„Ach… und danach noch den Reinigungsdienst. Da draußen hat sich einer umgebracht“, fügte er noch hinzu. Dorothea Berger sah ihn entgeistert an: „Machst du Witze? Ich habe gestern Abend alles auf Hochglanz gebracht im Stiegenhaus.“ Ihr Mann schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern: „Was soll ich machen, diese Internet-Challenges werden immer blöder. Ich hab ihm sogar noch gesagt, er soll nach draußen gehen. Es tut mir leid, Schatz - gehen wir nachher was essen, so als Entschädigung?“ Sein Lächeln und die versprochene Einladung zum Essen besänftigten Dorothea. Sie waren schon lange nicht mehr ausgegangen. Überhaupt war ihr Leben in den letzten Wochen ein wenig trist verlaufen. Zuerst starb ihr Hamster Alois, dann verlor sie ihre Stelle in der örtlichen Pfandleihe, und jetzt kam auch noch ein Toter vor der Tür dazu. Richard war ständig unterwegs, um neue Reisedestinationen zu testen, und sie saß alleine zu Hause und sah Quizsendungen. Naja, es würde bald besser werden, schließlich liefen die Buchungen gut in seinem Büro, und mittlerweile waren ihm seine Routen ja geläufig. Seine Klientel stellte eine eher kleine Gruppe dar, aber eine, die nicht geizte, wenn es um ihren besonderen Geschmack ging. Dorothea war sich recht sicher, dass es in Frankfurt nicht viele Reiseagenten gab, die Touren in die verbotenen Zonen anboten. Sie konnte sich noch gut erinnern, als Richard, mehr aus einer Notlage heraus, eine Explorationslizenz beantragte und seinen ersten Reisegast über die Alpen brachte. Dem Impuls damals, diesen Verrückten sofort zu verlassen, gab sie nicht nach. Es war gefährlich dort, das Militär und die Kirche setzten den Bann nun seit einem Jahrzehnt durch. Früher, in ihren Kindertagen, war ein Urlaub am Mittelmeer mit ihren Eltern etwas, worauf man sich freute. Das Meer… das war nun schon seit über 20 Jahren verschwunden. Zurück blieb damals ein stinkender Pfuhl aus sterbenden Fischen und was sonst noch alles im Meer lebte. Es gab Quellen dort, aber nicht viele. Für jene, die aus den Äquatorregionen flohen, die einzige Chance zu überleben. Die Kirche versprach, in etwa hundert Jahren würde sich der ehemalige Meeresgrund in fruchtbares Ackerland verwandelt haben, und dann würde die Gefolgschaft des großen Ernährers dort ihr gelobtes Land finden. Bis dahin hieß es ausharren zwischen dem Eis weiter nördlich und den Alpen, hinter denen die Hitze lauerte. Bis zu 70 °C im Sommer waren keine Seltenheit. Der schmale Streifen, der sich quer durch Europa zog wie ein Band des Lebens, beherbergte alle, die die große Säuberung überlebt hatten. Auch eine Notwendigkeit, die sie nicht verstand… nicht verstehen musste. Ihre Aufgabe war es, Richard eine brave Frau zu sein und jeden Sonntag die Kirche zu besuchen. Mittlerweile wurde niemand mehr hingerichtet, wenn er oder sie einen Gottesdienst versäumte, aber auch Stockschläge wollte sie vermeiden. Der Glaube gab ihnen letztlich so viel.
„Los jetzt, der geistliche Gönner wartet nicht“, schelmisch gab Richard ihr einen Klaps auf den Po. Sie warfen sich die erdfarbenen Büßerroben über und öffneten die Tür. Von der Stadtwache war noch nichts zu sehen, der Reinigungsdienst fuhr gerade vor. Die Herren Polizisten würden Pech haben, dachte er bei sich. Wer zuerst kam, bekam die Leiche. Umständlich stieg das Ehepaar über den Toten hinweg. Es war viel Blut, das sich über die glänzenden Fliesen ergoss. Gut gelaunt schritten sie den Weg zur Straße hinunter. Fröhlich pfeifend kamen ihnen die Ordnungskräfte der städtischen Hygieneabteilung, wie der Reinigungsdienst offiziell hieß, entgegen. „Mojen Mester“, rief der Größere der beiden, der auch den Wagen mit den Utensilien schob. Dorothea und Richard winkten freundlich und erreichten kurz darauf das Tor. Richard sah sich um. Von dem anderen, der alles filmte, war nichts mehr zu sehen. Er hoffte, dass die Polizei ihn aufgriff oder einer der Glaubenshüter. Die Kids waren noch immer der Meinung, wenn sie irgendwelche Dinge ins Netz stellten, die Welt verändern zu können. Das hatte man ja gesehen während der großen Wende. Hätten die damals mal besser gearbeitet, anstatt nur vom Klimawandel zu sprechen und das Internet damit zuzupflastern, wäre die Sache vielleicht anders ausgegangen. Manche lernten es nie. Die ganze Siedlung war bereits auf dem Weg in die Kirche. Früher handelte es sich um ein katholisches Gotteshaus. Die Erkenntnis, die letztlich die große Säuberung auslöste, merzte das Übel der alten Religionen aus, Gott sei Dank. Nur wer aufrecht bereit war, den Kampf zu suchen, wurde von der Vorsehung belohnt und vom großen Ernährer bei der letzten Speisung bedacht. Das war kein Glaube, das war Gewissheit.
Sie traten durch das Tor und mussten feststellen, dass ihr üblicher Platz von den Meiers belegt war. Das alte Ehepaar kniete bereits und presste die Gesichter zu Boden. „Ist deren Zeit nicht bald gekommen?“, raunte Dorothea Richard zu. Er nickte: „Ja, ich glaube, die werden bald abgeholt. Sie muss schon über 60 sein und er hat die 40 auch bald erreicht.“ Partnerschaften waren verpflichtend, und wenn gemeinsam die 100 erreicht wurde, war es eine Ehre, den Weg der ersten Gläubigen zu gehen und eins zu werden mit dem Quell der Existenz.
Sie fanden eine freie Stelle in der Nähe der großen Schale, die im Zentrum des Kirchenschiffs von den Gläubigen umringt wurde. Die frühere Architektur mit einem Altar am Ende des Raums und Bänken, die dorthin ausgerichtet den Menschen Sitzplätze boten, war lange überholt. Buße im Sitzen war zur Häresie geworden. Nackte Knie auf rauem Stein – der Büßer musste fühlen, dass seine Nahrung ihm Opfer abverlangte. In tiefer Demut pressten nun auch Dorothea und Richard ihre Gesichter auf den Boden, der sich nach den Jahren der Buße schon lange nicht mehr wirklich rau anfühlte. Es wurde still im Haus des Glaubens, und sie hörten den Gong der Ewigkeit, der das Erscheinen des Gönners ankündigte. Gesegnet durch den großen Ernährer, hatten die geistlichen Gönner nicht mehr viel Menschliches an sich. Jener dieser Kirche ragte beinahe vier Meter in die Höhe. Seine dürre Gestalt konnten die Büßer natürlich nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen. Er schritt über die Körper der kauernden Menschen hin zur Treppe, die ihn zur Mitte der großen Schale führte. „Erleuchtete“, sprach er, und obwohl seine Stimme nicht laut war, konnte jeder sie hören. Ein Gönner sprach nicht nur akustisch, er drang in die Köpfe der Menschen, ließ seine Worte aus ihrem Inneren tönen.
„Euer Opfer heute wird vom Ernährer akzeptiert“, setzte er fort, und ein erleichtertes Raunen ging durch die Menge. Für diese Woche war eine Diebin auserkoren worden, statt ihrer Strafe den Weg der ersten Gläubigen in vollem Bewusstsein zu beschreiten. Dorothea zitterte beim Rasseln der Ketten, an denen, wie sie wusste, der Käfig mit der Auserwählten von der Decke gesenkt wurde. Wie jeden Sonntag, begann auch das heutige Opfer schrill zu schreien, als es den Gönner erblickte. Zumindest vermuteten Dorothea und Richard das. Die Schale des erlösenden Nektars musste sie ja zuvor schon gesehen haben. Hätte ihr diese Angst eingejagt, wären ihre Schreie doch schon früher zu hören gewesen. Im Gegensatz zu Richard verspürte Dorothea ein Gefühl der Angst und auch so etwas wie Mitgefühl für das Opfer. Natürlich wusste auch sie, dass es keine größere Ehre gab für einen Menschen. Dennoch, es waren fast immer Frauen, die, ohne betäubt zu werden, langsam in der Schale Erlösung fanden. „Es ist eine Schande, dass sie immer so schreien“, flüsterte ihr Mann. Dorothea zitterte. Richards Worte gefielen ihr überhaupt nicht. „Das junge Ding wird gleich quälend langsam in Säure aufgelöst, da würdest du auch schreien“, gab sie ihm verärgert zur Antwort. Plötzlich die Stimme des Gönners in all ihren Köpfen: „Höre ich den Wunsch einer Büßerin, den Platz des Opfers einzunehmen?“ Sofort schwiegen Dorothea und Richard und pressten ihre Gesichter noch fester auf den Stein. Wieder waren nur die spitzen Schreie zu hören. Der Gong ertönte, als Zeichen, die Zeremonie beginnen zu lassen. Für die Büßer war er das Signal, ihre Gebete zu sprechen, immerfort, bis das Opfer dargebracht war. Die Ketten rasselten wieder. Gleich würde es beginnen, dachte Dorothea. Sie biss die Zähne zusammen und rechnete jeden Moment damit, die Angstschreie in einen Ausbruch puren Schmerzes wechseln zu hören. Plötzlich fühlte sie mit Entsetzen, wie zwei kräftige Hände sich mit dünnen Fingern wie Greifzangen um ihre Schultern schlossen…
Gerald G.