Offene Enden – zweiter Teil
Zehntausend Euro
Von Gitti Weiss (Brigitte Raspovic)
„Das habe ich bereits getan, nachdem ich den Schuss gehört hatte“, gab sie mit
zitternder Stimme und bleichem Gesicht zur Antwort. „Die Rettungskräfte, sowie die
Polizei werden bald hier sein. Ich hatte fürchterliche Angst und vermutete, Dir wäre
etwas zugestoßen. Ich bin so froh, dass Dir nichts passiert ist,“ sprach sie weiter,
während sie ihm um den Hals fiel. Er drückte sie an sich und erzählte in kurzen
Sätzen, was sich zugetragen hatte. Unmittelbar danach schob er sie beiseite, da
draußen das Martinshorn und die Polizeisirenen ertönten. Die Sirenen verstummten.
Augenblicklich war ein Durcheinander von lauten Männer- und Frauenstimmen,
sowie das mehrmalige Zuschlagen von Autotüren zu vernehmen.
Das Ehepaar begab sich in den Flur und spähte abwechselnd durch den Türspion.
Es war wieder alles ruhig. Zu sehen war nichts.
Richard meinte verwundert: „Seltsam, dass die Polizisten nicht bei uns geläutet
haben. Normalerweise nehmen die doch ein Protokoll auf.“ Dorothea zuckte mit den
Achseln und entgegnete: „Vielleicht kommen sie ja später nochmal vorbei.“
Nach einer Weile öffnete er vorsichtig die Haustür und trat, gefolgt von seiner Gattin,
nach draußen.
Beide erschauderten, denn es bot sich ihnen ein Anblick des Grauens. Zwei blut-
überströmte Polizisten torkelten auf sie zu und sanken zwei Schritte vor ihnen zu
Boden.
Die Leiche des Selbstmörders und dessen Begleiter, waren spurlos verschwunden.
Auch von einem Polizeiauto war weit und breit nichts zu sehen.
Richard Berger und seine Frau Dorothea waren unfähig, etwas zu tun. Ihre Glieder
schlotterten vor Entsetzen. Es dauerte einige Minuten, bis sich der Reisebüroinhaber
und seine Frau einigermaßen gefangen hatten. Ihre Blicke galten jetzt den zwei am
Boden liegenden furchtbar zugerichteten Männern in Uniform.
Teil 2
»Was ist passiert«, fragte Dorothea. »Das hörte sich an wie ein Schuss.«
»Nichts, was uns irgendwas angeht«, sagte Richard. »Aber es wäre gut, wenn du die Polizei rufst. Sicher ist sicher.«
»Und was soll ich sagen?«
Richard fühlte das Brennen seiner Magensäure im Hals, das übliche Aufstoßen, wenn er stress hatte. Und den hatte er. »Sag einfach, sie sollen vorbeikommen. Es wäre dringend.« Er schob seine Frau sanft Richtung Wohnzimmer, wo das Telefon stand. »Kannst du das erledigen?«, krächzte er. »Mein Magen, das ewige Sodbrennen.«
Es dauerte ewig, bis die Polizei kam. Richard Berger schätzte, fast eine halbe Stunde. In der Zwischenzeit hatte er seine Frau mit beruhigenden Worten von der Haustür ferngehalten, was nicht einfach gewesen war. Vor allem, weil die Konaks, seine Lieblingsnachbarn von schräg gegenüber, die sich wie immer für alles interessierten, was sie nichts anging, auf ihr Haus zu gerannt waren und nicht nur Sturm geschellt, sondern rhythmisch an die Haustür gewummert hatten. »Nichts, was uns irgendwas angeht«, hatte er immer wieder gemurmelt und gehofft, dass die Polizei kam und endlich für Ordnung sorgte.
Natürlich schellte die Polizei auch bei ihnen, zwei junge Männer, vielleicht Mitte Zwanzig, die vor allem überfordert wirkten. »Und sie sind sich sicher, dass Sie den Mann nicht kannten«, fragte der Blonde mit dem Dreitagebart. »Und den anderen Mann auch nicht.« Er wirkte nicht überzeugt.
Richard zuckte nur hilflos mit den Achseln.
Wenigsten organisierten die Polizisten einen Reinigungstrupp, der die Sauerei vor ihrer Haustür beseitigte, mehr schlecht als recht, wie Richard sich eingestand, aber wenigstens so, dass sich ihm nicht gleich der Magen umdrehte.
Die böse Überraschung folgte am Montag. Richard hatte noch nicht seinen Platz im Großraumbüro der Versicherung eingenommen, für die er im Hauptberuf als Schadensregulierer arbeitete, als ihn die Blicke seiner Kollegen und Kolleginnen aufschreckten. Beunruhigt sah er sich um. Alle starrten ihn an.
„Die Polizei?“
Dorotheas Schritte polterten die Kellertreppe wieder herauf.
„Aber warum denn?“ Fragte sie mit den Armen voller Dinge und streckte ihren Kopf aus dem Türspalt.
Berger stemmte sich mit dem Rücken gegen die verschlossene Haustür, als wollte er ein Ungeheuer aussperren. Sein Mund öffnete und schloss sich. Doch es kam kein Ton heraus. Dorothea fühlte sich an die Kois im Gartenteich erinnert.
„Was hast du?“
Sie klemmte die Last unter einen Arm und schlug mit der freien Hand auf den Lichtschalter. Beim Anblick ihres Mannes plumpsten Richards Gore Tex, ihre Stiefeletten und der Regenschirm zu Boden.
„Oh mein Gott! Ist es wieder das Herz?“
Hektisch kreischten die Füße des Hockers über den Steinboden.
„Setz dich.“
Das dicke Polster stöhnte leise unter Bergers Gewicht. Er lehnte sich gegen die Wand und schloss für einen Moment die Augen.
„Du brauchst frische Luft.“ Sagte seine Frau und griff nach der Klinke.
„Nein! Nicht!“ Er schrie beinahe.
„Ist kein schöner Anblick.“ Setzte Berger ruhiger hinzu.
„Ist ja gut, schon gut.“
Dorothea Berger hob ihre Arme, als würde sie mit einer Waffe bedroht. Die Geste erinnerte ihn an die Geschehnisse auf der Treppe. Er schluckte trocken.
„Du musst die Polizei rufen, Jemand hat sich vor unserer Tür -“
Berger holte tief Luft, als wollte er einen Tauchgang wagen.
„- erschossen.“ Stieß er hervor.
„Wenn das einer deiner seltsamen Scherze sein soll -“
„Nein.“
Er richtete sich auf und stützte beide Hände fest auf die Knie.
„Nein. Leider nicht.“
Es klingelte.
Im Lichtausschnitt der Tür zeichneten sich die Silhouetten eines ungleichen Paares ab.
„Lass nur, ich geh schon.“ Sagte Dorothea etwas zittrig, als Berger Anstalten machte, sich zu erheben.
Ein Schwall kühler nasser Luft wehte die Gartennachbarn der Bergers herein.
„Tach auch, der Andi hat hat jemand bei euch an der Türe gesehen. An einem Sonntag! Um diese Zeit! Da kriegt ihr doch nie Besuch … Und dieses Auto! So eine kackbraune Schrottlaube und das Rücklicht ging auch nicht. Es hatte sogar eine Fehlzündung. Habt ihr das auch gehört? Um diese Zeit seid ihr doch immer in der Kirche. Und weil noch Licht war bei euch. Ich sagte Andi, wir müssen nach dem Rechten sehen. Gute Nachbarn kümmern sich doch, nicht wahr? Ist so weit alles in Ordnung?“ Sprudelte sie hervor.
Neugierig reckte die kleine Frau ihren Hals. Während sie sprach huschten ihre Augen flink in Bergers Diele umher, bereit jedes winzige Detail aufzusaugen.
„Ach, das ist aber lieb, Frau Spitzel.“ Brachte Bergers Frau heraus.
„Ute bitte. Wir waren doch schon beim Du.“
Feiner Regen setzte ein. Böiger Wind wehte ihn die Vortreppe herauf bis in den Flur.
„Danke, dass ihr so gut auf uns achtgebt. Da fühlt man sich gleich -“
„Nicht dafür, meine Liebe. Wir haben die Nachbarn immer im Blick. Man liest ja so viel und es macht doch keine Mühe. Nicht wahr, Andi?“ Fiel ihr Ute ins Wort.
Der Hocker seufzte erleichtert, als Berger sich mit neuer Energie erhob. Er quetschte sich an seiner Frau und den Spitzels vorbei, um hinaus zu spähen.
„Kommt erstmal aus der Tür. Du auch Richard.“ Rief Dorothea und sperrte das feuchte Wetter aus.
„Heute soll es den ganzen Tag wie aus Eimern schütten.“ Sagte Andi, bevor er seinen Schirm zum Trocknen aufspannte. Ein feiner Sprühregen vernebelte den großen Spiegel. Dorothea presste ihre Lippen zu einem geraden Strich.
„Wohin damit?“ Fragte der Nachbar.
„Hör auf! Du machst doch alles nass.“ Schimpfte seine Frau.
„Das ist jetzt auch egal.“ Murmelte Dorothea und musterte die schmutzige Pfütze, die sich um Utes quietschgelbe Gummistiefel gebildet hatte.
„Habt ihr da draußen niemand gesehen?“
„Bei dem Wetter lasst ihr doch euren Gast nicht draußen warten.“
Utes Augen wanderten die Stufen ins Obergeschoss hinauf.
„Was für ein Gast?“ Fragte Dorothea.
„Also der Andi sagte, es wären zwei Männer an eurer Tür gesehen…“ Antwortete Ute mit einem Seitenblick auf ihren Mann.
Andreas Spitzel hob die Schultern.
„Außer uns ist niemand hier.“
„Aber Andi-“
„-irrt sich. Auch wenn ich kein derart reges Interesse an fremden Angelegenheiten habe, was in meinem Haus vorgeht, das weiß ich ganz sicher.“ Sagte Dorothea bestimmt.
Ute Spitzel holte tief Luft. Doch Berger kam ihrem Redeschwall zuvor.
„Da war wirklich niemand? Auf dem Boden vor der Treppe?“
Entgeistert starrte Andi auf Berger hinunter.
„Ach was, das ist nur einer von Richards merkwürdigen Scherzen.“ Sagte Dorothea und kniff in Bergers Arm.
„Richtig, blöder Scherz. Ihr hättet ihn ja sehen müssen, als ihr gekommen seid.“ Sagte Berger schnell. Er schloss den Schirm und drückte ihn in Andis Hand.
„Lieben Dank für eure Sorge. Aber ihr seht selbst, es ist alles in bester Ordnung.“
Dorothea öffnete die Tür.
„Wir wollten ohnehin gerade gehen. Schade, dass die Nachbarschaft unser Engagement nicht zu schätzen weiß. In Zukunft kümmern wir uns nur noch um unsere eigenen Angelegenheiten.“ Schnappte Ute bissig.
„Wer es glaubt.“ Murmelte Berger.
Die Regenrinne am Vordach lief über und das Wasser pladderte zu beiden Seiten der Haustür auf den Boden. Sie sahen den Spitzels nach, bis sich der Regenvorhang hinter ihren Ostfriesennerzen schloss.
„Was ist eigentlich in dich gefahren?“
Eine steile Falte furchte Dorotheas Stirn.
„Jemand hat sich vor unserer Tür erschossen? Und wo ist er hin?“
„Ich weiß nicht. Ich habe keine Erklärung dafür.“
Verwirrt sah Berger sich um. Sein Blick fiel auf den Briefkasten. Die Sonntagszeitung hing zerfleddert aus dem Briefschlitz. Die obere Hälfte war durchweicht vom Regen. Er zog sie vorsichtig heraus. Als er die matschige Rolle in der Diele öffnete, fiel ein Smartphone heraus. DAS Smartphone.
Berger wich bis an die wand zurück, als wäre eine schwarze Mamba aus dem nassen Papier gekrochen.
„Dann werde ich wohl doch nicht verrückt.“ Sagte er leise.
Es war auf Vibration eingestellt. Der eingehende Anruf ließ es schnurrend über die Fliesen tanzen.
„Soll ich rangehen?“ Fragte Dorothea.
Richard Berger rief selbst bei der Polizei an. Seine Frau Dorothea wollte ihm nicht glauben. Kein Wunder, wer würde solch ein Irrwitzige Sache auch glauben. Herr Berger verstand ja selbst nicht was er da erlebt hatte. Doch nachzusehen traute sich seine Frau auch nicht, zumindest soviel Verstand hatte Sie in der Situation noch behalten. Der Anblick…Herr Berger konnte seinen Gedanken nicht zu Ende fassen. Das schrille Geräusch der alten Klinge lies Ihn Inne halten. Er hatte schon ein Muster in den Teppich gelaufen, so energisch ist er im Kreis gelaufen. Die Polizei würde doch bestimmt mit einem Großaufgebot auftauchen. Ein Mord vor der eigenen Haustüre. Ein Albtraum wird wahr und sie waren mittendrin. Wieso hatte er nur die Sirenen nicht gehört? Diese Situation verstörte Ihn wohl mehr als er es sich selbst eingestehen wollte. Abermals klingelte es. „Richard, nun geht doch endlich an die Tür“ ermahnte ihn Dorothea. Selbst traute sie sich nicht vor die Tür. Sie blieb stur in ihrem Lederimitatsessel sitzen und strich zum hundertsten mal über das Blumenmuster des Sesselschoners. Mit schweissnassen Händen öffnete Herr Berger die Tür. Ihm graute vor dem Anblick…
Zwei Polizisten, eine brünette Dame mit strengem Pferdeschwanz und ein eher schlaksiger junger Typ standen vor seiner Türe. „Sind sie Herr Berger?“ fragte die Polizistin streng. Zögerlich nickte er. „Uns wurde mitgeteilt, dass sich hier ein Schuss ereignet haben soll?“ wieder nickte er, denn er brachte kein Wort mehr heraus. „Sie haben bei ihrem Anruf berichtet, jemand sei erschossen worden?“ abermals ein Nicken. „Nun erzählen Sie uns endlich was vorgefallen ist, schliesslich haben Sie uns her gerufen Herr Berger.“ Die Polizistin stemmt die Hände in die Hüften und der hochgewachsene Mann zog die Augenbrauen skeptisch in die Höhe. Doch Richard Berger brachte kein Wort heraus. Er war blass wie ein Stück Papier – und ich rede hier nicht von diesem braunstichigem Recyclingpapier, sondern dem Hellweißen.
Unterhalb der Treppen lag keine Leiche mehr!
Fortsetzung, Teil 1.
(Zweites Ereignis, an einem anderen Ort, am selben Tag. Eine Art Iteration)
Alvara Pech lebte noch vor zwei Jahren in Winnemucca und kam dann nach Deutschland. Wann immer sie gefragt wurde, wo denn bitte dieses Winnewas – also Winnemucca – liegt, antwortete sie: »In Nevada.«
Weitere Fragen dazu blieben in der Regel aus. Stattdessen folgten mitfühlende Blicke, als Einleitung zur unvermeidlichen Kette von Ratschlägen. Überhaupt schienen die meisten Deutschen sehr hilfsbereit zu sein, auch wenn es manchmal etwas irritierend herüberkam.
Nicht wenige aus ihrem neuen Bekanntenkreis standen Alvara zu Beginn etwas unterkühlt gegenüber, wurden aber freundlich und zugänglicher, nachdem das zwischenmenschliche Eis denn endlich geschmolzen war.
Zudem gab es da noch ihren Nachnamen.
Pech.
Ein verbreiteter Name unter Hispanic Americans – und immer wieder ein Aufhänger vonseiten ihrer Gesprächspartner – jedoch nur selten angenehm für sie selbst. Pech war eben auch ein bitterlustiges Wort der deutschen Ironie. Pechsache war hierbei ein Klassiker, gerade wenn es um Alvaras gesamte Situation ging, Pech gehabt ein wiederkehrendes Phänomen in Sachen Politik und das berühmte Zusammenhalten wie Pech und Schwefel kam ihr ebenfalls in so mancher Form entgegen – in solchen Fällen als Solidaritätsbekundung. Für genau diese war Alvara sehr dankbar, wenn man bedachte, dass sie so gerade eben aus den Good Ol´USA flüchten konnte, nachdem sie bereits in eines der berüchtigten texanischen Deportation Camps gesteckt worden war – Eject Hubs, wie manche diese zynisch nannten. Extrem traumatisch. Über Details hielt sie sich vorzugsweise bedeckt, was mehr aussagte, als verschwieg. Vom Tag ihrer Flucht an galt sie offiziell als staatenlos.
Ihre Eltern flohen nach Portugal. Alvara jedoch zog es jedoch nach Deutschland.
Vielleicht war ihr Nachname ein Grund gewesen, warum sie sich bereits während ihrer Jugendzeit dazu entschlossen hatte Deutsch zu lernen, doch daran konnte sie sich nicht mehr erinnern.
Dank europäischer Sonderregelungen, für gut gebildete Flüchtlinge und Migranten aus den USA, war es ihr schnell vergönnt, einen attraktiven Job zu finden. Ihre Sprachkenntnisse erwiesen sich als ein Riesenplus.
Ein Privileg des Schicksals eben.
Fate und Karma.
Sie saß gedankenverloren auf einer Parkbank und starrt den Screen ihres Pads an. Das tägliche Doomscrolling am Vormittag. Eigentlich überflog sie nur die Headlines. Zu viele schlechte Nachrichten – in detaillierter Form ein Overkill, den sie nicht brauchte. Deutsche News-Portale wurden hierbei von ihr bevorzugt; für Alvara eine Art kulturelle Abgrenzung von der alten Heimat, auch wenn es inhaltlich nur allzu oft um eben diese ging.
Wieder einmal tauchte diese eine Überschrift auf. Vielleicht ein typisches Beispiel für den deutschen Erklärungszwang. Vermisster Sohn des Technikgenies Matas Kudirka wohl tot – Leiche stark verwest. Wie kompostiert muss jemand sein, bis er in Deutschland als wirklich verstorben gilt?
»Ist das normal?«, fragte sie und drehte sich zur Seite – in der Erwartung ihren Arbeitskollegen Jörg Ahlhorn neben sich zu sehen, mit dem sie an diesem Sonntag im Alsterpark saß. Dieser war wortlos aufgestanden und lief schnellen Schrittes auf jemanden zu – sein Smartphone hielt er hoch, als würde er filmen. Er schien sehr aufgebracht zu sein. Nur kurz zuvor hatte er einen sehr entspannten Eindruck gemacht und über banale Dinge des Alltags gesprochen.
Erschrocken beobachtete sie, wie Jörg nach der Tasche eines bärtigen Mannes zu greifen versuchte und einen Schlag ins Gesicht dafür kassierte. Dieser rieb sich anschließend seine geballte Faust und sah zu einem anderen Mann herüber. Beide trugen Jeans und Jacken aus Lederimitat, blickten sehr ernst drein und schienen nicht überrascht zu sein. Sie wirkten eher unauffällig – wie Vater und Sohn in niveauarmer Kleidung.
»Ich will nur zehntausend Euro, mehr nicht! Das sind doch Peanuts!«, schrie Jörg wie irre, zog nach kurzem Zögern einen Kugelschreiber aus seiner Jackentasche und stach dem älteren Mann durch das rechte Auge in den Kopf. Dieser sackte sofort zusammen.
Danach rannte Jörg mit wutverzerrt schäumendem Mund davon. Sein Smartphone hielt er filmend vor sich her, als ob er jemandem damit folgte.
Der jüngere Mann kniete sich zu dem Toten nieder, sprach leise vor sich hin und schien völlig gelassen zu sein – als ob ihn das Ganze kaum berührte.
Alvara war zutiefst erschüttert. Sie blieb auf der Bank sitzen und blickte in die Abgründe eines Déjà-vu.
Fate und Karma.
Dann rief sie die Polizei.
…
Er ging zu dem kleinen Teewagen, der neben der schweren Ledercouch stand und füllte einen wuchtigen, aufwendig geschliffenen Becher zweifingerbreit mit Whisky. Er ließ sich auf die Couch fallen und nahm einen tiefen Schluck. Seine Frau kam, mit dem Telefon in der Hand wieder ins Zimmer und sah ihn fragend an. „Hast du die Polizei gerufen?“, fragte Berger seine Frau. Der Vorfall vor der Haustüre und der Whisky schnürten ihm die Kehle zu und seine Stimme klang krächzend und rau. „Was ist den passiert und warum die Polizei?“ Dorothea schaute ihren Mann verständnislos an. „Vor unserer Haustüre hat sich Einer erschossen, das ist passiert!“ Richard Berger schrie die Antwort förmlich heraus. Seine Frau stieß einen spitzen Schrei aus und ließ das Telefon fallen. Berger stand auf hob den Apparat auf und wählte die 110. Er erklärte dem Beamten am anderen Ende kurz den Grund seines Anrufs, dann setzte er sich wieder und trank das Glas leer, während seine Frau immer noch wie erstarrt dastand und ihn ungläubig anstarrte. Erst nach endlos scheinenden Minuten hatte sich Dorothea wieder gefangen. Sie setzte sich zu Richard und klammerte sich an seinen Arm. Auf die Frage von ihr ob sie vielleicht nachsehen sollten, weil alles nur eine Einbildung sein könnte reagierte ihr Mann nicht. Er schenkte sich noch einen Whisky ein, aber Dorothea nahm ihm ebenso wortlos das Glas aus der Hand und trank es in einem Zug leer. Die Türklingel schreckte sie auf. „Na endlich,“ seufzte Richard und ging zur Türe. Er sah durch den Spion zwei Polizeibeamte und öffnete erleichtert. Die beiden Beamten grüßten förmlich.
„Polizeihauptmeister Huber,“ stellte sich einer der Beiden vor. Bevor er weiterreden konnte fiel ihm Berger ins Wort. „Gut dass sie da sind! Wir wollten gerade zur Kirche, da klingelte es und ein Mann hat sich vor meinen Augen erschossen. „So, so, vor ihren Augen,“ wiederholte Huber und sah dabei seinen Kollegen vielsagend an. „Wo soll das den gewesen sein?“ wollte dieser wissen und er sah dabei seinen Kollegen lächelnd an. Da wurde es Berger zu dumm und er forderte die beiden Polizisten auf zur Seite zu gehen, dann würden sie den Toten liegen sehen. Die Beamten gingen demonstrativ weit auseinander und gaben Treppe und Weg frei, aber es war nichts zu sehen. Der Weg vom Gartentor zum Haus war wie immer nichts deutete darauf hin, dass hier ein Verbrechen geschah.
Richard hielt es aber nicht lange aus untätig im Haus zu sitzen. Noch während Dorothea mit der Polizei telefonierte, öffnete er die Tür behutsam einen Spalt breit und linste vorsichtig hinaus.
Der Mann, der sich in den Kopf geschossen hatte, lag immer noch der Länge nach ausgestreckt vor seiner Tür und färbte Richards Plattenweg langsam rot ein. Obwohl die ganze Angelegenheit schrecklich war, kam Richard nicht um die Erkenntnis herum, dass so ein roter Plattenweg wohl ein beeindruckender und erhabener Anblick bieten würde.
Da er den Mann mit der Kamera nirgends erblicken konnte, wagte er sich aus der Tür hinaus und schaute sich um, aber den Kameramann sah er nicht.
Da sein Garten von einer etwa mannsgrossen Mauer umgeben war (die gehörte einfach zu der etwas in die Jahre gekommenen, rosa gestrichenen Villa, die Richard von seinem Grossonkel mütterlicherseits geerbt hatte) konnte dieser zweite Mann aber auch schon auf die Strasse hinausgeflüchtet sein, wo ihn Richard nicht mehr sehen konnte.
Richard rannte zum seinem schmiedeeisernen Gartentor, dem einzigen Durchlass in seiner Mauer, und spähte auf die Strasse hinaus. Alles war wie immer. Halb auf dem Gehsteig parkte eine lange Reihe Autos (obwohl dort Halteverbot war), herbstliches Laub bedeckte den Boden, einige Krähen hockten in den kahlen Bäumen und krächzten heiser. Keiner seiner Nachbarn schien von dem Schuss Notiz genommen zu haben.
Der einzige Mensch auf der Strasse war ein alter Mann mit langem Bart, der eine orange Leuchtweste trug. Mit einem grossen Besen kam er, die Strasse fegend auf Richards Gartentor zu. Er ging dabei methodisch und gründlich vor und erinnerte damit ein wenig an den Strassenfeger aus Michael Endes Buch „Momo“. Schritt, Atemzug, Besenstrich. Schritt, Atemzug, Besenstrich. Schritt, Atemzug …
Richard hatte genug gesehen und kehrte in seinen Garten zurück. Er wollte gerade zur Haustür zurückkehren, vor der die Leiche noch immer vor sich hin blutete, als er einen kleinen Mann hinter dem Rhododendronstrauch seiner Frau kauern sah.
Der Mann hatte einen Feldstecher dabei, mit dem er das Haus beobachtete. RICHARDS HAUS.
Der Mann hatte ihn noch nicht bemerkt. Zornig baute sich Richard hinter dem kleinen Mann, der sich wieselhaft hinter dem Strauch zusammenkauerte auf. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sagte dann vor Zorn beinahe Funken sprühend: «Was machen Sie da?»
Der kleine Mann fuhr in die Höhe, drehte sich um, erschrak noch mehr, machte einen Schritt nach hinten. stolperte über seine eigenen Fuss, kam aus dem Gleichgewicht, ruderte mit den Armen wie eine übergewichtige Gans, die losfliegen will, verlor das Gleichgewicht völlig und knallte mit der Anmut eines sterbenden Schwans der Länge nach auf den Boden, direkt in den Rhododendronstrauch, der dabei arg in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Richard rieb sich die Stirn und stöhnte frustriert. Dorothea würde wütend werden.
Er streckte dem kleinen Mann, der sich stöhnend im Strauch wand die Hand hin und zog ihn auf die Füsse. Dabei dachte er an kleine weisse Lämmchen in dem verzweifelten Versuch sich davon abzuhalten dem kleinen Mann alle Zähne aus dem Mund zu schlagen.
Als Kind hatte er immer davon geträumt eines Tages Schäfer zu werden und mit seiner Herde durchs Land zu ziehen. Auch heute stellte er sich oft vor, wie er in der Mitte einer Herde kleiner wolligen Gesellen stehe und am Horizont nach Wölfen oder Bären Ausschau halte.
Er war so in seine Betrachtung von Schafen vertieft, dass er erst beim zweiten Mal bemerkte, dass sich der Mann vorgestellt hatte.
«Was?», fragte Richard, der den Namen immer noch nicht verstanden hatte und stierte den kleinen Mann dabei mit dem Blick eines wilden Stiers an. Eines wilden Stiers vor dessen Augen sich der Torero in eine Balletttänzerin verwandelt hatte, die den Schwanensee aufführte.
Der kleine Mann machte vor diesem Blick instinktiv einen Schritt zurück und wäre dabei beinahe erneut über seine Füsse gestolpert, fing sich aber gerade noch rechtzeitig.
„Mein Name ist Hugo Täuscher“, sagte er und rieb sich dabei die kleinen Hände obwohl es gar nicht so kühl war.
Richard fand, dass dieses listig wirkende Hände reiben gut zu dem Frettchengesicht und der dickglasigen, runden Brille passte, die Hugo trug. Der ganze Mann kam ihm irgendwie schleimig vor, wie er lächelnd dastand und seine riesigen, biberzahnartigen Schneidezähne präsentierte.
Richard machte einen kleinen Schritt zurück, wie um zu verhindern, dass ein Teil des Schleims auf ihn überspringen könnte.
«Und was machen Sie in meinem Garten?», fragte er unfreundlich.
Täuscher grinste noch ein bisschen breiter und wirkte verlegen.
«Naja.», murmelte er, «Wir hatten da diese Wette um zehntausend Euro. Und die geriet irgendwie ausser Kontrolle.»
Richard atmete scharf ein. Hatte Täuscher etwas mit dem Typen zu tun, der sich in seinem Garten den Kopf weggeblasen hatte?
Seine Gedankengänge wurden unterbrochen, denn aus dem Augenwinkeln nahm er wahr, dass der alte Mann mit der orangen Leuchtweste, den Weg fegend in seinen Garten hineinschlurfte.
Er liess Täuscher stehen und nahm sich vor ihn später weiter auszuquetschen. Mit schnellen Schritten lief er auf den Alten zu und stellte sich ihm in den Weg.
«Was machen Sie da?» fragte er und machte sich eine gedankliche Notiz, dass er diese Frage an diesem Tag schon viel zu oft gestellt hatte.
«Ich fege den Fussweg.», antwortete der alte Mann ruhig.
«Ja aber der Gehsteig ist draussen. Also fegen Sie gefälligst ausserhalb meines Gartens.», antwortete Richard bissig.
«Ich fege aber den Fussweg und nicht den Gehsteig.», antwortete der alte Mann.
Richard sah ihn so verständnislos an, dass der Alte Mitleid bekam und zu einer weiteren Erklärung ansetzte. Dazu unterbrach er sogar das Fegen.
«Wie bewegen sie sich auf diesem Weg?», fragte er.
«Na zu Fuss.», antwortete Richard zögernd.
Der Alte lächelte zufrieden und antwortete: «Eben. Dann ist es ein Fussweg und ich fege ihn.»
Damit liess er Richard stehen und fegte weiter auf das Haus zu.
Richard hatte nicht lange Zeit sich über den Alten zu wundern, denn schon wieder betrat eine Gestalt seinen Garten.
Diesmal war es ein hagerere, hochaufgeschossener Mann in einem sehr korrekten Anzug, der ein kleines Aktenköfferchen in der Hand trug.
Der korrekt gekleidete Mann machte einen Kratzfuss.
„Gestatten? Mein Name ist Kratz von Fuss.“, sagte der Kratzfuss und machte, wie um seinen Namen zu unterstreichen einen zweiten Kratzfuss.
«Aha.», antwortete Richard, «Und was machen Sie hier?»
«Und Sie sind?», entgegnete Kratzfuss spitz und sichtlich pikiert darüber, dass Richard sich ihm nicht ebenfalls vorgestellt hatte.
«Ich bin Richard Berger.», antworte Richard, dem die Etikette und die Regeln der Höflichkeit inzwischen ziemlich egal waren, «Und was machen Sie hier.»
«Ich bin von der illegalen Wettkommission der Polizei. Hier soll eine illegale Wette stattgefunden haben. Stimmt das?», antwortete Kratzfuss.
«Dann kommen Sie also wegen der Leiche?», fragte Richard und wartete die Antwort gar nicht erst ab, «Sie ist da drü…»
Die Worte blieben ihm im Mund stecken, als er sich umdrehte und auf die Leiche zeigte.
Doch da war keine Leiche mehr. Da war auch kein Blut mehr. Nur ein säuberlich gefegter Plattenweg. Und nun fiel Richard auch auf, dass auch der alte Strassenfeger in der orangen Leuchtweste verschwunden war.
Nur Hugo Täuscher, der inzwischen wieder mit seinem Fernglas Richards Haus studierte, stand noch neben dem Rhododendronstrauch.
Es dauerte eine gute Dreiviertelstunde, bis es erneut an der Haustür klingelte.
Berger sass im Wohnzimmer auf der ledernen Couch und hatte einen leeren Cognac-Schwenker vor sich auf dem Couchtisch stehen. Seine Hände zitterten leicht.
„Gehst Du bitte an die Tür und schaust nach, wer das ist?“ bat er seine Frau. „Es wird hoffentlich die Polizei sein.“ Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Aber sei vorsichtig!“
Dorothea Berger ging mit leisen Schritten zur Haustür und sah durch den Türspion. Zwei uniformierte Polizeibeamte standen vor der Tür, eine junge, dunkelhaarige Beamtin mit einem schmalen Gesicht, und ein älterer, etwas fülliger Beamte. Beide drängten sich unter das schmale Vordach, weil es draussen in Strömen goss. Im Hintergrund sah sie am Strassenrand einen Streifenwagen parken.
Frau Berger öffnete die Tür. „Guten Morgen“, begrüsste sie die Besucher mit leicht schwankender Stimme. „Es ist gut, dass Sie da sind. Es ist etwas Schreckliches passiert.“
„Sie haben bei uns angerufen?“ fragte der Beamte. „Sie sind Frau Berger?“, setzte er nach, ohne eine Antwort abzuwarten.
„Ja“, fuhr Dorothea Berger fort, „mein Mann war an der Haustür und hatte einen Streit mit zwei unbekannten Männern. Einer von ihnen hat sich vor seinen Augen erschossen….in den Kopf geschossen.“
„Haben Sie den Vorgang beobachtet?, fragte die junge Beamtin.
„Nein. Ich stand im Flur vor dem Garderobenspiegel. Wir hatten uns gerade für die Kirche fertig gemacht.“
„Wo ist Ihr Mann jetzt?“ Der ältere Beamte nahm aus einer Umhängetasche ein Notizbuch. „Könnten wir ihn sprechen?“
„Ja, natürlich“, antwortete Frau Berger. „Er sitzt im Wohnzimmer und erholt sich von dem Schock.“
Sie ging vor zum Wohnzimmer, die Beamten folgten ihr.
„Richard, die Polizei ist da“, sagte sie kurz. „Die Beamten möchten mit dir sprechen.“
Berger, der eingesunken auf der Couch gesessen hatte, erhob sich kurz zur Begrüssung und bekannte dann: „Ich bin noch ganz durcheinander.“
Der ältere Beamte begann: „Erzählen Sie uns, was heute Morgen vor Ihrer Haustür passiert ist.“
„Ich habe so etwas noch nie erlebt.“ Berger schüttelte ein wenig den Kopf. Dann schilderte er die Ereignisse, die mit dem Klingeln begannen und mit der Bluttat endeten.
Der ältere Beamte machte sich Notizen.
Berger beendete nach einer Viertelstunde seinen Bericht. Er wirkte erschöpft.
„Und Sie haben unmittelbar nach dem Schuss die Tür geschlossen und sich ins Wohnzimmer zurückgezogen?“, hakte die junge Beamtin nach.
„Ich stand unter Schock. Ich glaube, ich habe mich instinktiv in Sicherheit gebracht.“
„Und ihre Frau?“
„Sie hat die Polizei angerufen und ist zu mir ins Wohnzimmer gekommen.“ Berger fügte hinzu: „Wir haben uns beide vor da draussen gefürchtet.“
Der ältere Beamte schaute von seinen Notizen auf und wandte sich an Dorothea Berger: „Was haben Sie von den Vorkommnissen an der Haustür mitbekommen?“
„Ich habe zwei fremde Männerstimmen gehört, die einen heftiger werdenden Wortwechsel mit meinem Mann hatten….und dann fiel dieser eine Schuss.“
„Gesehen haben Sie nichts?“
„Nein. Ich stand im Flur. Die Haustür war nur einen Spalt offen. Und mein Mann stand davor.“
„Das ist erst einmal alles“, sagte der ältere Beamte und klappte sein Notizbuch zu. „Wir werden den Vorfall zu Protokoll nehmen. Ich gehe davon aus, dass sich demnächst ein Kommissar bei Ihnen melden wird, um weitere Untersuchungen einzuleiten.“
Er verabschiedete sich und wandte sich mit seiner Kollegin zum Gehen. „Noch etwas“, sagte er im Hinausgehen, „sagen Sie uns bitte Bescheid, wenn sich diese Typen bei Ihnen wieder melden.“
Als sie wieder allein waren, schaute Dorothea Berger ihren Mann an: „Du, Richard, ist Dir nichts aufgefallen?“
„Ich weiss nicht.“ Berger schaute auf sein Glas.
„Die Polizei ist doch durch die Gartentür zu unserer Haustür gegangen.“
„Ja?“
„Sie hätten doch etwas sehen müssen.“
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Dorothea Berger nahm ab und meldete sich.
„Für Dich“, sagte sie und gab ihrem Mann den Hörer. Berger sagte kurz seinen Namen. Die Stimme am anderen Ende war die eines Mannes. Er erkannte sie sofort. Es war der jüngere Mann von der Haustür.
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Seine Frau Dorothea erblasste.
„Was ist denn geschehen? Was war das für ein Lärm?“, fragte sie.
„Mach einfach, was ich dir sage und ruf die Polizei an. Sag denen unsere Adresse und dass es einen Toten gibt.“ Er drehte sich um und ging zügig in sein Büro. Dort öffnete er den Safe. Er griff nach seiner Pistole und merkte sofort, dass diese nicht seine war. Erstaunt betrachtete er sie näher: selbe Marke, selbes Kaliber, aber die Markierung am Griffstück fehlte. Nur er und seine Frau hatten Zugang zu dem Safe. Dorothea mochte keine Pistolen und kannte sich damit nicht aus. Er hatte seine Pistole letztes Silvester einmal abgefeuert und danach nie wieder benutzt. Ob es schon damals eine andere war, konnte er jetzt nicht mehr sagen. Aber wenn er sie nicht vertauscht hatte …, nein, Dorothea würde so etwas niemals tun. Sie kannten sich schon ewig und waren fast genausolange verheiratet. Er vertraute ihr völlig. Ursprünglich hatte er den Plan gefasst, die Pistole, zur Selbstverteidigung ihrer beider Leben, an sich zu nehmen. Was aber, wenn jetzt gleich die Polizei käme und er hätte eine Pistole unbekannten Ursprungs in seiner Jackentasche? Er legte sie so blitzartig wieder in den Safe, dass man denken konnte, sie hätte ihm die Hände verbrannt. Danach verschloss er den Safe und ging zügig ins Wohnzimmer, wo er seine Frau telefonierend vorfand.
„Sprichst du noch mit der Polizei?“
Sie nickte.
Er nahm ihr den Hörer aus der Hand.
„Hier spricht Richard Berger. Vor meiner Tür tauchten zwei Männer auf, der eine steckte sich seine Pistole in den Mund und drückte ab, der andere filmte das alles. Sie sagten zuvor, ich könnte das verhindern, wenn ich ihm zehntausend Euro geben würde. Kein Mensch glaubt so etwas doch ernsthaft.“ Er hörte einen Augenblick zu und entgegnete: „ Ok, wir warten.“ Dann legte er auf.
„Die Polizei ist sofort da“, sagte er zu seiner Frau.
Dorothea sank blass und zitternd in den Sessel im Wohnzimmer.
Als Richard Berger die Polizeisirene vernahm, begab er sich zur Tür, blickte durch den Spion und sah: NICHTS!
Er riss die Tür auf und davor: NICHTS!
Weder ein Toter noch Blut.
Die Tatwaffe
Von Paulina Goldbach
Dorothea hob den Kopf von ihrer Zeitung und hechtete zum Telefon. Mit zittrigen Fingern tippte sie den Notruf ein: »Was ist los?«, sie verstand gar nichts.
Er riss ihr den Apparat aus der Hand: »Kommen Sie schnell. Am Buchrain 13 am Kronberg. Hier liegt ein Toter vor der Tür. Der wollte mich erpressen.« Hektisch wanderte sein Blick immer wieder zum Eingang. »Nein, ich habe ihn nicht umgebracht, weil er mich erpressen wollte. Er hat sich selbst erschossen. Da ist ein zweiter, der lebt aber noch.«
Dorothea Bergers Augen weiteten sich mit jeder zusätzlichen Erklärung ihres Mannes. Sie wandte den Blick kaum von der Haustür, während sie sich den Schürhaken vom Kamin griff. »Jetzt kommen Sie doch einfach, wir sind in Gefahr«, drängte Richard Berger den Gesetzeshüter. Entschlossen drückte er den Beamten weg: »Nu‘ müsen sie auftauchen, nur wann?« Richard und Dorothea Berger standen wie paralysiert in ihrem Haus.
Es klopfte. Frau Berger wimmerte. Ihr Ehemann schlicht zur Haustür und schaute aus dem seitlichen Fenster. Unberührt lag die Leiche vor seinem Haus. Es hämmerte. Dorothea Berger stieß aus: »Der soll abhauen! Was will der? Wie ist das passiert, Richard?« Lautstärke und Schrillheit ihrer Worte steigerten sich. »Was weiß ich?«, blaffte Richard.
Erneutes Klopfen, schneller und lauter: »Öffnen Sie die Tür. Sie haben meinen Vater umgebracht. Das werden Sie büßen.« Die Stimme des Fremden trug seinen Hass ins Haus. »Aus reinem Geiz bringen Sie Menschen um. Das kommentieren Sie auch noch sarkastisch.« Das Ehepaar umklammerte sich, den Schürhaken zwischen sich. Richard Berger schlich erneut zur Tür, um sich den jüngeren Mann genauer anzuschauen. Er musste herausfinden, was der Kerl vorhat und weshalb er nicht verschwunden ist. Richard drohte: »Wir haben die Polizei gerufen. Sie werden gleich festgenommen und wir haben unsere Ruhe.« Die Antwort des Fremden klang leiser und entfernter. »Sie werden die Probleme bekommen. Sie sind der mit der Leiche vor der Tür. Wie wollen Sie das denn erklären? Oder die sauber abgewischte Tatwaffe in Ihrem Haus?« Ein dezentes Klicken ertönte an der Hintertür des Gebäudes. Die Katzenklappe schwang auf und nach einem lauteren, metallischen Klappern, fiel sie zurück in die geschlossene Position.
Die Augen der Bergers weiteten sich, sie sprinteten in ihren kleinen Abstellraum neben ihrer Küche. Auf dem Boden schimmerte die Pistole im Licht des Flures. Sie erstarrten, verharrten. Die Waffe fixierten sie einige Sekunden. Dorothea schnappte nach Luft, das Atmen hatte sie kurzzeitig vergessen. Sie schrie: »Was machen wir denn jetzt? Verdammt, die Polizei ist gleich hier.«
Sie hörten noch keine Polizeisirenen.
„Ach… und danach noch den Reinigungsdienst. Da draußen hat sich einer umgebracht“, fügte er noch hinzu. Dorothea Berger sah ihn entgeistert an: „Machst du Witze? Ich habe gestern Abend alles auf Hochglanz gebracht im Stiegenhaus.“ Ihr Mann schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern: „Was soll ich machen, diese Internet-Challenges werden immer blöder. Ich hab ihm sogar noch gesagt, er soll nach draußen gehen. Es tut mir leid, Schatz - gehen wir nachher was essen, so als Entschädigung?“ Sein Lächeln und die versprochene Einladung zum Essen besänftigten Dorothea. Sie waren schon lange nicht mehr ausgegangen. Überhaupt war ihr Leben in den letzten Wochen ein wenig trist verlaufen. Zuerst starb ihr Hamster Alois, dann verlor sie ihre Stelle in der örtlichen Pfandleihe, und jetzt kam auch noch ein Toter vor der Tür dazu. Richard war ständig unterwegs, um neue Reisedestinationen zu testen, und sie saß alleine zu Hause und sah Quizsendungen. Naja, es würde bald besser werden, schließlich liefen die Buchungen gut in seinem Büro, und mittlerweile waren ihm seine Routen ja geläufig. Seine Klientel stellte eine eher kleine Gruppe dar, aber eine, die nicht geizte, wenn es um ihren besonderen Geschmack ging. Dorothea war sich recht sicher, dass es in Frankfurt nicht viele Reiseagenten gab, die Touren in die verbotenen Zonen anboten. Sie konnte sich noch gut erinnern, als Richard, mehr aus einer Notlage heraus, eine Explorationslizenz beantragte und seinen ersten Reisegast über die Alpen brachte. Dem Impuls damals, diesen Verrückten sofort zu verlassen, gab sie nicht nach. Es war gefährlich dort, das Militär und die Kirche setzten den Bann nun seit einem Jahrzehnt durch. Früher, in ihren Kindertagen, war ein Urlaub am Mittelmeer mit ihren Eltern etwas, worauf man sich freute. Das Meer… das war nun schon seit über 20 Jahren verschwunden. Zurück blieb damals ein stinkender Pfuhl aus sterbenden Fischen und was sonst noch alles im Meer lebte. Es gab Quellen dort, aber nicht viele. Für jene, die aus den Äquatorregionen flohen, die einzige Chance zu überleben. Die Kirche versprach, in etwa hundert Jahren würde sich der ehemalige Meeresgrund in fruchtbares Ackerland verwandelt haben, und dann würde die Gefolgschaft des großen Ernährers dort ihr gelobtes Land finden. Bis dahin hieß es ausharren zwischen dem Eis weiter nördlich und den Alpen, hinter denen die Hitze lauerte. Bis zu 70 °C im Sommer waren keine Seltenheit. Der schmale Streifen, der sich quer durch Europa zog wie ein Band des Lebens, beherbergte alle, die die große Säuberung überlebt hatten. Auch eine Notwendigkeit, die sie nicht verstand… nicht verstehen musste. Ihre Aufgabe war es, Richard eine brave Frau zu sein und jeden Sonntag die Kirche zu besuchen. Mittlerweile wurde niemand mehr hingerichtet, wenn er oder sie einen Gottesdienst versäumte, aber auch Stockschläge wollte sie vermeiden. Der Glaube gab ihnen letztlich so viel.
„Los jetzt, der geistliche Gönner wartet nicht“, schelmisch gab Richard ihr einen Klaps auf den Po. Sie warfen sich die erdfarbenen Büßerroben über und öffneten die Tür. Von der Stadtwache war noch nichts zu sehen, der Reinigungsdienst fuhr gerade vor. Die Herren Polizisten würden Pech haben, dachte er bei sich. Wer zuerst kam, bekam die Leiche. Umständlich stieg das Ehepaar über den Toten hinweg. Es war viel Blut, das sich über die glänzenden Fliesen ergoss. Gut gelaunt schritten sie den Weg zur Straße hinunter. Fröhlich pfeifend kamen ihnen die Ordnungskräfte der städtischen Hygieneabteilung, wie der Reinigungsdienst offiziell hieß, entgegen. „Mojen Mester“, rief der Größere der beiden, der auch den Wagen mit den Utensilien schob. Dorothea und Richard winkten freundlich und erreichten kurz darauf das Tor. Richard sah sich um. Von dem anderen, der alles filmte, war nichts mehr zu sehen. Er hoffte, dass die Polizei ihn aufgriff oder einer der Glaubenshüter. Die Kids waren noch immer der Meinung, wenn sie irgendwelche Dinge ins Netz stellten, die Welt verändern zu können. Das hatte man ja gesehen während der großen Wende. Hätten die damals mal besser gearbeitet, anstatt nur vom Klimawandel zu sprechen und das Internet damit zuzupflastern, wäre die Sache vielleicht anders ausgegangen. Manche lernten es nie. Die ganze Siedlung war bereits auf dem Weg in die Kirche. Früher handelte es sich um ein katholisches Gotteshaus. Die Erkenntnis, die letztlich die große Säuberung auslöste, merzte das Übel der alten Religionen aus, Gott sei Dank. Nur wer aufrecht bereit war, den Kampf zu suchen, wurde von der Vorsehung belohnt und vom großen Ernährer bei der letzten Speisung bedacht. Das war kein Glaube, das war Gewissheit.
Sie traten durch das Tor und mussten feststellen, dass ihr üblicher Platz von den Meiers belegt war. Das alte Ehepaar kniete bereits und presste die Gesichter zu Boden. „Ist deren Zeit nicht bald gekommen?“, raunte Dorothea Richard zu. Er nickte: „Ja, ich glaube, die werden bald abgeholt. Sie muss schon über 60 sein und er hat die 40 auch bald erreicht.“ Partnerschaften waren verpflichtend, und wenn gemeinsam die 100 erreicht wurde, war es eine Ehre, den Weg der ersten Gläubigen zu gehen und eins zu werden mit dem Quell der Existenz.
Sie fanden eine freie Stelle in der Nähe der großen Schale, die im Zentrum des Kirchenschiffs von den Gläubigen umringt wurde. Die frühere Architektur mit einem Altar am Ende des Raums und Bänken, die dorthin ausgerichtet den Menschen Sitzplätze boten, war lange überholt. Buße im Sitzen war zur Häresie geworden. Nackte Knie auf rauem Stein – der Büßer musste fühlen, dass seine Nahrung ihm Opfer abverlangte. In tiefer Demut pressten nun auch Dorothea und Richard ihre Gesichter auf den Boden, der sich nach den Jahren der Buße schon lange nicht mehr wirklich rau anfühlte. Es wurde still im Haus des Glaubens, und sie hörten den Gong der Ewigkeit, der das Erscheinen des Gönners ankündigte. Gesegnet durch den großen Ernährer, hatten die geistlichen Gönner nicht mehr viel Menschliches an sich. Jener dieser Kirche ragte beinahe vier Meter in die Höhe. Seine dürre Gestalt konnten die Büßer natürlich nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen. Er schritt über die Körper der kauernden Menschen hin zur Treppe, die ihn zur Mitte der großen Schale führte. „Erleuchtete“, sprach er, und obwohl seine Stimme nicht laut war, konnte jeder sie hören. Ein Gönner sprach nicht nur akustisch, er drang in die Köpfe der Menschen, ließ seine Worte aus ihrem Inneren tönen.
„Euer Opfer heute wird vom Ernährer akzeptiert“, setzte er fort, und ein erleichtertes Raunen ging durch die Menge. Für diese Woche war eine Diebin auserkoren worden, statt ihrer Strafe den Weg der ersten Gläubigen in vollem Bewusstsein zu beschreiten. Dorothea zitterte beim Rasseln der Ketten, an denen, wie sie wusste, der Käfig mit der Auserwählten von der Decke gesenkt wurde. Wie jeden Sonntag, begann auch das heutige Opfer schrill zu schreien, als es den Gönner erblickte. Zumindest vermuteten Dorothea und Richard das. Die Schale des erlösenden Nektars musste sie ja zuvor schon gesehen haben. Hätte ihr diese Angst eingejagt, wären ihre Schreie doch schon früher zu hören gewesen. Im Gegensatz zu Richard verspürte Dorothea ein Gefühl der Angst und auch so etwas wie Mitgefühl für das Opfer. Natürlich wusste auch sie, dass es keine größere Ehre gab für einen Menschen. Dennoch, es waren fast immer Frauen, die, ohne betäubt zu werden, langsam in der Schale Erlösung fanden. „Es ist eine Schande, dass sie immer so schreien“, flüsterte ihr Mann. Dorothea zitterte. Richards Worte gefielen ihr überhaupt nicht. „Das junge Ding wird gleich quälend langsam in Säure aufgelöst, da würdest du auch schreien“, gab sie ihm verärgert zur Antwort. Plötzlich die Stimme des Gönners in all ihren Köpfen: „Höre ich den Wunsch einer Büßerin, den Platz des Opfers einzunehmen?“ Sofort schwiegen Dorothea und Richard und pressten ihre Gesichter noch fester auf den Stein. Wieder waren nur die spitzen Schreie zu hören. Der Gong ertönte, als Zeichen, die Zeremonie beginnen zu lassen. Für die Büßer war er das Signal, ihre Gebete zu sprechen, immerfort, bis das Opfer dargebracht war. Die Ketten rasselten wieder. Gleich würde es beginnen, dachte Dorothea. Sie biss die Zähne zusammen und rechnete jeden Moment damit, die Angstschreie in einen Ausbruch puren Schmerzes wechseln zu hören. Plötzlich fühlte sie mit Entsetzen, wie zwei kräftige Hände sich mit dünnen Fingern wie Greifzangen um ihre Schultern schlossen…
Gerald G.
–Für einen Moment war die Tür zwischen Berger und dem Toten eine Art Schutz. Er lehnte den Rücken gegen sie und schaute zu Dorothea. Seine Frau hielt das Telefon in der Hand, aus dem eine besorgte Stimme klang: »Frau Berger, sind sie noch dran?«
»Na los, mach schon …« – »Raus mit der Wahrheit!«
Doch Dorothea rührte sich nicht. Ihr Arm hing schlaff neben ihr.
»Sag Ihnen, dass ein Verrückter sich vor unserem Haus erschossen hat; ganz ohne Grund. Er liegt einfach da. Tot. Sein Freund ist schuld, und jetzt ist er weg.«
Berger streckte sich und schaute durch den Spion.
Der Mann, der gefilmt hatte, war fort. Der Tote jedoch lag noch immer in seiner billigen Lederjacke auf dem Plattenweg. Sein Gesicht zum Himmel, die Augen weit und starr. Sein Blut rann in die Rasenkante. Berger hatte sie von der Treppe bis zur Gartentür mühsam an den Steinen entlang gestochen. Er hatte dabei geschwitzt. Seine Frau hatte ihm ein Glas Wasser mit einem Schuss Zitrone gebracht. Sie brachte ihm auch seine Tabletten, legte jede einzeln auf seine Zunge. Was wäre er nur ohne seine Dodo.
»Sie haben richtig vertstanden«, sagte sie, »er hat sein Leben beendet. Er nahm seine Waffe und schoss sich in den Mund. Weil mein Mann …«
»Nicht doch!«, er zog seine Krawatte mit ausgestreckten Arm nach oben und schnürte seinen Hals: »Das reicht«, sagte er.
Er öffnete die Tür einen Spalt. Die Pistole lag neben der Leiche. Der Rückschlag hatte sie fliegen lassen. Berger drehte sich zu Dodo und vergewisserte sich, dass er in diesem Alptraum eine Verbündete hatte. Sie kam auf ihn zu und lockerte den Knoten seiner Krawatte. Die Farbe wich von seiner Stirn, von seinen Wangen und von den Ohren. Er schnaubte.
»Los!«, sagte er, geh und hol die Koffer aus dem Keller. Wir fahren.«
Sirenen drangen von der Jessenin-Straße her. Das Blaulicht leuchtete durch die kahle Hecke seines Nachbarn. Er zählte die Sekunden, bis es um die Ecke bog, wie bei einem Gewitter. Berger strich seine Krawatte glatt. Reifen quietschten. In der Ferne ertönten weitere Sirenen.
Die Polizisten behielten die Hand am Holster. Ein Mann drückte gegen die eiserne Gartentür. Er betrachtete das Messingschild mit der R. Berger Gravur. Sein nächster Blick fiel zwischen die Stiefel. Er stand in einer Pfütze, halb Regen, halb Blut. Sein Blick ruhte niemals nur auf einen Punkt. Er schätzte die Lage ein.
Eine Polizistin kniete neben der Leiche und tastete den Puls. Die Frau schüttelte den Kopf. Sie steckte ihre Pistole zurück, erhob sich und beugte sich über ihr Funkgerät.
Berger riss die Tür auf. Einer der Uniformierten richtete die Waffe auf ihn und brüllte: »Auf den Boden!«
Berger flog vor Schreck die Tür zu.
Seine Frau hielt immer noch den Hörer in der Hand. Berger strangulierte seine Krawatte. »Wie viel Zeit bleibt uns?« Er knautschte und quetschte sie, bis die Euroscheine ganz knitterig waren.
»Warum hast du ihnen nicht das Geld gegeben?«, sagte sie. Sie blickte zur Uhr an der Wand.
»Was!«, sagte er, »warum sollte ich diesen Gaunern einfach so zehntausend Euro geben? Nenn mir nur einen guten Grund, so etwas Törichtes zu tun. Du hältst mich wohl für einen Dummkopf. Sie wollten uns bestehlen. Das kann ich nicht zulassen. Die Bergers bestiehlt man nicht. Hast du nicht gesehen, wie ihnen die Beine schlotterten.«
»Weil er dich drum gebeten hat«, sagte sie, »sein Leben hing davon ab. Hast du ihn denn nicht gehört. Er hat dich angefleht.«
»Ha!«, sagte er, »was er getan hat, ist Gotteslästerung. Muss erst Pfarrer Kussler ein Machtwort sprechen, damit du es glaubst. Mich trifft keine Schuld. Er wird es dir schon sagen.«
»Wie kann dich keine Schuld treffen? Du hast ihn zu jener Tat getrieben. Ich glaube, Pfarrer Kussler wird erbost sein, wie du die Worte Gottes einfach so an der Tür abgelehnt hast.«
Da klopfte es und eine Stimme sagte: »Polizei, öffnen Sie die Tür!«
Berger blieb regungslos.
»Also, wie viel Zeit bleibt uns?«
»Fünfzehn Minuten.«
»Gut, gut, dass soll uns genügen.«
»Was ist mit Matthäus«, sagte Dorothea.
»Was soll schon mit ihm sein?«, antwortete er. »Er kommt mit.«
»Was, wenn er das alles mitbekommt? Er ist noch viel zu jung.«
»Rede nicht so ein Unsinn, Dodo«, sagte er, »er wird schlafen wie der besoffene Gilbert bei der Neujahrsandacht.«
»Du hast einen Menschen das Leben genommen, Richard. Hast du denn gar kein Gewissen? Hoffst du, dass Pfarrer Kussler dir helfen wird?«
»Du hast es doch gehört«, sagte er zu seiner Frau, »dass waren zwei Verrückte. Du hast es gesehen und gehört. Ich hätte nichts tuen können.«
Das Telefon fiel ihr aus der Hand. Die Batterien rollten über den Boden.
»Dodo«, sagte er, »geh und Pack unsere Koffer. Mach sie mit allem voll, was hineinpasst. Dann pack wir sie in unser Auto. Wir fahren.«
»Wohin, Richard?«
»Tu’ einfach, was ich dir sage.«
Dorothea hetzte in den Keller. Dann packte sie so viel ein, wie sie schaffte, und von allem etwas. Schließlich wusste sie nicht, was Richard vorhatte.
»Das reicht«, sagte er. »Jetzt nimm Matthäus.«
Sie gingen durch das Haus in die Garage. Berger öffnete den Kofferraum und verstaute die Koffer.
Pssst! »Setz dich rein, ich muss noch schnell etwas holen.«
Er kam mit einer Tüte zurück, die er unter den Kindersitz quetschte.
»In zehn Minuten beginnt die Predigt, dass sollten wir schaffen«, sagte er, »Pfarrer Kussler mag es nicht, wenn wir zu spät erscheinen, das weißt du doch, Dodo.«
(C) Barneby
Richard Berger saß gedankenversunken auf dem gelben Ledersofa, das mitten in ihrem geräumigen, birkenlaminierten Wohnzimmer stand, schaute hinaus in den Garten und ließ diesen verrückten Tag Revue passieren.
Ein Selbstmord direkt vor ihrer Tür, und dann auch noch per Handy gefilmt! Aber stimmte das überhaupt? War es denn ein Selbstmord? Oder war der Mann, der sich vor seinen Augen die Pistole in den Mund gesteckt und abgedrückt hatte, von seinem Begleiter dazu gezwungen worden? Vielleicht hatten er oder irgendwelche dubiosen Hintermänner die Familie des Selbstmörders in ihrer Gewalt? Oder erpressten ihn, weil sie belastendes Material besaßen? Vielleicht war dieser graubärtige Mensch, der sich das Leben genommen hatte, in Wirklichkeit ein schmieriger Kinderschänder, und jemand hatte sich einen grausigen Witz ausgedacht, um ihn auf brutale Weise zu bestrafen?
Aber warum dann vor seiner Haustür? Darauf konnte Berger sich keinen Reim machen. Er hatte diese Typen noch nie gesehen. Was wollten sie von ihm? Warum gerade er? Und warum hatte der zweite Typ das Ganze gefilmt?
Es war Herbst, und draußen wurde es langsam dunkel. Vor einer guten Stunde hatte er sich einen kräftigen italienischen Rotwein eingegossen, einen Montepulciano, den sie im Sommerurlaub in der Toskana in den Kofferraum ihres Modells 3 geladen hatten. An Tagen, an denen sich vor der eigenen Haustür jemand umbringt, hat man sich einen kräftigen Schluck verdient, dachte er.
Berger schaute auf die Uhr. Es war fast halb acht.
„Dorothea“, rief er laut. Er hatte gerade nicht auf dem Schirm, wo genau sich seine Frau im Haus befand. War sie in der Küche? Oder oben in ihrem gemeinsamen Heimbüro? „Gleich fängt die hessenschau an. Kommst du?“
Er schnappte sich die Fernbedienung, und gerade als sich Bild und Ton aufgebaut hatten, hörte er, wie Dorothea die hölzerne Wendeltreppe aus dem ersten Stock hinunterkam.
„Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, herzlich willkommen zur hessenschau. Unser Top-Thema heute …“
Dorothea ließ sich links neben ihm auf das Sofa fallen. Sie war immer noch blass und sah angestrengt aus. Der Schuss heute Morgen hatte sie dermaßen geschockt und in Panik versetzt, dass sie nicht einmal in der Lage gewesen war, die Polizei zu rufen. Das hatte er übernehmen müssen. Einer der Rettungssanitäter, die zeitgleich mit der Polizei eingetroffen waren, hatte sich dann um sie gekümmert.
„… ist eine seltsame Gewalttat, die heute Vormittag im Frankfurter Nordend stattgefunden hat. Gegen 9.30 Uhr klingelten bei Familie B. zwei Männer an der Tür und verlangten von Herrn B. ohne Angabe von Gründen die Zahlung von 10.000 Euro. Wenige Momente später war einer der beiden Männer tot. Ein Video der Tat wurde heute auf X gespostet, vermutlich von dem überlebenden Erpresser, und bisher noch nicht entfernt. Aber sehen Sie selbst.“
Er spürte, wie seine Frau neben ihm erstarrte und den Atem anhielt, als das Bild der Moderatorin verblasste und das Video begann. Darin war nur er selbst zu sehen, mit verpixeltem Gesicht, wie er die Tür öffnete. Es war eigenartig, das, was er heute Morgen erlebt hatte, jetzt im Fernsehen aus der Perspektive der Erpresser zu sehen.
„Sie wünschen?“, hörte er sich sagen. Wieso hatten sie sein Gesicht unkenntlich gemacht, aber die Stimme nicht verfremdet? Von der hessenschau hätte er etwas mehr journalistische Sorgfalt erwartet.
„Guten Tag. Bitte geben Sie mir …“
Neben ihm stieß seine Frau einen schrillen Schrei aus. „Anton? Anton! Das ist doch die Stimme von Anton!“
Berger sprang vor Schreck vom Sofa hoch und starrte seine Frau mit halbgeöffnetem Mund einige Augenblicke an, bevor er seine Sprache wiederfand.
„Wie bitte, du kennst diesen Mann?“
Polizeikommissar Alfred Spohn fuhr sich seit seiner Ankunft am Tatort, ständig durch sein schon spärliches Haar. Der Tote ist bereits eingepackt worden und zurück blieb nur ein großer Blutfleck und die mit Kreide gemalten Umrisse seines Körpers. Vom zweiten Mann keine Spur.
»Kennen Sie die Männer?« Fragte er. Dabei lag sein Blick auf dem ungleichen Paar auf dem Sofa.
»Nein Herr Kommissar. Sie standen einfach nur da und drohten mir, ich meine…«
»Dann wissen Sie auch nicht, wie die Männer hießen, nehme ich an?«
»Nein, ich…«
»Und Sie, Frau Berger?« Unterbrach er Richard Bergers Gestammel, dass seit Eintreffen seiner Einheit nicht abgeklungen war. »Waren Ihnen diese Männer bekannt, oder sind Sie ihnen schon einmal begegnet?«
»Nein! Natürlich nicht. Mit solchen Menschen pflegen wir keinen Umgang, Herr Kommissar. Wir sind anständige Leute, genau wie unsere Freunde.« Empört stieg seine Stimme eine Oktave höher.
»Herr Berger, bitte. Ich habe ihre Frau gefragt. Frau Berger, wissen sie irgendetwas?«
Doch diese saß einfach nur da und starrte zu Boden. Ihr eleganter Zopf, den sie sich extra für die Kirche gesteckt hatte, saß noch genauso gut wie vor zwei Stunden. Als würde sie gleich aufstehen und einfach das Zimmer verlassen.
Es musste der Schock sein, dachte sich der Kommissar, als er sich im Wohnzimmer umsah. So ein sauberes und strukturiertes Haus hatte er selten in seiner 30-jährigen Karriere gesehen. Das war ihm gleich aufgefallen.
Um etwas klarzustellen, Dorothea war eine Hausfrau. Das Haus war ihr Lebenssinn. Was wäre sie für eine schlechte Ehefrau, würde sie sich dieser Aufgabe nicht voll und ganz hingeben.
»Herr Kommissar, Bitte. Meine Frau ist verstört, lassen Sie sie in Frieden.« Dabei legte er die Arme um ihren gekrümmten Körper und zieht sie an sich.
Spohn bemerkte, wie seine Geduld sich dem Ende neigte und wollte, laut schnauben. Doch er hielt inne, als er sah, wie sich Frau Berger bei der Berührung versteifte. Ihr Mann schien das zu bemerken und flüsterte etwas in ihr Ohr.
Daraufhin sah Dorothea auf. »Mein Mann hat recht.« Sie sieht dem Kommissar direkt in die Augen. »Ich kenne diese Männer nicht.«
Wäre Alfred Spohn nicht schon so lange Polizist, hätte er ihr wahrscheinlich geglaubt. Doch etwas an ihrer Haltung widersprach ihren Worten. Dorothea Berger hatte etwas zu verbergen. Doch was war das?
Ein Ruf unterbrach seine Gedanken. »Wir müssen weg, Ein weiterer Vorfall.«
Alfred Spohn betrachtete immer noch die Frau, die wieder zu Boden sah.
Der Polizist kam näher und flüsterte ihm halblaut ins Ohr. »Noch ein Selbstmord, Herr Kommissar.«
»Ihnen ist schon klar, dass wir das gar nicht gerne sehen.« Polizeihauptkommissar Maierling schüttelte den Kopf.
Berger hob die Hände in einer hilflosen Geste. »Aber ich sage Ihnen, ich kann wirklich nichts dafür.«
Maierling nahm seine Brille ab, zog aus der Innentasche seines Jacketts eine Etui, öffnete dieses und zog ein Brillenputztuch heraus. Anschließend verstaute er das Etui wieder in der Innentasche und begann, die Brille sorgfältig zu polieren, während er weiter sprach. »Sie haben keinerlei Zeugen.«
»Aber meine Frau…«
»Hat nichts gesehen. Sie bezeugt lediglich einen lauten Knall, Ihre dramatische Anweisung, den Notruf abzusetzen und Ihre anschließende Ohnmacht.«
»So glauben Sie mir doch! Der Mann hat sich vor meinen Augen erschossen, der andere Mann, der jüngere hat alles gefilmt. Ich bilde mir das nicht ein. Ihre Techniker müssten doch in der Lage sein …«
Maierling hob die rechte Hand in die Höhe, in der seine Brille glänzte. »Geschenkt. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich ein Team Kriminaltechniker an einem Sonntagvormittag Überstunden schieben lasse, nur weil ein Sie mir eine Räuberpistole erzählen.« Der Kriminalhauptkommissar setzte seine Brille umständlich auf, holte sein Etui aus der Innentasche, legte sein Brillenputztuch sorgfältig zusammen, packte es in das Etui und verstaute es wieder. Er hatte fast Mitleid mit Richard Berger, der wie ein Häufchen Elend vor ihm saß. Aber nur fast. Schließlich war dem Mann schuld daran, dass Maierling seinen Sonntagsbrunch mit hatte verlassen müssen. Er hatte sich so darauf gefreut, mit Christine in dem schnieken Hotel zu brunchen. Für € 12,50 pro Nase, All-you-can-eat, und das im besten Haus am Platz. Maierlings Magen knurrte und eventuell aufkeimende Sympathien mit dem Frankfurter Geschäftsmann verdorrten sofort. Maierling wettete mit sich selbst, dass dieser Kerl es sich leisten konnte, seine Frau auch zu normalen Preisen ins beste Haus am Platz auszuführen. Allein schon diese Krawatte … »Fakt ist: Sie erzählen diese Räuberpistole. Mal ehrlich, wer hat schon zehntausend Euro im Haus? In bar? Und warum sollte ein wildfremder Mensch damit drohen, sich zu ermorden, wenn er das Geld nicht bekommt? Und wenn es jemand gefilmt hätte, wäre das Ganze doch schon längt in den sozialen Medien aufgetaucht. Und das Allerwichtigste: Wo genau ist die Leiche, oder wenigstens etwas Blut und Hirnmasse?« Maierling schüttelte den Kopf.
Berger war mehr und mehr in sich zusammengesunken und schüttelte in einer müden Imitation des Polizeibeamten ebenfalls den Kopf und flüsterte leise: »Ich weiß doch auch nicht.«
Maierling nickte zufrieden, wenn er sich beeilte, könnte er noch für eine halbe Stunde … Sein Smartphone machte sich bemerkbar.
Die gut zwanzig Minuten bis zum Eintreffen der Ordnungshüter dehnten sich für Richard Berger und seiner Frau zu einer gefühlten Ewigkeit.
Dorothea saß weinend in einem Sessel im Wohnzimmer und schluchzte immer wieder: »So können wir nicht zur Kirche gehen, dabei wäre mir der Beistand des Pfarrers gerade jetzt so wichtig!« Dann war sie wieder still, während die Tränen unaufhaltsam über ihre Wangen strömten.
Die Gedanken von Richard gingen in eine andere Richtung, nun nicht völlig anders. Immer und immer wieder fragte er sich, ob er als guter Christenmensch diesen Selbstmord hätte verhindern müssen. Auch wenn das bedeutet hätte, der Erpressung nachzugeben. Aber wer hatte schon ahnen können, dass dieser Kerl seine Drohung so schnell wahrmachen würde. Eine andere Stimme in seinem Inneren beharrte darauf, dass er richtig gehandelt hatte. Wo sollte das hinführen, wenn er jeder derartigen Drohung nachgeben würde. Es war die Handlung des Selbstmörders gewesen, nicht seine, die zu diesem Suizid geführt hatte. Damit war es auch die Verantwortung dieses Kerls. Auf der anderen Seite, hätte er …
Schluss mit dem Gedanken-Karussell!, herrschte er sich selbst an. Entschlossen schritt er zum Fenster, um nach der Polizei Ausschau zu halten. Dort angekommen erstarrte er.
Die gesamte Nachbarschaft, die eigentlich ebenfalls in die Kirche hatte gehen wollen, stand am Gartenzaun und gaffte zur Haustür herüber, wo noch immer der jüngere Kerl mit dem Smartphone stand und schrie: »Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!«
Beständig kamen weitere Neugierige dazu. Richard wurden die Knie weich.
Als die Polizei endlich vorfuhr, schafften es die Beamten kaum, durch den dichten Pulk Schaulustiger bis zur Haustür durchzudringen. Zwischenzeitlich standen die ersten Gaffer sogar im Vorgarten.
Dorothea sah ihn mit fassungslosen Augen an. Ihre Hände zitterten, als sie einen Blick nach draußen wagte. Auf dem Weg zur Haustür lag ein blutüberströmter Mann mit halbem Kopf auf dem Boden; eine grau-weiße Substanz bedeckte die gelben Rosen, die sie letztes Jahr auf dem Beet vor dem Haus eingepflanzt hatte. Ein Mann mit einem Handy in der Hand schrie immer wieder: „Du Mörder, du Mörder!“
Als er sie an der Tür erblickte, sprang er plötzlich auf und stemmte sich gegen die Tür. „Dafür werdet ihr beide büßen, ihr Schweine!“ Richard Berger eilte heran und verhinderte im letzten Moment, dass der Mann sich Zutritt ins Haus verschaffen konnte.
„Richard, die Polizei… was sollen wir den Polizisten sagen?“, fragte sie.
„Ich weiß es nicht!“, keuchte er, noch immer aufgeregt und völlig desorientiert. „Wir rufen einfach die Polizei an und erklären, was geschehen ist!“
Er nahm sein Smartphone, das auf dem Sideboard des Flurs lag, und wählte den Notruf. Nach einer gequälten Minute meldete sich eine männliche Stimme mit hessischen Akzent: „Polizeinotruf, was ist Ihr Anliegen?“
„Hier ist Richard Berger! Ein Mann wurde erschossen, gerade vor meiner Haustür!“
„Bleiben Sie ruhig, ich schicke sofort ein Team. Wo sind Sie genau?“, antwortete die Stimme.
Er nannte seine Adresse und legte auf.
„Die Polizei kommt gleich“, sagte er an Dorothea gewandt, die noch immer wie erstarrt vor der Haustür stand. „Wir müssen hier weg. Was, wenn der andere Mann noch da draußen ist? Wenn er in unser Haus eindringt?“
„Aber wo sollen wir denn hin? Die Polizei wird bestimmt gleich da sein.“
Plötzlich riss ein Hämmern und Schlagen beide aus ihren Gedanken. Berger und Dorothea blickten sich an und rannten gleichzeitig zum Küchenfenster, das einen Blick auf die Haustür bot. Sie sahen, wie sich zwei Männer mit einer Brechstange an der Haustür zu schaffen machten. Der Mann mit dem Smartphone war nun nicht mehr allein.
„Wir müssen sofort hier raus“, sagte Berger. Er nahm die Hand seiner Frau und rannte mit ihr zum Wohnzimmer, das sich im hinteren Teil des Hauses befand. Er öffnete die Terrassentür zu dem etwa zweihundert Quadratmeter großen Grundstück, und sie schlüpften beide durch die Gartentür, die einen schmalen Zugang zu einem schattigen Weg hinter dem Grundstück bot. Dort parkte ihr Wagen, ein alter Opel Corsa mit verwittertem, blauem Lack.
„Wo fahren wir hin?“, fragte Dorothea.
„Zu meiner Schwester, in die Altstadt. Wir brauchen einen sicheren Ort. Von dort rufen wir dann nochmal die Polizei an und erklären alles“
Im Wagen war die Stimmung angespannt. Richard umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad und fuhr über die Brücke Richtung Altstadt. Die Gedanken an den graubärtigen Mann, der sich den Lauf der Pistole in den Mund steckte und abdrückte, hämmerten durch seinen Kopf.
Der Verkehr stockte plötzlich. Berger sah von Weitem eine Straßensperre. Dahinter und an der Straßenseite standen Streifenwagen und Polizisten. Die Wagenkolonne schob sich langsam an den Polizisten vorbei, die in jeden Wagen schauten. Dorothea blickte erleichtert zu Berger, der immer noch angespannt nach vorne blickte.
Als er mit Schrittgeschwindigkeit an dem Polizisten vorbeifuhr, anhielt und die Scheibe herunterließ, zog der Polizist unvermittelt seine Pistole aus dem Halfter und zielte auf Berger. Andere Polizisten mit gezückten Waffen postierten sich auf der Seite von Dorothea, während sich zeitgleich ein Streifenwagen sich vor seinem Wagen stellte.
„Herr Berger, Sie sind wegen Mordes vorläufig festgenommen. Bitte steigen Sie beide langsam aus Ihrem Wagen!“, schrie der Polizist.
Seitenwind 2024 Offene Enden Teil 1
Berger drehte sich um und ließ sich mit dem Rücken gegen die Haustür fallen, denn seine Beine trugen ihn nicht mehr. An das Türblatt gelehnt rutschte er nach unten in den Sitz und umarmte seine zitternden Knie. Ein schier unmögliches Gefühlschaos beschwerte seine Brust und tausende unreflektierte Gedanken flirrten in seinem Hirn. Hilfesuchend blickte er zu Dorothea.
Seine Frau hielt ihr Handy in der Hand und wirkte gefasst. Nun, sie hatte ja nicht gesehen, wie der Kerl sich den Kopf wegschoss. Richard schon – wie grässlich! Hätte er es verhindern können?
»Was ist eigentlich passiert?«, fragte Dorothea und lenkte Berger vom Grübeln ab. Wie schaffte sie es nur, so ruhig zu bleiben? Doch völlig gleichmütig war sie offenbar nicht. Als sie fortfuhr, kletterte ihre Stimme eine Terz höher: »Der Schuss? Was hat er zu bedeuten? Du hast nicht geschossen, womit auch? Braucht jemand Hilfe? Soll ich nicht lieber einen Rettungswagen rufen?«
Berger schüttelte den Kopf. »Der Alte hat sich das Gehirn zerschossen, er hat sich wirklich umgebracht.«
»Weil du ihm kein Geld gegeben hast? War der irre? Niemand hat einfach so zehntausend Euro zu Hause – auch hier nicht in unserem Viertel. Und deshalb nennt dich der junge Mann … es war doch ein junger? Seine Stimme klang so jugendlich. … deshalb behauptet er, dass du den anderen …« Sie schluckte trocken und beendete den fürchterlichen Satz nicht. »Dann ruf ich jetzt die Polizei an.« Wie immer, wenn sie telefonierte, wandte sie sich von Richard ab. Sachlich erklärte sie, was geschehen war.
Dass sie das schaffte – unglaublich. Er selber war den Tränen näher als jemals zuvor. Gute Doro … Sie wollte nicht Doro genannt werden. Doch in Gedanken liebte er diese Namensverkürzung.
Ein Gedankenkarussell drehte sich in ihm und produzierte Fragen. War dieser Selbstmord nicht völlig unsinnig? Er hätte dem Mann das Geld nicht geben können, selbst wenn er gewillt gewesen wäre. Wie war der Kerl nur auf diese hirnrissige Idee verfallen? – Ein unguter Gedanke manifestierte sich mehr und mehr, obwohl Richard versuchte, ihn zu unterdrücken.
Konnten die beiden wissen …
Unmöglich. Nicht einmal Dorothea kannte seine Geschäfte am Rande der Legalität. Niemand ahnte, wie viel Geld er in dem geheimen Tresor im Keller bunkerte. Oder doch? Diese beiden dubiosen Typen? Woher hätten sie diese Information bekommen sollen? Und warum bringt man sich wegen so was um? Weshalb haben sie nicht einfach eingebrochen und noch viel mehr erbeutet? Er hätte deswegen nicht mal Anzeige erstattet.
Doro riss ihn aus seinen sorgenvollen Gedanken. »Richard, gehts dir gut? Ich glaube, du hast einen Schock. Soll ich Dr. Rühmann anrufen? Dein Gesicht ist blass wie eine gekalkte Wand.« Bei ihr zeigten sich rote Flecken am Hals – wie immer, wenn sie aufgeregt war.
»Nein, lass mal Thea. Es geht schon wieder.« Um seine Behauptung zu beweisen, rappelte er sich auf, langsam zwar, aber bald stand er frei und schwankte nicht. Er war eben eine standhafte Eiche.
Seine Frau rannte in die Küche. Ein paar Augenblicke lang rauschte Wasser. Dann eilte sie zu ihm zurück und reichte ihm das gefüllte Glas. »Trink, das brauchst du bestimmt.«
Kaum hatte er das Glas geleert, flackerte blaues Licht durch die Fenster des Wohnzimmers, dessen Tür offenstand. »Sie kommen«, krächzte er.
Doch Dorothea war längst an der Tür und sah durch den Spion. Noch bevor es klingelte, öffnete sie die Tür, vor der zwei uniformierte Polizisten Doro und Berger anschauten. Sie begleiteten eine rothaarige Frau in schickem Trenchcoat und Jeans. Diese hatte ihren Blick auf den Toten gerichtet. Die Beamten grüßten und baten darum, eingelassen zu werden.
Etwas später trat die Frau ebenfalls ein. »Guten Tag! Obwohl – für Sie ist er bestimmt alles andere als gut. Mein Name ist Regina Mittler, Kriminaldauerdienst. Ich muss Sie befragen, Herr und Frau Berger. Wo können wir das tun?«
Ganz schön forsch, das Mädel, fand Richard. Die war doch sicher erst Mitte dreißig. Aber er straffte sich und antwortete souverän: »Gehen wir ins Wohnzimmer.«
»Frau Berger, Sie haben ja schon am Telefon kurz zusammengefasst, was passiert ist. Ich brauche die ganze Geschichte von Anfang an. Herr Berger? Sie haben die Tür geöffnet?«
Alle blieben stehen. Die Kriminalpolizistin fragte sich durch das gesamte Geschehen. Es fiel Richard schwer, von der schrecklichen Begebenheit im Zusammenhang zu berichten. Am Ende sagte die Polizistin etwas, das er nicht begriff: »Ich muss Sie bitten mitzukommen, um Spuren an Ihnen zu sichern und die Fingerabdrücke zu nehmen. Wir haben die Tatwaffe in Ihrem Müll gefunden. Damit sind Sie tatverdächtig.« Sie wies zur Tür.
Zum ersten Mal sprachlos schlug Doro die Hand vor den Mund und plumpste in den Sessel.
Richard stotterte: »Aber wie kommt die Pistole denn dahin?« Dann zog er resigniert den Kopf zwischen die Schultern, trat auf den Flur und setzte seinen Hut auf. Den Mantel hatte er ja an. Er war tatverdächtig. Konnte es noch schlimmer kommen?
©MoScho/Monika Schoppenhorst (Pseudonym: Renée Wagner)
Kaum hatte seine Frau das Telefon wieder aufgelegt, rollten Tränen über Richard Bergers Wangen. Seine Frau betrachtete ihn mit geweiteten Augen. Erst blieb sie einige Sekunden starr stehen, wusste nicht, was zu tun war, ehe sie schnell zu ihrem Mann lief, ihn in ihre Arme schloss. Während Herr Berger in den Armen seiner Frau weinte, glitten ihre Gedanken zurück zum letzten Mal, als sie ihn hatte weinen sehen. Jahre war es her gewesen, vielleicht sogar mehr als ein Jahrzehnt. Auch damals hatte er jemanden sterben sehen, seinen engsten Freund, einen Mann, der immer für ihn da gewesen war. Dieser Tod war schleichend gekommen, langsam, auf leisen Sohlen, aber er war vorhersehbar gewesen. Wie ein Sturm, den man kommen spürt, in jeder Faser des Körpers. Dennoch war der Schmerz zu groß gewesen, um ihm keinen Raum zu geben. Frau Berger war überzeugt, dass dieser Suizid ihren Mann an das langsame Dahinsiechen seines Freundes erinnert hatte. Einen Schmerz, den er in den letzten Jahren hatte verbergen können. Es klingelte. Herr Berger atmete einmal tief durch, löste sich von seiner Frau, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Nach einem weiteren Atemzug trat er zur Tür, sicher war es die Polizei. Die Tür schwang auf, doch davor stand kein Streifenpolizist oder Kommissar, wie Herr Berger es erwartet hatte, nein, neben der Leiche auf den Stufen stand die Nachbarin, die viel zu neugierige Frau Schmidt, sicher hatte sie den ganzen Tathergang von ihrem Fenster aus beobachten und sobald alles ruhig gewesen war, war sie zum Haus der Bergers hinüber geschlichen um wie sie behauptete „nach dem Rechten zu sehen.“
„Was ist denn bei Ihnen los Herr Berger? Ich hoffe Sie haben bereits die Polizei verständigt. Diese Sache hier vor ihrem Haus“, sie machte eine runde Geste über der Leiche, „die ist ja ganz schrecklich. Ich habe alles beobachtet, wie geht es Ihnen beiden denn jetzt. Oh das muss doch ein furchtbarer Schreck für Sie gewesen sein. Darf ich vielleicht hereinkommen? Ich kann bei der Polizei eine Aussage machen, dass sie nichts mit dieser schrecklichen…ähm… Sache hier,“ ,erneut deutete sie auf die Leiche, „zu schaffen haben, nicht wahr?“
„Nun gut Frau Schmidt, kommen Sie doch herrein, meine Frau setzt uns sicher einen leckeren Tee auf. Machen wir es uns doch gemütlich und warten auf die Polizei.“ Herr Berger trat zur Seite, um die Nachbarin herein zulassen.
Gerade war das Wasser für den Tee heiß, da klingelte es erneut an der Tür. Dieses Mal stand tatsächlich die Polizei davor.
„Guten Tag, Sie müssen Herr Berger sein. Ich bin Kommissar Winter, mein Kollege Müller.“ Der Kommissar zeigte Herr Berger seine Marke und deute anschließend auf den Mann, der zu seiner Rechten stand. „Ihre Frau hat uns bereits den groben Tathergang geschildert, ersteinmal sollten Sie einen Bestatter kommen lassen, schließlich ist eine Leiche vor der Tür sicher nicht angenehm oder?“ Ein lautes Lachen erschallte aus der Kehle des Kommissars, selbst wenn er der einzige war der über seinen schlechten Witz zu lachen vermochte, lachte er doch sehr herzlich. Beide Männer waren in Hemd und Anzughose gekleidet, auch waren sie beide eher korpulent. Doch Herr Müller hatte im Vergleich zu seinem Kollegen Winter noch volles Haar, während Winter eine Glatze trug. Allgemein schien Herr Müller deutlich jünger zu sein als der Kommissar, der Herr Berger angesprochen hatte, vielleicht gerade 30 Jahre alt. Herr Winter sah dagegen eher aus, als stünde er nur wenige Jahre vom Ruhestand entfernt. Wieder trat Herr Berger zur Seite, dieses Mal um die Polizei herein zulassen. Die Anwesenden schwiegen eine Weile, nachdem sich alle vorgestellt hatten. Bis Kommissar Winter das Wort ergriff:
„Nun sagen Sie mir doch mal Herr Winter, aus welchem Grund sollte sich ein Fremder vor Ihrem Haus erschießen? Schließlich kommt das nicht alle Tage vor.“
„Das ist in der Tat richtig Herr Kommissar, doch wie bereits gesagt kannte ich den Mann nicht. Ich habe Ihn noch nie zuvor gesehen. Vielleicht war der Mann schlicht unzufrieden mit seinem eigenen Leben. Ich weiß es ehrlich nicht. Er forderte immer wieder Geld von mir, zehntausend Euro, ich kann nicht sagen wie er darauf kam. Wir sind zwar nicht arm, aber auch nicht wohlhabend genug, um einfach so einige tausend Euro herumliegen zu haben.“ Bevor der Kommissar eine weitere Frage stellen konnte, klingelte es Sturm.
Seine Frau reagierte nicht.
»Dorothea?!«, brüllte er in das Treppenhaus. Keine Antwort. Richard Berger spürte, wie ihn das Nichtreagieren seiner Ehefrau reizte. Dann rief er eben selbst die Polizei.
Sein Blick wanderte zu dem Festnetztelefon, in dessen Richtung er am Laufen war. Doch die Station war leer. Hektisch blinkte ihm die rote LED entgegen. »Verdammtes Telefon, dass ich es jedes Mal suchen muss«, murmelte er. Vermutlich lag es wieder einmal auf dem kleinen Esstisch in der Küche. An diesem konnte seine Frau stundenlang sitzen und mit ihrer Freundin Lisa über belangloses Zeug quatschen. Er ballte die Faust. Erneut bemerkte er einen aufkeimenden Ärger gegenüber Dorothea. Sie saß vermutlich oben und schminkte sich mit einem selbstverliebten Blick in den Spiegel, während er hier unten alleine mit letzter Kraft gegen das aufkommende Gefühl der Panik in seiner Brust kämpfen musste und zu allem Überdruss die hindernden Nachlässigkeiten seiner Frau zu umschiffen hatte.
Doch der Esstisch in der Küche war leer. Enttäuscht wanderte Richards Blick beim Hinausgehen zu dem Küchenfenster. Ihm war klar, dass der Plattenweg von der Spüle aus einsehbar war. Eine Stimme im Kopf riet ihm, nicht nach draußen zu schauen. Er konnte dem Drang nicht widerstehen.
Eine Welle der Erleichterung durchströmte ihn, als er aus dem Fenster spähte. Der junge Kerl mit dem Smartphone war nirgends zu sehen, die Leiche seltsamerweise verschwunden. War alles nur ein übler Tagtraum gewesen? Eine perverse Ausuferung seiner in letzter Zeit gereizten Nerven?
Doch schon im nächsten Moment war ihm, als hätte jemand mit voller Wucht in seine Magengrube geboxt. Ein kalter Stich durchfuhr seinen Bauch. Er hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und schließlich doch die Blutlache erkennen können, die sich zwischenzeitlich deutlich ausgebreitet hatte.
Das kalte Stechen vermischte sich mit dem panischen Gefühl in der Brust.
»Die Polizei! Mein Handy!«, war das Einzige, was die Watte in seinem Kopf durchdringen konnte. Richard fiel ein, dass sein Smartphone im Schlafzimmer liegen musste, auf dem Nachttisch.
»Dorothea?!«, er stürmte die Treppe nach oben und bemerkte nur beiläufig das Zittern in seiner Stimme. Er fand seine Frau auf dem Stuhl vor dem Schminktisch sitzend. In leicht gebeugter Haltung starrte sie auf etwas in ihrer Hand. Berger war im Begriff, sie anzuherrschen, warum sie nicht auf seine Rufe reagierte, als sie sich zu ihm umdrehte. Ihr Blick ließ ihn verstummen. Eine Mischung aus Abscheu und Ekel strahlte ihm aus ihren blauen Augen entgegen. Den Mund fest zusammengepresst, sodass die Falten um ihre blutleeren Lippen deutlich hervortraten.
»Warum hast du das getan?«, fragte Dorothea mit kraftloser Stimme in den Raum.
»Was? Wieso ich?«, stotterte Richard. »Die sind doch die Verrückten!« Er rang um Fassung.
Seine Ehefrau starrte ihn stumm an. Erst jetzt bemerkte er, dass sie sein Smartphone in den Händen hielt. Ihr Blick wanderte zu dem Telefon. Als ob sie vorher nicht realisiert hätte, wie angewidert sie von diesem »Ding« in ihren Händen war, schob sie es ihm hin.
Berger blickte auf das Gerät. Er spürte erneut dieses ungute Gefühl, wie vorhin vor der Haustür. Er hatte eine Videonachricht von einem unbekannten Absender bekommen. Er drückte auf sein Handy, um die Nachricht abzuspielen. Seine feuchten Finger hinterließen einen schmierigen Abdruck auf dem Display.
Das Video startete. Er sah sich selbst und jemand schrie: »Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein!« Dann der blutüberströmte Mann im Vorgarten der Familie Berger.
Die Szene wechselte abrupt. Zu sehen waren zwei junge Frauen, Anfang zwanzig. Die Mädchen saßen auf billigen Plastikstühlen in einem bis zur Decke gefliesten Raum, der von grellem Neonröhrenlicht beleuchtet war. Richard störte sich an dem Abfluss, der in der Mitte des Bodens zu erkennen war. Beide Frauen schluchzten und blickten mit aufgerissenen und geröteten Augen in die Kamera. Feuchte Strähnen hingen in ihren Gesichtern und vermischten sich mit verlaufener Schminke. Plötzlich sprach eine dunkle Stimme:
»Reich wird man nicht durch das, was man verdient, sondern durch das, was man nicht ausgibt.« Der Sprechende beendete den Satz mit einem Kichern und hielt kurz inne.
»Entweder du legst innerhalb der nächsten 2 Stunden 250.000 € in Goldbarren an dein hübsches Gartentürchen oder die beiden Mädchen hier werden sterben.«
Wieder ließ die dunkle Stimme das Gesagte sacken und fuhr dann fort:
»Alternativ tötest du innerhalb der nächsten 2 Stunden deine Ehefrau. Dafür verdienst du 250.000 € in Scheinen, hübsch verpackt in einer Reisetasche an deiner Gartentür.«
Das Video endete abrupt.
Richard fing an zu stammeln: »Das ist doch Irrsinn, kranker Wahnsinn!«
Er sah hilfesuchend zu Dorothea und schaute geradewegs in den Lauf einer Pistole, die seine Frau auf ihn richtete.