Seitenwind 2024 beginnt! 1. Teil

„Ach… und danach noch den Reinigungsdienst. Da draußen hat sich einer umgebracht“, fügte er noch hinzu. Dorothea Berger sah ihn entgeistert an: „Machst du Witze? Ich habe gestern Abend alles auf Hochglanz gebracht im Stiegenhaus.“ Ihr Mann schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern: „Was soll ich machen, diese Internet-Challenges werden immer blöder. Ich hab ihm sogar noch gesagt, er soll nach draußen gehen. Es tut mir leid, Schatz - gehen wir nachher was essen, so als Entschädigung?“ Sein Lächeln und die versprochene Einladung zum Essen besänftigten Dorothea. Sie waren schon lange nicht mehr ausgegangen. Überhaupt war ihr Leben in den letzten Wochen ein wenig trist verlaufen. Zuerst starb ihr Hamster Alois, dann verlor sie ihre Stelle in der örtlichen Pfandleihe, und jetzt kam auch noch ein Toter vor der Tür dazu. Richard war ständig unterwegs, um neue Reisedestinationen zu testen, und sie saß alleine zu Hause und sah Quizsendungen. Naja, es würde bald besser werden, schließlich liefen die Buchungen gut in seinem Büro, und mittlerweile waren ihm seine Routen ja geläufig. Seine Klientel stellte eine eher kleine Gruppe dar, aber eine, die nicht geizte, wenn es um ihren besonderen Geschmack ging. Dorothea war sich recht sicher, dass es in Frankfurt nicht viele Reiseagenten gab, die Touren in die verbotenen Zonen anboten. Sie konnte sich noch gut erinnern, als Richard, mehr aus einer Notlage heraus, eine Explorationslizenz beantragte und seinen ersten Reisegast über die Alpen brachte. Dem Impuls damals, diesen Verrückten sofort zu verlassen, gab sie nicht nach. Es war gefährlich dort, das Militär und die Kirche setzten den Bann nun seit einem Jahrzehnt durch. Früher, in ihren Kindertagen, war ein Urlaub am Mittelmeer mit ihren Eltern etwas, worauf man sich freute. Das Meer… das war nun schon seit über 20 Jahren verschwunden. Zurück blieb damals ein stinkender Pfuhl aus sterbenden Fischen und was sonst noch alles im Meer lebte. Es gab Quellen dort, aber nicht viele. Für jene, die aus den Äquatorregionen flohen, die einzige Chance zu überleben. Die Kirche versprach, in etwa hundert Jahren würde sich der ehemalige Meeresgrund in fruchtbares Ackerland verwandelt haben, und dann würde die Gefolgschaft des großen Ernährers dort ihr gelobtes Land finden. Bis dahin hieß es ausharren zwischen dem Eis weiter nördlich und den Alpen, hinter denen die Hitze lauerte. Bis zu 70 °C im Sommer waren keine Seltenheit. Der schmale Streifen, der sich quer durch Europa zog wie ein Band des Lebens, beherbergte alle, die die große Säuberung überlebt hatten. Auch eine Notwendigkeit, die sie nicht verstand… nicht verstehen musste. Ihre Aufgabe war es, Richard eine brave Frau zu sein und jeden Sonntag die Kirche zu besuchen. Mittlerweile wurde niemand mehr hingerichtet, wenn er oder sie einen Gottesdienst versäumte, aber auch Stockschläge wollte sie vermeiden. Der Glaube gab ihnen letztlich so viel.

„Los jetzt, der geistliche Gönner wartet nicht“, schelmisch gab Richard ihr einen Klaps auf den Po. Sie warfen sich die erdfarbenen Büßerroben über und öffneten die Tür. Von der Stadtwache war noch nichts zu sehen, der Reinigungsdienst fuhr gerade vor. Die Herren Polizisten würden Pech haben, dachte er bei sich. Wer zuerst kam, bekam die Leiche. Umständlich stieg das Ehepaar über den Toten hinweg. Es war viel Blut, das sich über die glänzenden Fliesen ergoss. Gut gelaunt schritten sie den Weg zur Straße hinunter. Fröhlich pfeifend kamen ihnen die Ordnungskräfte der städtischen Hygieneabteilung, wie der Reinigungsdienst offiziell hieß, entgegen. „Mojen Mester“, rief der Größere der beiden, der auch den Wagen mit den Utensilien schob. Dorothea und Richard winkten freundlich und erreichten kurz darauf das Tor. Richard sah sich um. Von dem anderen, der alles filmte, war nichts mehr zu sehen. Er hoffte, dass die Polizei ihn aufgriff oder einer der Glaubenshüter. Die Kids waren noch immer der Meinung, wenn sie irgendwelche Dinge ins Netz stellten, die Welt verändern zu können. Das hatte man ja gesehen während der großen Wende. Hätten die damals mal besser gearbeitet, anstatt nur vom Klimawandel zu sprechen und das Internet damit zuzupflastern, wäre die Sache vielleicht anders ausgegangen. Manche lernten es nie. Die ganze Siedlung war bereits auf dem Weg in die Kirche. Früher handelte es sich um ein katholisches Gotteshaus. Die Erkenntnis, die letztlich die große Säuberung auslöste, merzte das Übel der alten Religionen aus, Gott sei Dank. Nur wer aufrecht bereit war, den Kampf zu suchen, wurde von der Vorsehung belohnt und vom großen Ernährer bei der letzten Speisung bedacht. Das war kein Glaube, das war Gewissheit.

Sie traten durch das Tor und mussten feststellen, dass ihr üblicher Platz von den Meiers belegt war. Das alte Ehepaar kniete bereits und presste die Gesichter zu Boden. „Ist deren Zeit nicht bald gekommen?“, raunte Dorothea Richard zu. Er nickte: „Ja, ich glaube, die werden bald abgeholt. Sie muss schon über 60 sein und er hat die 40 auch bald erreicht.“ Partnerschaften waren verpflichtend, und wenn gemeinsam die 100 erreicht wurde, war es eine Ehre, den Weg der ersten Gläubigen zu gehen und eins zu werden mit dem Quell der Existenz.

Sie fanden eine freie Stelle in der Nähe der großen Schale, die im Zentrum des Kirchenschiffs von den Gläubigen umringt wurde. Die frühere Architektur mit einem Altar am Ende des Raums und Bänken, die dorthin ausgerichtet den Menschen Sitzplätze boten, war lange überholt. Buße im Sitzen war zur Häresie geworden. Nackte Knie auf rauem Stein – der Büßer musste fühlen, dass seine Nahrung ihm Opfer abverlangte. In tiefer Demut pressten nun auch Dorothea und Richard ihre Gesichter auf den Boden, der sich nach den Jahren der Buße schon lange nicht mehr wirklich rau anfühlte. Es wurde still im Haus des Glaubens, und sie hörten den Gong der Ewigkeit, der das Erscheinen des Gönners ankündigte. Gesegnet durch den großen Ernährer, hatten die geistlichen Gönner nicht mehr viel Menschliches an sich. Jener dieser Kirche ragte beinahe vier Meter in die Höhe. Seine dürre Gestalt konnten die Büßer natürlich nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen. Er schritt über die Körper der kauernden Menschen hin zur Treppe, die ihn zur Mitte der großen Schale führte. „Erleuchtete“, sprach er, und obwohl seine Stimme nicht laut war, konnte jeder sie hören. Ein Gönner sprach nicht nur akustisch, er drang in die Köpfe der Menschen, ließ seine Worte aus ihrem Inneren tönen.

„Euer Opfer heute wird vom Ernährer akzeptiert“, setzte er fort, und ein erleichtertes Raunen ging durch die Menge. Für diese Woche war eine Diebin auserkoren worden, statt ihrer Strafe den Weg der ersten Gläubigen in vollem Bewusstsein zu beschreiten. Dorothea zitterte beim Rasseln der Ketten, an denen, wie sie wusste, der Käfig mit der Auserwählten von der Decke gesenkt wurde. Wie jeden Sonntag, begann auch das heutige Opfer schrill zu schreien, als es den Gönner erblickte. Zumindest vermuteten Dorothea und Richard das. Die Schale des erlösenden Nektars musste sie ja zuvor schon gesehen haben. Hätte ihr diese Angst eingejagt, wären ihre Schreie doch schon früher zu hören gewesen. Im Gegensatz zu Richard verspürte Dorothea ein Gefühl der Angst und auch so etwas wie Mitgefühl für das Opfer. Natürlich wusste auch sie, dass es keine größere Ehre gab für einen Menschen. Dennoch, es waren fast immer Frauen, die, ohne betäubt zu werden, langsam in der Schale Erlösung fanden. „Es ist eine Schande, dass sie immer so schreien“, flüsterte ihr Mann. Dorothea zitterte. Richards Worte gefielen ihr überhaupt nicht. „Das junge Ding wird gleich quälend langsam in Säure aufgelöst, da würdest du auch schreien“, gab sie ihm verärgert zur Antwort. Plötzlich die Stimme des Gönners in all ihren Köpfen: „Höre ich den Wunsch einer Büßerin, den Platz des Opfers einzunehmen?“ Sofort schwiegen Dorothea und Richard und pressten ihre Gesichter noch fester auf den Stein. Wieder waren nur die spitzen Schreie zu hören. Der Gong ertönte, als Zeichen, die Zeremonie beginnen zu lassen. Für die Büßer war er das Signal, ihre Gebete zu sprechen, immerfort, bis das Opfer dargebracht war. Die Ketten rasselten wieder. Gleich würde es beginnen, dachte Dorothea. Sie biss die Zähne zusammen und rechnete jeden Moment damit, die Angstschreie in einen Ausbruch puren Schmerzes wechseln zu hören. Plötzlich fühlte sie mit Entsetzen, wie zwei kräftige Hände sich mit dünnen Fingern wie Greifzangen um ihre Schultern schlossen…

Gerald G.

»War das …? War das ein Schuss?«, stammelte Dorothea mit blasserem Gesicht als die Leiche vor seiner Haustür.
Berger nickte roboterhaft, eher er selbst zum Telefon griff und die drei Zahlen eingab, die er gehofft hatte, nie wählen zu müssen. Seine Hände zitterten, doch seine Frau schien noch weniger in der Lage, Hilfe zu holen.
»Polizei, wie kann ich Ihnen helfen?«, meldet sich eine männliche Stimme am Telefon.
Berger zögerte. Obwohl er sonst so redegewandt war, fehlten ihm für einen Moment die Worte. Wie beschrieb man eine solche Situation?
Er räusperte sich und sortierte die Gedanken in seinem Kopf in eine sinnvolle Reihenfolge: »Es gibt eine Leiche. Vor meiner Haustür. Ich -« Er stockte noch rechtzeitig, bevor die Schuld, die sich eigenartigerweise in seiner Brust ausbreitete, die Kontrolle übernehmen konnte. Fast hätte er gesagt, er sei schuld daran. Aber das stimmte ja gar nicht. Immerhin hatte er nicht den Abzug gedrückt. Doch war es nicht irgendwie unterlassene Hilfeleistung?
Berger schüttelte über sich selbst den Kopf. Da war ja abstrus.
Genauso abstrus wie diese Tat. Was ihm zuerst wie ein dummer Streich vorgekommen war, war nun bitterer Ernst. Da lag eine Leiche in seinem Vorgarten. Und er konnte nur hoffen, dass der andere Mann, der das Ganze auch noch gefilmt hatte, längst fort war.
Oder nicht?
Mit der Hand am Telefon riss Berger die Haustür auf und steckte seinen Kopf hinaus.
Die Leiche war zumindest noch da. Einsam lag sie auf dem Weg, der nur wenige Wochen zuvor neu von einer Gartenbaufirma verlegt worden war, die einem Bekannten aus der Kirchengemeinde gehörte. Nun waren die Steine dunkel gesprenkelt, als wäre roter Regen vom Himmel gefallen.
Poetisch, irgendwie, dachte sich Berger. Gleichsam fasziniert wie abgestoßen von dem Weg, den seine Gedanken nahmen. Dann doch lieber auf den geradlinigen zu seinen Füßen konzentrieren, auch wenn da teils graue Klümpchen lagen, über deren Bedeutung Berger sicherlich nicht weiter nachdenken wollte.
Eine Stimme an seinem Ohr riss ihn aus seiner Starre und erinnerte ihn daran, dass er immer noch mit dem Polizisten im Gespräch war, der wiederholt versuchte, aus Berger einer Adresse hervorzulocken.
Berger wollte gerade antworten, als plötzlich ein weißer Lieferwagen heranraste und mit quietschenden Reifen vor der schmiedeeisernen Gartentür hielt.
Die Seitentür rauschte auf, zwei schwarz gekleidete Gestalten sprangen über die spitzen des kleinen Tores und eilten zu der Leiche zu Bergers Füßen.
Vollkommen baff konnte Berger nur dabei zusehen, wie sie sich mit Ach und Krach abmühten, die Leiche über das Törchen zu heben und in den Schlund des Lieferwagens zu werfen. Ein Fluch folgte auf den dumpfen Aufprall des Körpers im Inneren, dann schlug die Tür wieder zu.
Einer der Vermummten, die, wie Berger nun auffiel, Masken trugen, wie man sie auf einem Kindergeburtstag wiederfand – bemalbare, stilisierte Tiergesichter – sprang zurück über den Zaun und hielt auf Berger zu.
Im Nachhinein wunderte er sich darüber, wie sein Fluchtinstinkt ihn so katastrophal verlassen haben konnte. So nahm er einfach den schwarzen Umschlag an, den der Maskierte ihm hinhielt. Während Berger zwischen Brief und Lieferwagen hin und her sah, heulte der Motor auf und ließ ihn in Stille zurück.
Erst, als er ein leises Räuspern hinter sich hörte, kam wieder Bewegung in ihn.
Seine Frau stand in der offenen Haustür, die Hände ringend, aber mit mehr Farbe in den Wangen.
»Was ist das?«, fragte sie leise und deutete auf das Papier in Bergers Fingern.
Unwillig, noch länger mit dem Blut zu seinen Füßen im Vorgarten zu stehen, drängte Berger seine Frau zurück in den Flur, wo er mit bebenden Fingern den Umschlag unsanft öffnete und das Stück Papier entfaltete, das sich darin befand.
Das Kapital hat kein Herz.
Also müssen wir ihm den Kopf abschlagen.
Beweise uns, dass dein Herz noch schlägt, und du wirst verschont.
Folge unseren Anweisungen nicht oder schalte die Polizei ein, wirst auch du untergehen.
Ach ja. Die Polizei.
Das Telefon in Bergers Hand zeigte noch immer eine offene Leitung an. Schnell presste er seinen Daumen auf den roten Hörer.
Die vage Drohung auf Papier wurde durch die Geschehnisse von vor ein paar Minuten sehr real.
Richard Berger rang mit sich. Am liebsten würde er das alles ignorieren, und einfach mit seiner Frau zur Messe gehen. Wenn da nicht die abtransportierte Leiche aus seinem Vorgarten wäre. Und das Blut. Und die –
Dorothea Bergers Neugierde gewann über ihre Zurückhaltung und sie riss ihrem Mann den Brief aus der Hand, um selbst die maschinengeschriebenen Worte zu lesen. Ihre Augen huschten Zeile für Zeile über das Papier, bevor sie es sinken ließ.
Auch sie rang mit sich, ihrem Gewissen und der Angst, dass die schrecklichen Ereignisse aus den Nachrichten, die sie jeden Abend mit Furcht auf dem Sofa verfolgte, hier im gut situierten Frankfurt eingeholt haben. »Wir sollten -«
Sie wurde jäh von Richard Bergers Smartphone-Nachrichtenton unterbrochen, der aus dem Wohnzimmer zu ihnen herüberschallte.
Berger wollte auch das gerne ignorieren. Doch zu einem Ton gesellten sich erst zwei und dann drei. Noch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, was zu tun war, fing auch das Festnetztelefon in seiner Hand an zu läuten.
Für einen Moment überfordert, strich sich Berger über seine Krawatte, die ihm seltsamerweise ein Stück Halt gab. Dann riss er sich zusammen, legte das Telefon auf den Schlüsselkasten und sah seine Frau an.
Er würde sich nicht doch jetzt nicht alles kaputtmachen lassen, das er so lange mühsam aufgebaut hat. Weder das Haus, noch seine Frau noch sein Reisebüro waren ihm in die Hände gefallen. Er hatte sich zu oft die Nacht um die Ohren geschlagen, um sich nun in all seinen erreichten Zielen niederringen zu lassen.
»Komm«, sagte er also zu seiner Frau. »Wir sollten uns beeilen, sonst verpassen wir noch die Messe.«

Teil 2

Gudrun

Herr Berger zitterte wie Espenlaub und ging mit weichen Knien bis zum Sessel in der Flurecke.

Seine Frau Dorothea telefonierte und rief in den Hörer: „Hier ist ein Mord passiert, bitte kommen sie schnell?“

Ganz geruhsam hörte sie die Stimme des Polizisten: „Na, wenn er schon passiert ist, müssen wir uns nicht beeilen.“

Herr Bergen sah verwirrt in den Flurspiegel, der direkt vorm Sessel stand. Rote Flecken auf seiner neuen Krawatte fielen im als Erstes auf, aber dann sah er, dass sich die roten Tupfer auf einem Streifen seiner Kleidung, wahrscheinlich begrenzt von der durch die Kette verhinderten geringen Türöffnung, auf seiner Kleidung befanden. Da ihm sein äußeres Erscheinungsbild sehr wichtig war, sackte er noch weiter zusammen. Er war nicht mehr in der Lage zu denken oder auch nur zu jammern.

Bitte Dorothea, was ist da eben passiert?

Seine Frau kam näher und sagte nur: „Ich weiß es doch nicht, du warst an der Tür.“

Sie streichelte ihm über das wohl frisierte Haar, sah aber dann an ihrer Hand auch rote Spuren.

Sie rannte ins Bad um die Hand abzuwaschen, merkte aber, dass das nicht ging.

Zum Glück hörten sie nun die Polizeisirene und eilige Schritte zur Haustür.

Beide warteten, dass die Polizisten klingeln würden, erst dann öffneten sie die Tür.

Ein großer muskulöser Polizist und ein kleiner drahtiger betraten den Flur und der Große stellte sie vor: „Das ist Wachtmeister Hellbricht und mein Name ist Oberwachtmeister Klain“, und übergangslos, „was ist los? Wo ist die Leiche? Wir wurden zu einem Mord gerufen!“

Herr Berger sah verwirrt von einem zum anderen: „Haben sie sie nicht gesehen – direkt vor der Haustür!“

Wie aus einem Munde sagten sie: „Da ist niemand!“

Nun fiel Herr Berger in eine wohltuende Ohnmacht. Das war zu viel für sein einfaches Weltbild in dem zu allen Geschehen auch eine Ursache gehörte.

Der kleinere Beamte fühle noch einen schwachen Puls bei ihm und meinte, der wird wieder. Nun wandte sich Herr Hellbricht an Frau Berger: „Können sie etwas zu der Mord-Meldung sagen?

„Nicht sehr viel. Wir haben uns zum Kirchgang fertig gemacht, als es klingelte. Das ist für einen Sonntagmorgen sehr ungewöhnlich, aber mein Mann ging zur Tür. Ich hörte die Sicherheitskette klirren und dann das vorsichtige Öffnen der Tür. Da draußen redete einer, aber ich konnte nichts verstehen. Mein Mann antworte. Dann hörte ich einen Knall. Mein Mann stürzte herein rief nach der Polizei und fiel in den Sessel. Sehen sie, wie er da sitzt. Er hat sich noch nicht wieder bewegt.

Er hat mich nur festgehalten, als ich die Tür öffnen wollte.“

Beide Polizisten gingen nun vor den Eingang, fanden aber keine Spuren. Der Kleinere sagte leise: „Wenn die Blutspritzer nicht wären, würde ich sagen, die beiden hätten einen …“

„Ruhe, das ist eine unqualifizierte Bemerkung. Ruf die Spürhunde von der Kripo an. Hier stimmt was nicht! Wir müssen den wahrscheinlichen Tatort sichern. Hol das Absperrband!“

Im Haus wachte Herr Berger langsam auf, aber er war immer noch sehr verwirrt. Die Forderung nach Geld fiel ihm ein, aber warum er es hergeben sollte, nicht. Er grübelte, aber anscheinend war diese Forderung sosehr von seinem Weltbild entfernt, dass sie ihm nicht erinnerlich war…

Frau Dorothea kochte Kaffee für ihren Mann und auch für die Herren die nun auch noch kommen würden. Herr Hellbricht und Herrn Klain konnten noch eine Tasse aus der Frühstückkanne serviert bekommen. Sie selbst begnügte sich mit einem Glas Wasser.

Dann warteten sie. Immer noch im Flur. Herr Berger saß mit ausdruckslosem Gesicht im Sessel und stöhnte vor sich hin.

Nach etwa 15 Minuten bemerkte Wachtmeister Hellbricht, dass die roten Flecken auf der Krawatte langsam verblassten. Auch die Hände von Frau Dorothea sahen wieder sauber aus. Schnell nahm er sein Handy und fotografierte die Reste. Zum Glück hatte er seine Bodycam eingeschaltet, als er den Flur betrat. Da würde ja auch etwas zu sehen sein.

Als die Beamten der Spurensicherung eintrafen, waren alle roten Flecke verschwunden. Auch die „angebliche“ Blutlache auf dem Gehweg. Sie suchten den ganzen Garten ab, puderten das Gartentor wegen der möglichen Fingerspuren und auch den Klingelknopf. Aber nichts war festzustellen, das nach „Mord“ aussah.

Gut zwei Stunden bemühten sie sich, dann fragten sie einen Amtsarzt nach einer Möglichkeit Herrn Bergers Geisteszustand zu untersuchen. Das war möglich. als Zeuge des Vorfalls wurde er in die Uniklinik gebracht, Frau Dorothea begleitete ihn. Fürsorglich hielt sie seine Hand und blicke ihn immer wieder ratlos an.

Das EEG und die körperlich Untersuchung bescheinigten Herrn Berger eine altersgemäße Gesundheit. Er wurde nach Hause entlassen. In den nächsten Tagen wollten noch einmal Beamte kommen und erfragen, ob er sich nun erinnern könnte.

Herr und Frau Berger, versuchten in den restlichen Tagesstunden sich so normal wie möglich zu verhalten, aber es war schwierig. Am Abend nahmen sie einen Schlummertrunk und begaben sich zu ihrer üblichen Zeit ins Bett.

Herr Berger schlief schnell ein, aber er wälzte sich unruhig hin und her. Seine Frau beobachte ihn besorgt. Dann bemerkte sie, wie er im Schlaf anscheinend sprechen wollte. Er bewegte die Lippen. Es kamen aber nur undeutliche Geräusche heraus. Aber ihr Mann versuchte es immer wieder. Dann auf ein mal konnte sie etwas verstehen: „Zehntausend Euro“, hörte sie schwach und diese Zahl wurde mehrmals wiederholt. Sie griff nach ihrem Handy und nahm das Gestammel auf. Dann plötzlich drehte sich Herr Berger um und schlief ganz ruhig bis zum Morgen.

Zur gewohnten Zeit erwachten das Ehepaar und nach ihrer Morgentoilette trafen sie sich im Esszimmer zum Frühstück. Dorothea betrachtete ihren Mann, der nun ganz normal und ruhig aussah.

Nach der zweiten Tasse Kaffee sagte Dorothea leise: „Zehntausend Euro“!

Herr Berger ließ den Löffel fallen, mit dem er gerade den Zucker in die Tasse getan hatte.

Es war wie ein Schalter in seinem Kopf. Plötzlich konnte er sich an alles erinnern.

„Oh, Dorothea, was weißt du von den Zehntausend Euro?“

„Du hast im Schlaf davon gesprochen.“

„Und was noch?“

„Nichts weiter nur immer diese Summe.“

Herr Berger überlegte: „Heute ist Montag ein normaler Arbeitstag. Dorothea ruf die Beamten an, und sage, dass ich mich erinnern kann. Sie sollen so schnell wie möglich kommen – nicht dass es wieder vergesse.“

Herr Berger stand auf und ging zur Tür. Er legte die Kette vor und öffnete die Tür. Kalte Luft strömte herein. Vor der Tür war niemand. Er flüstere die Worte die der jüngere Mann gestern mehrfach sagte, dann war der Schuss gefallen. Herr Berger sagte: Bummm“ und warf die Tür zu.

Er wankte zu dem Sessel. Nun hatte er die Erinnerung wieder.

Erfreut blickte er seine Frau an, aber die starrte auf seine Krawatte. Herr Berger sah an sich herunter. Rote Flecke breiteten sich aus. Im Spiegel sah er sie auch auf seinem Gesicht und der weiteren Kleidung – wie gestern!

Die Polizisten ließen sich Zeit. Als sie dann kamen waren die Flecke schon so gut wie weg.

Aber dieses Mal kamen auch Spezialisten für das angebliche Blut mit und auch der Amtsarzt.

Der untersuchte akribisch die Suren auf den Gehwegplatten. Es waren keine Spuren von der Gehirnmasse zu finden. Damit konnte man rückschließen, dass der Schuss vorgetäuscht war.

Denn ein Schuss in den Mund hätte die hintere Gehirnschale zerschmettert. Die Spezialisten stellten auch fest, dass das Blut künstlich war.

Also kein Mord, aber was dann?

Dorothea Berger setzte sich zu ihrem Mann und sagte zu ihm: „Richard, kein Mord, aber warum dieses Theater und die Erpressung von Zehntausend Euro. Das muss doch einen Grund geben? Hast du jemanden beleidigt oder übervorteilt. Hast du jemanden sein Geschäft ruiniert?

Gibt es einen Menschen der dir nicht gut ist?“

Richard Berger schüttelte immer wieder nur mit dem Kopf. Er hielt sich doch an alle Gesetze und war schon aus Geschäftsgründen sehr freundlich zu allen Menschen. Im seinem Reisebüro gab es kaum Reklamationen. Er ging mit den Empfehlungen zu den Reisen sehr sorgfältig um. Viele Orte hatte er selbst erkundet und auch mit den Verantwortlichen der Unterkünfte per Brief und Telefon verhandelt. Er war sich keiner Unehrlichkeit oder auch nur Nachlässigkeit bewusst.

Am Mittag kam der Postbote und brachte ein großes schweres Paket. Unter Stöhnen wuchtete er es in den Hausflur. Auf dem Etikett stand Dorothea Berger und die Adresse stimmte auch, also quittierte sie den Empfang.

„Hast du etwas gekauft“, fragte ihr verwunderter Ehemann.

Dorothea war sprachlos und schüttelte nur den Kopf.

Beide wunderten sich auch über die Größe und Schwere des Paketes.

Als Herr Berger mit dem Brieföffner dem Paket zu Leibe rücken wollte, hielt ihn seine Frau zurück.

„Ich habe nichts gekauft und nichts bestellt. Die Kinder können auch nichts schicken, die sind gerade auf Reisen. Ich habe Angst es aufzumachen. Mein Lieber, bitte ruf du mal die Polizei an und erzähle ihnen war hier steht. Mir zittern die Hände ich kann nicht mehr …

Sie stand gerade vor dem Sessel im Flur und lies sich hineinfallen. Sie hatte das Gefühl weglaufen zu wollen. Mit den Händen bedeckte sie ihre Augen wie kleine Kinder, die sich verstecken wollen.

Ihre Schultern zuckten, die Beine zitterten.

Richard Berger stand nach dem Telefonat mit der Polizei neben ihr und war erschüttert seine Frau so zu sehen. Seine liebe anständige und eigentlich beherzte Frau hatte sich in den vielen Ehejahren noch nie so verhalten. Tröstend strich er ihr übers Haar und sagte: „Die Beamten kommen gleich.“

Dorothea hob den Kopf und sah ihren Mann dankbar an, aber als sie den Blick wieder auf das Paket richtete, sah sie eine rote Pfütze aus dem Paket dringen.

„Nein, Nein Nein!“, schrie sie und wurde bewusstlos.

–Für einen Moment war die Tür zwischen Berger und dem Toten eine Art Schutz. Er lehnte den Rücken gegen sie und schaute zu Dorothea. Seine Frau hielt das Telefon in der Hand, aus dem eine besorgte Stimme klang: »Frau Berger, sind sie noch dran?«
»Na los, mach schon …« – »Raus mit der Wahrheit!«
Doch Dorothea rührte sich nicht. Ihr Arm hing schlaff neben ihr.
»Sag Ihnen, dass ein Verrückter sich vor unserem Haus erschossen hat; ganz ohne Grund. Er liegt einfach da. Tot. Sein Freund ist schuld, und jetzt ist er weg.«
Berger streckte sich und schaute durch den Spion.
Der Mann, der gefilmt hatte, war fort. Der Tote jedoch lag noch immer in seiner billigen Lederjacke auf dem Plattenweg. Sein Gesicht zum Himmel, die Augen weit und starr. Sein Blut rann in die Rasenkante. Berger hatte sie von der Treppe bis zur Gartentür mühsam an den Steinen entlang gestochen. Er hatte dabei geschwitzt. Seine Frau hatte ihm ein Glas Wasser mit einem Schuss Zitrone gebracht. Sie brachte ihm auch seine Tabletten, legte jede einzeln auf seine Zunge. Was wäre er nur ohne seine Dodo.
»Sie haben richtig vertstanden«, sagte sie, »er hat sein Leben beendet. Er nahm seine Waffe und schoss sich in den Mund. Weil mein Mann …«
»Nicht doch!«, er zog seine Krawatte mit ausgestreckten Arm nach oben und schnürte seinen Hals: »Das reicht«, sagte er.
Er öffnete die Tür einen Spalt. Die Pistole lag neben der Leiche. Der Rückschlag hatte sie fliegen lassen. Berger drehte sich zu Dodo und vergewisserte sich, dass er in diesem Alptraum eine Verbündete hatte. Sie kam auf ihn zu und lockerte den Knoten seiner Krawatte. Die Farbe wich von seiner Stirn, von seinen Wangen und von den Ohren. Er schnaubte.
»Los!«, sagte er, geh und hol die Koffer aus dem Keller. Wir fahren.«
Sirenen drangen von der Jessenin-Straße her. Das Blaulicht leuchtete durch die kahle Hecke seines Nachbarn. Er zählte die Sekunden, bis es um die Ecke bog, wie bei einem Gewitter. Berger strich seine Krawatte glatt. Reifen quietschten. In der Ferne ertönten weitere Sirenen.
Die Polizisten behielten die Hand am Holster. Ein Mann drückte gegen die eiserne Gartentür. Er betrachtete das Messingschild mit der R. Berger Gravur. Sein nächster Blick fiel zwischen die Stiefel. Er stand in einer Pfütze, halb Regen, halb Blut. Sein Blick ruhte niemals nur auf einen Punkt. Er schätzte die Lage ein.
Eine Polizistin kniete neben der Leiche und tastete den Puls. Die Frau schüttelte den Kopf. Sie steckte ihre Pistole zurück, erhob sich und beugte sich über ihr Funkgerät.
Berger riss die Tür auf. Einer der Uniformierten richtete die Waffe auf ihn und brüllte: »Auf den Boden!«
Berger flog vor Schreck die Tür zu.
Seine Frau hielt immer noch den Hörer in der Hand. Berger strangulierte seine Krawatte. »Wie viel Zeit bleibt uns?« Er knautschte und quetschte sie, bis die Euroscheine ganz knitterig waren.
»Warum hast du ihnen nicht das Geld gegeben?«, sagte sie. Sie blickte zur Uhr an der Wand.
»Was!«, sagte er, »warum sollte ich diesen Gaunern einfach so zehntausend Euro geben? Nenn mir nur einen guten Grund, so etwas Törichtes zu tun. Du hältst mich wohl für einen Dummkopf. Sie wollten uns bestehlen. Das kann ich nicht zulassen. Die Bergers bestiehlt man nicht. Hast du nicht gesehen, wie ihnen die Beine schlotterten.«
»Weil er dich drum gebeten hat«, sagte sie, »sein Leben hing davon ab. Hast du ihn denn nicht gehört. Er hat dich angefleht.«
»Ha!«, sagte er, »was er getan hat, ist Gotteslästerung. Muss erst Pfarrer Kussler ein Machtwort sprechen, damit du es glaubst. Mich trifft keine Schuld. Er wird es dir schon sagen.«
»Wie kann dich keine Schuld treffen? Du hast ihn zu jener Tat getrieben. Ich glaube, Pfarrer Kussler wird erbost sein, wie du die Worte Gottes einfach so an der Tür abgelehnt hast.«
Da klopfte es und eine Stimme sagte: »Polizei, öffnen Sie die Tür!«
Berger blieb regungslos.
»Also, wie viel Zeit bleibt uns?«
»Fünfzehn Minuten.«
»Gut, gut, dass soll uns genügen.«
»Was ist mit Matthäus«, sagte Dorothea.
»Was soll schon mit ihm sein?«, antwortete er. »Er kommt mit.«
»Was, wenn er das alles mitbekommt? Er ist noch viel zu jung.«
»Rede nicht so ein Unsinn, Dodo«, sagte er, »er wird schlafen wie der besoffene Gilbert bei der Neujahrsandacht.«
»Du hast einen Menschen das Leben genommen, Richard. Hast du denn gar kein Gewissen? Hoffst du, dass Pfarrer Kussler dir helfen wird?«
»Du hast es doch gehört«, sagte er zu seiner Frau, »dass waren zwei Verrückte. Du hast es gesehen und gehört. Ich hätte nichts tuen können.«
Das Telefon fiel ihr aus der Hand. Die Batterien rollten über den Boden.
»Dodo«, sagte er, »geh und Pack unsere Koffer. Mach sie mit allem voll, was hineinpasst. Dann pack wir sie in unser Auto. Wir fahren.«
»Wohin, Richard?«
»Tu’ einfach, was ich dir sage.«
Dorothea hetzte in den Keller. Dann packte sie so viel ein, wie sie schaffte, und von allem etwas. Schließlich wusste sie nicht, was Richard vorhatte.
»Das reicht«, sagte er. »Jetzt nimm Matthäus.«
Sie gingen durch das Haus in die Garage. Berger öffnete den Kofferraum und verstaute die Koffer.
Pssst! »Setz dich rein, ich muss noch schnell etwas holen.«
Er kam mit einer Tüte zurück, die er unter den Kindersitz quetschte.
»In zehn Minuten beginnt die Predigt, dass sollten wir schaffen«, sagte er, »Pfarrer Kussler mag es nicht, wenn wir zu spät erscheinen, das weißt du doch, Dodo.«

(C) Barneby

Richard Berger saß gedankenversunken auf dem gelben Ledersofa, das mitten in ihrem geräumigen, birkenlaminierten Wohnzimmer stand, schaute hinaus in den Garten und ließ diesen verrückten Tag Revue passieren.

Ein Selbstmord direkt vor ihrer Tür, und dann auch noch per Handy gefilmt! Aber stimmte das überhaupt? War es denn ein Selbstmord? Oder war der Mann, der sich vor seinen Augen die Pistole in den Mund gesteckt und abgedrückt hatte, von seinem Begleiter dazu gezwungen worden? Vielleicht hatten er oder irgendwelche dubiosen Hintermänner die Familie des Selbstmörders in ihrer Gewalt? Oder erpressten ihn, weil sie belastendes Material besaßen? Vielleicht war dieser graubärtige Mensch, der sich das Leben genommen hatte, in Wirklichkeit ein schmieriger Kinderschänder, und jemand hatte sich einen grausigen Witz ausgedacht, um ihn auf brutale Weise zu bestrafen?

Aber warum dann vor seiner Haustür? Darauf konnte Berger sich keinen Reim machen. Er hatte diese Typen noch nie gesehen. Was wollten sie von ihm? Warum gerade er? Und warum hatte der zweite Typ das Ganze gefilmt?

Es war Herbst, und draußen wurde es langsam dunkel. Vor einer guten Stunde hatte er sich einen kräftigen italienischen Rotwein eingegossen, einen Montepulciano, den sie im Sommerurlaub in der Toskana in den Kofferraum ihres Modells 3 geladen hatten. An Tagen, an denen sich vor der eigenen Haustür jemand umbringt, hat man sich einen kräftigen Schluck verdient, dachte er.

Berger schaute auf die Uhr. Es war fast halb acht.

„Dorothea“, rief er laut. Er hatte gerade nicht auf dem Schirm, wo genau sich seine Frau im Haus befand. War sie in der Küche? Oder oben in ihrem gemeinsamen Heimbüro? „Gleich fängt die hessenschau an. Kommst du?“

Er schnappte sich die Fernbedienung, und gerade als sich Bild und Ton aufgebaut hatten, hörte er, wie Dorothea die hölzerne Wendeltreppe aus dem ersten Stock hinunterkam.

„Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, herzlich willkommen zur hessenschau. Unser Top-Thema heute …“

Dorothea ließ sich links neben ihm auf das Sofa fallen. Sie war immer noch blass und sah angestrengt aus. Der Schuss heute Morgen hatte sie dermaßen geschockt und in Panik versetzt, dass sie nicht einmal in der Lage gewesen war, die Polizei zu rufen. Das hatte er übernehmen müssen. Einer der Rettungssanitäter, die zeitgleich mit der Polizei eingetroffen waren, hatte sich dann um sie gekümmert.

„… ist eine seltsame Gewalttat, die heute Vormittag im Frankfurter Nordend stattgefunden hat. Gegen 9.30 Uhr klingelten bei Familie B. zwei Männer an der Tür und verlangten von Herrn B. ohne Angabe von Gründen die Zahlung von 10.000 Euro. Wenige Momente später war einer der beiden Männer tot. Ein Video der Tat wurde heute auf X gespostet, vermutlich von dem überlebenden Erpresser, und bisher noch nicht entfernt. Aber sehen Sie selbst.“

Er spürte, wie seine Frau neben ihm erstarrte und den Atem anhielt, als das Bild der Moderatorin verblasste und das Video begann. Darin war nur er selbst zu sehen, mit verpixeltem Gesicht, wie er die Tür öffnete. Es war eigenartig, das, was er heute Morgen erlebt hatte, jetzt im Fernsehen aus der Perspektive der Erpresser zu sehen.

„Sie wünschen?“, hörte er sich sagen. Wieso hatten sie sein Gesicht unkenntlich gemacht, aber die Stimme nicht verfremdet? Von der hessenschau hätte er etwas mehr journalistische Sorgfalt erwartet.

„Guten Tag. Bitte geben Sie mir …“

Neben ihm stieß seine Frau einen schrillen Schrei aus. „Anton? Anton! Das ist doch die Stimme von Anton!“

Berger sprang vor Schreck vom Sofa hoch und starrte seine Frau mit halbgeöffnetem Mund einige Augenblicke an, bevor er seine Sprache wiederfand.

„Wie bitte, du kennst diesen Mann?“

Seine Frau rührte sich nicht sondern blickte ihn mit schreckensweiten Augen ungläubig an. >Er hat sich umgebracht< sprach sie mit zittriger Stimme, die immer schriller wurde, >er hat sich umgebracht< Berger dem selbst vor Aufregung schlecht wurde ging an ihr vorbei, um die Polizei zu informieren und entschied mit Blick auf seine Frau, dass ein Krankenwagen auch eine gute Idee wäre. Grade, als er den Hörer seines Haustelefons heben wollte, er war immer stolz drauf gewesen das er zuhause auf Handys verzichten konnte, klingelte ebendieses. Unsicher blickte er seine Frau an, die immer noch auf die geschlossene Haustür starrt und vor sich hinmurmelte und nahm den Hörer ab. >Berger< sagte er zögerlich >Papa! Gott sei dank bist du da.Bitte Papa du musst mir Helfen< Berger atmete kurz auf. Für einen kurzen Moment hatte er gedacht das der Anrufer etwas mit der schrecklichen Situation vor seiner Haustür zu tun haben könnte, aber es war nur sein Sohn Michael der erst vor einem halben Jahr nach Halle (Saale) gezogen war, um Kunstgeschichte zu studieren. Normalerweise freute sich Richard, wenn Michael anrief auch wen er nicht ganz einverstanden, mit der Entscheidung seines Sohnes Kunst zu studieren, war. >Michael ich muss auflegen ich kann jetzt nicht sprechen ich rufe dich später an, um es zu erklären < Grade als Berger auflegen wollte, um endlich die Polizei anzurufen hörte er eine Stimme an seiner Haustür, die sein Blut gefror. >Herr Berger sie sollten ihrem Sohn besser zuhören was er zu sagen hat. Es könnte sein Leben retten! < erschrocken drehte er sich um und sah in das Gesicht des zweiten Mannes, der neben seinem Handy einen Schlüssel in der Hand hielt, an dem ein großer Hundeanhänger baumelte. Der Schlüssel von Michael.

Polizeikommissar Alfred Spohn fuhr sich seit seiner Ankunft am Tatort, ständig durch sein schon spärliches Haar. Der Tote ist bereits eingepackt worden und zurück blieb nur ein großer Blutfleck und die mit Kreide gemalten Umrisse seines Körpers. Vom zweiten Mann keine Spur.
»Kennen Sie die Männer?« Fragte er. Dabei lag sein Blick auf dem ungleichen Paar auf dem Sofa.
»Nein Herr Kommissar. Sie standen einfach nur da und drohten mir, ich meine…«
»Dann wissen Sie auch nicht, wie die Männer hießen, nehme ich an?«
»Nein, ich…«
»Und Sie, Frau Berger?« Unterbrach er Richard Bergers Gestammel, dass seit Eintreffen seiner Einheit nicht abgeklungen war. »Waren Ihnen diese Männer bekannt, oder sind Sie ihnen schon einmal begegnet?«
»Nein! Natürlich nicht. Mit solchen Menschen pflegen wir keinen Umgang, Herr Kommissar. Wir sind anständige Leute, genau wie unsere Freunde.« Empört stieg seine Stimme eine Oktave höher.
»Herr Berger, bitte. Ich habe ihre Frau gefragt. Frau Berger, wissen sie irgendetwas?«
Doch diese saß einfach nur da und starrte zu Boden. Ihr eleganter Zopf, den sie sich extra für die Kirche gesteckt hatte, saß noch genauso gut wie vor zwei Stunden. Als würde sie gleich aufstehen und einfach das Zimmer verlassen.
Es musste der Schock sein, dachte sich der Kommissar, als er sich im Wohnzimmer umsah. So ein sauberes und strukturiertes Haus hatte er selten in seiner 30-jährigen Karriere gesehen. Das war ihm gleich aufgefallen.
Um etwas klarzustellen, Dorothea war eine Hausfrau. Das Haus war ihr Lebenssinn. Was wäre sie für eine schlechte Ehefrau, würde sie sich dieser Aufgabe nicht voll und ganz hingeben.
»Herr Kommissar, Bitte. Meine Frau ist verstört, lassen Sie sie in Frieden.« Dabei legte er die Arme um ihren gekrümmten Körper und zieht sie an sich.
Spohn bemerkte, wie seine Geduld sich dem Ende neigte und wollte, laut schnauben. Doch er hielt inne, als er sah, wie sich Frau Berger bei der Berührung versteifte. Ihr Mann schien das zu bemerken und flüsterte etwas in ihr Ohr.
Daraufhin sah Dorothea auf. »Mein Mann hat recht.« Sie sieht dem Kommissar direkt in die Augen. »Ich kenne diese Männer nicht.«
Wäre Alfred Spohn nicht schon so lange Polizist, hätte er ihr wahrscheinlich geglaubt. Doch etwas an ihrer Haltung widersprach ihren Worten. Dorothea Berger hatte etwas zu verbergen. Doch was war das?
Ein Ruf unterbrach seine Gedanken. »Wir müssen weg, Ein weiterer Vorfall.«
Alfred Spohn betrachtete immer noch die Frau, die wieder zu Boden sah.
Der Polizist kam näher und flüsterte ihm halblaut ins Ohr. »Noch ein Selbstmord, Herr Kommissar.«

Richard und Dorothea warteten im Wohnzimmer auf die gerufene Polizei. Leute versammelten sich und liefen im Garten umher, Rufe ertönten: „Mörder! Kapitalistenschwein!“ Quälende fünfzehn Minuten brauchten die Polizeiwagen bis sie ihr Blaulicht in den Kristallvasen der Vitrine reflektieren ließen.
„Platz da! Treten Sie zurück“, ordneten die Beamten an. Der Menschenauflauf vor dem Eingangsbereich wurde zurückgedrängt und mit Polizeibändern weitläufig abgesperrt. Passanten zückten ihr Handy um die Aktionen der Beamten festzuhalten. Es nieselte. Ein Pavillon wurde aufgestellt und eine Person in Schutzkleidung begann mit der kriminologischen Arbeit an der Leiche.
Minuten später traf Kriminalhauptkommissar Manfred Tegel mit Kriminalkommissarin Sarah Meyers am Schauplatz ein. Dutzende Gaffer versperrten den Zugang zum Grundstück der Bergers. Der kantig wirkende Tegel bahnte sich, mit Sarah im Schlepptau, den Weg zum Tor. Sie zeigten den Polizisten die Dienstausweise und gingen zu der in Weiß gehüllten Forensikerin, die Tegel noch nicht kannte. Der die Platten färbende und Rasen düngende Blutfluss, forderte Abstand.
„Grüß Gott. Kripo Frankfurt, Tegel mein Name. Und das ist meine Kollegin Sarah Meyers.“ „Moin zusammen. Else Schneider, von der Rechtsmedizin, Uni-Klinikum Frankfurt.“
Tegel fragte: „Haben sie schon erste Erkenntnisse?“ „Alles deutet darauf hin, dass sich der Mann selbst das Leben nahm.“ Elsabe zeigte auf die im Sicherungsbeutel liegende Pistole. „Dies ist der Tatort, die Tatzeit liegt maximal dreißig Minuten zurück, welche Fingerabdrücke auf der 9mm Pistole sind und ob der Mann unter Drogen stand, kann ich erst nach der Obduktion sagen.“
„Danke, schicken sie die Ergebnisse bitte zu meinen Händen“, sagte Tegel und gab der Forensikerin seine Visitenkarte.
Polizeiobermeister Steuber kam näher: „Der junge Mann heißt Oskar Schmitz und hat den Tathergang gefilmt, er steht hier drüben.“
Sie gingen zu dem jungen Mann, nannten Dienstgrad und Namen und erfuhren das der Tote, Theodor Storm, sein Freund war. „Sie haben gesehen, wie er sich erschoss und haben das gefilmt?“
„Er hatte keine Wahl, der Mörder ist im Haus, er hat ihn dazu getrieben!“, sagte Oskar. „Zeigen sie mal“, sagte Tegel und schaute sich mit Sarah die Szene an. Oskars Augen wurden feucht. „Eindeutig Selbstjustiz“, sagte Sarah, „das Smartphone bekommen sie später wieder, gehen sie jetzt nach Hause.“
Tegel klingelte. Richard öffnete die Tür.
„Da ist der Mörder! Sie haben ihn auf dem Gewissen!“, rief Oskar. Steuber brachte Oskar zum Notfallseelsorger.
Sie zeigten die Dienstausweise und wurden ins Haus gebeten. „Ich bin fassungslos, wieso erschießt sich der Kerl direkt vor unserer Haustür?“, fragte Richard Berger. „Kannten sie den Mann?“, fragte Tegel. „Nein, habe den noch nie gesehen.“
Ein Bestattungswagen fuhr vor und holte die Leiche ab.
Richard Berger erzählte den Vorgang aus seiner Sicht und endete mit der Bemerkung: „Der Kerl muss nicht ganz dicht gewesen sein.“
„Er hieß Theodor Storm“, sagte Tegel.
Dorothea Berger mischte sich ein: „-Storm- sagten sie, Theodor Storm hatte mit Freunden von uns, eine Reise in die USA gebucht. Drei Wochen Tennessee zum Blues-Festival.“ Richard schnaubt. „Und wenn schon, ich kann mir nicht alle Gesichter merken, die bei uns eine Reise buchen.“ Dorothea sagte: „Meine Freundin erzählte, dass sie in Memphis einem Voodoo Magier begegneten, der ihr Angst machte. Und sich Theodor Storm nach dem Treffen verändert hat.“
Richard Berger hatte den Mann nicht erkannt, dem er im Reisebüro einen Tipp beim Aktienkauf gegeben hatte. Er selbst hatte sein Kapital bei diesem Einsatz eingebüßt und der Gutgläubige Selbstmörder anscheinend auch. Doch nimmt man sich wegen lumpiger zehntausend Euro das Leben? Berger wirkte in sich gekehrt als Tegel sich verabschiedete. „Kommen sie morgen früh ins Präsidium, sie müssen ihre Aussage noch unterschreiben.“

»Ihnen ist schon klar, dass wir das gar nicht gerne sehen.« Polizeihauptkommissar Maierling schüttelte den Kopf.
Berger hob die Hände in einer hilflosen Geste. »Aber ich sage Ihnen, ich kann wirklich nichts dafür.«
Maierling nahm seine Brille ab, zog aus der Innentasche seines Jacketts eine Etui, öffnete dieses und zog ein Brillenputztuch heraus. Anschließend verstaute er das Etui wieder in der Innentasche und begann, die Brille sorgfältig zu polieren, während er weiter sprach. »Sie haben keinerlei Zeugen.«
»Aber meine Frau…«
»Hat nichts gesehen. Sie bezeugt lediglich einen lauten Knall, Ihre dramatische Anweisung, den Notruf abzusetzen und Ihre anschließende Ohnmacht.«
»So glauben Sie mir doch! Der Mann hat sich vor meinen Augen erschossen, der andere Mann, der jüngere hat alles gefilmt. Ich bilde mir das nicht ein. Ihre Techniker müssten doch in der Lage sein …«
Maierling hob die rechte Hand in die Höhe, in der seine Brille glänzte. »Geschenkt. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich ein Team Kriminaltechniker an einem Sonntagvormittag Überstunden schieben lasse, nur weil ein Sie mir eine Räuberpistole erzählen.« Der Kriminalhauptkommissar setzte seine Brille umständlich auf, holte sein Etui aus der Innentasche, legte sein Brillenputztuch sorgfältig zusammen, packte es in das Etui und verstaute es wieder. Er hatte fast Mitleid mit Richard Berger, der wie ein Häufchen Elend vor ihm saß. Aber nur fast. Schließlich war dem Mann schuld daran, dass Maierling seinen Sonntagsbrunch mit hatte verlassen müssen. Er hatte sich so darauf gefreut, mit Christine in dem schnieken Hotel zu brunchen. Für € 12,50 pro Nase, All-you-can-eat, und das im besten Haus am Platz. Maierlings Magen knurrte und eventuell aufkeimende Sympathien mit dem Frankfurter Geschäftsmann verdorrten sofort. Maierling wettete mit sich selbst, dass dieser Kerl es sich leisten konnte, seine Frau auch zu normalen Preisen ins beste Haus am Platz auszuführen. Allein schon diese Krawatte … »Fakt ist: Sie erzählen diese Räuberpistole. Mal ehrlich, wer hat schon zehntausend Euro im Haus? In bar? Und warum sollte ein wildfremder Mensch damit drohen, sich zu ermorden, wenn er das Geld nicht bekommt? Und wenn es jemand gefilmt hätte, wäre das Ganze doch schon längt in den sozialen Medien aufgetaucht. Und das Allerwichtigste: Wo genau ist die Leiche, oder wenigstens etwas Blut und Hirnmasse?« Maierling schüttelte den Kopf.
Berger war mehr und mehr in sich zusammengesunken und schüttelte in einer müden Imitation des Polizeibeamten ebenfalls den Kopf und flüsterte leise: »Ich weiß doch auch nicht.«
Maierling nickte zufrieden, wenn er sich beeilte, könnte er noch für eine halbe Stunde … Sein Smartphone machte sich bemerkbar.

Offene Enden Teil 1

Dorothea Bergers Augen irrlichterten. Mit fahriger Bewegung deutete sie auf das Flurfenster, durch das man die Nachbarhäuser sehen konnte. In etlichen Fenstern war Bewegung bemerkbar, mehrere Nachbarn waren vor die Haustür getreten, einige hielten ein Handy und telefonierten.

„Ich glaube, der Anruf bei der Polizei hat sich schon erledigt“, sagte Frau Berger, „geh lieber raus und beende dieses Mordsgeschrei!“

Herr Berger schaute durch den Türspion. Der Graubärtige lag noch immer mit dem Kopf in seinem Blut, zu seinen Füßen bemerkte er die Pistole. Der Jüngere filmte inzwischen wieder. Nach wie vor schrie er, nannte ihn einen Mörder. Da die Pistole gut zwei bis drei Meter von ihm entfernt lag, öffnete Herr Berger die Tür und trat ins Freie. Beschwichtigend hob er die Hände.

„Die Polizei wird wohl schon unterwegs sein. Bitte lassen sie uns in Ruhe ein paar Worte wechseln.“

Tatsächlich überlegte er, ob er mit drei schnellem Schritten die Waffe in seine Gewalt bringen sollte. War das vielleicht eine ganz schlechte Idee wegen der Fingerabdrücke? Wie sehr war er in Gefahr, wenn die Polizisten ihn mit der Pistole in der Hand sahen. Abwarten! Wenn der andere das Gleiche vorhatte, konnte er immer noch schneller zurück und sich hinter der Tür in Sicherheit bringen.

Der junge Mann hörte auf zu schreien, blickte kurz zur Waffe, filmte aber unbeirrt weiter. Mit einer Kinnbewegung forderte er Berger auf zu sprechen.

„Das schockiert mich alles zutiefst“, stammelte er Richtung Handy, „sie müssen mir glauben, das ich das nicht gewollt habe! Die Situation überfordert mich gerade sehr. Bitte haben sie Verständnis dafür, wenn ich im Haus auf das Eintreffen der Polizei warte.“

„Ich komme mit rein!“, sagte der junge Mann.

„Das halte ich für keine gute Idee“, kommentierte Berger. Er war bereits erleichtert, dass das Geschrei vor den Nachbarn aufgehört hatte. Ziel erreicht! Er drehte sich um, bereit wieder ins Haus zu gehen.

„Das ist im Gegenteil eine sehr gute Idee. So erfahren sie nämlich, was das ganze hier mit ihren Verlusten an der Börse zu tun hat.“

Blitzschnell fuhr Herr Berger herum, nicht schockiert wegen des Gesagten, sondern weil die Stimme dem Graubärtigen gehörte, der sich langsam aus seiner Blutlache erhob.

Fortsetzung folgt.

Rolf Schäfer

Die gut zwanzig Minuten bis zum Eintreffen der Ordnungshüter dehnten sich für Richard Berger und seiner Frau zu einer gefühlten Ewigkeit.
Dorothea saß weinend in einem Sessel im Wohnzimmer und schluchzte immer wieder: »So können wir nicht zur Kirche gehen, dabei wäre mir der Beistand des Pfarrers gerade jetzt so wichtig!« Dann war sie wieder still, während die Tränen unaufhaltsam über ihre Wangen strömten.
Die Gedanken von Richard gingen in eine andere Richtung, nun nicht völlig anders. Immer und immer wieder fragte er sich, ob er als guter Christenmensch diesen Selbstmord hätte verhindern müssen. Auch wenn das bedeutet hätte, der Erpressung nachzugeben. Aber wer hatte schon ahnen können, dass dieser Kerl seine Drohung so schnell wahrmachen würde. Eine andere Stimme in seinem Inneren beharrte darauf, dass er richtig gehandelt hatte. Wo sollte das hinführen, wenn er jeder derartigen Drohung nachgeben würde. Es war die Handlung des Selbstmörders gewesen, nicht seine, die zu diesem Suizid geführt hatte. Damit war es auch die Verantwortung dieses Kerls. Auf der anderen Seite, hätte er …
Schluss mit dem Gedanken-Karussell!, herrschte er sich selbst an. Entschlossen schritt er zum Fenster, um nach der Polizei Ausschau zu halten. Dort angekommen erstarrte er.
Die gesamte Nachbarschaft, die eigentlich ebenfalls in die Kirche hatte gehen wollen, stand am Gartenzaun und gaffte zur Haustür herüber, wo noch immer der jüngere Kerl mit dem Smartphone stand und schrie: »Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!«
Beständig kamen weitere Neugierige dazu. Richard wurden die Knie weich.

Als die Polizei endlich vorfuhr, schafften es die Beamten kaum, durch den dichten Pulk Schaulustiger bis zur Haustür durchzudringen. Zwischenzeitlich standen die ersten Gaffer sogar im Vorgarten.

Dorothea sah ihn mit fassungslosen Augen an. Ihre Hände zitterten, als sie einen Blick nach draußen wagte. Auf dem Weg zur Haustür lag ein blutüberströmter Mann mit halbem Kopf auf dem Boden; eine grau-weiße Substanz bedeckte die gelben Rosen, die sie letztes Jahr auf dem Beet vor dem Haus eingepflanzt hatte. Ein Mann mit einem Handy in der Hand schrie immer wieder: „Du Mörder, du Mörder!“

Als er sie an der Tür erblickte, sprang er plötzlich auf und stemmte sich gegen die Tür. „Dafür werdet ihr beide büßen, ihr Schweine!“ Richard Berger eilte heran und verhinderte im letzten Moment, dass der Mann sich Zutritt ins Haus verschaffen konnte.

„Richard, die Polizei… was sollen wir den Polizisten sagen?“, fragte sie.

„Ich weiß es nicht!“, keuchte er, noch immer aufgeregt und völlig desorientiert. „Wir rufen einfach die Polizei an und erklären, was geschehen ist!“

Er nahm sein Smartphone, das auf dem Sideboard des Flurs lag, und wählte den Notruf. Nach einer gequälten Minute meldete sich eine männliche Stimme mit hessischen Akzent: „Polizeinotruf, was ist Ihr Anliegen?“

„Hier ist Richard Berger! Ein Mann wurde erschossen, gerade vor meiner Haustür!“

„Bleiben Sie ruhig, ich schicke sofort ein Team. Wo sind Sie genau?“, antwortete die Stimme.

Er nannte seine Adresse und legte auf.

„Die Polizei kommt gleich“, sagte er an Dorothea gewandt, die noch immer wie erstarrt vor der Haustür stand. „Wir müssen hier weg. Was, wenn der andere Mann noch da draußen ist? Wenn er in unser Haus eindringt?“

„Aber wo sollen wir denn hin? Die Polizei wird bestimmt gleich da sein.“

Plötzlich riss ein Hämmern und Schlagen beide aus ihren Gedanken. Berger und Dorothea blickten sich an und rannten gleichzeitig zum Küchenfenster, das einen Blick auf die Haustür bot. Sie sahen, wie sich zwei Männer mit einer Brechstange an der Haustür zu schaffen machten. Der Mann mit dem Smartphone war nun nicht mehr allein.

„Wir müssen sofort hier raus“, sagte Berger. Er nahm die Hand seiner Frau und rannte mit ihr zum Wohnzimmer, das sich im hinteren Teil des Hauses befand. Er öffnete die Terrassentür zu dem etwa zweihundert Quadratmeter großen Grundstück, und sie schlüpften beide durch die Gartentür, die einen schmalen Zugang zu einem schattigen Weg hinter dem Grundstück bot. Dort parkte ihr Wagen, ein alter Opel Corsa mit verwittertem, blauem Lack.

„Wo fahren wir hin?“, fragte Dorothea.

„Zu meiner Schwester, in die Altstadt. Wir brauchen einen sicheren Ort. Von dort rufen wir dann nochmal die Polizei an und erklären alles“

Im Wagen war die Stimmung angespannt. Richard umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad und fuhr über die Brücke Richtung Altstadt. Die Gedanken an den graubärtigen Mann, der sich den Lauf der Pistole in den Mund steckte und abdrückte, hämmerten durch seinen Kopf.

Der Verkehr stockte plötzlich. Berger sah von Weitem eine Straßensperre. Dahinter und an der Straßenseite standen Streifenwagen und Polizisten. Die Wagenkolonne schob sich langsam an den Polizisten vorbei, die in jeden Wagen schauten. Dorothea blickte erleichtert zu Berger, der immer noch angespannt nach vorne blickte.

Als er mit Schrittgeschwindigkeit an dem Polizisten vorbeifuhr, anhielt und die Scheibe herunterließ, zog der Polizist unvermittelt seine Pistole aus dem Halfter und zielte auf Berger. Andere Polizisten mit gezückten Waffen postierten sich auf der Seite von Dorothea, während sich zeitgleich ein Streifenwagen sich vor seinem Wagen stellte.

„Herr Berger, Sie sind wegen Mordes vorläufig festgenommen. Bitte steigen Sie beide langsam aus Ihrem Wagen!“, schrie der Polizist.

Kaum hatte seine Frau das Telefon wieder aufgelegt, rollten Tränen über Richard Bergers Wangen. Seine Frau betrachtete ihn mit geweiteten Augen. Erst blieb sie einige Sekunden starr stehen, wusste nicht, was zu tun war, ehe sie schnell zu ihrem Mann lief, ihn in ihre Arme schloss. Während Herr Berger in den Armen seiner Frau weinte, glitten ihre Gedanken zurück zum letzten Mal, als sie ihn hatte weinen sehen. Jahre war es her gewesen, vielleicht sogar mehr als ein Jahrzehnt. Auch damals hatte er jemanden sterben sehen, seinen engsten Freund, einen Mann, der immer für ihn da gewesen war. Dieser Tod war schleichend gekommen, langsam, auf leisen Sohlen, aber er war vorhersehbar gewesen. Wie ein Sturm, den man kommen spürt, in jeder Faser des Körpers. Dennoch war der Schmerz zu groß gewesen, um ihm keinen Raum zu geben. Frau Berger war überzeugt, dass dieser Suizid ihren Mann an das langsame Dahinsiechen seines Freundes erinnert hatte. Einen Schmerz, den er in den letzten Jahren hatte verbergen können. Es klingelte. Herr Berger atmete einmal tief durch, löste sich von seiner Frau, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Nach einem weiteren Atemzug trat er zur Tür, sicher war es die Polizei. Die Tür schwang auf, doch davor stand kein Streifenpolizist oder Kommissar, wie Herr Berger es erwartet hatte, nein, neben der Leiche auf den Stufen stand die Nachbarin, die viel zu neugierige Frau Schmidt, sicher hatte sie den ganzen Tathergang von ihrem Fenster aus beobachten und sobald alles ruhig gewesen war, war sie zum Haus der Bergers hinüber geschlichen um wie sie behauptete „nach dem Rechten zu sehen.“
„Was ist denn bei Ihnen los Herr Berger? Ich hoffe Sie haben bereits die Polizei verständigt. Diese Sache hier vor ihrem Haus“, sie machte eine runde Geste über der Leiche, „die ist ja ganz schrecklich. Ich habe alles beobachtet, wie geht es Ihnen beiden denn jetzt. Oh das muss doch ein furchtbarer Schreck für Sie gewesen sein. Darf ich vielleicht hereinkommen? Ich kann bei der Polizei eine Aussage machen, dass sie nichts mit dieser schrecklichen…ähm… Sache hier,“ ,erneut deutete sie auf die Leiche, „zu schaffen haben, nicht wahr?“
„Nun gut Frau Schmidt, kommen Sie doch herrein, meine Frau setzt uns sicher einen leckeren Tee auf. Machen wir es uns doch gemütlich und warten auf die Polizei.“ Herr Berger trat zur Seite, um die Nachbarin herein zulassen.
Gerade war das Wasser für den Tee heiß, da klingelte es erneut an der Tür. Dieses Mal stand tatsächlich die Polizei davor.
„Guten Tag, Sie müssen Herr Berger sein. Ich bin Kommissar Winter, mein Kollege Müller.“ Der Kommissar zeigte Herr Berger seine Marke und deute anschließend auf den Mann, der zu seiner Rechten stand. „Ihre Frau hat uns bereits den groben Tathergang geschildert, ersteinmal sollten Sie einen Bestatter kommen lassen, schließlich ist eine Leiche vor der Tür sicher nicht angenehm oder?“ Ein lautes Lachen erschallte aus der Kehle des Kommissars, selbst wenn er der einzige war der über seinen schlechten Witz zu lachen vermochte, lachte er doch sehr herzlich. Beide Männer waren in Hemd und Anzughose gekleidet, auch waren sie beide eher korpulent. Doch Herr Müller hatte im Vergleich zu seinem Kollegen Winter noch volles Haar, während Winter eine Glatze trug. Allgemein schien Herr Müller deutlich jünger zu sein als der Kommissar, der Herr Berger angesprochen hatte, vielleicht gerade 30 Jahre alt. Herr Winter sah dagegen eher aus, als stünde er nur wenige Jahre vom Ruhestand entfernt. Wieder trat Herr Berger zur Seite, dieses Mal um die Polizei herein zulassen. Die Anwesenden schwiegen eine Weile, nachdem sich alle vorgestellt hatten. Bis Kommissar Winter das Wort ergriff:
„Nun sagen Sie mir doch mal Herr Winter, aus welchem Grund sollte sich ein Fremder vor Ihrem Haus erschießen? Schließlich kommt das nicht alle Tage vor.“
„Das ist in der Tat richtig Herr Kommissar, doch wie bereits gesagt kannte ich den Mann nicht. Ich habe Ihn noch nie zuvor gesehen. Vielleicht war der Mann schlicht unzufrieden mit seinem eigenen Leben. Ich weiß es ehrlich nicht. Er forderte immer wieder Geld von mir, zehntausend Euro, ich kann nicht sagen wie er darauf kam. Wir sind zwar nicht arm, aber auch nicht wohlhabend genug, um einfach so einige tausend Euro herumliegen zu haben.“ Bevor der Kommissar eine weitere Frage stellen konnte, klingelte es Sturm.

Seine Frau reagierte nicht.
»Dorothea?!«, brüllte er in das Treppenhaus. Keine Antwort. Richard Berger spürte, wie ihn das Nichtreagieren seiner Ehefrau reizte. Dann rief er eben selbst die Polizei.

Sein Blick wanderte zu dem Festnetztelefon, in dessen Richtung er am Laufen war. Doch die Station war leer. Hektisch blinkte ihm die rote LED entgegen. »Verdammtes Telefon, dass ich es jedes Mal suchen muss«, murmelte er. Vermutlich lag es wieder einmal auf dem kleinen Esstisch in der Küche. An diesem konnte seine Frau stundenlang sitzen und mit ihrer Freundin Lisa über belangloses Zeug quatschen. Er ballte die Faust. Erneut bemerkte er einen aufkeimenden Ärger gegenüber Dorothea. Sie saß vermutlich oben und schminkte sich mit einem selbstverliebten Blick in den Spiegel, während er hier unten alleine mit letzter Kraft gegen das aufkommende Gefühl der Panik in seiner Brust kämpfen musste und zu allem Überdruss die hindernden Nachlässigkeiten seiner Frau zu umschiffen hatte.

Doch der Esstisch in der Küche war leer. Enttäuscht wanderte Richards Blick beim Hinausgehen zu dem Küchenfenster. Ihm war klar, dass der Plattenweg von der Spüle aus einsehbar war. Eine Stimme im Kopf riet ihm, nicht nach draußen zu schauen. Er konnte dem Drang nicht widerstehen.

Eine Welle der Erleichterung durchströmte ihn, als er aus dem Fenster spähte. Der junge Kerl mit dem Smartphone war nirgends zu sehen, die Leiche seltsamerweise verschwunden. War alles nur ein übler Tagtraum gewesen? Eine perverse Ausuferung seiner in letzter Zeit gereizten Nerven?
Doch schon im nächsten Moment war ihm, als hätte jemand mit voller Wucht in seine Magengrube geboxt. Ein kalter Stich durchfuhr seinen Bauch. Er hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und schließlich doch die Blutlache erkennen können, die sich zwischenzeitlich deutlich ausgebreitet hatte.

Das kalte Stechen vermischte sich mit dem panischen Gefühl in der Brust.
»Die Polizei! Mein Handy!«, war das Einzige, was die Watte in seinem Kopf durchdringen konnte. Richard fiel ein, dass sein Smartphone im Schlafzimmer liegen musste, auf dem Nachttisch.
»Dorothea?!«, er stürmte die Treppe nach oben und bemerkte nur beiläufig das Zittern in seiner Stimme. Er fand seine Frau auf dem Stuhl vor dem Schminktisch sitzend. In leicht gebeugter Haltung starrte sie auf etwas in ihrer Hand. Berger war im Begriff, sie anzuherrschen, warum sie nicht auf seine Rufe reagierte, als sie sich zu ihm umdrehte. Ihr Blick ließ ihn verstummen. Eine Mischung aus Abscheu und Ekel strahlte ihm aus ihren blauen Augen entgegen. Den Mund fest zusammengepresst, sodass die Falten um ihre blutleeren Lippen deutlich hervortraten.

»Warum hast du das getan?«, fragte Dorothea mit kraftloser Stimme in den Raum.
»Was? Wieso ich?«, stotterte Richard. »Die sind doch die Verrückten!« Er rang um Fassung.

Seine Ehefrau starrte ihn stumm an. Erst jetzt bemerkte er, dass sie sein Smartphone in den Händen hielt. Ihr Blick wanderte zu dem Telefon. Als ob sie vorher nicht realisiert hätte, wie angewidert sie von diesem »Ding« in ihren Händen war, schob sie es ihm hin.

Berger blickte auf das Gerät. Er spürte erneut dieses ungute Gefühl, wie vorhin vor der Haustür. Er hatte eine Videonachricht von einem unbekannten Absender bekommen. Er drückte auf sein Handy, um die Nachricht abzuspielen. Seine feuchten Finger hinterließen einen schmierigen Abdruck auf dem Display.

Das Video startete. Er sah sich selbst und jemand schrie: »Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein!« Dann der blutüberströmte Mann im Vorgarten der Familie Berger.

Die Szene wechselte abrupt. Zu sehen waren zwei junge Frauen, Anfang zwanzig. Die Mädchen saßen auf billigen Plastikstühlen in einem bis zur Decke gefliesten Raum, der von grellem Neonröhrenlicht beleuchtet war. Richard störte sich an dem Abfluss, der in der Mitte des Bodens zu erkennen war. Beide Frauen schluchzten und blickten mit aufgerissenen und geröteten Augen in die Kamera. Feuchte Strähnen hingen in ihren Gesichtern und vermischten sich mit verlaufener Schminke. Plötzlich sprach eine dunkle Stimme:

»Reich wird man nicht durch das, was man verdient, sondern durch das, was man nicht ausgibt.« Der Sprechende beendete den Satz mit einem Kichern und hielt kurz inne.

»Entweder du legst innerhalb der nächsten 2 Stunden 250.000 € in Goldbarren an dein hübsches Gartentürchen oder die beiden Mädchen hier werden sterben.«
Wieder ließ die dunkle Stimme das Gesagte sacken und fuhr dann fort:
»Alternativ tötest du innerhalb der nächsten 2 Stunden deine Ehefrau. Dafür verdienst du 250.000 € in Scheinen, hübsch verpackt in einer Reisetasche an deiner Gartentür.«

Das Video endete abrupt.
Richard fing an zu stammeln: »Das ist doch Irrsinn, kranker Wahnsinn!«

Er sah hilfesuchend zu Dorothea und schaute geradewegs in den Lauf einer Pistole, die seine Frau auf ihn richtete.

Dorothea sieht ihren Mann nur mit einem verwirrtem Gesichtsausdruck an. Ihre Stimme kaum zu hören.
«Richard, warum soll ich die Polizei rufen? Wer sind diese Leute und was war das für ein Knall.»
«Schatz, ich liebe dich wirklich, aber manchmal stellst du einfach zu viele Fragen. Ruf einfach die verdammte Polizei an. Vor unserer Haustür hat sich gerade jemand umgebracht.»
Es braucht einige Sekunden, bis die Information Dortheas Gehirn erreicht und sie dann, leichenblass wird und zitternd in den Sessel auf dem Flur sackt. Wie fern gesteuert greift, sie nach dem Telefon der auf einem kleinen runden Tisch liegt und wählt die Nummer der Polizei.
«Frankfurter Polizei Hr. Ludowig am Apparat. Was kann ich für Sie tun?»
«H-hallo, Dorothea Berger hier. V-vor unserer Haustüre liegt eine Leiche.»
«Wie bitte?» Der Polizist am Telefon klang geschockt.
«Mensch Frau, reich mir das Telefon, du redest nur Unsinn.» Damit nimmt Richard ihr das Telefon aus der Hand und schildert dem Polizisten alles ganz genau.
«Ich verstehe Hr. Berger, wir schicken sofort einen Streifenwagen zu ihnen. Bitte öffnen Sie nicht mehr die Tür, bis wir eingetroffen sind.»
«Verstanden, Danke, Hr. Ludowig.»
Er legt auf und auf einmal ist es toten still im Haus. Jetzt wo das Adrenalin nachlässt, merkt auch er, wie sehr seine Hände zittern. Er sieht, wie seine Frau gedankenlos auf einen unsichtbaren Punkt in der Ferne starrt. Er dreht sich um und schaut noch einmal aus dem Fenster, doch der junge Mann mit dem Handy war verschwunden. Was ihn etwas aufatmen ließ.
Zehn Minuten später traf endlich die Polizei ein und untersuchte den Tatort.
«Hallo Hr. Berger, Ludowig mein Name, wir haben telefoniert. Darf ich Ihnen einige Fragen stellen?»
«Sicher.»
«Kannten sie die beiden Herren, die bei ihnen geklingelt haben?»
«Natürlich nicht, mit solchem Gesindel habe ich nichts zu tun.», Hr. Ludowig nickt nachdenklich.
«Gut, haben Sie vielleicht irgendwelche Feinde oder schulden Sie jemandem Geld?»
«Nein, mein kleines Geschäft läuft gut und ich und meine Frau kommen gut mit unserem Geld aus. Ich habe mir noch nie von jemandem Geld geliehen.»
Mit einem Blick auf Richards Krawatte nickte Hr. Ludowig abermals und machte sich einige Notizen.
«Gut … wissen sie, ob vielleicht Ihre Frau …»
«Also Hr. Ludowig ich will ja nicht unhöflich sein, aber vor unserer Haustür lag eine Leiche. Noch einmal weder ich noch meine Frau kennen diese Leute oder haben etwas mit ihnen zu tun. Auch schulden wir niemandem etwas. Ich möchte einfach nur, dass sie diese Leute finden und einsperren.»
«Ich verstehe sie, aber Fragen stellen gehört nun einmal dazu, ich mache nur meinen Job. Das wärs dann fürs erste, falls wir noch Informationen benötigen oder wir die Verdächtigen in Gewahrsam genommen haben werden wir sie anrufen.» Damit zieht er kurz seinen Hut vor Fr. Berger und verabschiedet sich.
«Trotzdem einen schönen Sonntag noch. Sie können jetzt ihren Vorgarten wieder säubern, die Untersuchungen sind abgeschlossen.»
Als er gerade gehen will, ertönt sein Walki Talki.
„Einsatz in der langen Gasse. Mord mit Drohung. Eine Frau wurde von zwei Männern in lumpigen Kleidern bedroht, 10.000 € auszuhändigen. Worauf sich ein Mann erschoss.“ Der Polizist drehte sich noch einmal zu dem Paar um und sah sie mit erschrockenem Gesicht an.
Richard und Dorothea konnten ihren Ohren nicht trauen, sie waren nicht die einzigen.

Die Nachricht

Charles Leduc schreckte hoch. Sonnenstrahlen griffen durch die Ritzen der gezogenen Vorhänge. Er schaute auf die Uhr. Es war kurz nach sieben.
Die Frau neben ihm, deren dunkles Haar sich über das Kissen ergoss, regte sich, drehte sich zu ihm.
„Was ist los?“, fragte sie.
„Nichts.“, sagte er.
„Du schwitzt, hast du schlecht geträumt?“
„Nein, es ist nichts. Nichts, dass dich etwas angehen würde.“
„Hat es mit dem Umschlag zu tun, den ich dir überreicht habe?“
„Nein!“, sagte Leduc. Er war genervt und ungehalten. „Wo hast du diesen Umschlag überhaupt her? Wer hat ihn dir gegeben?“
„Eine Agentur. Du müsstest die Chefin fragen. Sie hat ihn mir in die Hand gedrückt und gesagt ich solle dir den übergeben und mit dir die Nacht verbringen. Von wem der Auftrag stammt, weiss ich nicht. Ich bin diskret und stelle keine Fragen.“
„Großzügig.“, sagte Leduc. Er betrachtete die Frau neben sich. „Wer auch immer dich geschickt hat, hat jedenfalls meinen Geschmack getroffen.“
„Das freut mich“, sagte die Frau. „Übrigens uns bleibt noch eine Stunde, falls du, du weißt schon.“
Sie zog an ihrem Leintuch, lächelte und gewährte Leduc einen Blick auf ihren Körper, der ihn einlud, sich für die nächste Stunde mit den schönen Dingen des Lebens zu beschäftigen. Er mochte Asiatinnen, aber jetzt war er nicht in Stimmung, er musste einen klaren Kopf bewahren.
„Wie hast du micht gefunden? Es steht kein Name auf dem Umschlag.“
„In der Hotelbar, gestern Abend. Das war ja nicht schwierig. Richard Berger, Zimmer 1203, Hotel Peninsula, Manila. Ob Berger dein richtiger Name ist, geht mich nichts an.“
Wusste die Frau etwas? Ihre letzte Bemerkung liess Leduc aufhorchen.
„Danke jedenfalls für den Umschlag.“, sagte er. „
„Keine Ursache, ist mein Job.“, sagte die Frau. „Ich werde mich mal frischmachen. Ich muss zum Flughafen.“
„Wohin geht denn die Reise?“, fragte Leduc.
„Via Singapur nach Paris.“, antwortete die Frau.
„Weitere Umschläge verteilen.“, sagte Leduc. „Na ja, geht mich ja nichts an.“
„Ich weiss es nicht.“, sagte die Frau. „Und wenn ich es wüsste, würde ich es nicht sagen.“
Sie zog sich ins Badezimmer zurück, überliess Leduc seinen Gedanken.
„Verdammt was war da los? War etwas schiefgelaufen?“. Leduc fluchte innerlich.
„Dieser Traum: Berger hiess der Kerl, das hatte er deutlich auf dem Messingschild am Eingang gesehen. Er glich aber nicht dem Berger, den er kannte und dessen Identität er für seinen Aufenthalt in Manila benutzte. Der und seine Frau betrieben ein Reisebüro in Deutschland und benutzten die Touristenbusse für den Drogenumschlag in Europa. Und schliesslich die Nachricht. Was sollte das? Castelnaudary, das Kaff in Südfrankreich, das er kannte, gut kannte.“
Er brach den Gedanken ab, als die Frau aus dem Badezimmer trat und begann sich anzuziehen. Viel war es nicht, das sie sich mit lasziven Bewegungen überstreifte.
Die Frau beunruhigte Leduc, nicht nur wegen ihrer Ankleideshow. Das war aufregend, erregend, aber was wusste sie? Rose war ihr Name, erinnerte er sich, kaum ihr richtiger Name.
„Was ist das für eine Agentur für die du arbeitest?“, fragte er.
„Ich bin eigentlich ein Freelancer, nehme aber ab und zu Aufträge von Agenturen entgegen.“ Rose lächelte. Sie war fertig angezogen.
„Und welche Agentur hat dir den Auftrag gegeben, mich zu bezirzen?“
„Hab ich dich bezirzt?“. Rose lächelte. „Nun, wie schon gesagt. Ich bin diskret. Nun muss ich aber, die Zeit ist um. Ich hoffe es hat dir gefallen.“
„Ja hat es“, sagte Leduc. „Vielleicht habe ich ja mal Lust auf eine Wiederholung. Wie kann man dich denn erreichen?“
Rose langte in ihr Handtäschchen und überreichte Leduc eine Visitenkarte.
Leduc schaute auf die Karte, als die Tür hinter Rose ins Schloss fiel.
„Rose“, stand da in der Mitte und darunter. „Line-Contact: Rose123abc“.
Er trat zum Safe, öffnete ihn und entnahm den dünnen, unscheinbaren Umschlag, den ihm Rose letzte Nacht überreicht hatte.
Er las nochmals die Nachricht „Begeben Sie sich unverzüglich nach Castelnaudary, Stiftskirche, 3. Bankreihe links, aussen. Spesen anbei“. Diese bestanden aus zehn Tausendernoten, Schweizerfranken, von einer Büroklammer zusammengehalten,
Er legte Rose’s Visitenkarte dazu.

Bergers Herz raste. Er stand noch eine Weile neben die Tür gelehnt da. Dann drückte er sich hoch und suchte nach Dorothea. »Dorothea? Hast du die Polizei angerufen?!«, schrie Berger mit zitternder Stimme durch das Haus. Er ging zurück ins Ankleidezimmer, wo er sie zurückgelassen hatte. Doch der Raum war leer. Er durchstreifte weiter das Haus auf der Suche nach seiner Frau.
»…sie waren gerade da. Er wurde ausgewählt. Ja ich weiß was zu tun ist…«, hörte er sie mit ruhiger Stimme aus dem Büro. Er öffnete langsam die Tür.
»… Ja beeilen Sie sich bitte. Es ist schrecklich. Ok… ok… Ja dann bis dahin.«Sie legte auf.
»Die Polizei ist auf dem Weg. Alles wird gut.« Berger blickte ins Leere und sank auf seinem Lesesessel in sich zusammen. Dorothea legte ihre Hand auf seine Schulter. Er zuckte.
»Ich mache dir erstmal einen Tee. Dann sieht die Welt schon wieder besser aus.«
Berger nickte geistesabwesend und Dorothea verlies das Zimmer. Seine Gedanken drehten sich. Der Knall schallte noch immer in seinem Ohr nach. Hätte er etwas tun können? Hätte er ihm das Geld geben sollen? Nein. Wozu würde das führen. Dann würden bald in der ganzen Nachbarschaft Leute klingeln und Geld auf diese Art erpressen.
Berger versuchte die Schuld von sich zu weisen, als es wieder klingelte. Er stand auf und öffnete die Tür. Zwei große Männer mit schwarzer Kleidung standen vor ihm. Berger versuchte, nicht nach unten zu der Leiche zu sehen.
»Guten Tag, danke, dass sie so schnell kommen konnten. Bitte kommen sie rein.« Die Männer sagten kein Wort, schlossen die Tür hinter sich und folgten ihm ins Wohnzimmer. Ohne Aufforderung setzten die beiden sich auf das Sofa, das in der Mitte des Raumes stand.
Sie waren muskulös. Was für Polizisten mit Sicherheit von Vorteil war. Einer der Männer hatte eine Narbe am Ohr und an seinem Kragen sah man zur hälfte ein Tattoo. Es waren zwei in einander verschlungene Schlangen. Berger wurde nervös, da die Männer immer noch nichts gesagt haben.
Er war den Umgang mit Kunden gewohnt und sagte so aus Gewohnheit: »Kann ich ihnen Etwas anbieten? Kaffe? Tee?« Die Männer sahen sich an. »Nein danke.«, antwortete der mit dem Tattoo mit einem Akzent, den Berger nicht einordnen konnte.
»Gut. Also das ganze ist so abgelaufen…« Erneutes klingeln unterbrach Berger. »Kollegen von Ihnen?«
Berger war auf dem Weg zur Tür, da spürte er einen Stich in seiner rechten Schulter. Kälte floss den Arm herunter. Noch bevor er etwas sagen konnte, wurde seine Sicht verschwommen und er schlug dumpf auf den Boden auf.

Als Berger wieder aufwachte, saß er in einem Büro. Es wirkte modern mit schwarzen Möbeln und einer Glaswand zum Flur hin. Vor ihm war ein großer Schreibtisch aus Mahagoni Holz. Nur Fenster hatte der Raum nicht.
Er versuchte aufzustehen. Doch seine Arme und Beine waren mit Kabelbindern an dem Metallstuhl befestigt, auf dem er saß. Sein Atem wurde schneller.
»Wa… was soll das hier?« Er rüttelte an dem Stuhl, aber der war fest im Boden verankert. »Hilfe! Hört mich jemand?!«
Die Tür hinter ihm öffnete sich. »Ah sie sind auf gewacht. Wie schön. Dann können wir ja beginnen.«
Ein Mann lief an ihm vorbei und setzte sich auf den Bürostuhl am anderen Ende des Tisches.
Es war der Mann mit dem Handy, der ihn gefilmt hatte.

»Schatz, was ist denn los, wer sind diese Männer und was war das für ein lauter Knall?« Dorothea schien vom Gebaren ihres Mannes irritiert, so kannte sie Richard gar nicht. Eigentlich war sie gerade dabei ihren feinen, lavendelfarbenen Mantel aus dem Kleiderschrank ihres Schlafzimmers zu holen, durch das Geschrei und den anschließend lauten Knall zitterten jedoch ihre Hände so sehr, dass sie den feinen Stoff nicht halten konnte und dieser zu Boden fiel.
Das Schlafzimmer der Bergers war unweit der Diele entfernt, man hatte jedoch keinen direkten Blick auf die Eingangstür ihres kleinen 3-Zimmer-Hauses.
Dorothea lief auf wackligen Beinen zur Tür, hielt sich am hölzernen Rahmen fest und lugte vorsichtig in Richtung des Hauseingangs. Ihr Mann Richard stand noch immer wie versteinert vor der geschlossenen Tür. Von draußen erklangen weiterhin die Schreie des fremden Mannes: »Mörder! Mörder! Mörder!«
»Richard?« Hallte der zittrige Ruf zu ihm hinüber.
Richard Berger zuckte erschrocken zusammen, es schien ganz so, als hätte er seine Frau in dieser ganzen Situation vergessen.

Gehetzt wandte sich Richard Dorothea zu, seine Augen waren weit aufgerissen und voller Panik.
Ohne zu antworten, starrte Richard seine Frau an, die grüne Krawatte wog durch die schnelle Bewegung noch leicht hin und her. Hinter ihm schallten weiterhin die beschuldigenden Schreie in das kleine Haus und die Eingangstür erbebte durch das wilde Hämmern des fremden Mannes.
Bergers Augen flackerten und er schien sich wieder seiner Umgebung bewusst, denn plötzlich schrie auch er:
»Du sollst die Polizei rufen! Nun beeil dich!«
Jeweils seitlich der Haustür befanden sich schmalere Fenster, weswegen er schnell die Vorhänge schloss.
Das wilde Gehämmer an der Tür verstummte plötzlich und Berger warf einen schnellen Blick hinaus, vom Fremden jedoch fehlte jede Spur.
Ist er abgehauen? Lässt uns dieser Verrückte endlich in Ruhe?, fragte sich R. Berger.

Er hatte bereits vieles in Frankfurt erlebt, die Stadt war ein Sündenpfuhl voller Verbrechen, Gewalt und Totschlag. Selbst in seinem eigenen Geschäft, einem Reisebüro mitten in der Innenstadt, musste er sich mit allerhand prekären Situationen und zwielichtigen Gesellen konfrontiert sehen. Aber noch nie in seinem gesamten Leben, war er Zeuge eines Mordes.

Direkt vor seinen Augen erschoss sich die andere fremde Person. Diesen Anblick wird Richard Berger nie wieder vergessen können.
Das Adrenalin schoss durch seine Adern und ließ ihn auf jedes Geräusch und jede Bewegung panisch reagieren.

Was, wenn der Irre woanders in unser Haus gelangt? Waren die Fenster in den Nebenräumen geschlossen?
Er spurtete in das nächstgelegene Zimmer, es war das Esszimmer des Hauses. Rustikal eingerichtet, mit einem schweren dunklen Holztisch mitsamt Stühlen in der Mitte.
Die Bergers hielten hier normalerweise zahlreiche Dinner mit Geschäftspartner aller Art, Freunden und Bekannten und natürlich der Familie ab.
Dorothea war neben ihrer Arbeit als Lehrerin auch in zahlreichen Ehrenämtern der Stadt tätig, weswegen eine Wand des Raumes alle abgeschlossenen Projekte in Form von Fotografien festhielt.

Die liebevoll eingerichtete Bilderwand litt jedoch durch das stürmische Eintreten Richards, welcher die Tür zu schwungvoll aufriss und einige der Bilder auf den Boden beförderte.
Mit weiten Schritten überwand er die Strecke bis zu den zwei Fenstern hinaus auf die Straßenseite.
Und tatsächlich, die fremde Person mit dem Smartphone schlich um das Haus und suchte anscheinend etwas auf dem Boden und wurde auch schnell fündig.
Ehe Richard reagieren konnte, flog etwas Großes, Dunkles durch eines der Fenster und verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Der Stein prallte an einem der Stühle am Esstisch ab und kullerte weg. Panisch schaute er nach dem Gegenstand: Es war ein Pflasterstein vom Gehweg!
Frankfurt war nicht für die Instandsetzung seiner öffentlichen Wege und Straßen bekannt. Für die Bergers rächte sich jetzt der schludrige Umgang der Stadt mit Schäden aller Art.
Kurz darauf erklangen wieder die Rufe des Irren außerhalb: »Mörder! Die Bergers sind Mörder!«

Richard hatte jetzt endgültig genug, er schnappte sich den Pflasterstein und rannte zum kaputten Fenster.
Es war völlig zerbrochen, überall lagen Scherben und ein riesiges Loch prangte in der Mitte.
Er schrie dem Fremden entgegen: »Sie Irrer, verschwinden Sie endlich von hier!«
Gerade als Richard zum Wurf ausholen wollte, um den Fremden zu verjagen, blickte er in ein anderes komisches, schwarzes Gerät, welches in regelmäßigen Abständen rötlich blinkte.
Verdutzt hielt R. Berger inne, eine komische Faszination ging von diesem Gerät aus. Der Fremde stand mit einem breiten Grinsen dahinter und sprach: »Jetzt bist du an der Reihe, Berger! Unterhalte uns besser, als die arme Seele vor dir.«

Das fremdartige Gerät blitzte plötzlich hell auf und Richard verspürte einen heftigen Schmerz im Hinterkopf.
Stöhnend brach er zusammen und hielt sich mit beiden Händen den dröhnenden Kopf, doch die Schmerzen ließen nicht nach.
Wie Feuer brannte es in Richards Gehirn, zuckend und wimmernd lag er auf dem mit einem alten Teppich belegten Boden, um ihn herum die zerbrochenen Reste des Fensters.
Rotz und Wasser liefen ihm aus den Augen, der Nase und dem Mund. Und ständig sah er diesen grellen Blitz.
Auf einmal verschwand der Schmerz in Richards Kopf, doch er fühlte sich weiterhin komisch benebelt. Wie im Traum, wenn man die Szenerie zwar sieht, aber nicht steuert.
Ohne das Richard Berger es wollte, stand er auf und klopfte sich den Schmutz und Dreck von der Kleidung.
Mit einem Stofftaschentuch putzte er sich gründlich das Gesicht und Nase, er sah nun wieder recht passabel aus.
Einen Moment stand er regungslos im Raum, er schien zu warten.

Plötzlich trat seine Frau, Dorothea, in das Esszimmer. Ängstlich klammerte sie sich an den Türrahmen und warf einen Blick hinein, dabei fragte sie ihren Mann:
»Richard, alles in Ordnung? Es gab einen Scheppern und einen Schrei… ist der fremde Mann weg?«
R. Berger wandte ruckartig seinen Kopf zu Dorothea, seine Augen wirkten völlig leer.
Folgende Worte drangen aus seinem Mund: »Dorothea, gib mir zehntausend Euro, sonst muss ich mich umbringen.«

–Veor