abzug gedrückt. Doch war es nicht irgendwie unterlassene Hilfeleistung?
Berger schüttelte über sich selbst den Kopf. Da war ja abstrus.
Genauso abstrus wie diese Tat. Was ihm zuerst wie ein dummer Streich vorgekommen war, war nun bitterer Ernst. Da lag eine Leiche in seinem Vorgarten. Und er konnte nur hoffen, dass der andere Mann, der das Ganze auch noch gefilmt hatte, längst fort war.
Oder nicht?
Mit der Hand am Telefon riss Berger die Haustür auf und steckte seinen Kopf hinaus.
Die Leiche war zumindest noch da. Einsam lag sie auf dem Weg, der nur wenige Wochen zuvor neu von einer Gartenbaufirma verlegt worden war, die einem Bekannten aus der Kirchengemeinde gehörte. Nun waren die Steine dunkel gesprenkelt, als wäre roter Regen vom Himmel gefallen.
Poetisch, irgendwie, dachte sich Berger. Gleichsam fasziniert wie abgestoßen von dem Weg, den seine Gedanken nahmen. Dann doch lieber auf den geradlinigen zu seinen Füßen konzentrieren, auch wenn da teils graue Klümpchen lagen, über deren Bedeutung Berger sicherlich nicht weiter nachdenken wollte.
Eine Stimme an seinem Ohr riss ihn aus seiner Starre und erinnerte ihn daran, dass er immer noch mit dem Polizisten im Gespräch war, der wiederholt versuchte, aus Berger einer Adresse hervorzulocken.
Berger wollte gerade antworten, als plötzlich ein weißer Lieferwagen heranraste und mit quietschenden Reifen vor der schmiedeeisernen Gartentür hielt.
Die Seitentür rauschte auf, zwei schwarz gekleidete Gestalten sprangen über die spitzen des kleinen Tores und eilten zu der Leiche zu Bergers Füßen.
Vollkommen baff konnte Berger nur dabei zusehen, wie sie sich mit Ach und Krach abmühten, die Leiche über das Törchen zu heben und in den Schlund des Lieferwagens zu werfen. Ein Fluch folgte auf den dumpfen Aufprall des Körpers im Inneren, dann schlug die Tür wieder zu.
Einer der Vermummten, die, wie Berger nun auffiel, Masken trugen, wie man sie auf einem Kindergeburtstag wiederfand – bemalbare, stilisierte Tiergesichter – sprang zurück über den Zaun und hielt auf Berger zu.
Im Nachhinein wunderte er sich darüber, wie sein Fluchtinstinkt ihn so katastrophal verlassen haben konnte. So nahm er einfach den schwarzen Umschlag an, den der Maskierte ihm hinhielt. Während Berger zwischen Brief und Lieferwagen hin und her sah, heulte der Motor auf und ließ ihn in Stille zurück.
Erst, als er ein leises Räuspern hinter sich hörte, kam wieder Bewegung in ihn.
Seine Frau stand in der offenen Haustür, die Hände ringend, aber mit mehr Farbe in den Wangen.
»Was ist das?«, fragte sie leise und deutete auf das Papier in Bergers Fingern.
Unwillig, noch länger mit dem Blut zu seinen Füßen im Vorgarten zu stehen, drängte Berger seine Frau zurück in den Flur, wo er mit bebenden Fingern den Umschlag unsanft öffnete und das Stück Papier entfaltete, das sich darin befand.
Das Kapital hat kein Herz.
Also müssen wir ihm den Kopf abschlagen.
Beweise uns, dass dein Herz noch schlägt, und du wirst verschont.
Folge unseren Anweisungen nicht oder schalte die Polizei ein, wirst auch du untergehen.
Ach ja. Die Polizei.
Das Telefon in Bergers Hand zeigte noch immer eine offene Leitung an. Schnell presste er seinen Daumen auf den roten Hörer.
Die vage Drohung auf Papier wurde durch die Geschehnisse von vor ein paar Minuten sehr real.
Richard Berger rang mit sich. Am liebsten würde er das alles ignorieren, und einfach mit seiner Frau zur Messe gehen. Wenn da nicht die abtransportierte Leiche aus seinem Vorgarten wäre. Und das Blut. Und die –
Dorothea Bergers Neugierde gewann über ihre Zurückhaltung und sie riss ihrem Mann den Brief aus der Hand, um selbst die maschinengeschriebenen Worte zu lesen. Ihre Augen huschten Zeile für Zeile über das Papier, bevor sie es sinken ließ.
Auch sie rang mit sich, ihrem Gewissen und der Angst, dass die schrecklichen Ereignisse aus den Nachrichten, die sie jeden Abend mit Furcht auf dem Sofa verfolgte, hier im gut situierten Frankfurt eingeholt haben. »Wir sollten -«
Sie wurde jäh von Richard Bergers Smartphone-Nachrichtenton unterbrochen, der aus dem Wohnzimmer zu ihnen herüberschallte.
Berger wollte auch das gerne ignorieren. Doch zu einem Ton gesellten sich erst zwei und dann drei. Noch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, was zu tun war, fing auch das Festnetztelefon in seiner Hand an zu läuten.
Für einen Moment überfordert, strich sich Berger über seine Krawatte, die ihm seltsamerweise ein Stück Halt gab. Dann riss er sich zusammen, legte das Telefon auf den Schlüsselkasten und sah seine Frau an.
Er würde sich nicht doch jetzt nicht alles kaputtmachen lassen, das er so lange mühsam aufgebaut hat. Weder das Haus, noch seine Frau noch sein Reisebüro waren ihm in die Hände gefallen. Er hatte sich zu oft die Nacht um die Ohren geschlagen, um sich nun in all seinen erreichten Zielen niederringen zu lassen.
»Komm«, sagte er also zu seiner Frau. »Wir sollten uns beeilen, sonst verpassen wir noch die Messe.«
Teil 2
Gudrun
Herr Berger zitterte wie Espenlaub und ging mit weichen Knien bis zum Sessel in der Flurecke.
Seine Frau Dorothea telefonierte und rief in den Hörer: „Hier ist ein Mord passiert, bitte kommen sie schnell?“
Ganz geruhsam hörte sie die Stimme des Polizisten: „Na, wenn er schon passiert ist, müssen wir uns nicht beeilen.“
Herr Bergen sah verwirrt in den Flurspiegel, der direkt vorm Sessel stand. Rote Flecken auf seiner neuen Krawatte fielen im als Erstes auf, aber dann sah er, dass sich die roten Tupfer auf einem Streifen seiner Kleidung, wahrscheinlich begrenzt von der durch die Kette verhinderten geringen Türöffnung, auf seiner Kleidung befanden. Da ihm sein äußeres Erscheinungsbild sehr wichtig war, sackte er noch weiter zusammen. Er war nicht mehr in der Lage zu denken oder auch nur zu jammern.
Bitte Dorothea, was ist da eben passiert?
Seine Frau kam näher und sagte nur: „Ich weiß es doch nicht, du warst an der Tür.“
Sie streichelte ihm über das wohl frisierte Haar, sah aber dann an ihrer Hand auch rote Spuren.
Sie rannte ins Bad um die Hand abzuwaschen, merkte aber, dass das nicht ging.
Zum Glück hörten sie nun die Polizeisirene und eilige Schritte zur Haustür.
Beide warteten, dass die Polizisten klingeln würden, erst dann öffneten sie die Tür.
Ein großer muskulöser Polizist und ein kleiner drahtiger betraten den Flur und der Große stellte sie vor: „Das ist Wachtmeister Hellbricht und mein Name ist Oberwachtmeister Klain“, und übergangslos, „was ist los? Wo ist die Leiche? Wir wurden zu einem Mord gerufen!“
Herr Berger sah verwirrt von einem zum anderen: „Haben sie sie nicht gesehen – direkt vor der Haustür!“
Wie aus einem Munde sagten sie: „Da ist niemand!“
Nun fiel Herr Berger in eine wohltuende Ohnmacht. Das war zu viel für sein einfaches Weltbild in dem zu allen Geschehen auch eine Ursache gehörte.
Der kleinere Beamte fühle noch einen schwachen Puls bei ihm und meinte, der wird wieder. Nun wandte sich Herr Hellbricht an Frau Berger: „Können sie etwas zu der Mord-Meldung sagen?
„Nicht sehr viel. Wir haben uns zum Kirchgang fertig gemacht, als es klingelte. Das ist für einen Sonntagmorgen sehr ungewöhnlich, aber mein Mann ging zur Tür. Ich hörte die Sicherheitskette klirren und dann das vorsichtige Öffnen der Tür. Da draußen redete einer, aber ich konnte nichts verstehen. Mein Mann antworte. Dann hörte ich einen Knall. Mein Mann stürzte herein rief nach der Polizei und fiel in den Sessel. Sehen sie, wie er da sitzt. Er hat sich noch nicht wieder bewegt.
Er hat mich nur festgehalten, als ich die Tür öffnen wollte.“
Beide Polizisten gingen nun vor den Eingang, fanden aber keine Spuren. Der Kleinere sagte leise: „Wenn die Blutspritzer nicht wären, würde ich sagen, die beiden hätten einen …“
„Ruhe, das ist eine unqualifizierte Bemerkung. Ruf die Spürhunde von der Kripo an. Hier stimmt was nicht! Wir müssen den wahrscheinlichen Tatort sichern. Hol das Absperrband!“
Im Haus wachte Herr Berger langsam auf, aber er war immer noch sehr verwirrt. Die Forderung nach Geld fiel ihm ein, aber warum er es hergeben sollte, nicht. Er grübelte, aber anscheinend war diese Forderung sosehr von seinem Weltbild entfernt, dass sie ihm nicht erinnerlich war…
Frau Dorothea kochte Kaffee für ihren Mann und auch für die Herren die nun auch noch kommen würden. Herr Hellbricht und Herrn Klain konnten noch eine Tasse aus der Frühstückkanne serviert bekommen. Sie selbst begnügte sich mit einem Glas Wasser.
Dann warteten sie. Immer noch im Flur. Herr Berger saß mit ausdruckslosem Gesicht im Sessel und stöhnte vor sich hin.
Nach etwa 15 Minuten bemerkte Wachtmeister Hellbricht, dass die roten Flecken auf der Krawatte langsam verblassten. Auch die Hände von Frau Dorothea sahen wieder sauber aus. Schnell nahm er sein Handy und fotografierte die Reste. Zum Glück hatte er seine Bodycam eingeschaltet, als er den Flur betrat. Da würde ja auch etwas zu sehen sein.
Als die Beamten der Spurensicherung eintrafen, waren alle roten Flecke verschwunden. Auch die „angebliche“ Blutlache auf dem Gehweg. Sie suchten den ganzen Garten ab, puderten das Gartentor wegen der möglichen Fingerspuren und auch den Klingelknopf. Aber nichts war festzustellen, das nach „Mord“ aussah.
Gut zwei Stunden bemühten sie sich, dann fragten sie einen Amtsarzt nach einer Möglichkeit Herrn Bergers Geisteszustand zu untersuchen. Das war möglich. als Zeuge des Vorfalls wurde er in die Uniklinik gebracht, Frau Dorothea begleitete ihn. Fürsorglich hielt sie seine Hand und blicke ihn immer wieder ratlos an.
Das EEG und die körperlich Untersuchung bescheinigten Herrn Berger eine altersgemäße Gesundheit. Er wurde nach Hause entlassen. In den nächsten Tagen wollten noch einmal Beamte kommen und erfragen, ob er sich nun erinnern könnte.
Herr und Frau Berger, versuchten in den restlichen Tagesstunden sich so normal wie möglich zu verhalten, aber es war schwierig. Am Abend nahmen sie einen Schlummertrunk und begaben sich zu ihrer üblichen Zeit ins Bett.
Herr Berger schlief schnell ein, aber er wälzte sich unruhig hin und her. Seine Frau beobachte ihn besorgt. Dann bemerkte sie, wie er im Schlaf anscheinend sprechen wollte. Er bewegte die Lippen. Es kamen aber nur undeutliche Geräusche heraus. Aber ihr Mann versuchte es immer wieder. Dann auf ein mal konnte sie etwas verstehen: „Zehntausend Euro“, hörte sie schwach und diese Zahl wurde mehrmals wiederholt. Sie griff nach ihrem Handy und nahm das Gestammel auf. Dann plötzlich drehte sich Herr Berger um und schlief ganz ruhig bis zum Morgen.
Zur gewohnten Zeit erwachten das Ehepaar und nach ihrer Morgentoilette trafen sie sich im Esszimmer zum Frühstück. Dorothea betrachtete ihren Mann, der nun ganz normal und ruhig aussah.
Nach der zweiten Tasse Kaffee sagte Dorothea leise: „Zehntausend Euro“!
Herr Berger ließ den Löffel fallen, mit dem er gerade den Zucker in die Tasse getan hatte.
Es war wie ein Schalter in seinem Kopf. Plötzlich konnte er sich an alles erinnern.
„Oh, Dorothea, was weißt du von den Zehntausend Euro?“
„Du hast im Schlaf davon gesprochen.“
„Und was noch?“
„Nichts weiter nur immer diese Summe.“
Herr Berger überlegte: „Heute ist Montag ein normaler Arbeitstag. Dorothea ruf die Beamten an, und sage, dass ich mich erinnern kann. Sie sollen so schnell wie möglich kommen – nicht dass es wieder vergesse.“
Herr Berger stand auf und ging zur Tür. Er legte die Kette vor und öffnete die Tür. Kalte Luft strömte herein. Vor der Tür war niemand. Er flüstere die Worte die der jüngere Mann gestern mehrfach sagte, dann war der Schuss gefallen. Herr Berger sagte: Bummm“ und warf die Tür zu.
Er wankte zu dem Sessel. Nun hatte er die Erinnerung wieder.
Erfreut blickte er seine Frau an, aber die starrte auf seine Krawatte. Herr Berger sah an sich herunter. Rote Flecke breiteten sich aus. Im Spiegel sah er sie auch auf seinem Gesicht und der weiteren Kleidung – wie gestern!
Die Polizisten ließen sich Zeit. Als sie dann kamen waren die Flecke schon so gut wie weg.
Aber dieses Mal kamen auch Spezialisten für das angebliche Blut mit und auch der Amtsarzt.
Der untersuchte akribisch die Suren auf den Gehwegplatten. Es waren keine Spuren von der Gehirnmasse zu finden. Damit konnte man rückschließen, dass der Schuss vorgetäuscht war.
Denn ein Schuss in den Mund hätte die hintere Gehirnschale zerschmettert. Die Spezialisten stellten auch fest, dass das Blut künstlich war.
Also kein Mord, aber was dann?
Dorothea Berger setzte sich zu ihrem Mann und sagte zu ihm: „Richard, kein Mord, aber warum dieses Theater und die Erpressung von Zehntausend Euro. Das muss doch einen Grund geben? Hast du jemanden beleidigt oder übervorteilt. Hast du jemanden sein Geschäft ruiniert?
Gibt es einen Menschen der dir nicht gut ist?“
Richard Berger schüttelte immer wieder nur mit dem Kopf. Er hielt sich doch an alle Gesetze und war schon aus Geschäftsgründen sehr freundlich zu allen Menschen. Im seinem Reisebüro gab es kaum Reklamationen. Er ging mit den Empfehlungen zu den Reisen sehr sorgfältig um. Viele Orte hatte er selbst erkundet und auch mit den Verantwortlichen der Unterkünfte per Brief und Telefon verhandelt. Er war sich keiner Unehrlichkeit oder auch nur Nachlässigkeit bewusst.
Am Mittag kam der Postbote und brachte ein großes schweres Paket. Unter Stöhnen wuchtete er es in den Hausflur. Auf dem Etikett stand Dorothea Berger und die Adresse stimmte auch, also quittierte sie den Empfang.
„Hast du etwas gekauft“, fragte ihr verwunderter Ehemann.
Dorothea war sprachlos und schüttelte nur den Kopf.
Beide wunderten sich auch über die Größe und Schwere des Paketes.
Als Herr Berger mit dem Brieföffner dem Paket zu Leibe rücken wollte, hielt ihn seine Frau zurück.
„Ich habe nichts gekauft und nichts bestellt. Die Kinder können auch nichts schicken, die sind gerade auf Reisen. Ich habe Angst es aufzumachen. Mein Lieber, bitte ruf du mal die Polizei an und erzähle ihnen war hier steht. Mir zittern die Hände ich kann nicht mehr …
Sie stand gerade vor dem Sessel im Flur und lies sich hineinfallen. Sie hatte das Gefühl weglaufen zu wollen. Mit den Händen bedeckte sie ihre Augen wie kleine Kinder, die sich verstecken wollen.
Ihre Schultern zuckten, die Beine zitterten.
Richard Berger stand nach dem Telefonat mit der Polizei neben ihr und war erschüttert seine Frau so zu sehen. Seine liebe anständige und eigentlich beherzte Frau hatte sich in den vielen Ehejahren noch nie so verhalten. Tröstend strich er ihr übers Haar und sagte: „Die Beamten kommen gleich.“
Dorothea hob den Kopf und sah ihren Mann dankbar an, aber als sie den Blick wieder auf das Paket richtete, sah sie eine rote Pfütze aus dem Paket dringen.
„Nein, Nein Nein!“, schrie sie und wurde bewusstlos.
–Für einen Moment war die Tür zwischen Berger und dem Toten eine Art Schutz. Er lehnte den Rücken gegen sie und schaute zu Dorothea. Seine Frau hielt das Telefon in der Hand, aus dem eine besorgte Stimme klang: »Frau Berger, sind sie noch dran?«
»Na los, mach schon …« – »Raus mit der Wahrheit!«
Doch Dorothea rührte sich nicht. Ihr Arm hing schlaff neben ihr.
»Sag Ihnen, dass ein Verrückter sich vor unserem Haus erschossen hat; ganz ohne Grund. Er liegt einfach da. Tot. Sein Freund ist schuld, und jetzt ist er weg.«
Berger streckte sich und schaute durch den Spion.
Der Mann, der gefilmt hatte, war fort. Der Tote jedoch lag noch immer in seiner billigen Lederjacke auf dem Plattenweg. Sein Gesicht zum Himmel, die Augen weit und starr. Sein Blut rann in die Rasenkante. Berger hatte sie von der Treppe bis zur Gartentür mühsam an den Steinen entlang gestochen. Er hatte dabei geschwitzt. Seine Frau hatte ihm ein Glas Wasser mit einem Schuss Zitrone gebracht. Sie brachte ihm auch seine Tabletten, legte jede einzeln auf seine Zunge. Was wäre er nur ohne seine Dodo.
»Sie haben richtig vertstanden«, sagte sie, »er hat sein Leben beendet. Er nahm seine Waffe und schoss sich in den Mund. Weil mein Mann …«
»Nicht doch!«, er zog seine Krawatte mit ausgestreckten Arm nach oben und schnürte seinen Hals: »Das reicht«, sagte er.
Er öffnete die Tür einen Spalt. Die Pistole lag neben der Leiche. Der Rückschlag hatte sie fliegen lassen. Berger drehte sich zu Dodo und vergewisserte sich, dass er in diesem Alptraum eine Verbündete hatte. Sie kam auf ihn zu und lockerte den Knoten seiner Krawatte. Die Farbe wich von seiner Stirn, von seinen Wangen und von den Ohren. Er schnaubte.
»Los!«, sagte er, geh und hol die Koffer aus dem Keller. Wir fahren.«
Sirenen drangen von der Jessenin-Straße her. Das Blaulicht leuchtete durch die kahle Hecke seines Nachbarn. Er zählte die Sekunden, bis es um die Ecke bog, wie bei einem Gewitter. Berger strich seine Krawatte glatt. Reifen quietschten. In der Ferne ertönten weitere Sirenen.
Die Polizisten behielten die Hand am Holster. Ein Mann drückte gegen die eiserne Gartentür. Er betrachtete das Messingschild mit der R. Berger Gravur. Sein nächster Blick fiel zwischen die Stiefel. Er stand in einer Pfütze, halb Regen, halb Blut. Sein Blick ruhte niemals nur auf einen Punkt. Er schätzte die Lage ein.
Eine Polizistin kniete neben der Leiche und tastete den Puls. Die Frau schüttelte den Kopf. Sie steckte ihre Pistole zurück, erhob sich und beugte sich über ihr Funkgerät.
Berger riss die Tür auf. Einer der Uniformierten richtete die Waffe auf ihn und brüllte: »Auf den Boden!«
Berger flog vor Schreck die Tür zu.
Seine Frau hielt immer noch den Hörer in der Hand. Berger strangulierte seine Krawatte. »Wie viel Zeit bleibt uns?« Er knautschte und quetschte sie, bis die Euroscheine ganz knitterig waren.
»Warum hast du ihnen nicht das Geld gegeben?«, sagte sie. Sie blickte zur Uhr an der Wand.
»Was!«, sagte er, »warum sollte ich diesen Gaunern einfach so zehntausend Euro geben? Nenn mir nur einen guten Grund, so etwas Törichtes zu tun. Du hältst mich wohl für einen Dummkopf. Sie wollten uns bestehlen. Das kann ich nicht zulassen. Die Bergers bestiehlt man nicht. Hast du nicht gesehen, wie ihnen die Beine schlotterten.«
»Weil er dich drum gebeten hat«, sagte sie, »sein Leben hing davon ab. Hast du ihn denn nicht gehört. Er hat dich angefleht.«
»Ha!«, sagte er, »was er getan hat, ist Gotteslästerung. Muss erst Pfarrer Kussler ein Machtwort sprechen, damit du es glaubst. Mich trifft keine Schuld. Er wird es dir schon sagen.«
»Wie kann dich keine Schuld treffen? Du hast ihn zu jener Tat getrieben. Ich glaube, Pfarrer Kussler wird erbost sein, wie du die Worte Gottes einfach so an der Tür abgelehnt hast.«
Da klopfte es und eine Stimme sagte: »Polizei, öffnen Sie die Tür!«
Berger blieb regungslos.
»Also, wie viel Zeit bleibt uns?«
»Fünfzehn Minuten.«
»Gut, gut, dass soll uns genügen.«
»Was ist mit Matthäus«, sagte Dorothea.
»Was soll schon mit ihm sein?«, antwortete er. »Er kommt mit.«
»Was, wenn er das alles mitbekommt? Er ist noch viel zu jung.«
»Rede nicht so ein Unsinn, Dodo«, sagte er, »er wird schlafen wie der besoffene Gilbert bei der Neujahrsandacht.«
»Du hast einen Menschen das Leben genommen, Richard. Hast du denn gar kein Gewissen? Hoffst du, dass Pfarrer Kussler dir helfen wird?«
»Du hast es doch gehört«, sagte er zu seiner Frau, »dass waren zwei Verrückte. Du hast es gesehen und gehört. Ich hätte nichts tuen können.«
Das Telefon fiel ihr aus der Hand. Die Batterien rollten über den Boden.
»Dodo«, sagte er, »geh und Pack unsere Koffer. Mach sie mit allem voll, was hineinpasst. Dann pack wir sie in unser Auto. Wir fahren.«
»Wohin, Richard?«
»Tu’ einfach, was ich dir sage.«
Dorothea hetzte in den Keller. Dann packte sie so viel ein, wie sie schaffte, und von allem etwas. Schließlich wusste sie nicht, was Richard vorhatte.
»Das reicht«, sagte er. »Jetzt nimm Matthäus.«
Sie gingen durch das Haus in die Garage. Berger öffnete den Kofferraum und verstaute die Koffer.
Pssst! »Setz dich rein, ich muss noch schnell etwas holen.«
Er kam mit einer Tüte zurück, die er unter den Kindersitz quetschte.
»In zehn Minuten beginnt die Predigt, dass sollten wir schaffen«, sagte er, »Pfarrer Kussler mag es nicht, wenn wir zu spät erscheinen, das weißt du doch, Dodo.«
(C) Barneby
Richard Berger saß gedankenversunken auf dem gelben Ledersofa, das mitten in ihrem geräumigen, birkenlaminierten Wohnzimmer stand, schaute hinaus in den Garten und ließ diesen verrückten Tag Revue passieren.
Ein Selbstmord direkt vor ihrer Tür, und dann auch noch per Handy gefilmt! Aber stimmte das überhaupt? War es denn ein Selbstmord? Oder war der Mann, der sich vor seinen Augen die Pistole in den Mund gesteckt und abgedrückt hatte, von seinem Begleiter dazu gezwungen worden? Vielleicht hatten er oder irgendwelche dubiosen Hintermänner die Familie des Selbstmörders in ihrer Gewalt? Oder erpressten ihn, weil sie belastendes Material besaßen? Vielleicht war dieser graubärtige Mensch, der sich das Leben genommen hatte, in Wirklichkeit ein schmieriger Kinderschänder, und jemand hatte sich einen grausigen Witz ausgedacht, um ihn auf brutale Weise zu bestrafen?
Aber warum dann vor seiner Haustür? Darauf konnte Berger sich keinen Reim machen. Er hatte diese Typen noch nie gesehen. Was wollten sie von ihm? Warum gerade er? Und warum hatte der zweite Typ das Ganze gefilmt?
Es war Herbst, und draußen wurde es langsam dunkel. Vor einer guten Stunde hatte er sich einen kräftigen italienischen Rotwein eingegossen, einen Montepulciano, den sie im Sommerurlaub in der Toskana in den Kofferraum ihres Modells 3 geladen hatten. An Tagen, an denen sich vor der eigenen Haustür jemand umbringt, hat man sich einen kräftigen Schluck verdient, dachte er.
Berger schaute auf die Uhr. Es war fast halb acht.
„Dorothea“, rief er laut. Er hatte gerade nicht auf dem Schirm, wo genau sich seine Frau im Haus befand. War sie in der Küche? Oder oben in ihrem gemeinsamen Heimbüro? „Gleich fängt die hessenschau an. Kommst du?“
Er schnappte sich die Fernbedienung, und gerade als sich Bild und Ton aufgebaut hatten, hörte er, wie Dorothea die hölzerne Wendeltreppe aus dem ersten Stock hinunterkam.
„Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, herzlich willkommen zur hessenschau. Unser Top-Thema heute …“
Dorothea ließ sich links neben ihm auf das Sofa fallen. Sie war immer noch blass und sah angestrengt aus. Der Schuss heute Morgen hatte sie dermaßen geschockt und in Panik versetzt, dass sie nicht einmal in der Lage gewesen war, die Polizei zu rufen. Das hatte er übernehmen müssen. Einer der Rettungssanitäter, die zeitgleich mit der Polizei eingetroffen waren, hatte sich dann um sie gekümmert.
„… ist eine seltsame Gewalttat, die heute Vormittag im Frankfurter Nordend stattgefunden hat. Gegen 9.30 Uhr klingelten bei Familie B. zwei Männer an der Tür und verlangten von Herrn B. ohne Angabe von Gründen die Zahlung von 10.000 Euro. Wenige Momente später war einer der beiden Männer tot. Ein Video der Tat wurde heute auf X gespostet, vermutlich von dem überlebenden Erpresser, und bisher noch nicht entfernt. Aber sehen Sie selbst.“
Er spürte, wie seine Frau neben ihm erstarrte und den Atem anhielt, als das Bild der Moderatorin verblasste und das Video begann. Darin war nur er selbst zu sehen, mit verpixeltem Gesicht, wie er die Tür öffnete. Es war eigenartig, das, was er heute Morgen erlebt hatte, jetzt im Fernsehen aus der Perspektive der Erpresser zu sehen.
„Sie wünschen?“, hörte er sich sagen. Wieso hatten sie sein Gesicht unkenntlich gemacht, aber die Stimme nicht verfremdet? Von der hessenschau hätte er etwas mehr journalistische Sorgfalt erwartet.
„Guten Tag. Bitte geben Sie mir …“
Neben ihm stieß seine Frau einen schrillen Schrei aus. „Anton? Anton! Das ist doch die Stimme von Anton!“
Berger sprang vor Schreck vom Sofa hoch und starrte seine Frau mit halbgeöffnetem Mund einige Augenblicke an, bevor er seine Sprache wiederfand.
„Wie bitte, du kennst diesen Mann?“
Polizeikommissar Alfred Spohn fuhr sich seit seiner Ankunft am Tatort, ständig durch sein schon spärliches Haar. Der Tote ist bereits eingepackt worden und zurück blieb nur ein großer Blutfleck und die mit Kreide gemalten Umrisse seines Körpers. Vom zweiten Mann keine Spur.
»Kennen Sie die Männer?« Fragte er. Dabei lag sein Blick auf dem ungleichen Paar auf dem Sofa.
»Nein Herr Kommissar. Sie standen einfach nur da und drohten mir, ich meine…«
»Dann wissen Sie auch nicht, wie die Männer hießen, nehme ich an?«
»Nein, ich…«
»Und Sie, Frau Berger?« Unterbrach er Richard Bergers Gestammel, dass seit Eintreffen seiner Einheit nicht abgeklungen war. »Waren Ihnen diese Männer bekannt, oder sind Sie ihnen schon einmal begegnet?«
»Nein! Natürlich nicht. Mit solchen Menschen pflegen wir keinen Umgang, Herr Kommissar. Wir sind anständige Leute, genau wie unsere Freunde.« Empört stieg seine Stimme eine Oktave höher.
»Herr Berger, bitte. Ich habe ihre Frau gefragt. Frau Berger, wissen sie irgendetwas?«
Doch diese saß einfach nur da und starrte zu Boden. Ihr eleganter Zopf, den sie sich extra für die Kirche gesteckt hatte, saß noch genauso gut wie vor zwei Stunden. Als würde sie gleich aufstehen und einfach das Zimmer verlassen.
Es musste der Schock sein, dachte sich der Kommissar, als er sich im Wohnzimmer umsah. So ein sauberes und strukturiertes Haus hatte er selten in seiner 30-jährigen Karriere gesehen. Das war ihm gleich aufgefallen.
Um etwas klarzustellen, Dorothea war eine Hausfrau. Das Haus war ihr Lebenssinn. Was wäre sie für eine schlechte Ehefrau, würde sie sich dieser Aufgabe nicht voll und ganz hingeben.
»Herr Kommissar, Bitte. Meine Frau ist verstört, lassen Sie sie in Frieden.« Dabei legte er die Arme um ihren gekrümmten Körper und zieht sie an sich.
Spohn bemerkte, wie seine Geduld sich dem Ende neigte und wollte, laut schnauben. Doch er hielt inne, als er sah, wie sich Frau Berger bei der Berührung versteifte. Ihr Mann schien das zu bemerken und flüsterte etwas in ihr Ohr.
Daraufhin sah Dorothea auf. »Mein Mann hat recht.« Sie sieht dem Kommissar direkt in die Augen. »Ich kenne diese Männer nicht.«
Wäre Alfred Spohn nicht schon so lange Polizist, hätte er ihr wahrscheinlich geglaubt. Doch etwas an ihrer Haltung widersprach ihren Worten. Dorothea Berger hatte etwas zu verbergen. Doch was war das?
Ein Ruf unterbrach seine Gedanken. »Wir müssen weg, Ein weiterer Vorfall.«
Alfred Spohn betrachtete immer noch die Frau, die wieder zu Boden sah.
Der Polizist kam näher und flüsterte ihm halblaut ins Ohr. »Noch ein Selbstmord, Herr Kommissar.«
Richard und Dorothea warteten im Wohnzimmer auf die gerufene Polizei. Leute versammelten sich und liefen im Garten umher, Rufe ertönten: „Mörder! Kapitalistenschwein!“ Quälende fünfzehn Minuten brauchten die Polizeiwagen bis sie ihr Blaulicht in den Kristallvasen der Vitrine reflektieren ließen.
„Platz da! Treten Sie zurück“, ordneten die Beamten an. Der Menschenauflauf vor dem Eingangsbereich wurde zurückgedrängt und mit Polizeibändern weitläufig abgesperrt. Passanten zückten ihr Handy um die Aktionen der Beamten festzuhalten. Es nieselte. Ein Pavillon wurde aufgestellt und eine Person in Schutzkleidung begann mit der kriminologischen Arbeit an der Leiche.
Minuten später traf Kriminalhauptkommissar Manfred Tegel mit Kriminalkommissarin Sarah Meyers am Schauplatz ein. Dutzende Gaffer versperrten den Zugang zum Grundstück der Bergers. Der kantig wirkende Tegel bahnte sich, mit Sarah im Schlepptau, den Weg zum Tor. Sie zeigten den Polizisten die Dienstausweise und gingen zu der in Weiß gehüllten Forensikerin, die Tegel noch nicht kannte. Der die Platten färbende und Rasen düngende Blutfluss, forderte Abstand.
„Grüß Gott. Kripo Frankfurt, Tegel mein Name. Und das ist meine Kollegin Sarah Meyers.“ „Moin zusammen. Else Schneider, von der Rechtsmedizin, Uni-Klinikum Frankfurt.“
Tegel fragte: „Haben sie schon erste Erkenntnisse?“ „Alles deutet darauf hin, dass sich der Mann selbst das Leben nahm.“ Elsabe zeigte auf die im Sicherungsbeutel liegende Pistole. „Dies ist der Tatort, die Tatzeit liegt maximal dreißig Minuten zurück, welche Fingerabdrücke auf der 9mm Pistole sind und ob der Mann unter Drogen stand, kann ich erst nach der Obduktion sagen.“
„Danke, schicken sie die Ergebnisse bitte zu meinen Händen“, sagte Tegel und gab der Forensikerin seine Visitenkarte.
Polizeiobermeister Steuber kam näher: „Der junge Mann heißt Oskar Schmitz und hat den Tathergang gefilmt, er steht hier drüben.“
Sie gingen zu dem jungen Mann, nannten Dienstgrad und Namen und erfuhren das der Tote, Theodor Storm, sein Freund war. „Sie haben gesehen, wie er sich erschoss und haben das gefilmt?“
„Er hatte keine Wahl, der Mörder ist im Haus, er hat ihn dazu getrieben!“, sagte Oskar. „Zeigen sie mal“, sagte Tegel und schaute sich mit Sarah die Szene an. Oskars Augen wurden feucht. „Eindeutig Selbstjustiz“, sagte Sarah, „das Smartphone bekommen sie später wieder, gehen sie jetzt nach Hause.“
Tegel klingelte. Richard öffnete die Tür.
„Da ist der Mörder! Sie haben ihn auf dem Gewissen!“, rief Oskar. Steuber brachte Oskar zum Notfallseelsorger.
Sie zeigten die Dienstausweise und wurden ins Haus gebeten. „Ich bin fassungslos, wieso erschießt sich der Kerl direkt vor unserer Haustür?“, fragte Richard Berger. „Kannten sie den Mann?“, fragte Tegel. „Nein, habe den noch nie gesehen.“
Ein Bestattungswagen fuhr vor und holte die Leiche ab.
Richard Berger erzählte den Vorgang aus seiner Sicht und endete mit der Bemerkung: „Der Kerl muss nicht ganz dicht gewesen sein.“
„Er hieß Theodor Storm“, sagte Tegel.
Dorothea Berger mischte sich ein: „-Storm- sagten sie, Theodor Storm hatte mit Freunden von uns, eine Reise in die USA gebucht. Drei Wochen Tennessee zum Blues-Festival.“ Richard schnaubt. „Und wenn schon, ich kann mir nicht alle Gesichter merken, die bei uns eine Reise buchen.“ Dorothea sagte: „Meine Freundin erzählte, dass sie in Memphis einem Voodoo Magier begegneten, der ihr Angst machte. Und sich Theodor Storm nach dem Treffen verändert hat.“
Richard Berger hatte den Mann nicht erkannt, dem er im Reisebüro einen Tipp beim Aktienkauf gegeben hatte. Er selbst hatte sein Kapital bei diesem Einsatz eingebüßt und der Gutgläubige Selbstmörder anscheinend auch. Doch nimmt man sich wegen lumpiger zehntausend Euro das Leben? Berger wirkte in sich gekehrt als Tegel sich verabschiedete. „Kommen sie morgen früh ins Präsidium, sie müssen ihre Aussage noch unterschreiben.“