Offene Enden Teil 4: Schreib Teil 5 – Finale

Abgrundtiefe Abgründe
»Ihr seid ja alle völlig wahnsinnig«, rief Doro. Sie springteufelte hinter einer abgestellten Palette mitten hinein in die Szene. »C’mon gimme a break! Marlene ist die Schwester von Dir, Richard? Und die Freundin von Maria, die wiederum das verschiedene Liebchen von Mr. Kaffeemaschine hier ist?« Sie überlegte kurz, ob sie sich aus symbolischen Gründen ein Büschel Haare ausreißen sollte. »Und der Kerl, der sich für läppische zehn Mille von seiner Medulla oblongata verabschiedet hat ist Klaus Töpfer, so wie: Klaus Töpfer, ehemaliges Bundestagsmitglied, ehemaliger Umweltminister? Jungs, die CDU wird Euch die Scheiße aus dem Leib verklagen! Und woher weiß ich überhaupt, was eine Medulla oblongata ist?«

»Doro«, rief der Unbekannte. »Reißen Sie sich zusammen! Was machen Sie überhaupt hier. Sie sollten zu Hause bei den Kindern sein.«
»Ooooooh! Wir haben doch gar keine Kinder, Du Depp!« Sie schüttelte die lange lockige Löwenmähne, die zuvor noch nie jemand bemerkt oder gar beschrieben hatte. »Du hast in Deiner eigenen verf***** (@michel So geht das nicht. Wir streichen das. Dein Papy-Team), gr*******, dra****** Geschichte grottig recherchiert.«

Richard Bergers Hand zitterte, als er die Pistole in seiner Hand betrachtete. Ein schlechtes Klischee, dachte er. Außerdem das Wort Hand zweimal in einem Satz.
»Dorothea, Schatz, was ist hier los?«
Doro rümpfte die Nase und ihr Glitzerpiercing glänzte im Kunstlicht, wie Edward bei Sonnenlicht. »Deine ‘Schwester’ Richard, was macht sie doch gleich beruflich?«
»Sie, sie ist Pastorin.« Richard Bergers Stimme zitterte. Wieder ein Klischee. Diesmal aber ohne Wortdopplung.
»Whhhhoo-AAAA!« Doro riss die Hände zum Himmel. »PASTORIN! Warum nicht Bürokauffrau? Warum nicht Verwaltungsfachangestellte? Arzthelferin? Noch mehr Theatralik ging wohl nicht? Jungs, Ihr steckt mächtig im Anus des Bären, der Euch hier aufgebunden wird.« Sie deutete mit einer Drehung aus dem Handgelenk auf die Webcam. »Und macht das da aus. Ich nehme normaler Weise Geld dafür vor so einem Ding zu sitzen. Minutenpreis. Da kommt ihr nicht mit zehn Riesen aus, Mädels.«

Der Unbekannte trat aus den Schatten, die sein Gesicht bislang verbargen. Es war jemand, den man kennen konnte, aber nicht musste. Er hielt in jeder Hand plötzlich eine Kettensäge, nein, eine Axt, denn das ist spannender im Nahkampf, der noch folgt. »Richard Berger! Sie wissen, was Sie zu tun haben«, sagte er.
Stille durchbrach die Spannung, wie ein Toastbrot, das einfach nicht aus dem Toaster springen will. Irgendwo im Hintergrund zischte eine Reichsflugscheibe über den nächtlichen Horizont.

Berger öffnete weit den Mund, hob die Pistole und setzte sie an seine Schläfe.

»Mooooo-ment.« Christian Pfeiffer hatte in der Zwischenzeit Kaugummiblasen gemacht, konnte aber die Situation nicht länger ertragen. »Bevor ich online Redakteur bei ‘Mein schöner Gemüsegarten’ und ‘Strickmuster für lespische Yogalehrerinnen’ wurde habe ich etwas völlig überraschendes, unerwartetes, ungeheuerliches in meiner Vorgeschichte erlebt, das niemand von Euch kennen kann.«
»Christian, WAS?« Doro nahm die Hände wieder runter. »Und lesbisch schreibt man mit ‘b’.«
»Es war 1955. In Hamburg oder Köln. Ich jobbte als Kneipenwrestler, als… «
»Christian, 1955 warst du noch haploid.« Doro runzelte kurz die Stirn, sodass selbst die Falten faltig wurden. »Wir haben zwar nie über Dein Alter gesprochen, aber das kommt echt nicht hin.«

Pochpoch-POCH! Pochpoch-POCH! Pochpoch-POCH!
Es klopfte, nein pochte, an die Wände des Waggons. Ein wenig war es ein ‘Another one bites the dust’ Poching (es ist ein englischer Song), aber das mag täuschen.

Ein Mann steckte den Kopf durch die geöffnete Schiebetür und kletterte so mühelos wie ein Siebenschläfer hinein. Der Fremde trug einen dunkelblauen Anzug, der ohnehin bei den Lichtverhältnissen schwarz aussah. Der Anzug, nicht der Mann.
»Matthäus 7,7. ‘Klopfet an, dann wird Euch aufgetan’, Herr Berger.« Der Mann lächelte ein bartloses kaltes Lächeln, denn er hatte keinen Bart und es war, nun ja, kalt. »Darf ich Sie alle nun zur Laterne begleiten, wo Marlene auf uns wartet? Es wird sonst zu spät.«

»Es REICHT! Am Ende sollt Ihr erfahren, wer das wahre Mastermind hnter diesem teuflischen Plan ist!« Der unbekannte Mann ™ trat vor und mit einer schwungvollen Geste riss er sich die Maske vom Gesicht.
»Oh, nein«, keuchte Pfeiffer. »Es ist…«

+++++SCHALTEN SIE AUCH BEI STAFFEL 2 WIEDER EIN.+++++
+++diese Episode wurde Ihnen präsentiert von Froid&Leid. Ihr Fachinstitut für mentale Gesundheit. We care. +++

			**Was bisher geschah:**

Der unbekannte Mann ™ trat vor und mit einer schwungvollen Geste riss er sich ohne viele Worte die Maske vom Gesicht.

**Intro / Vorspann / irgendetwas von Shirley Bassey gesungen**

»Oh, nein«, keuchte Pfeiffer. »Es ist…«
Reste von billigem Theaterlatex zogen sich in langen Fäden von den Wangen, wie eine zu dick gewordene Bechamelsauce, die mir nie so richtig gelingen mag.
Zum Vorschein kam – dasselbe Gesicht des unbekannten Mannes ™.
»MUAHAHAHAHA!« Er grinste beetzlebüberisch. »Ich bin es! Der lang verschollen geglaubte eineiige Zwilling meines Bruders!«
»Hören Sie auf mit dieser furchtbaren Lache«, rief Doro. »Vielleicht muss das irgendwann mal jemand bei Audible vorlesen. David Nathan können wir jetzt vergessen!«
»Ich kapier’s nicht.« Christian Pfeiffer nahm von irgendwoher einen Schluck Kaffee. Altmodischen. Kein Schicki-micki-Kram, aber auch keine Instant-Brühe. »Wie hatte uns das alles entgehen können? Hätte es nicht irgendwelche … Zeichen geben müssen?«

Der unbekannte Mann ™ rumpelstilzelte einmal im Kreis. »MU…« Er hielt inne. »Hihi. Es war die ganze Zeit vor Euren Augen. Während Ihr Euch dem naheliegenden zugewandt habt, habe ich die ganze Zeit im Untergrund die wahre Hauptstory vorangetrieben.«
»Oh nein, rief Doro.« Dann korrigierte sie sich. »Oh nein«, rief Doro. »Es ging nie um die vordergründige Geschichte auf Platz 1. Hinter der ersten Fassade lauert die ganze Zeit das Böse – übrigens grandiose Analogie mit der Maske. Für alle, die den Hinweis brauchen.«
»Danke.« Der unbekannte Mann ™ nestelte aus Verlegenheit ein wenig an einem Axtstiel. »Vril, die teuflisch geheime Geheimorganisation hat den Gedankenmanipulator von Fritz Lang realisiert und so die armen Nebencharaktere in den Tod geschickt.«
»Und Marlene?« Richard Berger grübelte so laut, dass es über ihm kleine Fragezeichen knisterten.
»Offensichtlich.« Christian Pfeiffer bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick.
»OFFENSICHTLICH!« riefen alle anderen gleichzeitig.
Richard Berger schämte sich ein wenig. Er hatte dem zweiten Platz zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, um noch mitzukommen.

»Marlene hat das alles durchschaut.« Doro bereitete sich auf einen langen Schlussmonolog vor. »Sie wollte es publik machen und hatte Pfeiffer kontaktiert. Dieser sammelte Beweise, bis er strafversetzt wurde. So hatten Berger mit den Nummern der Reisepässe der Mitglieder von Vril und Pfeiffer mit seinen Recherchenotizen genug in der Hand, um die ganze Organisation auffliegen zu lassen.«
»Ja, dann bleibt ja nur noch…« Christian Pfeiffer zog sich das Hemd aus.
»Der finale … Endkampf.« Der unbekannte Mann ™ stieß die Klingen der Äxte gegeneinander, was unrealistischer Weise Funken stoben ließ.

Es folgt ein unglaublich spannender Zweikampf mit freiem Oberkörper von Christian Pfeiffer. Viel hin und her, ein paar Mal fast von der Axt getroffen. Am Ende rettet eine Flasche Babyöl den Helden, der so einem tödlichen Würgegriff des Gegners entkommen kann und diesen vor einen vorbeirasenden Wanderzirkus stößt.
Wie am Ende üblich, half niemand der Umstehenden bei diesem Kampf.

Marlene stand die ganze Zeit einsam an einer Laterne und wartete auf Rettung. Zwischenzeitlich war ein Pizzaservice gekommen, denn das ganze Drama hatte ja länger gedauert. Bis auf die nächtlich eingespielten Zikaden war es still in der Großstadt.

ABSPANN: ENDE

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(c) Michel #michelschaemtsich

Info: Es wurden keine Tiere bei der Erstellung dieses Teils verletzt oder kamen zu Schaden. Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind zufällig. Außer Klaus Töpfer. Aber das ist Montys Problem.

Geschwisterliebe

„Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzusehen. Meinetwegen sind Menschen gestorben. Ich habe sie umgebracht mit meinem Geiz und meiner Gier.“ Bergers Stimme überschlug sich. Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn und sein Atem ging schwer.
Pfeiffers Eingeweide schienen sich zusammenzuziehen, als der Reisekaufmann die Pistole hob und sich die Mündung an die Schläfe drückte.
„Ich bin ein Schwein, ein … ein Ausbeuter …“
„Nein, warten Sie!“, rief Pfeiffer und wusste selbst nicht worauf. Er wusste nur, dass er die rötlich-graue Wolke nicht live erleben wollte. Dass ihm schlecht war, wie nie zuvor.
„Ein K … Ka … Kapitalist!“ Berger schrie das letzte Wort heraus. Jeder Muskel in seinem Körper schien sich anzuspannen in Erwartung des Endes.
Pfeiffer kniff die Augen zu. Ohrenbetäubend laut hallte der Schuss durch den Waggon und kurz hörte Pfeiffer gar nichts mehr. Dann Bergers abgehackte Atemstöße.
Pfeiffer blinzelte. Sah sich um. Berger stand noch. Der selbst ernannte Rächer des Unrechts jedoch, lag rücklings in einer Blutlache. Er war nicht tot, sondern tastete nach der Pistole, die er zu spät wieder aus der Jackentasche hervorgezogen haben musste und die ihm nun entglitten war. Seine Augen waren weit aufgerissen. Wie bei Marlene. Marlene!
Pfeiffer stürzte zu dem Verletzten hin, ließ sich neben ihm auf die Knie fallen und schob die Waffe außer Reichweite. Dann zog er den Mantel aus, knüllte ihn zusammen und presste ihn dem Mann auf die Brust. Genau auf die Schusswunde, die bedenklich nah am Herzen lag. Was für ein Hohn. Hier saß er und versuchte verzweifelt, einem Verbrecher das Leben zu retten, den er am liebsten in Stücke reißen würde.
„Wo ist Marlene?“, fragte er mit aller Gefasstheit, die er aufbringen konnte. „Sagen Sie es mir, ich flehe Sie an. Berger, rufen Sie die Polizei und einen Notarzt.“
Der Mann am Boden lachte. Ein schauderhaftes, nasses Röcheln. Pfeiffer musste an sich halten, um ihn nicht zu ohrfeigen.
„Wo ist sie? Sagen Sie es. Was haben Sie denn von ihrem Tod? Sie verdient es nicht, so elend zu sterben. Das wissen Sie.“
„Wir verdienen es alle“, flüsterte der Mann kaum hörbar, lächelte Pfeiffer mit blutverschmierten Zähnen an und verlor das Bewusstsein.
„Mist! So ein Mist! Berger, der Notarzt! Worauf warten Sie denn? Berger!“
Pfeiffer drehte sich um und erstarrte. Statt seines Handys hielt Berger die Pistole des Täters in der Hand und blickte unschlüssig darauf herab. Pfeiffer wurde eiskalt, als ihm aufging, worüber dieser kleine Drecksack gerade so angestrengt nachdachte.
„Tun Sie es nicht, Berger. Wenn Sie mich erschießen, machen Sie sich zum Mörder. Diesmal wirklich. Das da in der Ecke ist eine Webcam. Die überträgt die ganze Aufnahme sofort ins Internet.“
„Nein. Nein, das glaube ich nicht. Warum hätte er sonst gewollt, dass Sie das Video auf der Seite Ihrer Zeitung hochladen?“
Wahrscheinlich hatte Berger völlig recht und das Video wurde erst einmal irgendwo lokal gespeichert. Mist, Mist, Mist.
„Na, wegen der Reichweite, natürlich. Damit es auch diesmal wieder viral geht. Legen Sie die Waffe weg, Berger. Der Mann atmet noch. Vielleicht ist er noch zu retten, wenn wir jetzt sofort Hilfe holen. Dann kann er uns sagen, wo Ihre Schwester ist. Denken Sie an Marlene!“
Berger rann eine Träne über die Wange und sein Kinn zitterte. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, ruckartig die Pistole zu heben, als Pfeiffer aufstand.
„Marlene? Marlene würde sowieso nie wieder mit mir reden, wenn rauskommt, was ich mit den Frauen im Venustempel zu tun habe. Und Dorothea auch nicht. Es tut mir leid, Pfeiffer. Aber ich will mein Leben zurück. Ich will einfach nur mein Leben zurück. Ich habe doch auch nur ein einziges.“
Pfeiffers Gedanken rasten. Berger war kein Idiot. Er musste von Anfang an geahnt haben, dass der Tote vor seiner Haustür etwas mit den Busreisen zu tun hatte. Wegen der zehntausend Euro. Es war auch nicht wirklich sein Gewissen gewesen, das ihn seitdem so gequält hatte. Eher Selbstmitleid und die Furcht, seine unlauteren Geschäfte könnten ans Licht kommen. Und bestimmt hatte er sich heute nicht nur aus Sorge um seine Schwester so vehement dagegen gewehrt, die Polizei einzuschalten. Dennoch … ein abgebrühter Verbrecher war er nicht. Pfeiffer hob beschwichtigend die Hände.
„Warten Sie, Berger. Hören Sie mir zuerst zu.“
Wenn er geschickt log, könnte er Berger vielleicht davon überzeugen, dass er ihm helfen würde, die Beweise zu vernichten. Dass er der Polizei nichts erzählen würde, da er sich ja selbst auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte, was die Sache mit dem Venustempel betraf. Auch er hatte weggesehen. So wie halb Frankfurt wegsah. Im Grunde ahnten doch alle, dass es in Etablissements wie dem Venustempel nicht immer mit rechten Dingen zuging. Vielleicht wusste es auch Marlene. War sie nicht Teil eines ehrenamtlichen Seelsorgeteams für Frauen aus dem Rotlichtmilieu? Maria hatte ihm mal so etwas erzählt. Hatte auch Marlene weggesehen?
Ja, er wusste genau, was er Berger alles sagen sollte. Doch nichts davon brachte er über die Lippen. Er warf einen schnellen Blick auf den Verletzten. Nein … den Toten. Ach, Marlene. Pfeiffer wurde das Herz schwer. So schwer, dass es ihn fast zu Boden riss. Zu spät, zu spät. Vorbei.
„Sie feiges, egoistisches, opportunistisches Wiesel“, brach es aus ihm heraus. „Stehen da und bemitleiden sich. Während Ihre eigene Schwester gerade in einem Kellerloch verreckt. Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Ka … “
Wieder hallte ein Schuss. Sengender Schmerz. Wir verdienen es alle. Oh, Maria …

„Wie geht es ihm?“
Egon Paffrath, langjähriger Familienfreund der Bergers und Diakon ihrer Kirchengemeinde, blickte an Dorothea vorbei ins Wohnzimmer, wo Richard mit hängenden Schultern auf dem Sofa saß. Den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet.
Dorotheas Brust zog sich zusammen vor Mitgefühl, wie so oft, in letzter Zeit.
„Nicht gut, Egon. Gar nicht gut. Komm, ich mache uns erst einmal einen schönen Cappuccino.“
„Gerne, Doro. Danke.“ Der Diakon folgte Dorothea in die Küche. „Er braucht Zeit, weißt du? Zuerst der Wahnsinn vor eurer Haustür und das Video. Dann musste er mit ansehen, wie Marlenes Entführer und dieser zwielichtige Journalist sich gegenseitig erschossen haben. Und dazu noch die Angst um seine Schwester. Kein normaler Mensch würde das einfach so wegstecken. Richard ist traumatisiert.“
„Ja, da hast du sicher recht.“
„Warum ausgerechnet Richard? Ich verstehe es einfach nicht. Der Täter wurde doch mittlerweile identifiziert, nicht wahr?“
„Niemand versteht es, Egon. Der Täter war Bulgare. Er hielt sich wohl schon einige Jahre in Deutschland auf, aber laut der Polizei ist er aufgewachsen in einem Waisenhaus in Sofia. Was ihn zu seinen Gräueltaten gebracht hat, werden wir wohl nie erfahren. Richard will es auch gar nicht wissen. Er sagt, der Mann sei einfach ein Verrückter gewesen.“
„Und ihr habt immer noch nichts von Marlene gehört?“
„Nein. Nichts.“ Dorothea riss ein Blatt von der Küchenpapierrolle neben dem Kaffeevollautomaten und tupfte sich die Tränen von den Wangen.
Kein Mensch wusste, wo ihre liebe Schwägerin war. Nur das Kellerloch, in dem sie gefangen gehalten worden war, hatte die Polizei gefunden. Ein Stück Panzertape hatte dort gelegen. Durchtrennte Fesseln und die scharfkantige Fliesenscherbe, mit der Marlene sich befreit hatte. Und … ein kleiner Bildschirm. Es war der Polizei bis jetzt nicht gelungen, irgendeine Aufnahme sicherzustellen. Doch hatte es den Anschein, als sei alles, was in diesem unglückseligen Waggon passiert war, live zu Marlene übertragen worden.
Diese Nachricht hatte Richard völlig aus der Bahn geworfen. Das Wissen, dass seine arme Schwester das Blutbad miterlebt hatte. Gesehen und gehört hatte, wie er um ihr Leben flehte und dem Täter sogar angeboten hatte, sich für sie zu opfern. Es musste ihr das Herz gebrochen haben.
Von Marlene fehlte jede Spur. Sie könnte erneut einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein. Die Polizei hielt es jedoch genauso für möglich, dass sie verstört und verwirrt irgendwo untergetaucht war. Sich aus irgendeinem Grund außerstande fühlte, nach Hause zu kommen.
Die Ungewissheit war zermürbend. So furchtbar zermürbend, dass Richard beinahe hoffnungsvoll gewirkt hatte, als man letzten Mittwoch eine Frauenleiche am Mainufer gefunden hatte. Nur um den Rest des Tages vor Erleichterung zu weinen, als sich herausstellte, dass es doch nicht Marlene war.
„Wir beten für euch, Doro. Bei den wöchentlichen Gebetstreffen und auch gestern nach dem Hauskreis bei den Schlüters. Für euch und vor allem für ein Lebenszeichen von Marlene.“
Dorothea nickte. Der Kaffee war fertig. Sie reichte Egon eine der dampfenden Tassen und gemeinsam gingen sie zum Wohnzimmer, wo Richard immer noch in gleicher Pose verharrte. Diese tiefe Geschwisterliebe rührte Dorotheas Herz. Dass alle für Marlenes sichere Heimkehr beteten, war gut und schön.
Doch niemand … wirklich niemand, betete so verbissen wie Richard.

Dorotheas Entschluss

Berger sah auf die Pistole, die er in den Händen hielt, ließ die Waffe sinken, suchte Kontakt zum Gesicht des Unbekannten, scheiterte, drehte seinen Kopf zu Pfeiffer, richtete seinen Blick auf den Boden und brachte schließlich hervor: «Ich, es tut mir leid Dorothea, bin ein Sünder.»
Pfeiffer riss die Augen auf.
Berger sah endlich in die Kamera. «Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.» Dann setzte er an.
Pfeiffer wartete auf den Knall. Es blieb still.
«Ich kann nicht, ich kann es nicht. Dorothea, vergib’ mir!» Er brach in Tränen aus und ließ die Pistole fallen.
Schallendes Gelächter ertönte. «Was für eine Show!» Das Lachen wich wütendem Geschrei. «Sag endlich den Satz, du armseliger Wurm! Ich bin Richard Berger … Los doch! Sag es!»
«Es reicht», schrie Pfeiffer. «Aufhören! Ich kann nicht mehr. Ich lade nichts mehr hoch, nie wieder!» Er hob die Waffe auf. Ein Schuss fiel. Berger zuckte zusammen und auch der Unbekannte verlor kurzfristig die Fassung. Pfeiffer sank zu Boden. Für einen Moment konnten die Männer nichts mehr hören. In ihren Ohren piepste es.

Er wäre spazieren gewesen. Ja. Er wüsste, dass das Gelände nicht betreten werden darf, aber sein Rottweiler vertrüge sich nun mal nicht mit anderen Hunden. Deswegen könnte er ihn nirgendwo frei laufen lassen. Normalerweise triebe sich da sowieso nie jemand rum. Ja. Benito wäre bissig. Aber keinesfalls unruhig. Oder selten zumindest. Doch vorhin … Er hätte absolut nicht hören wollen, kläffte sogar, was Benito normalerweise kaum täte. Knurren? Ja. Aber bellen? Nein. Außerdem wollte er sein Geschäft nicht machen, obwohl es dringend gewesen wäre. «Isch gäb’s zu. Heut war isch spät dra. Normalerweis vernachlässisch isch den Hund net. Heut kam’s anders aus. Sie wisse ja, wie des manchmal is», sagte er dem Polizisten, «jedefalls, dann de Schuss. Da musset isch doch de Polizei hole. War des falsch? Isch möscht kei Ärger. Sie wisse scho, wegge Leinepflischt un Gelände beträte, also unbefucht. Wird des teuer?»
Nebenan wurde Berger befragt. Er winselte wie ein kleines Kind, sagte leise immer wieder Dorotheas Namen und wie leid ihm alles täte. So viele Tote. Durch seine Schuld. Durch seine große Schuld. Eine heiße Tasse Kaffee beruhigte ihn etwas. Die Polizistin verstand ihren Job. Sie ließ Berger Zeit, sprach mit ruhiger Stimme zu ihm. Endlich begann er zu erzählen.
Der junge Mann, einen Verhörraum weiter, gab nur widerspenstig Auskunft. «Herrgott nochmal! Das haben Sie da doch schon stehen. Magnus.»
«Ich habe Sie nach ihrem Vornamen gefragt.»
«Was soll das? Name, haben Sie gesagt, Name. Leiden Sie an Demenz? Sören. Sören. Sören. Kapiert?»
Die Polizistin zeigte Nervenstärke. «Sie heißen also Sören Magnus und sind der Sohn von Konstantin Magnus. Ist das richtig?»
Sören gab keinen Laut von sich.
«Sagen Sie uns bitte, in welcher Beziehung Sie zu Klaus Töpfer stehen.»
«Beziehung? Es gibt keine Beziehung. Sie sind nicht ganz bei Trost.»
«Gut. Es geht auch anders. Wir sehen uns in drei Stunden wieder. Abführen.»

In der Zwischenzeit nahm sich die Beamtin das von Berger unterschriebene Protokoll seiner Aussage vor:
«Es fing alles ganz harmlos an. Zuerst hatte ich Glück mit den Aktien. Die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten. Ich brauchte Geld, um das Reisebüro nicht zu verlieren. Dorothea wusste von alldem nichts. Die Fahrten von Sofia nach Frankfurt stellten überhaupt kein Problem dar, zumal Marlene den unauffälligsten Beruf von uns allen hatte. Die würde niemals verdächtigt werden, dachten wir. Sie war das Bindeglied zu Christian Pfeiffers Frau Maria, die ich nie kennengelernt habe. Sie organisierte gewisse Partys, das wusste ich, feudale Essen auch, natürlich mit den richtigen Leuten. Marlene hat mir von ihr Adressen besorgt, ich habe Buchungen veranlasst. Mehr habe ich nicht getan. Kassiert habe ich. Sonst nichts. Zehntausend für jeden Transfer – Menschentransfer, das stimmt. Aber getan habe ich denen doch nichts. Ich konnte doch unser Geschäft nicht aufs Spiel setzen. Nächsten Monat wäre ich ausgestiegen. Die Verluste durch die Börsengeschäfte waren gerade wieder ausgeglichen, als dieser Typ bei uns geklingelt hat. Wir wollten doch zur Kirche. Dorothea wegen der Messe, ich selbst zum Beichten.»

«Sie sagen uns jetzt umgehend, wo Sie Marlene Romero gefangen halten.»
Sören Magnus blieb stur, bis die entscheidende Nachricht einging.
«Danke, Herr Magnus. Wir brauchen Sie dann nicht mehr. Sie bekommen eine schöne Zelle.»
«Wie bitte? Sie brauchen mich nicht mehr? Wollen Sie mich verarschen?»
«Da Sie nicht mit uns kooperieren wollten, haben wir Ihren Vater kontaktiert. Er ist deutlich umgänglicher als Sie. Als er von Christians Tod erfahren hat, sah er keinen Sinn mehr, weiter zu schweigen. Er wollte nicht noch mehr Menschen auf dem Gewissen haben.»
«Aha.» Sörens Coolness kam zurück. «Das ist alles?»
Die Beamtin legte ihr Smartphone so auf den Tisch, dass er die Nachricht deutlich lesen konnte: KM ist geständig. MR wurde gefunden.

Dorothea Berger lag mit Kopfschmerzen im Bett. Ihr Mann, ein Schlepper, ohne den es das Drama nie gegeben hätte, seine Schwester eine abtrünnige Pastorin und Christian Pfeiffer, ein Reporter, der nur sterben musste, weil sein Chef nebenher ein Bordell namens Venustempel betrieben hat, das neben dem Geschäft mit Sex noch andere Dienstleistungen anbot. Die Schlagzeilen des heutigen Tages vermischten Tatsachen mit Vermutungen, Spekulationen und Hassreden in sämtlichen Medien. Die Ereignisse schwirrten durch ihren Kopf, gekrönt durch einen Anruf von Konstantin Magnus, der einen Funken Anstand vermuten ließ. «Rufen Sie Hilfe in Ihr Haus. Sofort! Stellen Sie keine Fragen. Beeilen Sie sich!»
Die Polizei räumte die Flaschen beiseite und öffnete die geheime Tür hinter dem Weinregal. Diesen Anblick wird Dorothea ihr Leben lang nicht mehr vergessen. Sie musste sich wegdrehen und dennoch … Einen Notarzt brauchte Marlene Romero jedenfalls nicht mehr. Gleich morgen würde Dorothea eine Kerze für sie anzünden und danach einen Scheidungsanwalt aufsuchen.

Susanne Kowalsky

Die Verschränkung der Universen

Die Wiener Gruppeninspektorin Tina Bummel (Keine Witze über ihren Namen!) sah den Polizeischüler streng an. „Inspektor gibt’s keinen“, ätzte sie, „nur eine Inspektorin! Oder brauchst ein Seminar in Gendern, du Sacklpicker?“
„Sorry“, stotterte der junge Mann, „aber da ist so ein Typ, der kommt direkt aus Amerika. Sagt, es sei wichtig.“
„Na dann soll er reinkommen“, seufzte Tina. War nicht gestern erst diese kleine Japanerin aufgetaucht, ein Schwert im Rucksack und auf der Suche nach einem gewissen Pfeiffer? Was war los in diesem Land, alle auf Speed hier, oder was?
Der Mann war kein Amerikaner, sondern seinem Akzent nach Deutscher, trug aber einen irischen Namen, einen zerknitterten Trenchcoat und einen Fedora-Hut. „O’Law“, stellte er sich vor, „Nick O’Law!“
Keine Witze über Namen, dachte Tina und verbiss sich ein Lachen. „Was wollen Sie?“
Nick setzte sich und begann zu erzählen. Tina sah die ganze Zeit dabei aus dem Fenster und beobachtete die Touristen, die über den Stephansplatz flanierten und sich von als Mozart verkleidete Studenten sündteure Karten für drittklassige Konzerte andrehen ließen. Als O’Law seinen Bericht beendet hatte, drehte sie sich um.
„G.R.I.N.C.H. heißt diese Organisation?
Nick nickte. Was sollte er auch sonst tun mit diesem Vornamen.
„Und der Verdächtige Kürbisovic?“
Wieder bestätigte er Tinas Aussage.
„Heute, am Psychotherapeutenkongress, soll das stattfinden?“
„Genauso ist es.“
„Na als dann, geh‘n wir‘s an!“

Anna und Supergirl hatten sich in den Fond des 2CV begeben, Marlene saß vorn, neben Ronald, der seinen Studentenboliden zielsicher durch den Abendverkehr Frankfurts steuerte. Auf der Leunabrücke überholten sie einen klapprigen Opel. Aus den Augenwinkeln nahm Marlene das Gesicht des Fahrers wahr und beim zweiten Hinsehen auch das des Beifahrers.
„Mann, das gibt’s doch nicht!“, rief sie aus, „Pfeiffer und Berger!“
„Wie, was?“, rief Anna aus und auch Supergirl zeigte sich erstaunt. „Ich hab‘ Pfeiffer und seine Familie doch nach Sommerhausen gebracht, was macht der Spinner jetzt hier?“
„Ja, keine Ahnung“, antworte Marlene, „aber die beiden waren es zu 100%!“ Und zu Ronald: „Lass mich an der nächsten Ecke aussteigen, ich geh der Sache nach. Ihr seht zu, dass ihr nach Würzburg kommt und Jacobsen findet!“
Das fanden alle für die beste Idee und genauso machten sie es auch. Während Marlene ein Taxi requirierte, vibrierte ihr Handy. Sie puhlte es mit einer Spur von Bedauern aus der Hosentasche und warf einen Blick darauf. Wien, dachte sie, was wollen die Ösis von mir?
Ronald lenkte den Wagen über die Elisabethenstraße auf die A3, ließ Offenbach links liegen, überquerte bei Stockstadt den Main und fand sich dreißig Kilometer weiter in einem riesigen Stau wieder. Zu spät machte er das Autoradio an, um den Verkehrsfunk zu hören: „Im Raum Aschaffenburg kommt es wegen einer Demonstration zu umfangreichen Verkehrsbehinderungen. Es wird empfohlen, großräumig über Leipzig oder Luxemburg auszuweichen.“
„Welche Demonstration?“, wollte Anna wissen.
„Ja wer schon, diese verdammten Klimakleber!“, fluchte Donald, „die WWFF!“
WWFF? Was soll denn das sein?“, fragte nun auch Supergirl. Selbst sie konnte nicht alles wissen, was sich derzeit an Selbstdarstellern in diesem Land herumtrieb.
Whole Week for Future, so nennen sich diese Chaoten jetzt“, erklärte Ronald.
„Also über die Chaostheorie können wir ein anderes Mal diskutieren“, meinte Anna, „die wichtigere Frage ist, wie kommen wir jetzt nach Würzburg?“
„Ronald bringt den Wagen zurück und wir fliegen!“, schlug Supergirl vor, „Schon vergessen, dass ich das kann, Anna?“
„Natürlich nicht, aber meine Akrophobie!“
„Quatsch nicht rum, Frau Doktor, halt dich fest an mir und los gehts.“

So also sehen Engel aus, dachte Alfred Zweistein, als sich in seinem Labor ein weiblich anmutendes Wesen materialisierte. Knallenge Bluejeans, weißes Rippshirt, schwarze Lederjacke und ein Lächeln, das die Antarktis zum Schmelzen bringen konnte. Wären seine Haare nicht ohnehin dauernd zu Berge gestanden, würden sie es jetzt tun. Zweistein schluckte mit offenem Mund – wie vieles andere auch eine Fähigkeit, die nur Astrophysikern zu eigen ist.
„Ich scheiß mich an“, entfleuchte es dem Mund des Gelehrten.
„Echt jetzt?“, sagte das Wesen, „Ich dachte bei euch begrüßt man sich mit Servas Oida? Aber auch egal, Keck, mein Name, oder wenn sie wollen, auch Andrea von und zu Eschbach. Und Sie sind Herr Zweistein, nehme ich an?“
Der Professor nickte kurz und fasste sich wieder. „Sie sind die Kopfgeldjägerin aus Parallax 42?“
„Stimmt. Aber diesmal nicht auf der Jagd nach einem Kopf, sondern im Auftrag der unsichtbaren Universität, kurz: Ridcully schickt mich.“
„Die Wabenwand ist also weiter undicht“, schloss der alte Physiker. „Was war’s? Rincewind wieder?“
„Oh nein, diesmal ist er unschuldig“, erwiderte Fräulein Keck, „Der Fehler liegt bei euch in der Rundwelt. Der ursprüngliche Riss, der bei der Landung der siebzig Eternium-Kapseln aus Proforma Demokratia entstand, konnte schnell verschlossen werden, aber nun öffnen sich die anderen Wände. Grund dafür ist das Update der Daktylus-Software und seine gleichzeitige Kombination mit dem Schreibwettbewerb. Hunderte Autoren schreiben hier ihre Geschichten und das hat nun zu multiplen Rupturen des Raum-Zeit-Kontinuums geführt. Aus allen Paralleluniversen dringen idente Individuen mit identen Geschichten in andere Universen. Das Licht der Phantasie ist quasi zu einer multiversuellen Stroboskop geworden und wenn dieser Wettbewerb nicht bald zu Ende ist, haben wir das absolute Chaos!“
Wieder schluckte Zweistein mit offenem Mund. „Und was tun wir jetzt? Ich bin ein bisserl im Stress, weil die Kollegen Froid und Broccoli gerade die Rundwelt retten.“
„Da machen sie sich mal keine Sorgen“, beruhigte Fräulein Keck. „Die oberste Geschäftsführerin von A.L.L.E.M., Mary Nazarena, hat für das Problem ihren besten Mann geschickt. Nick O’Law. Der wird sich darum kümmern.“
„Und die Sache in Deutschland, an der Anna Froid beteiligt ist?“
„Da ist Supergirl dran, das wird sich ebenfalls geben. Wir aber müssen jetzt und hier in ihrem Labor den totalen Breakdown aller vorstellbaren Welten verhindern!“
„Und wie?“, wollte Zweistein wissen.
Fräulein Keck verriet es ihm.
„Nein, das können Sie nicht tun, um Himmels willen!“, rief Zweistein aus.
„Und ob ich das kann!“, grinste die hübsche Frau sadistisch.

Tina Bummel (Keine Witze über ihren Namen!) und Nick O’Law (ebenfalls keine Witze, bitte!) hatten den schnellsten Weg zum Messegelände am Prater genommen und wollten nun in den Vortragssaal vordringen, doch der Portier weigerte ihnen den Zutritt. „Wenn S‘ keine Karte haben, geht nix.“, sagte er trocken.
Tina zuckte die Dienstmarke. „Hurch amoi du Spinotwochta!“, fuhr sie den Portier an, „Waunst di net sufurt iwa de Heisa haust, gib i da an Brachoida, dass d‘ drei Poor Schuach im Zruckgeh verhatschst!“
Augenblicklich trat der Portier mit einer tiefen Verbeugung zur Seite und flüsterte noch ein untertäniges „Gschamster Diener, gnädige Frau“.
„Können Sie mir das übersetzen, was Sie gerade zu ihm gesagt haben?“, fragte Nick, als sie sich durch die Masse der Konferenzbesucher wühlten.
„Nein“, antwortete die Polizistin, „Wien ist die freundlichste Stadt der Welt und das soll auch so bleiben.“
An der Leitstelle fragten sie nach Froid und Broccoli.
„Essen nur nach Voranmeldung!“, erklärte die Blondine hinter dem Tresen.
Wieder wollte Tina zu einer entsprechenden Antwort ansetzen, doch Nick kam ihr zuvor. „Sieh‘ mir in die Augen, Kleines“, flüsterte er der jungen Dame zu. Und die tat es tatsächlich. „Die Professoren Froid und Broccoli“, raunte Nick verführerisch, „Es ist wichtig! Wenn wir sie gefunden haben, komme ich zurück und wir beide machen uns ein schönes Wochenende in Casablanca, einverstanden?“
Die Blondine strahlte ihn an und Nick dachte: Nur gut, dass sie Ohren hat, sonst würde sie noch im Kreis grinsen. Aber sie sagte ihnen, wo die Wissenschaftler sich auf ihre Vorträge vorbereiten würden.
Nick und Tina hasteten die Treppen hoch.

Dick (auch hier keine Witze über Namen bitte!), Rick und Zack, Donalds Neffen, saßen vor der Playstation und zockten sich durch Fortnite, als Supergirl und Anna in ihr Zimmer in Sommerhausen traten.
„Wo sind die Pfeiffers, Jungs?“, rief Supergirl.
Die drei wandten sich synchron um zuckten genauso synchron mit den Achseln.
„Keine Ahnung“, sagte Zack, „Vielleicht bei Opa Frickel in Ochsenfurt!“
„Wer ist Opa Frickel?“
„Das M im BMW“, kam die rotzfreche Antwort Ricks.
„Versteh ich nicht“, gab Anna zu.
„Alle fränkischen Dörfer bestehen aus BMW“, erklärte nun Dick, „Bäcker – Metzger – Wirt. Und Opa Fränkel ist weder Bäcker noch Wirt!“
„Und was machen die bei einem Metzger?“
„Blaue Zipfel!“, lachte nun alle drei und fanden das offensichtlich überaus komisch. Anna sah konsterniert zu Supergirl.
„Komm wir gehen,“ sagte die, „ich glaub, ich weiß, was die drei Scherzkekse meinen.“
„Was sind blaue Zipfel?“, fragte Anna, als sie bereits auf der Straße nach Ochsenfurt waren.
„Ach vergiss es“, antwortete Supergirl, „Manche Dinge bleiben besser regionale Spezialitäten.“

Im selben Moment, indem Moritz Ballaballa begann, die Szene aufzunehmen zog Lila Luzi, vom japanischen Geheimdienst Stählerne Kirschblüte ihr Katana aus der Scheide. Die Klinge schickte einen hellen Ton durch die Industrieruine, in der sie Pfeiffer und Berger gefolgt war und hier auf den Yakuza-Boss der Kantenwelt traf.
Uragirimono ni koufuku suru!“, rief sie!
Ballaballa fuhr herum. „Niemals! Ich gehe nicht mehr zurück nach Wakusei 37!“
Sorenara koko de shinu yoi“, bekam er von der zierlichen Japanerin zurück. Aber die zarte Figur war wie alles an ihr, vom Schottenröckchen bis zu den Pigtails, reine Täuschung. Blitzschnell griff Ballaballa in die Innentasche seiner Jacke und zog eine Tokareva hervor. Eine Kugel war immer schneller als das schärfste Schwert. Doch dann schob sich ein Schatten in sein Schussfeld und er ließ die Waffe sinken.
„Marlene? Oder Marie Luise? Oder Lena-Marie? Oder wer, verdammt?“
„Ihr hört sofort auf, mit dem Scheiß hier!“, rief Marlene (aka Marie Luise, aka Lene-Marie aka usw.). „Das ist alles nur ein Riesenirrtum, nichts als eine Fantasie, die sich ein paar Hobbyautoren ausgedacht haben und die sich mit unserer Realität vermischt hat.“
„Was soll das heißen?“, kam es nun von Berger und Pfeiffer fast gleichzeitig.
„Das heißt, dass alles nicht real ist. Ihr seid einfach nur Figuren in irgendeiner Kurzgeschichte. Besser gesagt in Dutzenden Kurzgeschichten aus Dutzenden Welten gleichzeitig. Aber wenn einer von euch hier in dieser Welt, in dieser Geschichte getötet wird, dann verändert das alle Geschichten in allen Welten. Die Zeit wird zerstört! Und wisst ihr was passiert, wenn die Zeit zerstört wird?“
Alle vier, Berger, Pfeiffer, Ballaballa und Lila Luzi, blickten zu Marlene (oder wie immer sie heute heissen mochte) hin und schüttelten ihre Köpfe.
„Wenn es keine Zeit mehr gibt, kann nichts mehr existieren! Denn alle Existenz ist in jeder Welt stets an Zeit gebunden. Also hört endlich auf, euch umzubringen!“
Luzi senkte langsam ihre Waffe. Und Ballaballa tat es ihr nach.

Andrea von Eschbach hatte sich in den Zentralserver der Universität eingeloggt und sowohl das gesamte WWW als auch alle Radio- und Fernsehstationen gehackt.
„Tun sie es!“, herrschte sie Professor Zweistein an. Der hielt noch immer die silberne Scheibe, die sie ihm vorher gegeben hatte, in der Hand und starrte erst auf den CD-Player, dann auf sie. „Sind Sie wirklich sicher, Fräulein Kick?“
„Ja natürlich bin ich sicher! Ich sagte doch schon, dass wir das bereits einmal so gemacht haben, vor dreißig Jahren, als diese Idioten vom Mars die Erde attackierten. Tim Burton hat sogar einen Film darüber gemacht, aber keiner wollte ihm glauben!“
„Ich erinnere mich“, gab Zweistein zu, „Sie retteten damals die Welt mit einem amerikanischen Jodelsong, aber das hier? Das ist doch alles absolut verrückt!“
„Es ist so verrückt wie die Menschen selbst“, erwiderte Andrea. „Und es ist die einzige Möglichkeit die Wabenwände zu verschließen, denn keine andere Welt im gesamten Multiversum würde sich sowas freiwillig anhören wollen!“
Stimmt, dachte Professor Zweistein. Auch wenn er davon keine Ahnung hatte, so wusste er doch, dass Musik an sich Ton gewordene Mathematik war. Aber das hier … das war einfach nicht logisch! Doch vielleicht war es gerade die Unlogik, die das Multiversum noch retten konnte.
Er schob die CD in den Player und drückte auf die Starttaste. Noch bevor der erste Ton erklang, hatte er seinen Gehörschutz aufgesetzt. Heiliger Isaac Newton, wie er dieses Lied hasste. Last Christmas, von Wham!

Froid und Broccoli waren nicht mehr in den Vorbereitungsräumen. „Die sind schon am Podium!“, hatte Robert Daniel Specht, der Begründer der Unsinns-Theorie, Tina und Nick zugerufen. Also wieder die Treppen runter in den großen Vortragssaal.
Als sie die breite Türe aufstießen, sahen sie, wie Professor Froid, der eben sein Eingangsstatement beendet hatte, das Wort an Professor Kürbisovic übergab und hinter den Vorhang trat. Kürbisovic trat zum Rednerpult, ein siegesgewisses Lächeln aufgesetzt und klopfte mit dem Finger auf das Mikro. Dann stellte er ein seltsames achteckiges Kästchen auf das Pult. Den von ihm modifizierten Orgonakkumulator.
Nick griff nach seiner 44er Magnum, Tina nach ihrer Glock. Ein Wahnsinn, hier in diesem vollbesetzten Vortragsaal zwischen 1400 Gelehrten aus aller Welt eine Waffe abzufeuern, dachte Tina noch, aber wenn das, was O’Law berichtet hatte, stimmte, und sie zweifelte keinen Moment daran, dann mussten sie jetzt schießen!
Doch dann passierte etwas, womit keiner gerechnet hatte.

Pfeiffer (der von unserem Universum) stand in Opa Frickels Schlachtraum und stopfte die Überreste von Jacobsen in den Fleischwolf. Eine eklige Arbeit, ja, aber man würde sich daran gewöhnen müssen, wenn man Neila nicht der Willkür der militärischen Geheimdienste ausliefern wollte. Egal, er hätte alles getan, um seine Nichte zu beschützen. Von Eschenbach hatte er überredet, inzwischen mit einem Hochdruckstrahlgerät das Blut von den verfliesten Wänden zu spülen, was ihm, wie es aussah, durchaus Spaß machte.
Pfeiffers Schwester Maria saß mit Supergirl und Anna in der kleinen Teeküche der Metzgerei. Neila war in ihrem Arm eingeschlafen und lächelte nun im Traum, wobei sie ihre kleinen rasiermesserscharfen Reißzähne zeigte. Die beiden Damen hatten eine ordentliche Portion Fleischkäse dankend abgelehnt, aber Anna die beiden Bocksbeutel für ihren Vater angenommen. Sie hatten nun alles geklärt, für Maria und Neila war der Wahnsinn vorbei. Supergirl hatte versprochen, sich gemeinsam mit Clark Kent um Neilas Exkarnation aus dem kleinen Körper zu kümmern, dann würde Maria ihr Kind wieder vollständig und gesund zurückhaben.
Was mit Neila selbst passieren würde, war noch offen, aber Anna spielte mit dem Gedanken, ob sie nicht ihren Körper zu Verfügung stellen sollte. Gewiss waren ihr die Fähigkeiten Neilas eine große Hilfe in der Arbeit mit ihrem Vater.
Alle anderen Individuen aus den parallelen Universen würden mit Schließung der Wabenwände wieder an ihren Ort zurückkehren, so hatte es ihr Professor Zweistein am Telefon versprochen. Spätestens wenn der Schreibwettbewerb von Daktylus beendet sein würde, wäre dieser Spuk vorbei. Annas einzige Sorge galt nun ihrem Vater. Würde er es schaffen, mit Broccolis Hilfe Kürbisovic zu überwältigen?

Kaum hatte Kürbisovic den Orgonakkumulator auf das Pult gestellt, rief Michel Broccoli aus der ersten Reihe lauthals: „Bugiardo! Improglione! Stupido stronzo!“
„Halten Sie den Mund, Broccoli, Sie welkes Gemüse!“, antwortete Kürbisovic, „Sie werden der erste hier sein, dem ich die wirren Ideen von diesem Dilettanten Froid aus dem Hirn lösche!“
Idiota!“, rief Broccoli wieder, „Sei incapace di pulirti il ​​culo!“
Kürbisovic richtet die Mündung des Orgonakkumulators auf Broccoli. Doch dann brach er plötzlich ab, erstarrte, als wäre er festgefroren. In seinem Nacken bohrte sich ein spitzer Gegenstand, hielt aber kurz inne, ehe er noch die Haut durchdrang.
„Herr Kollege, ich muss doch sehr bitten!“, hörte er die Stimme Froids hinter sich. „Lassen S‘ das Klumpert da einfach fallen, sonst sehe ich mich gezwungen, Ihnen eine auf den Pelz zu brennen!“
Kürbisovic stellte den Orgonakkumulator auf das Pult zurück und hob langsam die Hände.
„Also ehrlich Kürbisovic!“, sprach Froid weiter, „Ich hab‘ Ihnen ja wirklich viel zugetraut, aber dass Sie ihre Profilierungsneurose so wenig im Griff haben, das ist schon traurig! Fehlt ja nur noch, dass Sie in die Politik gehen damit!“
Kürbisovic hatte sich umgedreht und sah nun erstaunt Professor Froid an. Dann fiel sein Blick auf Froids Waffe. „Sie verdammter Narr!“, rief er aus und wollte sich mit bloßen Händen auf ihn stürzen. Im letzten Moment wurde er aber von Nick O’Law (Keine Witze!) daran gehindert, der ihm die Arme auf den Rücken drehte. Tina Bummel (Keine Witze hab ich gesagt!) legte ihm die Handschellen an.
„So, Herr Oberg‘scheit, jetzt geht’s einmal ins Komissariat.“, erklärte sie zufrieden „Dort können S‘ dann vorm Untersuchungsrichter klugscheißen, soviel sie wollen.“ Diesen Nick O’Law würde sie sich jedenfalls merken. Wenn frau ihn erst mal wusch und ordentlich rasierte, konnte er durchaus noch anderweitig Verwendung finden!
Nick führte Kürbisovic vom Podium, sein Auftrag hier war fürs erste erledigt und G.R.I.N.C.H, hatte einen gewaltigen Rückschlag erlitten.
Tina wandte sich an Froid: „Tut mir leid, Herr Professor, aber ihre Waffe bitte.“
Der Professor hielt sie ihr hin.
„Das ist aber nicht ihr Ernst“, rief Tina aus und sah ihn entgeistert an. „Ich habe mir gedacht, Sie hätten wenigstens eine Uzi dabei, aber das hier? Eine Cohiba?“
Froid zuckte verlegen mit den Schultern.
„Ja, manchmal ist eine Zigarre eben nur eine Zigarre.“

Gschichtldrucker / Christian Luksch

(In freundschaftlicher Verbundenheit allen Foristen und Forensikern der papyrus-community gewidmet)

„Meine Entscheidung?“, stammelte Berger und sah in Richtung Kamera. „Meine Entscheidung?! Sie … sie machen es sich leicht! Sie haben ja gut reden! Sie wissen gar nicht, was wir hier durchgemacht haben!“
Der Unbekannte betrachtete ihn stumm und nickte zur Kamera.
„Was soll ich denn machen?“, schrie er und wedelte mit der Waffe herum.
„Es wird Zeit für ihre letzte Minute. Wann immer sie bereit sind. Sagen sie der Welt die Wahrheit über sich, und ihre Schwester kann - sobald sie sich erholt hat – wieder predigen.“
Berger zitterte am ganzen Körper. Sein Gesicht, sein Gesicht war wie zu einer Fratze verzerrt. „Nein!“
„Nein?“, echote der Unbekannte höhnisch. „Lassen sie ihre Schwester wirklich zurück? Können sie sich das leisten? Was soll ihre Frau von ihnen denken? Ihre Familie? Kommen Sie! Legen sich den kühlen Lauf an die Schläfe! Benennen sie sich endlich schuldig, sie kläglicher Verräter und entlasten sie die Rentenkasse! Ohne sie ist die Welt besser dran, jeder weiß das!“
Christian ging einen Schritt von Berger fort, der die Waffe nun auf den Unbekannten richtete.
„Sie würden also lieber den Feuerwehrmann und ihre Schwester im brennenden Haus zurücklassen? Nur um sich zu retten? Soviel kalten Schneid hätte ich ihn gar nicht zugetraut.“
„Ich kann noch viel mehr tun!“, spie Berger aus. Christian sah sich kurz prüfend um. Der Stress holte das Schlechteste aus den Menschen hervor. Er hatte es schon gesehen, wenn jemand den Verstand verlor. Es sah etwa so aus wie Berger gerade, der mit ausgestreckter Waffe auf den Unbekannten zuging und „Ich … ich…!“, stammelte. Ein Speichelfaden rann ihm vom Kinn.
„Ja?“, fragte der Unbekannte höhnisch. „Was werden sie tun, kleiner Mann?“
„Ich … töte dich, oh ja, dass werde ich!“
„Werden sie das? Vor laufender Kamera? Wollen sie davor noch eine Erklärung abgeben Warum? Warum so viele Menschen wegen ihnen, ihre Würde, ihre Freude, ihren Lebenswillen verloren haben? Erklären sie es den Zuschauern, was mit den Mädchen passiert ist und dann können sie mich gerne erschießen.“
Berger erschrak, sein Blick wandte sich hektisch zur Kamera.
„Alles Notwehr!“, rief er als wollte eine unbekannte Menge überreden. „Er zwingt mich dazu! Er hält meine Schwester gefangen!“
Der Unbekannte strecke sie Hände nach vorn, wie ein Unschuldiger.
Natürlich hatte Christian nicht vergessen, dass er eine Waffe besaß. In der Nähe lagen einige Eisenrohre rum. Vielleicht – wenn er schnell genug war, und Berger etwas Dummes tat. Sie brauchten einfach nur Zeit. Aber er sah, wie diese immer knapper wurde.
Da fiel ihm ein Detail auf. Als Reporter war er wie illegaler Ermittler. Details waren Geschichten. Kleine Fetzen, Hinweise und Dialoge waren Beweise. Er sah für den Bruchteil eines Momentes, dass Bergers Pistole vorne zugeschweißt war.
„Berger!“, rief er da aus. „Schießen sie nicht!“
Berger sah ihn an, als hätte er ihn gerade als Verräter von der Klippe gestoßen. „Ich werde mich nicht töten?! Nein, nein! Ich werde die Weichteile dieses Typen zur Hölle jagen!“ Er drehte sich wieder zum Unbekannten „Dann wirst du schon reden!“ Berger schien von seiner eigenen Idee hellauf begeistert und senkte die Waffe in Richtung Schritt des Unbekannten.
„Wie ungezogen“, meine der Unbekannte. „An den eigenen Kopf damit! Retten sie wenigtens ihre Seele!“
Christian rief ein „Stopp!“, doch Berger drückte ab. Die Waffe explodierter in Bergers Hand.
Es gab eine unschöne Fontäne, und einen gellenden Schrei. Der Unbekannte war von Berger befleckt, während dieser zusammenbrach und sich am Boden wand. Christian starrte Berger einfach nur entsetzt an. Er verblutete. Der Unbekannte wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht und stellte die Kamera mit einer Fernbedienung ab.
„Was für ein hässliches Ende“, dann zog seine eigene Pistole – wies in Richtung Christian. „Du holst es schön die SD Karte und lädst das Zeug hoch.“
„Nein.“
„Nein?“, jetzt wirkte der Unbekannte ungehalten. „Ein Video für Marlenes Leben? Das ist nun wirklich nicht zuviel verlangt!“
„Es geht um das Prinzip!“
„Journalisten wie du haben doch gar keine Prinzipien!“
„Oh doch, die haben wir! Niemals nachgeben. Sich niemals Macht und Einflussnahme beugen. Und das Allerwichtigste … “
Der Unbekannte lachte kurz auf. Er wirkte ehrlich amüsiert, ehe er innehielt und bösartig leise meinte. „Ja?“
„Beim Betreten einer gefährlichen Lage, den Chefredakteur anrufen und das Handy auf stumm schalten.“
„Was?!“, der Unbekannte schrie auf und hob die Waffe in seine Richtung.
„Moment, Moment! Ich habe die Adresse, die wir anfahren ziemlich häufig erwähnt … wie ein seniler alter Mann.“
Noch bevor der erste Schuss fiel, brach die Tür nach innen auf.
„Zu Boden! Polizei“, brüllte jemand.
Christian warf sich zu Boden. Seine letzte Erinnerung waren hart hämmernde Schusswechselgeräusche.

Die Sünder

Richard zitterte am ganzen Körper und starrte fassungslos den Mann an, der seelenruhig die Kamera in seine Richtung drehte.
Der Unbekannte sah konzentriert aus. Blick seiner kalten Augen war ruhig. Er wirkte absolut normal. Er war schlank, doch nicht mager. Die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen sprach für eine beträchtliche Vitalität. Die Kleidung gepflegt, neutral. Als würde er ihr wenig Bedeutung schenken. Sein Haar war etwas zu lang, dennoch sauber und gekämmt. Die Haarsträhnen wiesen unterschiedliche Länge auf, sodass man vermuten könnte, er schnitt sich die Haare selbst.
Er trug kein Schmuck, war nicht tätowiert, wenigstens nicht in den sichtbaren Stellen. Das Gesicht war rasiert, trotzdem nicht zu glatt. Die Haut blass, aber nicht kränklich.

Wer bist du? Dachten Richard und Christian zugleich. Sie stellten sich dieselbe Frage und deren Augen trafen sich für einen Moment, denn die nächste Frage war, was wird jetzt passieren?

„Er wird mich umbringen.“ Glaubte Pfeiffer und sein Herz machte einen Satz erfüllt vor Erkenntnis, dass es das Ende war. „Ich kann ihn nicht umbringen.“ Dachte wiederum Richard. „Ich werde mich selbst töten müssen, ich gebe auf.“ Die Entscheidung nahm ihm den Mut. Vollkommen egal, was er tat. Seine Tat würde ihn für immer zerstören.

„Bitte,“ flehte er deren Peiniger an. „Ich kann es nicht machen.“
„Sicher können Sie es. Sie können, und sie werden.“ Die Härte, mit der die Worte ausgesprochen wurden, nahm Richard Berger letzte Hoffnung. Ihm wurde klar, dass er hier sterben wird. Das er diesen Ort niemals verlassen, niemals nach Hause kehren wird. „Sie haben kein Recht über uns zu richten! Alleine Gott hat Recht dazu. Sie…“

„Gooot!“ Schrie der Unbekannte wütend und sein eben noch blasses Gesicht bedeckten rote Flecken. „Wagen Sie es nicht, seinen Namen in den Mund zu nehmen!“ Richard starrte entgeistert den Mann an und stotterte dann leise. „Gott alleine verfügt über das Leben…“

Richard sah den Schlag nicht kommen. Es passierte so schnell, dass auch Pfeiffer wie eingewurzelt stehen blieb. Er stand da und sah zu, wie der Unbekannte den Berger mit Fußtritten bearbeitete. Einmal, zwei Mal, drei Mal. Dann schritt er schwer atmend von ihm weg und drehte sich zu dem Journalisten. „Und du? Siehst immer nur zu, nicht wahr? Du siehst nur zu und tust nichts!“ Pfeiffer schwieg verstört.

„Hilf ihm, siehst du nicht, er kann nicht aufstehen.“ Befahl der Unbekannte und Pfeiffer sprang zu Berger. „Er ist ein Psychopath, vielleicht sogar ein religiöser Fanatiker.“ Flüsterte er Berger ins Ohr, während Richard versuchte sich stöhnen und keuchend aufzurichten. „Wenn er wieder ausrastet, sollten wir versuchen ihn zu überwältigen! Versuchen Sie ihn noch Mal aus der Reserve zu locken!“ Bergers große Augen sahen Pfeiffer gequält an. Pfeiffer warf vorsichtig einen Blick Richtung des Unbekannten und erschrak. Von der Raserei war keine Spur mehr, er sah wieder konzentriert und aufmerksam aus. „Eindeutig ein Psychopath.“ Stellte Pfeiffer verzweifelt fest. Als Berger endlich schwankend, halbwegs aufrecht stand, machte Pfeiffer ein paar Schritte zur Seite und hob beschwichtigend die Hände.
Er warf Berger einen Blick zu und sah, dass mit seinem Gesicht etwas nicht stimmte. Allem Anschein nach trafen die Schläge und Tritte von dem Mann nur eine Stelle bei ihm, seinen Mund. Die Lippen waren aufgeplatzt und blutig, die Wangen blau angelaufen und deformiert. „Er hat ihm den Kiefer gebrochen!“ Stellte Pfeiffer fest.

„Wie Sie sehen, kann Herr Berger bedauerlicherweise nicht mehr viel für eine gepflegte Diskussion beisteuern. Wöllen Sie es vorführen?“ Ein Grinsen verwandelte das Gesicht des Unbekannten in eine Grimasse.

Pfeiffer schwieg und die Gedanken in seinem Kopf rasten. Der Unbekannte drehte sich zu Berger. „Du machst dir Sorge um deine unsterbliche Seele?“ Sagte er verächtlich. „Du, wirst niemals in den Himmel kommen! Du verdienst die ewige Strafe und Verdammnis! Also mach es! Bringe dich um! Oder töte!“
Berger hielt die Waffe mit beiden Händen und versuchte das Zittern, das mittlerweile zum Beben wurde, zu kontrollieren. Tränen rannten über seine Wangen, ein Wimmern ertönte sich aus seinem geschundenen Mund. „Du hast gesündigt!“ Schrie der Unbekannte auf einmal wieder wütend. „Deine Habgier, ist dein Untergang! Du, hast es gewusst, und nun ernte, was du gesät hast“ Seine Stimme vibrierte und klang heiser.

„Und Klaus?“ Fragte unvorhergesehen für sich selbst Pfeiffer. „Wollust!“ Brüllte der Unbekannte laut und drehte sich zaghaft zu Pfeiffer. „Maria?“ Stellte Pfeiffer nächste Frage. „Neid!“ Spuckte der Unbekannte. „Sie war zerfressen vor Neid. Ihre reine Haut verbarg Verderbtheit und Verkommenheit. Sie hat es verdient.“ Pfeiffer schluckte schwer, doch setzte er seine Fragen fort.

„Marlene?“ „Trägheit.“ Dann sah der Unbekannte ihn, Pfeiffer an und fragte. „Und du, was ist deine Sünde, Christian Pfeiffer? Soll ich es dir sagen, oder willst du es selbst tun?“ Pfeiffer starrte ihn an und verstand.
Maria – Neid, Klaus – Wollust, Berger – Habgier, Marlene – Trägheit. Es bleiben nur Völlerei, Zorn und Hochmut. Zorn und Hochmut. Der Zorn stand leibhaftig vor ihm. Dann Hochmut. Sein Hochmut, sein Stolz, seine Überheblichkeit.

„Wir werden alle sterben“, flüsterte Pfeiffer. Es war keine Frage mehr. Es war eine Feststellung. „Ja.“ Sagte der Unbekannte friedlich. „Weil wir es verdienen.“

Ein Geräusch lenkte sie alle ab, es klang, als ob etwas Großes sich gewaltsam in das Gebäude Eintritt verschaffte. Schwere Schritte und Schnaufen, waren zu hören. „Da ist er ja, beinahe zu spät.“ Verkündete der Unbekannte und grinste boshaft.

Eine gewaltige, dunkle Gestalt näherte sich der Gruppe und Pfeiffer erkannte die Person, die dazu kam. „Magnus?“ Magnus, der Chef von Pfeiffer, machte für seinen massigen Körper den Weg frei und blieb erst stehen, nachdem er die Waffe in Bergers Hand sah. Kleine Augen von Magnus huschten von Berger zu Pfeiffer, dann zu dem Unbekannten. „Den hat er wohl auch mit einer Sensation geködert.“ Durchfuhr es Pfeiffer. „Was für ein Walross.“ Dachte Berger. „Völlerei.“ Bestätigte innerlich der Unbekannte.

„Sind Sie, Gabriel?“ Stelle Magnus die Frage an den Unbekannten. „Gabriel?“ Entfuhr es Pfeiffer. „So hat er sich genannt!“ Sagte Magnus geschäftlich. „Und du, gehörst du auch zu dem Team, oder bist du ein Opfer?“ Pfeiffer antwortete nicht. „Ein Opfer also.“ Konstatierte Magnus und Pfeiffer knirschte mit den Zähnen. Dann holte Magnus sein iPad heraus.

In Gedanken durchsuchte Pfeiffer seine Erinnerung nach den Informationen, die er mit dem Namen Gabriel in Verbindung stellen könnte.
Gabriel, Gabriel, der Name kam ihm so bekannt vor! Gab es da nicht einen Engel mit diesen Namen. Blödsinn! Er warf Gabriel einen Blick zu, der in dem fahlen Licht mit einem erhobenen Haupt stand und mit seiner Haltung so viel Erhabenheit ausstrahlte, dass Pfeiffer erschauderte.

„Der Verkünder.“ Las Magnus vor . „Sie nennen sich der Verkünder. Der Bote.“ Nuschelte er und wischte mit dem Finger auf der spiegelnden Oberfläche.
Pfeifer merkte, dass er die Nerven verlor und entschied sich für eine verzweifelte Handlung. „Doch auch du, bist ein Sünder!“ Zischte er und machte einen Satz nach vorne, als ein Schuss ertönte. Eine Sekunde herrschte Stille, dann fiel Magnus das iPad aus der Hand.

Auf dem weißen Hemd, das seine strahlende Sauberkeit längst durch die massive Schneeflecken eingebüßt hat, breitete sich eine rote Blut-Rose. Ein Röcheln kam aus seinem Mund und der große Mann fiel mit einer Wucht nach vorne, wie ein geschlagener Baum.

Pfeiffer starrte entgeistert zu Berger, dem die Waffe aus der Hand fiel. Berger zeigte mit dem Finger auf Magnus und mühte sich ab, etwas zu sagen. „ghhrr.“ Ertönte aus seinem Mund. „Grhhh!“ Ein irrsinnig lautes Lachen zerriss die Stille endgültig in Stücke.
Gabriel lachte und schüttelte sich wie in einem Anfall.
„Freiwillig!“ Lachte er. „Wissend!“ Und er krümmte sich wie im Krampf. „Freiwillig und wissen, hast du deine Tat ausgeübt! Bravo!“ Dann richtete er sich auf und holte mit einem Schwung eine Flasche heraus. Beißend riechende Flüssigkeit benetzte die alle und setzte sich in Myriaden glitzernden Bläschen auf deren Kleidung, der Haut, den Haaren und sogar den Wimpern fest. Gabriel warf eine Streichholzschachtel auf den Boden, direkt in die Mitte.
Er lächelte friedlich, während Pfeiffers Hand sich zu der Schachtel streckte …

Pfeiffers letzte Recherche

Für einen kurzen Moment war es so still, dass selbst das Surren des Baustrahlers ohrenbetäubend schien. Richard Bergers Gesichtsfarbe war in einen fahlen Grauton übergegangen. „Ich… ich… ich bin… “, begann Berger zu stottern während er die Pistole langsam in Richtung seines Kopfes bewegte. „Ich…oh mein Gott, ich habe das doch alles nicht gewusst… bitte… ich kann doch nichts dafür… das müssen sie mir glauben… ich hätte doch niemals… niemals… ich bin doch ein guter Mensch … ich flehe sie an…“, bevor seine Stimme in einem jämmerlichen Schluchzen unterging. Der Unbekannte lachte kurz auf und schaute ihn kalt an. „Glauben Sie wirklich, ich will mir ihr Gejammer anhören? Denken Sie wirklich, gerade Sie könnten Mitleid von mir erwarten? Sie haben kein Mitleid verdient. Ich gebe ihnen hier eine Chance ihre geliebte Schwester zu retten. Sie wissen nicht wie großzügig das von mir ist. Nun legen Sie schon los, das Video läuft.“

Pfeiffer hatte sich während dessen nicht von der Stelle bewegt. Seine Gedanken rasten. Die Sache mit dem Venustempel war eine der Geschichten, die selbst einem alten Hasen wie ihm schlaflose Nächte bereiteten. Offiziell waren die Mädchen mindestens 18 und kamen freiwillig aus Rumänien, Bulgarien und der Slowakei. Sie sahen alle blutjung aus, sprachen zum Teil gar nicht und wenn dann nur gebrochen deutsch. Jedem war bewusst, dass das Ganze ein riesiger Skandal war, der wie man munkelte, bis in die hohen Riegen der Lokalpolitik reichte und selbst die Kollegen der TAZ hatten schon versucht die Sache auffliegen zu lassen. Doch die Papiere waren korrekt und die Mädchen schwiegen und lächelten freundlich. Es war einfach nicht ranzukommen. Bis eines Tages (bei diesem Gedanken seufzte Christian innerlich auf) ein junges Mädchen bei Maria in der Beratungsstelle auftauchte. Weinend hatte Maria ihm Abends davon erzählt. „Christian, sie sieht gerade mal so aus als wäre sie fünfzehn. Sie und ihre Freundin sind aus der Nähe von Sofia, man hat ihnen gesagt, es gäbe ein Filmprojekt in Deutschland. Sie sind freiwillig in den Bus gestiegen. Sie und zwölf andere Mädchen. Sie haben gesungen bei der Hinfahrt und sich gefreut… Kannst Du Dir das vorstellen? Sie wurden unter Drogen gesetzt. Sie sagt es gibt im Venustempel einen Keller in dem die Mädchen für spezielle Kunden gefesselt werden… Christian, sie hat mir ihre Schrammen gezeigt. Christian, wir müssen da was tun.“ Nur was? Das Mädchen hatte ihr nicht ihren Namen genannt, sich gegen Behörden gesträubt, und ohne Zeugen oder Beweise die Polizei zu rufen war unsinnig. Er selbst hatte das Mädchen nur einmal getroffen. Sie war noch fast ein Kind. Er erinnerte sich genau an ihre schmale Statur, ihre strohblonden Haare, die großen eingefallenen braunen Augen, den flehenden Blick „Maria sagt, sie holen uns da raus. Sie holen Kalina und mich da raus?“ Obwohl er damals wusste, dass es falsch war so etwas zu versprechen, nickte er. Zum verabredeten nächsten Treffen kam sie nicht. Beim Versuch eins der anderen Mädchen zum reden zu bringen begegnete ihm eine Wand des Schweigens. Keiner wollte Kalina oder die Namenslose kennen. Einen Monat später wurde im Keller einer Rohbaracke die Leiche einer nicht identifizierten jungen Frau gefunden. Er spürte, dass sie es war, doch wie hätte er das beweisen sollen? Er kämpfte wie verbissen und vernachlässigte darunter den Rest seiner Arbeit bis ihn sein Chef vor einem halben Jahr zurückpfiff und in diese unsägliche Onlineredaktion versetzte. Maria hatte ihn damals aufgefangen. „Es reicht Christian, Du hast alles versucht. Wir haben verloren. Auch wir müssen weiterleben.“ Ihm war klar, dass auch sie enttäuscht war, doch irgendwie schaffte sie es diese Enttäuschung in ihre Arbeit umzulenken. Er hingegen wurde zunehmend zynischer - was sollte er in der Onlineredaktion schon groß bewegen. Damals wie heute hatte er versprochen die Sache aufzuklären. Damals hatte er versagt, diesmal würde er nicht scheitern. Er war immer noch Journalist und für ihn gab es nun nichts mehr zu verlieren.

Mit diesem Gedanke räusperte Pfeiffer sich. „Darf ich einmal zusammenfassen?“ Berger schaute erschrocken zu ihm rüber. Der Unbekannte kam drohend ein paar Schritte auf ihn zu, die Hand in der Tasche, in der Waffe steckte. Pfeiffer zögerte einen Moment, fuhr dann jedoch mit fester Stimme fort „So wie ich das verstehe, wurde Krüger zum Freitod verurteilt, weil er, dessen sind wir uns alle einig, ein Kapitalverbrechen begannen hat. Berger hier“, er nicke kurz zu Richard rüber, lies sich jedoch nicht davon beirren, dass dieser ihn anschaute als wäre er verrückt geworden „Berger hat sich schuldig gemacht, da er sich dem Mammon verschrieben hat und - wenn gleich angeblich unwissend - durch die Annahme schmutzige Gelder den Menschenhandel unterstützt hat. Auch seinen Urteil lautet Tod durch Suizid. Ich selbst habe sowohl journalistisch als auch menschlich versagt, ich habe die Frauen im Stich gelassen. Mein Urteil ist somit ein sozialer Suizid. Liege ich damit in etwa richtig?“ „Worauf wollen Sie hinaus?“ zischte der Unbekannt. „Bis zu diesem Punkt ist alles im Sinne der höheren Gerechtigkeit, ja der Moral, zu verteidigen. Mir ist jedoch weiterhin nicht klar, warum Marias Urteil dem von Krüger entspricht.“ Christian wartete einen Moment und fuhr, nachdem der Unbekannte nicht antwortete, fort „Sie hat die Beratungsstelle in einem Frauenhaus geleitet, sie hat vielen Frauen geholfen.“ „Geholfen? Geholfen? Sie ist tot, verstehst Du! Tot!“ Christian schaute den Mann an, der mittlerweile ohne es zu merken ein Stück ins Licht getreten war. Er war etwa 20 Jahre alt, schlank, strohblond. „Sie war Deine Schwester,“ erkannte er. „Du hast es ihr versprochen. Du hast ihr versprochen, dass Du sie da rausholst, Du Arschloch. Sie hat mir geschrieben. Wir sind in Frankfurt, tief in der Scheiße aber Herr Pfeiffer holt uns da raus. Du hast es ihr versprochen!“ „Wir haben alles versucht. Sie war doch bereits…“ „Gefesselt?! Vergewaltigt? In einem Keller erwürgt?! Sie war doch nur ein Kind. Und - was ist mit Kalina, meiner Kalina, haben Maria und Du sie danach einfach vergessen?!“ Pfeiffer wusste nicht, wie er darauf antworten sollte. „Du solltest spüren, was es heißt, Deine Liebe nicht retten zu können! Du solltest spüren, was es heißt Sekunden zu langsam zu sein.“ Mit letzter Kraft fragte Pfeiffer „Und Marlene?“ Bewusst langsam und ohne dabei Richard Berger und Christian Pfeiffer aus den Augen zu lassen ging der junge Mann an ihnen vorbei zu dem Stapel an Schriftstücken, aus dem er das Bild von Marlene raus zog, welches er dann vor Christian Pfeiffer ablegte. Auf dem Bild stand Marlene mit einer jungen Frau vor der Haustür ihres Bruders. Die Frau sah erschöpft aus aber sie lächelte erleichtert. Für einen kurzen Augenblick war Christian nicht klar, was das Bild zu bedeuten hatte. Dann sah er aus dem Augenwinkel wie Richard Berger sich die Pistole in den Mund steckte, den Abzug drückte und mit einem lauten Knall sein Leben beendete. Marlene Romero wurde eine Woche später tot im Keller einer Rohbaracke gefunden. Seltsamerweise berührte Christian Berger weder das eine noch das andere.

Pfeiffer hatte das Gefühl, zu stürzen. Er starrte den Erpresser an, während ein bleicher Berger scheinbar das Atmen eingestellt hatte. Es war ihm nicht zu verdenken…

“Sie bluffen”, presste Pfeiffer hervor. Ohnmacht und Hass legten sich wie ein enges Stahlband um seinen Hals. Ein hilfloser Versuch, den makabren Witz zu enttarnen, der all das hier war. Sein musste.

Der Blick, den der Unbekannte aus dem Schatten zu ihnen warf, war nahezu spürbar. Schweigen. Pfeiffer begann zu glauben - zu hoffen - dass der Unbekannte sich plötzlich in Luft aufgelöst hatte, aber Sekunden später folgte die ernüchternde Antwort. “Nein.” Und in diesem einen Wort lag so viel Entschiedenheit, dass Pfeiffer keine weitere Sekunde mehr an der Absicht dieses Widerlings zweifelte.

“Ich bin kein Mörder”, winselte Berger und Pfeiffer nahm dessen Existenz wieder wahr. Er sah ihn an. Bergers Stimme war kurz vor dem Brechen. In Pfeiffer brodelte der Instinkt eines Jägers, Auge in Auge mit einer tollwütigen Wildsau, die gerade auf ihn zustürmt.

Der Mann im Schatten machte ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge. Tadel. “Die Zeit läuft, meine Herren.”

Pfeiffer ballte die Fäuste. Er machte einen Schritt auf den Erpresser zu, hielt aber sofort inne, als jener mit einem “Ah, ah, ah.” die Hand in die Tasche gleiten ließ, in die er zuvor die Pistole geschoben hatte. “Ihr Auftritt, Herr Pfeiffer, kommt noch.”

“Warum? Warum tun Sie das?”

Ein leises, abschätziges Schnauben. “Um für all jene zu sprechen, die es nicht mehr können. Um der Welt zu zeigen, dass Geld, Geiz und Gier die Mutter zwischenmenschlicher Abscheulichkeiten sind.” Die Stimme wurde schärfer, boshafter. “Und dass alles eine Konsequenz nach sich zieht.”

“Ich bin… Ich bin Richard Berger”, ertönte es hinter Pfeiffer und er fuhr herum. Eiskalt lief es ihm den Rücken hinunter. “Hören Sie auf!”, befahl er entsetzt. Berger starrte auf seine Hände herab, die zitternd die Pistole hielten. Seine Augen waren rot, Tränen quollen heran.

Das rote Licht der Kamera leuchtete.

Pfeiffers Kopf ruckte wieder herum. Er stierte in die Richtung, wo er das Gesicht des Unbekannten vermutete. Er spürte, wie es ihm heiß und kalt zugleich wurde. Ich bin im falschen Film, schoss es ihm durch den Kopf. “Sie lügen! Schauen hier zu wie ein kranker Sadist und am Ende erfährt niemand, wo Marlene ist!”

“Ich bin ein ganz normaler Bürger wie ihr…”

“Berger, nein! Hören Sie auf damit!”

Die Stimme des Unbekannten antwortete: “Ich bin ein ehrlicher Mann, der zu seinem Wort steht. Und im Gegensatz zu Ihnen verstehe ich, worauf es ankommt. Nur weiter, Herr Berger.”

Der Angesprochene schluchzte, zog die Nase hoch. “Ich habe weggesehen und dafür zehntausend Euro erhalten.” Abgrundtiefe Angst und Trauer erschütterten Bergers Stimme, ließen ihn die Worte stellenweise von Neuem ansetzen. Pfeiffer hatte sich noch nie so hilflos gefühlt. Aber er gab nicht auf. Der Jäger in ihm zog die Flinte hoch, zielte auf die heran rasende Wildsau. “Sie werden gar nichts damit erreichen, Sie irrer Scheißkerl!” In heißem Zorn stach er drohend mit dem Zeigefinger in Richtung des Erpressers.

“Meinetwegen sind Menschen gestorben.” Berger weinte.

“Sie enttäuschen mich, Herr Pfeiffer”, mahnte die Stimme aus dem Schatten. “Noch immer halten Sie an der Ignoranz fest, die Sie letzten Endes hierher gebracht hat. Leugnen das Offensichtliche und zeigen mit dem Finger auf andere. Sie wollen es wohl nicht begreifen.”

“Meine Gier und mein Geiz haben sie umgebracht…”

”Berger, tun Sie das nicht!”

Berger schluchzte, schniefte, nahm die Pistole in die rechte Hand. Sie zitterte wie Espenlaub und in Pfeiffer machte sich blankes Entsetzen bei diesem Anblick breit. Der Unbekannte lachte kurz und leise. Ein düsteres, boshaftes Lachen ohne jeglichen Humor. “Er scheint es begriffen zu haben. Sie hingegen verweigern sich noch immer der Wahrheit. Sehen Sie hin, Herr Pfeiffer! Sehen Sie endlich hin!

“Ich bin ein Schwein”, schluchzte Berger.

“Hören Sie auf! Er blufft!”

“Ein Ausbeuter.”

Pfeiffers Augen hingen an der Pistole, deren Lauf Berger sich selbst an die Schläfe drückte. Er war unfähig, zu handeln. Unfähig, sich wie der Held im Film auf das Opfer zu stürzen und im buchstäblich letzten Augenblick das Drama abzuwenden, während der Schuss in die Decke gehen würde. Unfähig,den hinterlisitigen Plan zu durchschauen und mit heldenhaften Schlussfolgerungen den Bösewicht zu bekehren, der nichts anderes tat als seine Rolle des tragischen Antihelden zu spielen. Machtlos wie ein Reh im Licht des Scheinwerfers sah er einfach nur zu.

Berger schloss die Augen. Schnodder und Tränen rannen sein Gesicht herab. “Ein Kapitalist.” Und Bergers letzte Worte waren: “Sagen Sie meiner Frau, dass es mir leid tut.”

Dann betätigte er den Abzug.

Das rote Licht der Kamera leuchtete.

Die Welt war plötzlich dumpf, wie in Watte gepackt. Ein schrilles, penetrantes Pfeifen fraß sich in seine Ohren, während sich der Waggon um ihn zu drehen begann. Seine Knie gaben nach, und er sackte zu Boden.

“Herr Pfeiffer, stehen Sie auf.”

Pfeiffer blickte desorientiert umher. Er wurde erneut aufgefordert, aufzustehen, und nun realisierte er, dass er auf dem Boden halb hockte, halb lag. ‚Die Begleiterscheinung eines Knalltraumas‘, würde ihm später die HNO-Ärztin erklären. ‘Schwindel, Desorientierung, … Ihr Trommelfell ist glücklicherweise unversehrt.’

“Sie haben noch eine Aufgabe zu erfüllen, Herr Pfeiffer. Ich möchte Sie daran erinnern, dass jede Sekunde über Leben und Tod entscheiden kann.”

Mühsam schluckte Pfeiffer die Übelkeit herunter, die sein Inneres erfüllte. Er arbeitete sich auf die Beine. Als er Berger sah, der dort am Boden lag, dessen Hirn und Blut an der Innenwand des Waggons klebte, musste er würgen.

“Sie wissen, was zu tun ist.”

“Erbärmlicher Schweinehund”, sagte Pfeiffer kraftlos. Die Fernbedienung flog auf ihn zu und er fing sie instinktiv auf. Als er wieder aufsah, war der Unbekannte durch die Tür in die Dunkelheit entschwunden.

Ein Monat später
Das Video von Richard Berger ging viral. Es wurde unzählig oft geteilt und millionenfach angesehen. Ein Mann, der mit Tränen in den Augen seine Verfehlungen eingestand – und der das ultimative Opfer brachte. Für viele war er ein Held. Für andere ein Idiot. Für Pfeiffer war er beides.

Die Polizei hatte Marlene gefunden. Lebend und schwer traumatisiert. Ihre Entführung und Gefangenschaft war offenbar gut durchdacht gewesen, denn das, was Marlene berichten konnte, führte zu keinem brauchbaren Ermittlungsergebnis. Der Täter war und blieb spurlos verschwunden.

Eines Abends, als er die Tür zu seiner Wohnung aufschloss, fiel ihm ein Briefumschlag auf dem Boden auf. Kein Absender. Jemand hatte ihn unter dem Türschlitz durchgeschoben. Nur ein einziges Blatt Papier darin, mit einer einzigen Zeile:

‚Die Wahrheit sieht nur, wer hinsieht.‘

Fünf Monate später

Pfeiffer stand auf der Brücke, die zum Europagarten führte. Unter ihm rauschte der Main, Lichter der Stadt flimmerten in der Dunkelheit.

Sein Artikel über den verheimlichten Menschenhandel hat ihn seinen Job bei der FGZ gekostet. Aber nach kurzer Zeit hat ihn eine andere Online-Redaktion angestellt. Pfeiffer ließ sich auf keine Mauscheleien mehr ein. Was er aufdeckte, machte er publik.

Das Video hatte die Welt bewegt, aber nichts verändert. Menschen hatten darüber gesprochen, geschrieben, gestritten. Doch die Namen der Opfer waren längst verblasst, und die Suche nach dem Täter war eingestellt worden.

Pfeiffer zog einen Zettel aus der Tasche. Die Schrift darauf war verwischt, aber er kannte den Text auswendig: ‚Die Wahrheit sieht nur, wer hinsieht.‘
Die Worte brannten in seinem Kopf. Sie waren nicht nur eine Erinnerung, sondern ein Fluch.

Er zerknüllte das Papier und warf es ins Wasser. Doch als er zusah, wie es davontrieb, wusste er, dass er es nicht loslassen konnte. Der Täter war noch da draußen. Er wusste von Pfeiffer. Beobachtete ihn. Und vielleicht wartete er darauf, dass Pfeiffer einen Fehler machte.

Pfeiffer drehte sich um und verschwand im Dunkel der Straßen. Sein Weg war klar. Die Wahrheit war eine Last, die er tragen würde.
Bis zum Ende.

Seitenwind 2024

Offene Enden – fünfter Teil

Die Cleaning Art Agency

In der Steuerzentrale der Cleaning Art Agency ging es geschäftig zu. OW saß am Regiepult und starrte entsetzt auf die Monitorwand. Berger und Pfeiffer standen im grellen Scheinwerferlicht und blinzelten abwehrend in die Kamera. »Leute, was ist denn das für ein furchtbares Licht. Verdammt! Bully! So kann ich nicht arbeiten! Unternimm etwas!«

Der Kameramann schüttelte missmutig den Kopf, während er zwischen den Kabeln hinter seinem Schreibtisch verschwand. Nur sein widerwilliges Grummeln war zu hören. »Der eine will mehr Licht, der andere weniger. Könnt Ihr euch mal einigen? Stellt endlich einen Beleuchter ein, ich bin Kameramann.«

In diesem Moment flackerte der Baustrahler im Eisenbahnwaggon und gab schließlich den Geist auf. Pfeiffer und Berger verschwanden für einen kurzen Augenblick im Dunkeln, dann flammte das Notlicht auf. OWs wutfaltige Stirn entspannte sich wieder. Sein Blick hellte sich sogar ein wenig auf. »Verdammt! Das Bild ist echt gut, trotz der miesen Lichtverhältnisse dort.« Er wandte sich wieder an den Kameramann. »Gute Arbeit! Wie hast du das hingekriegt?«

»Neue Hardware mit Nachtlichtlinsen und verbesserter Software«, erklärte Bully stolz.

»Das ist echt super«, murmelte OW. »Düster und krisselig wie in Der dritte Mann. Der kleine Dicke könnte glatt Orson Welles sein.«

»Aber Orson Welles war von großer Statur«, wandte Carson ein. »Außerdem dachte ich, dass du in diesem Projekt Orson Welles bist. OW, der große Regisseur!« Sie kicherte stumm und verdrehte die Augen.

»Von großer Statur?« Der Regisseur schnaubte verächtlich. »Nur weil du dieses Mal am Drehbuch mitgeschrieben hast, musst du nicht gleich so geschwollen daherreden. Bleib auf dem Teppich. Wir benutzen doch alle ein Pseudonym. Ich hab mir halt Orson Welles ausgesucht, so wie du Carson McCullers. Was dich übrigens nicht automatisch zu einer genialen Autorin macht. Ende der Debatte. Wichtig ist nur, dass wir unsere Rolle spielen und alles sauber über die Bühne bringen.«

»Auf die Bühne«, korrigierte Carson ihn grinsend. »Na ja, auf die digitale Bühne«, fügte sie hinzu.

OW ignorierte sie und wandte sich wieder den Monitoren zu. Er betrachtete fasziniert Richard Berger, der zitternd im körnigen Halbdunkel stand und verwirrt auf die Waffe in seiner Hand starrte. »Was für ein Bild! Was für eine Atmosphäre! Unsere Klienten werden begeistert sein! Leute, schaltet die Leitungen frei. Der Showdown kann beginnen.«

Weitere Monitore flackerten auf. Zuschauer aus aller Welt loggten sich mit einem teuer bezahlten Zugangscode ein. Außerdem schalteten sich die Auftraggeber der Show dazu: Die örtliche Vertretung einer osteuropäischen Mafia-Organisation, die in dieser Gegend die Prostitution und den dazugehörigen Menschenhandel kontrollierten, sowie einige ihrer geheimen Geschäftspartner und Unterstützer. Darunter angesehene Bürger der Stadt, wie der Herausgeber des Frankfurter Generalanzeigers, Konstantin Magnus – ein sehr besonderer Kunde des Venustempels mit sehr besonderen Bedürfnissen.

Er war es schließlich gewesen, der den Kontakt zur Cleaning Art Agency geknüpft hatte, als es brenzlich wurde und sie eine Lösung brauchten. Genauer gesagt, hatte er den Kontakt zu Muller hergestellt, dem Begründer der Agentur und ehemaligen Schulfreund. Er war der kreative Kopf des Unternehmens. Wenn es um die Bereinigung von unerwünschten Situationen ging, war er ein wahres Genie in Dramaturgie und Storytelling. Magnus bewunderte ihn dafür. Er hätte ihn gern als Autor in seiner Redaktion gehabt. Muller hatte auch die Idee zur Online-Performance. Ausgewählte Gäste konnten sich live zuschalten und sogar auf den Verlauf der Ereignisse wetten. Muller ließ die vorbestimmten Opfer gegeneinander antreten oder spielte sie gegeneinander aus, was an Zynismus kaum zu überbieten war. Es war so etwas wie ein zeitgenössisches Kunst-Projekt für Psychopaten. Ein Auftragsmord als inszenierte Performance oder die ausgefallene Dramaturgie einer Entführung mit Todesfolge – was auch immer verlangt wurde, in der Umsetzung war der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Auftraggeber oder zahlende Teilnehmer konnten sich dabei um eine Rolle bewerben, entweder als Autor, Regisseur oder Protagonist. Eine sehr beliebte Rolle war die des Rächers, auf dessen Konto gingen die meisten Morde. Aber auch Möchtegern-Regisseure fühlten sich berufen, das Drehbuch zu ihrem Meisterwerk ganz in Quentin Tarantino Manier zu schreiben. Eine ausgewählte Elite von internationalen Verbrechern und wohlhabenden Voyeuren sah dabei online zu und machte sich vor Aufregung ins seidene Höschen. Magnus lächelte bei dem Gedanken daran. Er suchte den kleinen Bildschirm nach Muller ab, aber er sah nur einen pixeligen Pfeiffer mit grimmigem Blick unter einer albernen Hutkrempe, und Berger, dessen Gesichtsausdruck zwischen Verwirrung und purer Angst wechselte – von Muller keine Spur.

Doch Muller war genau da, wo er sein sollte. Als der Baustrahler plötzlich erlosch, hatte er instinktiv einen Ausfallschritt Richtung Waggontür gemacht. Die gesamte Muskulatur seines Körpers war angespannt, er war auf alles gefasst gewesen. In dieser Geschichte rechnete er zwar kaum mit Widerstand, doch man konnte nie voraussehen, was geschah. Nun, im schwachen Schein der Notlichtlampe entspannte er sich wieder und ging zurück auf seine Position unterhalb der Kamera, darauf bedacht, nicht von ihr erfasst zu werden. Mullers Blick streifte Pfeiffers Fedora. Für ihn war dieser Hut im Gegensatz zu Magnus‘ Auffassung ganz und gar nicht albern. Bei seinem Anblick kamen ihm spontan Film-Szenen mit Humphrey Bogart als Sam Spade oder Philip Marlowe in den Sinn – Rollen, die er liebend gern einmal spielen würde. Doch jetzt hatte er eine andere Rolle zu spielen, nämlich die des Rächers. Ein Mann, der den moralischen Wertvorstellungen des christlichen Abendlandes huldigt und jene, die dem zuwiderhandeln, auf eigene Faust der gerechten Strafe zuführt. Das dies nur einer ausgefeilten Dramaturgie folgte und eigentlich reiner Bullshit war, machte es nicht besser. Er hatte diese Rolle zwar erdacht, aber er hatte sie nie spielen wollen. Doch Magnus hatte darauf bestanden: Du schuldest mir was. Ich will, dass du die Sache ein für alle Mal erledigst! Und damit meine ich jeden, der uns gefährlich werden könnte. Die Pastorin, ihren Bruder, den Reiseunternehmer, die Vertraute der Pastorin, die übrigens ausgerechnet die Ehefrau des nervigen Pfeiffers ist, einem Journalisten in meinem Haus. Den kannst du bei der Gelegenheit gleich mit entsorgen.

Muller sah zu Pfeiffer rüber. Sein Blick bedeutete Ärger. Typen wie er, machten immer Ärger. Er verstand Magnus’ Standpunkt. Diese Leute waren alle miteinander verbunden. Wenn man einen von ihnen loswerden wollte, musste man alle loswerden. Er kannte die Vorgeschichte. Nachdem Magnus den Journalisten Pfeiffer von der Story abgezogen hatte, weil der ihm zu dicht auf den Fersen gewesen war, wurde es in der Öffentlichkeit still um den Venustempel – zumindest eine Zeit lang. Doch schon bald tauchte eine neue Bedrohung auf, die Pastorin. Sie fühlte sich berufen, den verlorenen Seelen im Venustempel beizustehen. Nach ihrem Hausverbot sprach sie draußen mit den Mädchen. Mit der Zeit gewann sie ihr Vertrauen und schließlich die zärtliche Zuneigung einer jungen Frau aus Bulgarien, Vera. Die Pastorin versuchte, zu widerstehen, doch es gelang ihr nicht. Liebe macht blind, so sagt man. Man sagt auch, sie lässt die Menschen sanft und nachsichtig werden. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Marlene Romero sah ihre Liebe im Tempel der Wollust und der Gewalt gefangen und das machte sie hart, verbittert und unnachgiebig. Ihre Bemühungen, die neugewonnene Liebe zu befreien, mündeten schließlich in einem plumpen Fluchtversuch, bei dem Vera starb und sie selbst verletzt in einem dunklen Kellerloch landete. Magnus’ Opfer waren allesamt moralisch integre Leute. Für Muller war es nur logisch, für diesen Auftrag die Rolle des moralischen Rächers ins Spiel zu bringen. Sie war glaubhaft, und nur darum ging es ihm beim Storytelling. Die äußere Rahmenhandlung war nicht wichtig, sie konnte so absurd sein, wie sie wollte. Die Geschichte musste nur in sich schlüssig sein, dann würden die meisten Leute glauben, dass sie wahr sei.

Eine plötzliche Bewegung in den Augenwinkeln riss ihn aus seinen Gedanken. Berger hob die Waffe und richtete sie zitternd auf ihn. »Was ist, wenn ich es nicht tue? Wenn ich nicht mich, sondern Sie erschieße?« Seine Stimme war brüchig, doch in ihrem Beben lag trotziger Aufruhr.

Muller sah ihn aufmerksam an. Trotz der kühlen Abendluft schwitzte Berger. Sein Atem ging schwer und in seinem Blick lag der Ausdruck tiefer Verzweiflung. Er könnte es tun, dachte Muller für einen Augenblick. Doch dann schüttelte er gedanklich den Kopf. Nein! Aber diese, wenn auch nur vage Idee könnte das Geschäft ankurbeln. »Das hatten wir doch schon! Dann stirbt Ihre Schwester«, antwortete Muller ruhig. »Außerdem sind sie gar nicht in der Lage, einen Menschen zu verletzen, geschweige denn zu töten«, fügte er beinahe mitleidig hinzu. Er machte eine kleine Kunstpause und sah ihn herausfordernd an. »Oder doch?«

Das war das Stichwort für den Regieraum. »Meine Damen und Herren! Wie entwickelt sich die Geschichte nun weiter? Wird Berger sich selbst richten, um seine Schwester zu retten? Oder wird er sich gegen sein unvermeidliches Schicksal auflehnen. Die Wetten können platziert werden«, verkündete OW.

»Was soll das?«, rief Magnus unsicher. »Glaubst du wirklich, dieser Typ könnte sich wehren?«

»Du solltest wissen, wie unser Geschäftsmodell funktioniert«, erwiderte OW flüsternd. »Wir ziehen diese Szene nur etwas in die Länge, um die Wetteinsätze zu ermöglichen. Am Ende werden sie dennoch alle sterben. So wie geplant, du wirst sehen. Muller weiß, was er tut. Er hat alles unter Kontrolle!«

Das hatte Muller tatsächlich. Er hatte wie immer alles gründlich vorbereitet, die Protagonisten überprüft und ein psychologisches Profil von ihnen erstellt. Deshalb hatte er auch Berger die Waffe überlassen und nicht Pfeiffer, der anfällig für unkontrollierbare emotionale Ausbrüche war. Zur Sicherheit war die Waffe so präpariert, dass sie nur in sehr kurzer Entfernung tödlich war. Und um ganz sicherzugehen, trug er darüber hinaus eine Schutzweste. Daher blickte er einigermaßen gelassen in die Mündung der Pistole, die Berger mit zittriger Hand auf ihn richtete.

»Ich könnte Sie verletzen, Ihnen wehtun, bis Sie mir verraten, wo Sie meine Schwester gefangen halten«, drohte Berger mit unsicherer Stimme.

»Nun, das könnten Sie, nicht wahr? Wenn Sie so wären wie ich! Aber sind Sie das? Wir alle müssen uns irgendwann die Frage stellen, wer wir sind und wozu wir fähig sind, angesichts einer Bedrohung oder einer scheinbar ausweglosen Situation.« Er sah Berger geradewegs in die Augen und wusste, dass er ihn richtig eingeschätzt hatte. Er würde nicht abdrücken. Im Gegensatz zu Pfeiffer, dessen verzweifelte Wut in seinen verzerrten Gesichtszügen erkennbar war. Hätte er in diesem Moment die Waffe in der Hand, würde er wohl schießen, dachte Muller grimmig. OWs Stimme erklang plötzlich in seinem rechten Ohr: »Die Wetten sind platziert! Gut gemacht!« Gleichzeitig nahm er ein Zucken in Pfeiffers Gesichtsmuskeln wahr. Er machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts.

Der Journalist hatte in diesem Moment tatsächlich daran gedacht, einen Sprung nach vorn zu wagen und Muller niederzuringen. Doch er zögerte, wartete ab, was Berger tun würde. Sollte er tatsächlich schießen, wollte Pfeiffer nicht in die Schussbahn zwischen die beiden geraten.

Und so beobachteten die drei sich gegenseitig, angespannt und abwartend, während sie ihrerseits durch die Linse einer hochauflösenden digitalen Webcam betrachtet wurden. Jeder hatte dabei seine eigenen Interessen im Blick und niemand dachte in diesem Augenblick an etwas anderes, schon gar nicht an Dorothea Berger. Weder Ihr Mann, noch Pfeiffer, noch Muller, der ansonsten immer alles im Blick hatte. Für ihn war sie eine unscheinbare Randfigur in der Betrachtung der Geschichte – jedoch eine, die unbemerkt einen Stein ins Rollen gebracht hatte, nachdem ihr Mann und Pfeiffer das Haus verlassen hatten. Eigentlich war es sogar mehr als nur ein Stein, es war eine Lawine, die in ihrer Größe und Wucht das ganze Theater zu zerschmettern drohte. Sie hatte nämlich wider ihren Versprechungen und trotz ihrer Zweifel die Polizei alarmiert.

Kommissar Brandt kam dieser Anruf sehr gelegen, denn er hatte die Betreiber des Venustempels schon länger im Visier. Er hatte sogar eine neue Task Force eingerichtet, die jeder möglichen Spur gefolgt war. Die Kollegen hatten auch mit der Pastorin, Marlene Romero, in Verbindung gestanden und mit ihr Informationen ausgetauscht. Nach ihrem Verschwinden vor zwei Tagen hatten sie ihre Untersuchungen verstärkt und sich voll und ganz auf diesen Fall konzentriert. Schließlich konnten sie die Verbindung zwischen Venustempel, Konstantin Magnus und der Cleaning Agency nachvollziehen. Mit dem Anruf, den Dorothea Berger an diesem Abend mit aufgewühlter Stimme und schlechtem Gewissen tätigte, hatte Brandt endlich einen handfesten Grund mit seiner Task Force auszurücken. Sie teilten sich auf und fuhren Richtung Venustempel sowie zum Hauptsitz der Cleaning Art Agency und dem Industriegelände am Rande der Stadt.

Inzwischen wurde Pfeiffer langsam ungeduldig. »Was ist nun?«, fragte er und sah Berger erwartungsvoll an.

Doch Berger reagierte nicht, war in sich gekehrt. Er haderte mit dieser vermaledeiten Frage, wer er war, und wer er in dieser Situation sein wollte. Ganz so, als könnte er sie beantworten, sich erheben und tun, was getan werden musste. Doch die Wahrheit war, dass er mit dieser Situation vollkommen überfordert war. Er war kein Intellektueller, hatte kein ausgeprägtes selbstreflektierendes Bewusstsein über sich selbst. Doch soviel wusste er, er war ein einfacher Mann – freundlich genug, um nachsichtig gegenüber seiner liebevollen Frau zu sein und ihre furchtbare Scherzkrawatte zu tragen, ohne sich zu beschweren, doch auch naiv und verantwortungslos genug, um dunkle Geschäfte mit Mafiosi zu machen, deren Details er bewusst ignorierte, während er wegsah. Er starrte auf die Waffe, sie lag schwer in seiner Hand. Nicht nur die Schwerkraft zerrte an ihr, auch sein Gewissen, seine Schuldgefühle und seine verfluchte Angst drückten sie unerbittlich nach unten. Schließlich ließ er sie erschöpft sinken. Er wischte sich über das schweißnasse Gesicht und seufzte: »Ich kann das nicht!«

Muller hörte durch seinen Ohrstöpsel den Jubel jener, die richtig gewettet hatten und die ärgerlichen Kommentare derer, die daneben lagen. Er lächelte still in sich hinein, denn bei solchen Transaktionen konnte er als Veranstalter nur gewinnen. Er wandte sich an Berger, der wie ein Häufchen Elend in sich zusammengesunken war und jetzt auf den hölzernen Planken des Waggons saß. »Nun gut! Dann halten Sie jetzt ihre Ansprache. Stehen Sie auf und schauen Sie direkt in die Webcam. Wiederholen Sie die Worte, die ich vorgegeben habe. Danach richten Sie sich selbst, am besten durch einen Kopfschuss.«

Doch Berger reagierte wieder nicht. Er saß nur da und schluchzte vor sich hin. Pfeiffer dagegen vibrierte am ganzen Körper. Sein Siedepunkt war erreicht und Berger hatte den Weg für ihn freigemacht. Mit einem gewaltigen Satz sprang er auf Muller zu. Dieser hatte zwar die Anspannung Pfeiffers vor dem Sprung aus den Augenwinkeln wahrgenommen, konnte aber nicht schnell genug reagieren. Er griff nach seiner Pistole, doch der Lauf hing am Futter seiner Jackentasche fest, und der Schuss, der sich im darauffolgenden Gerangel löste, ging geradewegs durch seinen rechten Fußrücken. Die Kugel zerschmetterte den gewölbten Spann und jagte einen gewaltigen Schmerz durch Mullers Nervensystem. Sein Geschrei übertönte die Geräusche in seinem rechten Ohr: die aufgeregten Rufe und die Schusswechsel in der Steuerzentrale der Agentur, als Brandts Task Force dort eintraf. Im nächsten Moment tauchte Brandt selbst mit einigen seiner Kollegen am Eisenbahnwaggon auf und stürmte hinein. Er hatte einige Mühe, Pfeiffer von Muller zu trennen, der wie von Sinnen all seine Wut in Muller hinein prügelte, ganz so, als könnte er sich auf diese Art von ihr befreien. Als Brandt ihn schließlich von ihm getrennt hatte, war Muller einen Moment lang unbeobachtet. Er Griff in die Jackentasche und zog seine Pistole heraus. Halb betäubt durch den Schmerz schoss er auf gut Glück um sich. Eine Kugel traf Berger mitten ins Herz. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Richard Berger erstaunt auf, dann entspannte sich sein Gesicht beinahe zu einem Lächeln. Er sank ein letztes Mal in sich zusammen. Muller starb Sekunden später im Kugelhagel der Task Force.

Bergers Tod holte Pfeiffer schlagartig aus seinem tranceartigen Zustand aus Wut, Hass und Verzweiflung. Der ganze emotionale Moder tropfte von ihm ab und er sackte in sich zusammen, wie Berger in sich zusammengefallen war – nur nicht so endgültig. Er fühlte sich leer und irgendwie hohl – ein einzelner Gedanken schien in ihm haltlos umherzuirren. Maria! Maria? Maria…

Brandt half ihm auf die Beine. »Hey, ist alles okay? Sind Sie verletzt?«

Pfeiffer schüttelte den Kopf. Langsam füllte sich die Leere wieder mit Erinnerungen, Gefühlen und Gedanken. Es war schmerzhaft, aber bald konnte er sich wieder in der Wirklichkeit orientieren. »Was ist mit der Pastorin?«, fragte er schließlich. »Habt Ihr sie gefunden?«

»Sie meinen Marlene Romero? Ja, es kam gerade über Funk durch. Sie ist im Keller des Venustempels gefunden worden. Sie ist verletzt, aber sie wird es wohl überstehen. Die Mitarbeiter des Bordells und der sogenannten Cleaning Art Agency sind verhaftet. Ebenso ihr Chef, Konstantin Magnus.«

Pfeiffer schaute für einen Moment verdutzt drein, dann schüttelte er grinsend den Kopf. »Gut«, erwiderte er. »Dann ist die Sache also endlich vorbei?«

»Vorbei?« Brandt lachte bitter. »Jetzt geht es erst richtig los. Spurensicherung, Verhöre, Zeugenbefragungen, Berichte und unzählige Formulare. Und Sie haben sicherlich auch einiges zu tun, nicht wahr?«

Pfeiffer sah ihn fragend an.

Brandt legte eine Hand auf seine Schulter und schob ihn vorwärts. »Nun ja, die Öffentlichkeit muss schließlich informiert werden. Ich will einen ausführlichen Artikel im Frankfurter Generalanzeiger lesen. Ein wohlwollender Kommentar bezüglich meiner Task Force ist übrigens durchaus willkommen«, fügte er lächelnd hinzu.

Hätte OW diese Schlussszene jetzt sehen können, wäre er wohl begeistert gewesen. In diesem körnigen Licht entfernten sich zwei Männer aus dem Waggon. Der eine trug einen Fedora, der andere eine Uniform. Sie schritten gemeinsam in die Nacht, einer Zukunft entgegen, die für alles offen war, sogar für den Beginn einer wunderbaren Geschichte.

Sedieren hat sich bewährt

Juri Datschew wusste, dass er gewonnen hatte. Zumindest dieses Spiel. Er konnte all die Pfade sehen, die diese Begegnung nehmen könnte, und jede hatte er abgesichert.
Richard Berger würde sich selbst richten, wie er verlangte, weil er seine Schwester nicht in Gefahr bringen wollte. Das war der wahrscheinlichste Ausgang. Und dann würde Christian Pfeiffer sich verpflichtet fühlen, das Opfer nicht umsonst gewesen sein zu lassen und das Video einmal mehr einem breiten Publikum zur Verfügung stellen. Das würde auch Konstantin Magnus nicht länger ignorieren können und er würde sich endlich zeigen, dieser windige Fuchs, und Juri würde den nächsten Namen auf seiner Liste in Angriff nehmen können …
Natürlich konnte Berger stattdessen auch auf Juri schießen. Das war unwahrscheinlich, aber für diesen Fall trug er eine kugelsichere Weste und stand außerdem noch so im Licht, dass Berger nicht gut zielen konnte.
Außerdem könnte Berger auf die Webcam schießen. Das würde Juri gar nicht gefallen, weil alles aufgezeichnet werden musste, aber er hatte einen Ersatz dabei.
Zuletzt könnte sich Pfeiffer noch einmischen, aber dafür hatte er immer noch seine Pistole und würde ihn damit zurück auf Linie bringen. Und wenn sein Recherchestopp gegen diesen verfickten Venustempel eins gezeigt hatte, dann, dass er leicht auf Linie zu bringen war.
Nein, der Plan war perfekt und Berger würde die Pistole heben …
„Und bumm!“, sagte Juri und schubste die Legofigur vor seiner Nase um. Er kicherte in sich hinein und lachte dann lauthals los. Alles so perfekt geplant, dass er es vor seinem inneren Auge wie einen Film ablaufen lassen konnte, mit Perspektivwechseln und inneren Monologen und allem Drum und Dran! Es war herrlich. Jetzt musste er nur noch irgendwie hier raus und seine Vision Wirklichkeit werden lassen.
Hier raus hier raus hier raus! Ja! Er musste hier raus!
Er lachte nicht mehr, sondern kreischte jetzt und schlug mit den Fäusten gegen die weiß gepolsterten Wände.

„Juri hat mal wieder einen Anfall“, sagte Sven Lurks mit einem Seufzer und winkte seinem Azubi Olli zu, auch durch das Türfenster zu schauen. Olli musste sich dazu auf die Zehenspitzen stellen.
„Hat er die häufiger?“, fragte Olli.
„Hm“, machte Sven unbestimmt. „Hin und wieder. Er plant eine große Racheaktion oder so was gegen die Leute, die seine Freundin in den Selbstmord getrieben haben. Und jedes Mal, wenn er mitkriegt, dass er in der Geschlossenen einsitzt, geht das hier wieder los.“
Olli verzog das Gesicht. „Ist das mit seiner Freundin wirklich passiert?“
Sven zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Die Leute, die er ermorden will, die gibt’s zumindest alle wirklich, so weit ich weiß.“
„Unheimlich.“
„Aber Juri ist auch fest davon überzeugt, dass Gott zu ihm gekommen ist, ihn gekreuzigt hat und ihm dann den Auftrag gegeben hat, in Seinem Namen alle Sünder zu richten. Er hat eine lebhafte Fantasie.“ Sven gab im Allgemeinen nicht so viel auf das Gerede eines Irren.
„Voll krass“, sagte Olli beeindruckt und schaute wieder in den Raum. „Und was machen wir jetzt mit ihm?“ Juris Schreien war mehr und mehr zu einem animalischen Brüllen geworden.
„Tja“, sagte Sven und öffnete den schmalen Schrank neben der Tür. Eine Batterie Spritzen glänzte darin. „Sedieren hat sich bewährt.“

Manchmal ist Überleben die grausamste Strafe von allen

Richard Berger stand reglos da, die Pistole in der Hand. Jede Sekunde, die verstrich, brachte Marlene dem Tod näher. Seine Finger zitterten, während die Worte des Unbekannten im Waggon verhallten.
Pfeiffer warf einen Blick auf die blinkende Kamera, dann auf Berger. Alles in ihm schrie, die Waffe aus der Hand des Reiseveranstalters zu reißen und diesen Psychopathen niederzuschlagen. Ihn leiden zu lassen – für Maria!
Zugegeben die Pistole, des Mannes in der Lederjacke war eine stille Drohung, sich nicht einzumischen. Von wegen!
«Woher wissen wir, dass Sie Ihr Wort halten?» Pfeiffers Stimme zitterte leicht, doch sie war fest genug, um die Aufmerksamkeit des Unbekannten zu bekommen. «Wie können wir sicher sein, dass Marlene freikommt, wenn wir tun, was Sie verlangen?» Er traute dem Mann nicht, aber er versuchte Zeit zu gewinnen – Zeit, um einen Ausweg zu finden.
Dieser Psychopath lächelte nur kalt. «Vertrauen? Herr Pfeiffer, das spielt hier keine Rolle. Sie haben die Wahl. Wenn Sie kooperieren, hat Marlene eine Chance. Wenn nicht… nun ja, ihre Luft reicht nicht ewig.»
Berger, der bisher geschwiegen hatte, hob den Kopf, seine Augen rot und glasig. «Was stimmt nicht mit Ihnen?», krächzte er mit brüchiger Stimme. «Was treibt einen Menschen zu so etwas? Zu diesem… kranken Spiel?»
Der Unbekannte lachte leise auf. «Sie wollen mich nicht verstehen Herr Berger. Sie suchen nach einem Sinn, wo es keinen gibt.» Er trat einen Schritt vor, blieb weiterhin im Schatten verborgen. «Die Welt ist voller Schuld. Menschen wie Sie, wie Pfeiffer, wie Maria, Klaus oder Ihre Schwester – sie alle sind voller Schuld. Ich bin nur derjenige, der den Preis einfordert.»
«Richard, hör nicht auf ihn!» Beschwor Pfeiffer den Reiseveranstalter. «Es geht ihm nicht um Marlene, es geht um dich. Sie ist ihm völlig egal! Er will das du leidest.»
Berger starrte auf die Pistole in seinen zitternden Händen. «Aber was soll ich denn machen? Wenn ich nichts tue, stirbt sie. Und wenn ich…» Er schluckte schwer. «Ich habe … doch jetzt… Marlene…»
Pfeiffer trat einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand aus. «Gib mir einfach die Waffe. Wir finden einen anderen Weg.» Berger sah Pfeiffer an, ein schwaches Flackern von Hoffnung in den Augen.
Mit einer fließenden Bewegung zog der Mann seine eigene Waffe aus der Tasche und richtete sie auf Pfeiffer. «Keine weiteren Schritte, Herr Journalist. Mischen Sie sich nicht ein.»
Pfeiffer erstarrte mitten in der Bewegung.
Berger wandte den Blick zur Kamera. Seine Lippen bebten.
«Na los, Herr Berger,» sagte der Unbekannte, seine Stimme triefte vor Häme.
Der Reiseveranstalter war leichenblass, Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton hervor.
«Wissen Sie, warum Sie so zögern, Herr Berger? Weil Sie wissen, dass ich recht habe. Jeder von Ihnen ist schuldig, doch ganz besonders Sie!»
Tränen liefen ungehindert über Bergers Wangen. «Ich wollte das nicht… Ich wusste nicht, wofür die Fahrten wirklich gedacht waren! Es sollte doch nie jemand zu Schaden kommen.», wimmerte er.
«Natürlich wussten Sie es.» Erwiderte der Mann kalt. «Sie haben sich einfach entschieden, wegzusehen. Und jetzt? Jetzt haben Sie die Wahl, Berger. Helfen Sie Ihre Schwester… oder nicht.»
Berger atmete tief ein. Die Kamera blinkte rot. Er drehte sich in ihre Richtung und sprach mit kratziger Stimme:

«Ich bin… Richard Berger. Ein normaler Bürger, wie… wie ihr alle. Zehntausend Euro, dafür habe ich weggesehen. Wegen mir… wegen mir sind Menschen gestorben. Ich habe sie umgebracht – mit meinem Geiz und meiner Gier. Ich… Ich bin ein Schwein. Ein Ausbeuter! Ein Kapitalist!»

Der Unbekannte trat zurück und lehnte sich lässig gegen die Wand des Waggons, als sei er hier um sich eine unterhaltsame Show anzusehen und keinen Selbstmord. Die Pistole entspannt in einer Hand. Pfeiffer konnte spüren, wie die Zeit unter seinen Fingern verrannen. Er musste handeln. Ein Gedanke jagte den nächsten, keiner erschien sinnvoll. Sein Blick wanderte hinüber zum Fremden, zur Waffe, zu Berger.
Dieser hob die Pistole, richtete sie langsam auf seine eigene Schläfe, seine Schultern bebten unter den unterdrückten Schluchzern. «Ich bin ein Monster,» flüsterte er kaum hörbar. «Ich habe Menschen sterben lassen. Und jetzt… sie darf nicht auch noch wegen mir sterben.» Er schloss die Augen.
«Nein!» Ohne wirklich zu wissen, was er tat stürzte Pfeiffer nach vorne, und packte Berger am Arm. Ein Schuss löste sich, peitschte durch den Raum, so laut, dass Pfeiffer ein klingeln in den Ohren hörte. Der Klang zerriss die angespannte Stille. Bergers Blick war starr auf einen Punkt hinter ihm gerichtet, seine Augen weit vor Entsetzen. Im nächsten Augenblick brach er zusammen, seine Knie gaben unter ihm nach. Die Pistole fiel mit einem dumpfen Klirren auf den Boden.
Langsam drehte Pfeiffer sich um. Der Fremde schwankte, die Hand an die Seite gepresst. Ein gequältes Stöhnen entwich ihm, als er rückwärts taumelte und an der Wand zu Boden rutschte. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor und verteilte sich auf dem rostigen Untergrund. Die Pistole glitt klappernd aus seiner Hand.
Die Zeit schien stillzustehen.
Es dauerte einen Moment bis Pfeiffer reagierte und auf den Mann zustürzte. Mit einem Kick beförderte er die Waffe ins Freie.
Der Fremde starrte ihn an. «Sie Idiot…», keuchte er, die Worte kaum mehr als ein Flüstern. «Sie haben versagt. Aber nicht nur Sie.» Sein flackernder Blick glitt in Bergers Richtung. «Marlene – sie ist jetzt nichts weiter als ein weiteres Opfer Ihrer Unfähigkeit. Ihr werdet sie nie finden…».
Pfeiffer riss den Mann an seinem Shirt hoch, genoss es beinah, als der Mann gequält aufschrie. «Wo ist sie? Sag es mir! WO IST SIE?»
Der Unbekannte reagierte nicht. Er hatte das Bewusstsein verloren. Hastig presste Pfeiffer eine Hand auf die Wunde, während er mit der anderen zitternd den Notruf wählte. Das Arschloch durfte noch nicht sterben, wenn Marlene leben sollte.

Kurz darauf stürmte die Polizei den Waggon. Der Unbekannte wurde bewusstlos abtransportiert, während Berger in einen Krankenwagen bugsiert wurde. Er hatte einen schweren Schock erlitten und zitterte unkontrolliert. Pfeiffer, der die Szene mit leerem Blick beobachtete, wurde von einem Ermittler zur Seite genommen und befragt, bevor man ihn ebenfalls ins Krankenhaus brachte. «Er hat Marlene,» wiederholte er immer und immer wieder drängend. «Sie hat nur noch wenig Zeit. Sie müssen Marlene finden, bevor es zu spät ist.»

Im Keller eines verlassenen Gebäudes fanden die Beamten einige Stunden später Marlene Romero. Sie lag zusammengekauert in einer Ecke des winzigen Raums, ihre Hände blutig, als hätte sie verzweifelt an der Tür gekratzt, um sich zu befreien. Zu spät. Marlene war qualvoll erstickt. Die Nachricht erreichte Pfeiffer und Berger im Krankenhaus. Berger erlitt einen erneuten Zusammenbruch, schluchzte haltlos in den Armen seiner Frau. Pfeiffer saß einfach stumm da, unfähig, etwas zu fühlen außer einer lähmenden Leere. Die Schuld lastete schwerer auf ihm, als je zuvor. Er hatte den Fremden überwältigen und falls erforderlich mit Gewalt aus ihm heraus quetschen wollen, wo er Marlene gefangen hielt. Doch dieser war seit dem Unfall ohne Bewusstsein, hatte ihnen nichts preisgeben können.
Ein Team der Cyber-Abteilung hatte daher die Überwachungskamera des Industriegebiets überprüft, und so den letzten Standort des Mannes vor ihrem Treffen herausgefunden. Der Unbekannte war wenige Stunden zuvor aus einem Wagen am Rand des Industriegebiets gestiegen und dann aus dem Sichtfeld der Kameras verschwunden. Ein Suchteam machte sich sofort auf den Weg. Die Gegend dort war voll von Fabrikhallen und Gebäuden mit weitläufigen Kellerräumen. Die Polizei durchkämmte das Gelände mit Wärmebildkameras und Suchhunden, doch die Minuten verstrichen erbarmungslos. Währenddessen saß Pfeiffer regungslos in einem spärlich eingerichteten Krankenhauszimmer, die Hände verschränkt, die Augen starr auf den Boden gerichtet. Jede Sekunde zog sich schier unendlich in die Länge, das Warten zermürbte ihn Stück für Stück. Die Worte des Unbekannten hallten in seinem Kopf wider: «Ihr werdet sie nie finden… Sie haben versagt…»

Einige Wochen später saß Pfeiffer allein in seiner Wohnung, einen großen Pott schwarzen Kaffee in der Hand, und starrte auf den Bildschirm seines Laptops. Der Artikel war veröffentlicht, die Reaktionen gewaltig. Die Enthüllung des Menschenhändlerrings hatte die Stadt erschüttert. Berger Reisen war geschlossen, und Richard Berger selbst befand sich in psychiatrischer Behandlung, vorläufig wegen Beihilfe angeklagt. Doch Pfeiffer verspürte keine Genugtuung.
Heute wäre ihr Jahrestag gewesen. Vor genau einem Jahr hatte Marlene ihn und Maria getraut. Nun liefen die Fotos ihres besonderen Tages in Endlosschleife über seinen Bildschirm. Marias Lächeln – dieses warme, strahlende Lächeln – schien ihm jedes Mal einen Dolch ins Herz zu stoßen, wenn er es sah.
Während er die Bilder betrachtete, stieg in ihm das unaufhaltsame Gefühl auf, dass nichts wirklich vorbei war. Nicht für ihn, nicht für die Bergers. Marlene war tot, Maria war tot – und er, er lebte weiter.
Er stellte sich vor, wie Marlene ihre letzten Stunden in diesem kalten, fensterlosen Kellerloch verbracht hatte. Allein, mit nichts als der verzweifelten Hoffnung, dass jemand, irgendjemand, sie finden würde. Und dann dachte er an den Unbekannten, der im Krankenhaus gestorben war.

«Ihr werdet sie nie finden.»

Er hatte recht behalten. Und diese Wahrheit würde Pfeiffer für den Rest seines Lebens verfolgen. Manche Entscheidungen ließen einen nie los.
Er senkte den Blick, die Bilder von Maria verschwammen hinter seinen Tränen. Alles, was ihm geblieben war, waren Erinnerungen – und eine Schuld, die er niemals würde begleichen können.

Offene Enden – Finale

Verspekuliert

Richard Berger starrte auf die Pistole in seinen Fingern. »Sind … sind Sie denn völlig wahnsinnig? Sie wollen, dass ich mich umbringe?« Er hatte Mühe, die Worte über seine bebenden Lippen zu bringen.

»Wahnsinnig?!« Die Stimme des Unbekannten zitterte vor Entrüstung. »Es geht mir nur um die Wahrheit, um Schuld und um Sühne! Das, was Sie meiner kleinen Schwester angetan haben.«

»Ihrer Schwester? Aber ich kenne doch Ihre Schwester überhaupt nicht«, stammelte Berger.

»Keines dieser kranken Schweine hat sie gekannt«, keifte der Unbekannte. »Das hat sie nicht davon abgehalten, sie umzubringen! Auf einer ihrer kranken Sexpartys in diesem verfluchten Bordell!«

»Damit haben wir nichts zu tun!«, versuchte sich Berger zu rechtfertigen. »Glauben Sie mir! Ich hatte doch keine Ahnung von alledem.« Seine Finger massierten den Kunststoffgriff der Waffe, der sich an seiner transpirierenden Handfläche wie ein Stück schmierige Seife anfühlte.

Die Stimme des Unbekannten beruhigte sich: »Die Uhr tickt, Herr Berger. Sie haben die Wahl. Eine Wahl, die meine Schwester nicht hatte.«

Der Schweiß auf Bergers Stirn begann zu perlen. Mit dem Hemdsärmel wischte er sich über die Schläfen, wobei ihm bewusst wurde, wie nah die durchgeladene Waffe in seiner Hand an seinem Kopf vorüberzog.

»Knallen Sie den Kerl ab!«, hörte er Pfeiffer brüllen. »Er wird uns sonst beide töten!«

Berger zögerte, versuchte nachzudenken. »Aber … aber meine Schwester!«

»Wir werden sie finden. Die Polizei wird sie ausfindig machen. Die sind Experten in solchen Dingen. Glauben Sie mir.«

»Und wenn nicht?«

»Nun machen Sie schon! Das ist unsere einzige Chance. Dieser Irre hat zwei Menschenleben auf dem Gewissen!« Die letzten Erinnerungsbilder von Maria in ihrem roten Mantel auf der Straße vor dem Verlagstower tanzten vor Pfeiffers innerem Auge. Er wollte Rache. Jetzt. Und dies war die Gelegenheit.

Ohne es zu wollen und unfähig einen vernünftigen Gedanken zu fassen, richtete Berger die Pistole auf den Unbekannten. Seine Hand zitterte unter dem Gewicht der Waffe. Er konnte sehen, wie Kimme und Korn umeinander tanzten und der Lauf wirre Bahnen zog. Selbst auf die kurze Entfernung bestand keine Gewissheit, dass er sein Ziel treffen würde. Sein erster klarer Gedanke war, ob er die Waffe entsichern musste. Der zweite galt Marlene, seiner Schwester, die ihm alles bedeutete.

»Tick tack, Herr Berger«, verhöhnte ihn der Unbekannte, in dessen Gesicht sich weder Angst noch Sorge zeigte, obwohl der Pistolenlauf nun eisern auf sein Herz zielte.

»Worauf warten sie!«, schrie Pfeiffer. »Drücken sie ab!«

Bergers Zeigefinger wanderte auf den Abzug. Dann riss er die Waffe hoch und presste sich die Mündung gegen die Schläfe. Er spürte die Kälte des Stahls und wie der Schweiß sich um den Lauf sammelte.

»Was tun sie denn?«, rief Pfeiffer fassungslos.

»Ich … ich kann doch meine Schwester nicht sterben lassen!«, wimmerte Berger, dessen Fingerkuppe am Abzug nervös auf- und abrutschte. Pfeiffer erkannte sofort, dass er verzweifelt und verwirrt genug war, abzudrücken, auch, wenn dies jedem menschlichen Instinkt der Selbsterhaltung zuwiderliefe.

»Tick tack tick tack«, trällerte der Unbekannte, worauf sein Mund ein hämisches Grinsen formte.

»Nein, tun sie das nicht!«, redete Pfeiffer auf Berger ein. »Das ist es doch was dieser kranke Psychopath will.«

Als Berger den Kloß herunterschlucken wollte, der ihm die Kehle versperrte, brach der Schuss. Blut, Knochensplitter und Hirnmasse spritzten hörbar gegen die Wagonwände. Der Knall, der von den Holzbohlen zurückgeworfen wurde, war so laut, dass Pfeiffer ein Stechen in den Gehörgängen spürte. Darauf nahm er nur noch ein grelles Pfeifen wahr.

Der Körper des Unbekannten polterte zu Boden.

Auch in Bergers Ohren klingelte es glockenhell. Als er den Schuss vernommen hatte, dachte er, er hätte sich unwillentlich selbst erschossen, auch, wenn ihm schnell klar wurde, dass er dann kaum hier stehen würde. Zitternd nahm er die Waffe von seiner Schläfe und starrte perplex auf den entseelten Körper am Boden. Darauf, nur noch verwirrtes Schweigen.

In der Schiebetür des Wagons erschien ein Waffenlauf – verchromt und blitzend im grellen Schein des Baustrahlers. Es folgte eine Hand, die den Revolver hielt. Eine Frauenhand. Ein Ärmel. Eine Gestalt im grauen Wollmantel.

»Doro?!« Bergers Gesicht verschob sich zu einer verblüfften Grimasse.

Unbeholfen kletterte Dorothea Berger in den Wagon, wobei sie mit ihrer Waffe unablässig auf den Unbekannten am Boden zielte. Es schien, als wäre sie unschlüssig, ob er noch immer eine Bedrohung darstellen konnte, auch, wenn das Meiste seines Gehirns von den Holzwänden tropfte.

»Aber … was tust du denn hier?«, fragte Berger überrascht und erleichtert zugleich.

Dorothea drehte sich zu ihm und Pfeiffer um. In ihrem Gesicht, in dem beide Entsetzen und Verstörung erwartet hatten, nichts als Eiseskälte.

»Mir blieb keine Wahl. Dieser Kerl hier ist uns auf die Schliche gekommen. Und alles nur wegen dieser kleinen Schlampe! Einer Schlampe, die niemand hätte vermissen sollen.«

»Was … wovon redest du nur?«, wollte Berger wissen.

»Dieses Gör hat sich bei Marlene ausgeheult. Wollte raus aus der Szene. Uns anzeigen. Aber, das konnten wir nicht zulassen. Fast schon Ironie, dass dieser Irre hier Marlene gekidnappt hat, bevor sie doch noch zur Polizei gehen konnte.«

»Dann stecken sie mit diesen Menschenhändlern unter einer Decke?«, schlussfolgerte Pfeiffer mit großen Augen.

Das Lächeln auf Dorotheas rotgeschminkten Lippen war der Antwort genug.

»Sag mir, dass das nicht wahr ist.« Langsam schüttelte Berger seinen Kopf. Er erinnerte sich an die Busreisen nach Sofia. Und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen: Um all die Formalitäten hatte sich seine Frau kümmern wollen. Und das, obwohl sie sich für gewöhnlich kaum in seine Geschäfte einzumischen pflegte.

Dorothea hob die Waffe und richtete sie auf ihren Mann. »Nun, ein Gutes hat diese ganze Geschichte«, murmelte sie nachdenklich. »Eine bessere Gelegenheit für mich, aus dieser Sache herauszukommen, wird sich kaum bieten. Dieser Wahnsinnige hier wollte auf seinem Rachefeldzug jeden töten, der für den Tod seiner Schwester verantwortlich war. Tja. Und dabei hat er euch beide einfach umgebracht. Was blieb mir da für eine Wahl …« Überraschend leicht spannte sie den Hahn des großkalibrigen Smith & Wesson Revolvers. Ihre Hand zitterte nicht. »Jetzt setz dir diese verdammte Pistole wieder an deinen Kopf, Richard, und drück ab!«, drohte sie mit Eis in der Stimme, während sie den Lauf gewissenhaft auf Bergers Stirn ausrichtete. »Sonst mache ich es!«

Fassungslos starrte er sie an. Seine Dorothea, mit der er seit über fünfundzwanzig Jahren verheiratet war.

»Wir … wir haben das alles auf Video!«, warf Pfeiffer geistesgegenwärtig ein und wies mit seinem Finger auf die Kamera. »Wir sind online. Niemand wird Ihnen diese Geschichte abkaufen! Jeder im Internet sieht uns zu und …«

»Ein netter Versuch, Herr Pfeiffer«, unterbrach ihn Dorothea gelassen. »Ich habe Eure Unterhaltung vorhin verfolgt. Und Sie werden nicht mehr dazu kommen, dieses Video online zu stellen. Mein Wort darauf.«

Berger riss die Pistole hoch und zielte auf seine Frau – Mündung gegen Mündung. »Du … du …« Er wollte so vieles sagen, doch fand er keine Worte. Am Ende stammelte er nur: Wieso? Verdammt!«

»Weißt du, Liebling«, säuselte Dorothea mit gehobenen Brauen, »eigentlich konnte ich dich immer ganz gut leiden. Aber, du verstehst sicher, dass ich es nicht riskieren kann, wegen dir ins Gefängnis zu wandern.«

»Hat es dir je an irgendetwas gefehlt?«, wehklagte Berger, der angestrengt versuchte, seine Waffe ruhig zu halten. »Wir … wir hatten doch ein gutes Leben, wir …«

»Vielleicht hättest du nicht unser Erspartes an der Börse verzocken sollen«, grollte Dorothea finster. »Ich habe mit diesen Busreisen in zwei Monaten mehr Geld verdient, als du in den letzten zehn Jahren!«

Mit der freien Hand lockerte Berger den Knoten seiner Eurozeichen-Krawatte, welche ihm den Hals zuschnürte. Längst war seine Verwirrung Wut gewichen. Immenser Wut, wie er sie jedes Mal verspürte, wenn seine Frau ihm seine missglückten Aktiengeschäfte vorhielt. Und die späte Einsicht, dass ihr vermeintlich liebevolles Geschenk nur Ausdrucks ihres Hohnes und Spottes war, steigerte diese ins Unermessliche. Wieder massierte seine Fingerkuppe den Abzug. Würde ihr die Zeit bleiben, selbst abzudrücken, fragte er sich, wenn er ihn nur überraschend genug betätigte?

Unstet wanderten Pfeiffers Augen zwischen Berger und Dorothea hin und her. Maria war vergessen und der Reporter in ihm erwacht. Er wusste, dass hier eine der aufregendsten Storys lauerte, mit der er je konfrontiert gewesen war. Wahrscheinlich die beste, die im Frankfurter Generalanzeiger jemals erscheinen würde. Nichts mehr mit Online-Redaktion, besann er sich. Mit dieser Story in der Hinterhand würde ihn Magnus sicher in die Führungsetage berufen und mit dem Posten eines Chefreporters adeln. Und falls nicht, würde ihn jeder andere Verlag mit Kusshand einstellen. Sensationshungrig verfolgte er das Geschehen, begann zu überlegen, wie er seinen Artikel zu schreiben gedachte und welcher Schluss für die Leserschaft wohl der spannendste wäre.

Vielleicht ja ein offenes Ende?, grübelte er, Schließlich hassen Leser nichts mehr, als Unwahrscheinlichkeiten und an den Haaren herbeigezogene Wendungen. Es schien, als hätte er vorausgeahnt, was in den folgenden zweieinhalb Sekunden passieren würde. Den letzten zweieinhalb Sekunden ihres Lebens …

Smarte Rettung

Ist es der Dritte oder Vierte? Egal. Dorothea nippt den cremigen Likör, wohlige Wärme kitzelt ihren Bauch. Bäh, trinkst du deine Elefantenpisse?, würde jetzt Richard sagen. Sie kichert. Ihr Richard! Immer noch. Sie hat eine Entscheidung getroffen. Sie fischt mit dem kleinen Finger Reste aus dem Glas und tippt mit dem anderem die eins, eins, Null.

Richard sieht die Pistole an, als wäre sie ein ekliges Insekt. Er soll sich erschießen? Die Worte sind in seinem Gehirn noch nicht angekommen. Er muss plötzlich ganz dringend. „Bitte, lassen Sie mich raus, ich muss mal!“ Sein Kopf ist puterrot. „Jetzt schon die Hosen voll?, grinst der Mann. Ok, ganz kurz, hier vor der Tür. Und keine dummen Gedanken, sonst bist du gleich tot“. Er nimmt ihm die Pistole ab und wedelt in Richtung Ausgang. Richard hockt sich vor die Tür, Angst schießt aus ihm heraus.

„Hier muss es sein!“, Kommissar Donner stellt den Dienstwagen ab. Die Bergers und der Journalist Pfeiffer waren ihm natürlich in Erinnerung. Die Selbstmorde, denen das Motiv fehlte. Dorothea Berger war ein Nervenbündel, roch verdächtig nach Alkohol. „Scheiße! Wie sollen wir hier jemanden finden?“ Donners Laune ist endgültig im Keller. Die junge Polizistin nickt, sagt lieber nichts. Sie sehen die endlose Anzahl von rostenden Waggons. Es fängt leise an zu schneien. Donner verteilt seine Leute auf dem Gelände. Sie sind noch nicht weit gekommen, da fällt ein Schuss.

„Polizei! Kommen Sie mit erhobenen Händern heraus!“ Richard Berger ist kalkweiß, er kommt die Stufen herunter. „Sind sie in Ordnung, Berger? Ist noch jemand im Waggon?“. „Ja. Pfeiffer und der Erpresser, aber der ist tot. Bitte. Sie müssen meine Schwester befreien. Ich weiß, wo sie ist.“ Christian sitzt auf der Erde, in der Hand noch die Waffe. „Gott sei Dank, sie sind da“.

Auf der Wache erzählen sie, was geschehen war. Wie Richard sich selbst anprangerte, wie er sich die Pistole an die Schläfe hielt. „Was ist dann passiert?“ „Mein Handy hat geklingelt, Marlenes Nummer“! „Und der Schuss?“ „Das war ich“, ruft Christian. „Der Mann wollte schießen, ich habe ihm irgendwie die Waffe aus der Hand schlagen können. Sie sehen ja, der Schuss ging wohl ins Schwarze.“ Donner schüttelt den Kopf. „Wissen Sie, dass sie unverschämtes Glück hatten?“

„Fahren wir jetzt zu Marlene Berger?“ „Gleich, Mia“, meint Donner zu seiner Kollegin und grübelt. Irgendetwas gefällt ihm nicht an der Aussage von Berger. „Was sagen Sie zu der Sache, Mia?“

Show down

Wie Baphomet sprach! Was er alles wusste. „Ihr Evangelen seid doch frei in der Glaubenswahl, nicht wahr“? So tauchte er damals in ihrem Gottesdienst auf und er hatte Recht. Mit allem! Der Selbstmord dieses Sünders vor Richards Haus war unvermeidlich, ebenso der von Maria, obwohl sie da kurz gezweifelt hatte. Doch Baphomet hat sie immer überzeugt. Er war der Erlöser, daran gab es keine Zweifel. Sein perfekter Plan, um die Polizei hierher zu locken! Heute ist der 12. Dezember, ein heiliger Tag. Doro zu holen, war ein Klacks, die sitzt jetzt gefesselt im Keller. Das Haus steht bereit. Sie ist bereit. Marlene hat keine Angst. Baphomet sagt, dass es nicht weh tun wird. In ihrem Wohnzimmer warten mit ihr zehn Auserwählte. Mit Baphomet und den anderen die Erleuchtung erleben. Sie denkt kurz an Richard, er müsste jetzt schon im Paradies auf sie warten.

Dorothea stöhnt. Sie kann kaum glauben, was ihr Marlene erzählte. War die komplett verrückt geworden? Und Richard? War er schon tot? Warum stehen hier so viele Gasflaschen? Doro zittert. Nein! Dann riecht sie Benzin. Sie ruft laut und voller Angst: „Hey Siri…“

Donner telefoniert, während die Polizistin Mia Gas gibt. „Sofort! In den Heideweg 7! Gefahr in Verzug“, brüllt Donner in das Handy. Er ist wie elektrisiert. „Schneller Mia! Wir müssen Dorothea retten!“ „Dorothea?? Nicht Marlene?“, fragt Mia erstaunt, während sie mit Vollgas über die Straße brettert. Donner hält sich fest. „Ja. Dorothea. Haben sie schon mal was von den schwarzen Templern gehört“?

Als sie eintreffen, schlagen bereits Flammen aus dem Dachstuhl. Sie kommen zeitgleich mit Feuerwehr und Polizei an. „Ihr müsst in den Keller! Da ist Dorothea, ruft Kommissar Donner den Feuerwehrmännern zu. Er selbst rennt mit zwei Polizisten zur Rückseite des Hauses. Sie kommen mit einem hageren Mann wieder, dem sie Handschellen angelegt haben. Der Mann zwinkert Mia zu. Sie bekommt Gänsehaut, sie spürt die unheimliche Präsenz, die von ihm ausgeht. Sie ist froh, als er im Polizeiwagen sitzt. Ein Feuerwehrmann trägt Dorothea aus dem Haus. Sie hustet stark, aber sie lebt. „Das wird wieder, Dorothea“, sagt Donner sanft zu ihr, bevor der Krankenwagen sie mitnimmt.

Als alles vorbei ist, stehen Donner und Mia vor dem ausgebrannten Haus. „Was ist mit Marlene und den anderen?“ Donner macht eine Faust, seine Stimme zittert. „Leider zu spät, Mia. In dem Wohnzimmer liegen über zehn Leichen. Wie ich befürchtet habe. Ein Massenselbstmord. Diesen Baphomet, den sogenannten Erlöser hast du ja gesehen. Es wurde Zeit, dass dieser Verbrecher gestoppt wurde.“ „Eine Frage habe ich noch, Chef. Wie hat Doro sie informiert? Sie war doch gefesselt?“ Donner feixt. „Ich gehe mit der Zeit, Mia…schauen sie mal, das neueste Modell“, sagt er und hält ihr seine Smartwatch hin. „Wow. So eine hätte ich auch gern.“

Die Macht der Namen

Sie sind eine Pfeife, Pfeiffer.
Ein Witz, der ihn seit der Schulzeit begleitete. Der ihn durchs Berufsleben bis in die Online-Redaktion verfolgt hatte. Sodass selbst seine blutjungen Co-Worker den Scherz übernommen hatten. ‚Kein Ding, Pfeife, ich mach‘ das schnell‘ sagten sie, weil er vergeblich zu verstehen versuchte, wie er die Online-Beiträge formatieren sollte oder irgendeine Verlinkung nicht klappte.
Kein Ding, Pfeife, Sie haben andere Stärken.
Berger stand da, zitterte mitleiderregend am ganzen Leibe, starrte mit aufgerissenen Augen in die Webcam. „Ich …“, stammelte er. „Ich bin …“
Der Unbekannte wippte auf den Fußballen, ganz auf Berger konzentriert vollführte er eine ungeduldige Handbewegung. „An Ihren Namen werden Sie sich doch noch erinnern, oder?“
Namen sind Macht. Jemandem einen falschen Namen aufzudrücken kann ebenso machtvoll sein wie einen richtigen Namen zu gebrauchen.
Pfeife. Lusche.
„Ich bin Richard Berger“, unternahm er einen neuen Versuch und seine Stimme brach weg wie ein ins Meer stürzender Eisberg von einem kalbenden Gletscher.
Das würde nicht gut ausgehen, dachte Pfeiffer. Das konnte nicht gut ausgehen. Es sei denn, er ließ sich etwas einfallen.
„… ein normaler …“
Seine Recherchen. Der Menschenhändlerring. Da regte sich eine vage Erinnerung in seinem Verstand. Der Schemen einer Erinnerung.
„Ein normaler Bürger wie ihr alle.“
Namen. Es kam doch immer nur auf den richtigen Namen an.
„… um wegzusehen“, stammelte Berger.
„An Ihrer Stelle würde ich eine dritte Alternative anbieten“, sagte Pfeiffer mit klarer, ruhiger Stimme. „Atanas.“
Der Unbekannte fror in der Bewegung ein. Dann wandte er sich langsam Pfeiffer zu. Ganz am Rande nahm Pfeiffer wahr, dass das Licht der Webcam erlosch.
Volltreffer.
Was haben Sie gesagt?“
„Die dritte Alternative lautet“, fuhr Pfeiffer ungerührt fort, „Sie sagen uns, wo Marlene ist. Sie stellen sich der Polizei. Sie gestehen öffentlich, was Sie getan haben.“ Pfeiffer machte einen Schritt auf Atanas zu. „Und im Gegenzug verrate ich Ihnen, wo Ihre Schwester ist.“
Atans wich an die Wand des Waggons zurück, starrte Pfeiffer an, hatte Berger völlig vergessen. „Siyana ist tot.“ Seine Stimme hatte sich verändert. Fort war die genüssliche Freude. Die siegessichere Überheblichkeit. Da war nur noch Schmerz.
„Nein, ist sie nicht“, widersprach Pfeiffer. „Sie sagten, ich hätte weiter recherchieren sollen?“ Noch einen Schritt auf Atanas zu. Er schien es nicht zu registrieren. „Nun, das habe ich. Und hätten Sie Maria nicht …“ Seine Gedanken verloren sich, schwebten davon, zurück zum feuchtkalten Sonntagmorgen damals. Nein. Nicht der richtige Zeitpunkt. „ … Ich hätte die Story noch gebracht, sobald ich Gewissheit gehabt hätte.“
„Wo ist sie?“, fragte Atanas, fasste sich wieder und zog erneut seine Pistole hervor. „Sagen Sie mir, wo sie ist!“
„Erst geben Sie uns die Adresse, wo Marlene ist.“ Pfeiffer zwang sich zu einem fiesen Lächeln. Zu dem Lächeln, das er sich sonst für Leute aufhob, die gegen Laternen liefen, weil sie auf ihr Handy starrten. „Aufenthaltsort gegen Aufenthaltsort.“
Und in dem Moment wusste er, dass er gewonnen hatte.
„Hildinger Gasse 5. Unter dem Gartenhäuschen. Der Schlüssel hängt neben dem Fenster.“
Pfeiffer nickte. „Haben Sie das gehört, Dorothea?“, sprach er in seine Uhr. So eine grässliche Smartwatch, die ihm seine Kollegen zum Geburtstag geschenkt hatten. Wohl als Witz. Der Anruf lief, seit sie das Gelände betreten hatten. „Geben Sie es der Polizei weiter. Sie können reinkommen.“
Ob Dorothea ihn verstand, war ihm unklar, doch draußen näherten sich Schritte. Jemand schimpfte leise vor sich hin, als er wohl auf den nassen Gleisen ausrutschte.
„Sie hinterlistiger …“, murmelte Atanas. Der erste Beamte kletterte herein, legte Atans Handschellen an. Willenlos ließ dieser es geschehen, den Blick auf Pfeiffer gerichtet. „Wo ist meine Schwester?“
„Ich habe nicht die geringste Ahnung“, sagte Pfeiffer mit aller Verachtung, die er aufbringen konnte und ging an Atanas vorbei.

Zwei Wochen später.
Pfeiffer drehte sich auf seinem Bürostuhl in der Online-Redaktion. Geübt lektorierte er einen Artikel eines jüngeren Kollegen, der ihn darum gebeten hatte.
Polizei schnappt Menschenhändler.
Berger hatte der Polizei alles gestanden. Atanas saß im Gefängnis und schwieg beharrlich. Er selbst hatte sich mit seinem neuen Job angefreundet. Und Marlene?
Er würde sie schon noch finden. Die Adresse, die Atanas ihnen genannt hatte. Nun, das Gartenhäuschen hatte es gegeben, aber keinen Keller.
„Ich werde dich finden“, murmelte Pfeiffer und drehte seinen Kugelschreiber wie eine Zigarre zwischen den Fingern. „Ich werde euch beide finden.“ Siyana und Marlene.
Immerhin war er Journalist.

»Wie kommst Du jetzt auf Marlene?«

Die Nase des ersten Zwergs blinkte, als wolle sie Rudolph dem Rentier Konkurrenz machen.

»Komm’ mir jetzt bitte nicht schon wieder mit deinen Minderwertigkeits-Komplexen!«, sagt er. Mit einem Hauch - aber wirklich nur einem Hauch - von Ungeduld sah er seinem Kollegen in die Augen:

»Ich erkläre es Dir gerne nochmal: Für Turbulenzen ist die Fortbildung XIV/2b Voraussetzung. Und damit Ende der Debatte!«

Während sein Kollege mit der blauen Nase etwas grummelte, aber mehr aus Gewohnheit, richtete der erste Zwerg sich auf: »Ich glaube, es gibt jetzt Dringenderes«, sagte er. Schau mal, wie sie uns in der letzten Runde in die Parade gefahren sind …«

Er schnippte mit den Fingern. Inmitten einer grünlichen Wolke erschien etwas, das einer Statistik verdächtig ähnlich sah:

In der Überschriftenzeile konnte der Blaunasige die Begriffe
Charakter, Motivation, aktiv/passiv entziffern. Ohne zu Ende zu lesen, sah er auf und grunzte: »Findest du das wirklich hilfreich - oder gar unterhaltsam - jetzt mit Statistiken zu jonglieren?«

Der erste Zwerg öffnete den Mund zum Widerspruch.

In diesem Augenblick schnitt ein grelles »fFIIEEEEP« über den Hang, und die gesamte Murmeltierkolonie verschwand wie der Blitz in ihren Erdlöchern.

Beide Zwerge blickten sich erstaunt um … und erschraken.

Direkt über dem Hügel, der die Murmeltierkolonie von dem dahinter liegenden Bergpanorama absetzte, etwa zwei Handbreit über dem Boden, manifestierte sich ein kleines, zunächst unscheinbares Wölkchen in Blaugrau. Es wurde jedoch schnell größer und schimmerte bald in einem bergkristallverdächtigen Violett.

Über seiner blauen Nase blickte der zweite Zwerg den ersten entsetzt an: »Was hast du gemacht?«

Der erste blickte starr und überlegte fieberhaft.
»Ich muss …
irgendwie …
mein Kommunikator …
er muss mir aus der Tasche …«

»Mannn!!!« schrie der zweite Zwerg. Seine Nase wetterleuchtete in einem Blau, das die Dachlichter jeder Polizeistreife hätte verblassen lassen.

»Wie oft hast Du mich gezwungen, NX01/34 zu kucken? Hä? Kommunikator verloren, ich … « Er schüttelte den Kopf.
»Wer predigt mir seit Jahren, dass Kommunikatoren an die Schlüsselkette gehören - und die doppelt gesichert an den Gürtel. Mann!!! Lose in der Tasche? Und ohne 14stelliges Passwort? Ich glaub’ es nicht!!!«

Ziemlich planlos nach Luft schnappend wedelte der erste Zwerg mit seiner linken Hand durch die Luft, während die Nase des zweiten beängstigend ins Grüne zu schimmern begann.

Derweil hatte sich die dunkelviolette Wolke geöffnet, einer gelartig aussehenden Leere Platz gemacht, aus der jetzt immer mehr Gestalten stolperten. Die meisten mit aufnahmebereitem smartphone, einige mit Waffen, eine sogar mit verwuscheltem Haar und Tape vor dem Mund, aber alle mit ziemlich verwirrten Mienen. Eine immer größere Menschentraube bildete sich zwischen den Erdlöchern der Murmeltierkolonie und der einsamen Föhre am Westhang, die irgendein Spaßvogel von der Quantenputzkolonne mit Christbaumkugeln behängt hatte. Leise klang es im Wind, wenn zwei aneinander dotzten. Wenn man genau hinhörte, konnte man auch das Lametta an den Zweigen klingeln hören - als würde es den Zerfall dieser Welt einläuten, dieser letzten Alternative, überrannt von allem, was eine Realwelt wie das Frankfurter Westend so hergab.

In diesem Augenblick riss der erste Zwerg sich zusammen. In einem kleinen Teil seines Gehirns formulierte er ein inbrünstiges »Danke!!!« an seine Ausbilder, die ihn ohne Ende durch Katastrophenszenarien gehetzt hatten. ‚KKIV‘ hatten sie es genannt, ‚Konstruktiv-Kreatives-Interventions-Vermögen‘.

Er drehte sich zu seinem Kollegen um und murmelte, für alle anderen unhörbar, aber sehr akzentuiert: »Realität Drei-elf-Strich-19«

Der mit der blauen Nase schaltete diesmal schnell. Er zückte nun seinen Kommunikator, tippte in Windeseile das Notpasswort (5 Buchstaben, keine Klammergriffe) ein, und sehr unauffällig, in einem dezenten, blassgrünen Wölkchen, das sich vom Almgras kaum abhob, verschwanden die beiden …

… um, gemessen an Quantenrealzeit, siebeneinhalb Minuten früher in hellem, angenehm warmem Sand zu landen, inmitten einiger Kokosnüsse.

»Gib mir deinen Kommunikator!«

»Was?«

»Keine Zeit für Erklärungen. Gib mir deinen Kommunikator!«

Der zweite Zwerg gehorchte.
Während der erste - der mit der roten Nase - hinter der nächsten Kokospalme verschwand, seufzte der mit der blauen Nase tief auf und begann, den ersten seiner klobigen Bergstiefel auszuziehen. Irgendwie waren sie doch etwas unpraktisch in diesem neuen Ambiente.
Beim Ausziehen des zweiten war er wieder soweit entspannt, dass er in Richtung der Kokospalmen rief: »Aber du erklärst mir alles, hinterher, ja?«

Keine Antwort.

»Keine Bewegung!!«

Berger quollen die Augen aus dem Kopf.

»Aber … aber. …«

Während vier Uniformierte, achtsam im Auge behalten von acht weiteren, schwer bewaffneten Gestalten in Ganzkörperschwarz, geschäftig ihre Handschellen zückten, gab sich ein glattrasierter Mann in Zivil an seinem schlabbrigen Trench unschwer als Fan solider u.s.-amerikanischer Krimikost der 1970er Jahre zu erkennen. Er zuckte mit dem rechten Mundwinkel, bevor er dann seine Zähne mit einer gewissen Lethargie auseinanderbekam, die wohl bedächtige Sorgfalt ausstrahlen sollte:

»Sie dachten natürlich wieder, den Drohungen dieser smartphone-Terroristen Folge zu leisten sei sicherer, als uns zu fragen.«

Er rümpfte die Nase:

»Was glauben Sie denn?«

»Dass wir die Seitenwind-Postings NICHT lesen? Für social media hat das LKA inzwischen eine Abteilung, die ist besser besetzt als all unsere Streifenhörnchengeschwader zusammen genommen. Und Schriftsteller wie diesen Eschbach, die sichere Science-Fiction verlassen um sich zeitgenössischer reality-crime-Stoffen zuzuwenden, die haben wir sowieso unter Dauerbeobachtung.«

Zu Pfeiffer gewandt, bemerkte er süffisant:

»Die Polizei ist vielleicht bürokratisch, politisch und manchmal sogar etwas maffiös gehandicapt, aber nicht dumm. Ich …«

Ein einzelner Schuss peitschte, und während einer der SEK-Beamten seine Waffe wieder senkte, polterte die des großen Mannes im Halbdunkel auf den Waggonboden.

Der Glattrasierte in Zivil schüttelte den Kopf: »Aber aber! Nicht doch!«

»Und jetzt keine Fisimatenten mehr, bitte: Arme hoch, hopp, hopp.«

Er drehte sich zu Berger und zückte seinen Ausweis:

»Kohlbeiler, Insprektor Kohlbeiler, LKA Wiesbaden.
Sie können jetzt aufhören zu zittern, Herr Berger. Ihre Schwester haben wir auch.«

Kohlbeiler räusperte sich: »Da war ein ganz merkwürdiger Videoclip von einer ziemlich skurrilen Gestalt mit norwegischer Zwergenütze aus Hawaii. Die muss Quellen haben, an die wir tatsächlich nicht selbst rangekommen sind. Aber, wenn ich bitten darf, da drüben gibt’ s Kaffee und Butterbrezeln auf den Schreck, den Rest besprechen wir dann in aller Ruhe …«

„Unterbreche ich hier gerade was?“ Die Stimme des Professors war ebenso herablassend, wie der Blick mit dem er Dr. Magnus Morten betrachtete und Schwester Wendy, die auf seinem Schoß saß. Magnus wurde rot, wie eine Tomate, während Wendy aufsprang und hastig ihren Kasack zurechtzupfte.
„Wer ist sie?“ fragte der Professor.
„Das ist, äh…“, begann Morten.
„Wendy Schmidt“, sagte Wendy. „Fachkrankenschwester für Anästhsie- und Intensivpflege. Von der Zeitarbeit. Ich bin heute den ersten Tag hier.“
„Sehen Sie zu, dass sie nichts kaputt machen“, sagte der Professor. „Diese Intensivstation ist moderner und spezieller, als sie es wahrscheinlich kennen. Dr. Morten, den Status des Patienten, bitte.“
Magnus, immer noch rot im Gesicht, suchte rasch ein paar Blätter zusammen und sagte dann: „Der bekannte Patient Berger, Richard – seit fünf Tagen in Narkose nach frontaler Kopfschussverletzung. Status idem, was den Allgemeinzustand betrifft. Vitalzeichen wunderbar, Narkose und Beatmung werden gut vertragen.
„Ja, ja“, sagte der Professor mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Somniographie?“
Magnus reichte ihm ein Blatt. „Hier, der letzte Ausdruck.“ Der Professor überflog das Blatt mit zusammengekniffenen Augenbrauen. „‘Ich bin Richard Berger, …. Ich bin ein Schwein! Ein Ausbeuter! Ein Kapitalist!‘ – Das klingt autoaggressiv. Er scheint mir mit sich selbst ganz und gar nicht im Reinen zu sein.“
„Er verarbeitet immer noch sehr intensiv. Wir haben in der letzten Woche insgesamt neunzig Somniogramme aufgezeichnet. Hier.“
Der Professor überflog die Blätter hastig und mit skeptischen Blick. „Noch nicht suffizient kohärent“, sagte er. „Ein paar Mal scheint er auf dem richtigen Weg. Die Lösung mit den untergeschobenen Kindern klang vielversprechend. Aber das hier …“ Er nahm sich noch einmal den Ausdruck vor, den er zuerst studiert hatte. „Nach diesem Monolog werden sie sich selber richten“ las er laut vor. „Das klingt ja schon suizidal. Daraus lese ich, dass er nicht mehr will.“
„Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen“, sagte Morten. „Ich habe das Gefühl, er ist auf einem guten Weg.“
„Gefühl, hm“, sagte der Professor. „Mein Gefühl sagt mir, dass wir hier nur Grundlagenforschung betreiben, aber keine Therapie. Aber geben sie ihm von mir aus noch eine Dosis. Wir versuchen es noch eine Woche.“ Der Professor wandte sich zum Gehen. „Und sorgen sie dafür, dass die Somiographie-Aufzeichnungen vollständig in der Akte sind!“ rief er über die Schulter. „Ich möchte über diesen Fall publizieren!“
„Puh“, sagte Wendy, als er weg war. „Das war ein bisschen peinlich.“
„Ach was“, sagte Morten. „Der Chef war bestimmt selbst ein Hallodri, als er jung war.“
„Ich habe kein Wort verstanden“, sagte Wendy. „Und ich weiß immer noch nicht, was ihr hier eigentlich genau macht. Ich meine außer dem Standardkram mit Beatmung und so.“
„Du brauchst noch mehr Einarbeitung“, sagte Magnus und fasste sie an der Hüfte.
„Nein, im Ernst“, sagte Wendy. „Was genau ist rekonstruktive Neurologie? Das habe ich noch nie zuvor gehört.“
„Wir sind auch die einzigen, die das in Deutschland machen. Alles noch hoch experimentel. Aber vielversprechend.“
„Und was genau macht ihr? Mit dem da zum Beispiel?“
„Eigentlich machen wir nur eine große Phase II Studie. Wir testen dieses neue Medikament am Patienten. Synaptil – das fördert die Neubildung von Gehirnzellen, wenn diese zerstört wurden. Durch einen Unfall zum Beispiel oder wie im Falle von unserem Herrn Berger durch einen Kopfschuss.“
„Ui, Kopfschuss, hat er versucht, sich umzubringen?“
„Nein. Schießerei zwischen zwei aggressiven Autofahrern. Berger war völlig unbeteiligt. Hat nur zum falschen Zeitpunkt den Kopf aus der Haustür gesteckt. Das war Pech. Glück war, dass er weit genug weg von der Ballerei war, dass das Geschoss ihm nur noch mit geringer Kraft die Stirn durchschlagen und keine größeren Gefäße oder lebenswichtigen Zentren getroffen hat. Wiederum Pech war, dass es ihm das Frontalhirn zerdeppert hat, den Teil, wo seine Persönlichkeit sitzt. Das versuchen wir jetzt wieder herzustellen.“
„Und das funktioniert wirklich? Der Patient bekommt sein verlorenes Gehirn zurück?“
„Nicht direkt seins“, sagte Magnus. „Und wir können auch nur rekonstruieren, wenn die Verletzung nicht zu groß ist. Dann spritzen wir Synaptil direkt in das Gehirn und es werden dort massiv neue Neuronen produziert, die das zerstörte Gewebe ersetzen.“
„Was meinst du mit ‚nicht direkt seins‘“, fragte Wendy.
„Nun“ sagte Magnus. „er kriegt das Medikament gespritzt und dann beginnen neue Nervenzellen zu sprießen. Soma, Axon, Terminal und die ganze Dendritenschar. Aber wie sie sich verknüpfen, darauf haben wir keinen Einfluss. Und das Ergebnis kann ein ganz anderes sein als der Vorzustand. Und da bei Bergerchen hier die Gehirnteile betroffen sind, die die Persönlichkeit ausmachen, kann es natürlich sein, dass hinterher eine ganz andere Persönlichkeit herauskommt.“
„Oh je“, sagte Wendy, „ob er das gewollt hätte?“
„Eben“, sagte Magnus. „Deswegen lassen wir ihn nicht aufwachen, bis er sich gewissermaßen selbst neu erfunden hat, und zwar in einer Weise, in der er selbst mit sich leben kann.“
„Das messt ihr über diese komischen Geschichten, die da ständig ausgedruckt werden? Wo kommen die her, produziert er die?“
„Ja“, sagte Magnus. „Erinnerst du dich an die Meldung in den Nachrichten vor einiger Zeit, dass künstliche Intelligenz Schweinegrunzen in menschliche Sprache übersetzt hat? Nun, als nächstes haben sie das gleiche Programm auf EEGs angesetzt und voilà, nun können wir menschliche Träume auslesen.“
„Das wirklich abgefahrener Shit.“
„Wir nutzen es, um zu messen, ob der Patient ein ausreichend kohärentes Selbst- und Weltbild aufbaut, um mit der Realität zurechtzukommen.“
„Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet.“
„Wir alle erfinden uns permanent selbst“, sagte Magnus. „Besser gesagt, unser Gehirn tut das für uns. Als Schutzmechanismus gegen eine Realität, die keinerlei inneren Sinn hat und in der wir völlig unbedeutend sind. Wir bilden uns ein, dass wir etwas Eigenständiges sind und dass unser Leben nach Regeln abläuft, die nachvollziehbar und beherrschbar sind. Aber das ist eine Illusion, eine natürliche Droge, die uns davon abhält, uns sofort aus Verzweiflung umzubringen. Aber eine schöne Droge. Stell dir vor, du müsstest durch die Welt gehen, ohne dass du sie als geordnet oder sinnhaft wahrnimmst.“
Wendy runzelte die Stirn, aber sie sagte nichts.
„Das wäre der reine Horror. Das kann man niemandem zumuten. Darum hat die Ethikkomission, die diese Studie übersieht, entschieden, dass unser Patient nicht wieder aus dem künstlichen Koma erweckt werden darf, wenn er es nicht schafft, das Erlebte in eine ausreichend kohärente Geschichte zu verwandeln.“
„Wie soll er das denn tun, wenn er in Narkose ist?“
„Sein Unbewusstes ist nicht völlig ausgeschaltet. Und die neuen Neuronen verbinden sich mit den alten, mit dem was er erinnert, was von seiner Persönlichkeit übriggeblieben ist. Und was da in ihm arbeitet, das drückt sich in den Träumen aus, die wir aufzeichnen.“
„Wie lange macht er das schon?“
„Wir haben ihm am 22. November die erste Dosis gegeben. Nur eine kleine, um zu sehen, ob er es überhaupt verträgt. Danach haben wir dieses Somniogram aufgezeichnet.“
Magnus durchsuchte einen dicken Stapel von Papieren und reichte Wendy ein Blatt.
„Das hat er geträumt? Verrückte Geschichte. Was soll denn das mit den zehntausend Euro?“
„Er spaltet das Geschehene ab, weil es zu schrecklich ist. Projiziert es auf eine imaginierte Person, um den Kopfschuss nicht noch mal zu erleben. Und er verhandelt mit dem Schicksal. Sucht nach einer Möglichkeit, sich davon freizukaufen, mit Geld.“
„Aber das wirkt doch, als wenn er in der Lage ist das zu verarbeiten.“
„Ja, aber es gelingt ihm in der Folge nicht, diese initiale Spaltung zu überwinden. Er setzt sie fort und spaltet seine Persönlichkeit in immer neue Traumfiguren auf, aber es gelingt ihm kaum, das Ganze zu einem sinnvollen Ganzen zu verknüpfen. Als wir ihm die zweite etwas höhere Dosis gegeben haben, ist der Somniograph fast explodiert. Zweihundertdreißig Träume haben wir aufgezeichnet. Sein Gehirn hat so gearbeitet, dass wir das Propofol hochstellen mussten.“ Er reichte Wendy diesmal einen ganzen Stapel, den sie schweigend durchsah.
„Das sind alles faszinierende Träume.“
„Am Ende hat er sich auf diese neue Figur, diesen Journalisten fixiert“, sagte Magnus. „Ein Journalist steht symbolisch für Wahrheit und Öffentlichkeit. Wir deuten das als Wunsch zu verstehen, was passiert ist. Und von allen verstanden zu werden. Aber in diesem Traum scheitert der Journalist. Das hat eine eindeutig resignative Komponente.“
Magnus griff nach einem weiteren Stapel. „Dosis Nummer drei war nochmal etwas höher. Aber nur neunzig Somniogramme. Das zeigt, dass er langsam resigniert. Der intensivste Traum war der, aus dem der Professor vorhin vorgelesen hat. Er zeigt, dass Berger das Gefühl hat, in eine Falle geraten zu sein, aus der es keinen Ausweg gibt. Er hat einen Todeswunsch, aber der wird auf diesen ominösen Unbekannten projiziert und als Fremdaggression wahrgenommen.“
„Und was macht ihr jetzt damit?“
„Jetzt“, sagte Magnus, „Jetzt kriegt er noch mal fünfzehn Milligramm Synaptil intrathekal. Das letzte Mal, denn man kann das Zeug nicht beliebig oft geben. Und dann sehen wir, ob er es schafft, die ganze Geschichte so abzurunden, dass wir ihn aufwachen lassen können. Wir möchten Lebenswillen sehen und mindestens einen logischen Abschluss der bisher gesponnenen Traumsequenzen.“
„Und wenn ihr das nicht seht?“
„Wenn er diese Traumbilder nicht befriedigend zu einem geordneten Ganzen verknüpfen kann, wird er keine befriedigende Lebensqualität haben, wenn wir ihn aufwachen lassen. Dann bleibt er in Narkose, bis er stirbt.“
„Oh je“, sagte Wendy. Dann ging sie, um das Synaptil aufzuziehen.
Magnus Steckte die Spritze in einen Konnektor an einem Schlauch, der unter einem Verband auf Bergers Stirn verschwand. Als die gesamte Dosis verabreicht hatte, leuchtete ein Licht am Drucker auf dem Schreibtisch auf und dessen Lüfter begann zu surren. Kurz darauf wurde das erste Blatt ausgedruckt.
„‘Manchmal ist überleben die grausamste Strafe von allen …‘“, las Wendy vor. „Das klingt aber nicht gut.“
Sie ging hinüber zu dem Mann in dem Intensivbett und betrachtete ihn. Für eine Weile hörte man nur das regelmäßige leise Zischen des Beatmungsgeräts. „Streng dich an, Bergerchen“, sagte Wendy schließlich. „Träum was Schönes! Zeig, dass du leben willst!“ Sie küsste ihren Zeigefinger und drückte ihn Berger auf den Kopfverband.
Dann wandte sie sich zu Magnus um. „Im Raum nebenan steht ein leeres Bett“, sagte sie zu Magnus.
„Das stimmt“, sagte der. „Und ich habe einen leeren Platz in meinem Herzen.“
Als sie miteinander den Raum verließen, begann das Licht am Drucker bereits wieder zu leuchten.

Sein Leben für ihres opfern? Hätte man ihn je gefragt, er hätte nicht lange überlegen müssen. JA! Selbstverständlich.
Und jetzt? Jetzt stellte sich heraus, was für ein elender Feigling er in Wirklichkeit war. Er hing an seinem Leben und ja, auch an Dorothea.

»Wir haben nicht ewig Zeit, Berger!« Die Stimme des Dreckskerls trug immer noch diese verdammte Gelassenheit. Sein kaltes Lachen schien direkt vom Teufel entliehen. Richard legte eine so unerwartete wie blitzschnelle 90-Grad-Drehung hin und richtete die Waffe nun auf den Kopf seines Peinigers. Pfeiffer wunderte sich über die plötzliche Wendigkeit seines rundlichen Leidensgenossen, der sich eben noch so mühevoll in den Waggon gehievt hatte.

Bei den Bergers daheim unterdrückte Dorothea ihren anfänglichen Impuls, die beiden Männer mit dem Auto zu verfolgen und eilte zurück ins Haus.
Keine Polizei. Wie unvernünftig konnte man sein? Auch Herr Pfeiffer hielt das für falsch. Doch der alte Sturkopf hatte mal wieder seinen Willen durchgesetzt. Jetzt musste sie selbst aktiv werden.

Das Handy! Wo hatte sie es nur in der Aufregung hingeworfen? Ah, da auf dem Boden neben dem Sessel. Zeigefinger auf den biometrischen Sensor, zwei, dreimal über das Display gewischt und die Tracking-App war geöffnet.
Jetzt stellte sich heraus, wie nützlich dieses kleine, heimlich auf Richards Mobiltelefon installierte Programm tatsächlich war. Ursprünglich war es nicht dazu gedacht, ihren Mann in einer derartigen Situation zu unterstützen, sondern … na ja, egal. Ihre Augen verfolgten gebannt den kleinen leuchtenden Punkt auf dem Bildschirm, der sich immer noch stadtauswärts bewegte.

Doro dachte an Marlene, die erschütternden Bilder aus dem Video. Sie hatte ihre Schwägerin nie so richtig gemocht. Die übertriebene Geschwisterliebe zwischen den beiden. Meistens fühlte sie sich wie das dritte Rad am Wagen, wenn ihr Mann und seine Schwester in alten Erinnerungen schwelgten und dann kicherten wie alberne Teenager. Aber sie jetzt in diesem elenden Zustand zu sehen …
Plötzlich bewegte sich das kleine Symbol der Tracking-App langsamer, ungleichmäßiger, bis es schließlich stoppte. Sie mussten am Ziel angelangt sein.

Dorothea konnte vor Anspannung kaum noch atmen. Ihre Finger zitterten, das Handy entglitt ihr und fiel herunter. Oh Gott, lass bitte nicht die GPS-Daten vom Bildschirm verschwunden sein, betete sie und griff rasch danach. Erleichtert stellte sie fest, dass die App noch an selber Stelle geöffnet war. Irgendetwas musste passieren. Jetzt!

Bevor sie der Polizei den komplexen Sachverhalt erklärt hatte, konnte es für die Männer zu spät sein. Wie also bekam sie die notwendige Hilfe schnellstmöglich an den Ort des Geschehens?
Ein wenig erschrak Doro vor sich selbst, als ihr diese abenteuerliche Idee in den Sinn kam. Doch es könnte funktionieren. Kurzerhand tippte sie 110 auf der Tastatur ihres Telefondisplays:

»Hallo, Polizei? Dies ist eine Bombendrohung. In genau zehn Minuten geht das Ding hoch. Es befinden sich Menschen auf dem Gelände. Hier die Adresse plus GPS-Daten.«
Bevor man ihr Fragen stellen konnte, hatte sie aufgelegt. Ihr Kopf war vor Aufregung genauso rot wie die Taste mit dem Hörersymbol auf dem Handy.

Im Güterwaggon waren sich sowohl Christian als auch Richard bewusst, dass sie Zeit gewinnen mussten. Den Mann irgendwie ablenken. Mein Gott, sie waren zu zweit. Das musste doch zu bewerkstelligen sein. Es war ihre einzige Chance.
Während Berger weiterhin mit bebendem Arm die Waffe auf den Kerl gerichtet hielt und versuchte, die Augen des Mannes fixiert zu halten, pirschte Pfeiffer sich Millimeter für Millimeter näher an den Täter heran. Das Päckchen mit den Unterlagen fest an sich gepresst.
Einem Impuls folgend begann Berger plötzlich von seiner geliebten Mutter zu reden, die schon vor vielen Jahren das Zeitliche gesegnet hatte. Was faselte der denn da jetzt? Pfeiffer traute seinen Ohren kaum. Plätzchenrezepte? Schlaflieder?

Dann glaubte Christian, ein verdächtiges Glitzern in den Augen des so kaltschnäuzigen Typs zu entdecken. Und ja, er schien zu zittern am ganzen langen Körper. Innerlich zog er vor Berger seinen Fedora. Hatte der doch im richtigen Moment das richtige Gespür gehabt.
Geistesgegenwärtig nutzte Pfeiffer die Gunst des Moments und warf Marlenes Kidnapper die Unterlagen entgegen. Fast gleichzeitig machte er einen Satz nach vorn, warf sich auf den Kerl und brüllte: »Ich brech dir alle Knochen, du Banause!«

»Noch nicht, noch nicht«, schrie Berger panisch, der am Boden neben Pfeiffer und dem mit bloßer Muskelkraft fixierten Delinquenten kniete.
»Wir müssen erst wissen, wo er Marlene festhält!« Dabei griff er beherzt in die Jackentasche des zu Fall gebrachten Mannes, zog die Waffe heraus und schleuderte sie voller Abscheu nach draußen.

In der Ferne ertönten Martinshörner, die rasch lauter wurden. Kurz darauf trafen Streifenwagen, Rettungswagen und ein Bombenräumkommando an der alten Gleisanlage ein.

»Achtung, Achtung! Hier spricht die Polizei«, informierte eine Lautsprecherdurchsage. »Bitte verlassen Sie sofort das Gelände. Explosionsgefahr.«

Richard und Christian schauten sich ungläubig an. Wo kamen die denn jetzt her?
Mehrere Polizisten stürmten den Güterwagen und verschafften sich einen Überblick.
Die beiden Männer am Boden wurden voneinander getrennt. Der Mann, der sich als Christian Pfeiffer ausgewiesen hatte, konnte sich gar nicht mehr beruhigen.

»Er hat Maria auf dem Gewissen.« Mit dem Zeigefinger wies er auf den vermeintlichen Täter.

Wie es aussah, würde es für die Polizisten eine aufreibende Nacht werden. Angeblich wurde im Zusammenhang mit diesem Verbrechen eine Frau an einem unbekannten Ort gefangen gehalten. Sie sollte sich in Lebensgefahr befinden.

Richard wurde im Rettungswagen behandelt. Sein Blutdruck hatte gefährliche Höhen erreicht.

Einige Zeit später bugsierte man alle drei Männer mit Handschellen in Streifenwagen und beförderte sie auf die Dienststelle nach Frankfurt. Dort befand sich bereits eine völlig überdrehte Dorothea in Gewahrsam, die sich für eine falsche Bombendrohung zu verantworten hatte. Nicht einmal ihre Rufnummer hatte sie für den Anruf unterdrückt. Mit ihrem unkonventionellen Handeln stieß sie bei den Beamten auf unerwartetes Verständnis und der ein oder andere schaffte es nicht, seine Belustigung zu verbergen.

Pfeiffer und Berger wurden getrennt voneinander befragt. Die Aussagen der beiden waren schlüssig und stimmten überein, so dass schnell geklärt war, wer hier Täter beziehungsweise Opfer war. Die Aufzeichnung der Webcam gab zusätzlich Aufschluss. Außerdem war den Ermittlern die Vorgeschichte Pfeiffers und Bergers bekannt.

Dank geschickter Polizeiarbeit hatte man den Verdächtigen schnell zum Reden gebracht und Marlene konnte noch in derselben Nacht aus ihrer Gefangenschaft befreit werden. Sie war erschöpft, schwebte aber nicht in Lebensgefahr. Richard und Doro besuchten sie im Krankenhaus, sobald sie ihre Aussagen gemacht hatten.

Kurze Zeit später wurden Pfeiffer, Bergers sowie Marlene Romero von der Staatsanwaltschaft über Details des Verbrechens informiert.

Der Täter war ein gewisser Ben Breuer, Neffe von Klaus Töpfer, der sich selbst unter dubiosen Umständen vor dem Haus der Bergers erschossen hatte.
Kurz nach Bekanntwerden der Machenschaften des Klaus Töpfers in Sachen Mädchenhandel und illegale Prostitution hatte sich dessen Schwester erhängt, die seit Jahren unter Depressionen litt.
Deren einziges Kind Ben hatte sich jedoch darein gesteigert, dass seine Mutter nur aus Scham und Kummer über die Verbrechen Töpfers aus dem Leben geschieden war. Ben wollte den Tod der Mutter um jeden Preis rächen und hatte Dinge herausgefunden, die besser nicht hätten ans Tageslicht kommen sollen.

Christian Pfeiffer stand an Marias Grab. Er hatte Wort gehalten. Der Fall war lückenlos aufgeklärt. Neben ihm stand Marlene, die seine Hand in ihre nahm.

Später waren sie bei den Bergers eingeladen. Richard öffnete die Tür. Zur Begrüßung lagen sich die Männer in den Armen wie alte Freunde. Christian fragte mit unverhohlenem Grinsen:

»Neue Krawatte, Richard?«
»Ein Geschenk von Doro«, nickte der und grinste ebenfalls.

Grundfarbe lila, bedruckt mit dem Motiv eines überproportional großen „Supermans“.

Berger starrte zwischen dem roten Licht und der Pistole in seiner Hand hin und her. Er wollte um Gnade flehen, wusste aber, dass der Unbekannte gnadenlos war. Jemand, der einen derart bösartigen Plan ausarbeitete, um damit andere Menschen zu erpressen, würde in dieser Situation - gewissermaßen dem „großen Finale“ - niemals Gnade walten lassen. Berger wollte nicht sterben. Doch was konnte er tun? Den Unbekannten erschießen und dadurch den Tod seiner Schwester in Kauf nehmen? Auf gar keinen Fall! Niemals könnte er es sich verzeihen, wenn neben Klaus Töpfer und Maria Pfeiffer auch noch seine liebe Schwester Marlene Romero sterben müsste - und all das nur weil er, Richard Berger, eine falsche Entscheidung getroffen hätte.
„Auf geht’s, Richard Berger, das Publikum soll doch etwas geboten bekommen!“
Der Unbekannte lachte hämisch. Berger zitterte. Seine Gedanken rasten nach wie vor auf der verzweifelten Suche nach einer Fluchtmöglichkeit, doch ihm fiel keine ein. Ein Seitenblick auf Christian Pfeiffer zeigte ihm, dass dieser ebenfalls völlig ratlos und verzweifelt war. Pfeiffer starrte gerade aus, während ihm Tränen über das Gesicht liefen. Es war deutlich sichtbar, wie sehr auch er zitterte. Es musste ihn sämtliche Kraft kosten, stehen zu bleiben, anstatt zusammenzubrechen.
„Los Berger! Wenn ich nachhelfen muss, überlebt ihr das alle nicht! Noch fünf…!“
Richard Berger sah den Unbekannten an. Dieser brachte unter seinem Mantel eine Pistole zum Vorschein.
„Noch vier…!“
Berger hatte gewusst, dass sein Gegenüber bewaffnet war - zumal der Mann das selbst angekündigt hatte - doch der erneute Anblick einer Waffe ließ ihn wiederholt erstarren. Er hörte auf, zu zittern, doch nun war es, als würde sein Herz unter einem tonnenschweren Gewicht begraben und zerquetscht werden.
„Drei…!“
Die Pistole wurde auf Bergers Gesicht gerichtet und hörbar entsichert. Ganz kurz überlegte Berger noch, ob er seinen Gegner mit einem Schuss in eine Hand oder vielleicht ein Bein fürs erste unschädlich machen könnte, doch er fürchtete, zu langsam zu sein und damit neben sich selbst, auch Pfeiffer und Marlene dem Tod auszuliefern.
„Zwei…!“
Richard Berger war nun überzeugt, dass es das beste wäre, den Anweisungen des unbekannten zu folgen und damit das Leben von Christian Pfeiffer und Bergers Schwester zu retten. Vielleicht würde Pfeiffer sogar öffentlich machen können, dass er, sowie auch sämtliche Opfer, erpresst worden waren und wer dafür verantwortlich war. Immerhin würde Richard Berger dann nicht umsonst gestorben sein.
„Stop! Ich tu’s!“, rief er nun also, wobei seine Stimme sofort brach und er zu weinen begann. Christian Pfeiffer sah Berger entsetzt an, doch dieser war nun entschlossen, durch seinen Tod die anderen zu retten.
„Ich tu’s!“, wiederholte er daher und drückte die Pistole in seiner Hand gegen seine Schläfe. Der Unbekannte nickte ernst.
„Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um…um weg…wegzusehen. Meinetwegen sind Menschen gesto… Sie sind…“ Richard Berger konnte sich kaum auf den Beinen halten, er wurde vor Angst, Schmerz über diese Worte und Verzweiflung fast zerrissen. Und dennoch musste er weiter machen, hatte keine Wahl. Er keuchte. „Meinetwegen sind Menschen gestorben. Ich habe sie um…um…umge…bracht…mit meinem Geiz und meiner Gier und ich -“
„NEIN!“
Eine Frauenstimme unterbrach Richard Bergers Monolog. Nur Sekundenbruchteile später brach der Unbekannte plötzlich zusammen. Er viel schreiend und fluchend zuerst auf die Knie und kippte dann zur Seite. Die Pistole, die er eben noch in der Hand gehalten hatte, schlitterte über den Boden und blieb zwischen den drei Männern liegen. Der Lauf war nach wie vor auf Richard Berger gerichtet. Es war eine makabere Version des Flaschendrehens - als hätte der Zufall entscheiden, dass nun Richard Berger dran war zu handeln, dabei wusste dieser nun erst Recht nicht mehr, was zu tun war. Stattdessen handelte Christian Pfeiffer, indem er die Pistole schnappte und in die Richtung des Unbekannten zielte, nur etwas höher. Erst jetzt erkannte auch Richard Berger, das dort, hinter dem Unbekannten, eine Frau stand. Sie musste auch diejenige gewesen sein, die Bergers Monolog unterbrochen hatte.
„Nicht schießen!“, schrie Berger an Pfeiffer gewandt, als ihm endlich klar wurde, welche Frau da vor ihm stand.
„Dorothea! Du hast uns gerettet!“
Beide Männer ließen ihre Waffen fallen. Berger wäre am liebsten sofort in die Arme seiner Frau gefallen, nur der Unbekannte, der noch immer mit schmerzverzerrtem Gesicht zu ihren Füßen lag, hielt ihn davon ab. Er jetzt erkannte Berger außerdem, dass ein Küchenmesser in der rechten Schulter des Unbekannten steckte. Dorothea musste es geworfen haben, denn sie war zuvor nicht hinter dem Mann zu sehen gewesen.
„Dorothea, du bist großartig!“, verkündete Richard Berger, der nun vor Erleichterung weinte.
Auch Pfeiffer kämpfte erneut mit den Tränen. Er wollte gerade die Polizei rufen „um diesen Alptraum zu beenden“, als Dorothea ihm das Smartphone abnahm und hinter sich gegen die Wand schleuderte. Berger und Pfeiffer sahen sie verständnislos an. Niemals im Leben hätten sie mit dem, was Dorothea dann sagte gerechnet:
„Die Polizei ist unterwegs und ich werde nicht mehr lange hier sein. Ich wollte, das Tobias dir eine Lektion erteilt. Ich habe ihn auf der Arbeit getroffen. Wir haben uns geliebt. Er war für mich da, als du es nicht warst. Du hast so viel gearbeitet. Als du von dem großen Auftrag und den Fahrten nach Sofia erzählt hast, wurde mir endgültig klar, dass sich etwas ändern muss. Tobias sagte, er kenne deinen Auftraggeber - diesen Klaus Töpfer - und was das für ein furchtbarer Typ sei. Mag sein, dass du davon nichts wusstest. Ich war einfach furchtbar wütend auf dich und diesen Typen und die Arbeit und all das. Und ich dachte nicht, das Tobi vielleicht selbst hinterhältig sein könnte. Ich wusste nicht, wo das hinführt. Er hat mir seine Hilfe angeboten, um dich zur Vernunft zu bringen, das ist alles.“
Dorothea sagte dass so emotionslos, als lese sie gerade den Wetterbericht vor. Berger und Pfeiffer standen reglos da und verstanden rein gar nichts. Der Mann, der offenbar Tobias hieß und die Affäre von Bergers Frau war, schrie: „Ich habe Wort gehalten! Solche Schweine wie du verdienen den Tod!“ Worauf Dorothea ihn zum Schweigen brachte, indem sie ihn in den Bauch trat. Dann hob sie die Pistole auf, die neben ihrem Mann auf dem Boden lag - und erschoss sich selbst.

Dorotheas Entschluss „dass sich etwas ändern muss“ hatte schlussendlich drei Leben zerstört und vier weitere für immer verändert.
Selbstredend wurden die Täter verurteilt, aber für Christian Pfeiffer, Richard Berger und Marlene Romero war das nicht genug. Berger gab das Reisebüro auf und zog mit seiner Schwester in ein winziges Dorf an die Ostsee. Wenige Menschen und ein Umfeld, dass ihre Geschichte nicht kannte - Beides erschien ihnen hilfreich für einen Neuanfang.
Christian Pfeiffer kündigte seinen Job ebenfalls, zog jedoch nicht aus Frankfurt weg. Zu wichtig war es ihm, das Grab seiner Frau jeden Tag besuchen zu können. Er wusste, dass er sich irgendwann von ihr lösen musste - aber „irgendwann“ war noch nicht jetzt.
Pfeiffer und Berger blieben nicht in Kontakt. Nach Bergers Wegzug aus Frankfurt hörten sie nie mehr voneinander. Beide waren überzeugt, dass sie sich unter anderen Umständen durchaus sympathisch gewesen wären, doch der Grund für den Kontaktabbruch war ausgerechnet ihre größte Gemeinsamkeit: Sie wollten vergessen, was war.

Finale

Der Unbekannte richtete die Pistole weiterhin auf Pfeiffer und Berger, seine Augen funkelten vor Bosheit. „Nun, Herr Berger, wie werden Sie sich entscheiden?“
Pfeiffer sah die Verzweiflung in Bergers Augen und wusste, dass er schnell handeln musste. „Richard, hör zu. Das sind alles nur Lügen. Nichts ist so, wie es scheint.“
Der Unbekannte lachte. „Glauben Sie das wirklich, Herr Berger? Glauben Sie wirklich, dass ich bluffe? Sie entscheiden über das Leben Ihrer Schwester!“
Plötzlich erklang ein lautes Rauschen über ihnen. Pfeiffer blickte nach oben und sah, dass eine Drohne neben dem Waggon schwebte. An der Drohne war eine Kamera befestigt, und sie übertrug live.
„Was zum…“, begann der Unbekannte, doch seine Aufmerksamkeit war abgelenkt.
Pfeiffer nutzte den Moment und sprang vor, schlug die Pistole des Unbekannten aus dessen Hand und stieß ihn zu Boden. Berger, immer noch zitternd, hielt die andere Pistole in der Hand und wusste nicht, was er tun sollte.
„Richard, gib mir die Waffe!“, rief Pfeiffer, während er den Unbekannten festhielt.
Berger atmete tief durch. „Nein, Christian. Nicht auch noch meine Schwester“, und drückte ab.
Nichts geschah.
Der Unbekannte schnaubte und versuchte, sich zu wehren, aber Pfeiffer hielt ihn fest im Griff.
„Es ist vorbei“, sagte Pfeiffer angestrengt. „Alles hat endlich ein Ende.“
Berger ließ die Pistole zu Boden fallen und sackte in sich zusammen.
In diesem Moment stürmte die Polizei in den Waggon, die in der Nähe der Lagerhalle gewartet hatte. Die Beamten ergriffen den Unbekannten und legten ihm Handschellen an.

„Starke Nerven, Herr Pfeiffer“, sagte Hauptkommissar Schmidkte anerkennend. „Wir haben das Signal der Drohne empfangen und konnten alles mitverfolgen.“
Pfeiffer nickte erschöpft und fühlte sich schwindelig. Vorsichtig setzte er sich auf den Waggonboden.
Berger sank neben ihm zu Boden, seine Augen voller Tränen. Er schaute Hauptkommissar Schmidkte verständnislos an. „Marlene…“, schluchzte Richard Berger. „Was ist mit Marlene?“
„Wir haben Sie mittels Wärmebildkamera geortet“, beruhigte der Hauptkommissar ihn. „Sie war in der Nähe in einem Lagerhauskeller gefangen. Es geht ihr gut, aber sie ist sehr geschwächt. Zur Vorsicht haben wir sie umgehend in das Monty-Krankenhaus gebracht. Sie können Ihre Schwester später noch sehen.“

„Ich verstehe nicht…“, stammelte Berger. Er konnte keine klaren Worte fassen, keinen Gedanken halten. Er schien im Augenblick gefangen zu sein, während alles um ihn herum vorbeirauschte.
Pfeiffer stand vom Waggonboden auf und legte seine Hand auf Bergers Schulter. „Und wir werden dafür sorgen, dass die Wahrheit ans Licht kommt.“

Pfeiffer und Berger standen vor dem Aufzug im Monty-Krankenhaus und sahen sich an. „Haben wir es wirklich geschafft? Ist es endlich vorbei?“ Berger sprach leise und aus seinen Worten war eine gewisse Erleichterung zu hören.
„Ja“, knickte Pfeiffer bestätigend. „Der Unbekannte war Klaus Töpfer. Der Mann, der sich vor Deiner Haustür erschossen hatte. Nur hatte er sich nicht erschossen. Alles war gestellt gewesen.“
„So richtig will ich es immer noch nicht verstehen.“ Bergers Stimme klang unsicher und verriet seine Zweifel.
„Klaus Töpfer hatte den Selbstmord inszeniert. Der junge Mann mit dem Smartphone, die Polizei, nichts davon war echt. Das waren nur Schauspieler, die er für eine Realityshow engagiert hatte. Die Show war natürlich auch frei erfunden. Wie auch die Story mit dem Venustempel und der illegalen Prostitution.“
„Aber was ist mit der Pistole aus dem Karton? Warum hat sie nicht funktioniert?“ Berger schüttelte den Kopf, als ob er so die grausame Erinnerung an die qualvollen Momente loswerden könnte.
„Die war nur eine Attrappe. Dieselbe mit der er sich angeblich vor Deiner Haustür erschossen hatte.“ Christian Pfeiffer räusperte sich verlegen. „Es gab ein gewisses Risiko. So ganz sicher war ich mir nicht, Richard. Es tut mir leid, dass ich Dich nicht einweihen konnte und Du diesem Alptraum ausgesetzt warst. Aber es musste alles echt wirken.“

Berger starrte Pfeiffer plötzlich mit ausdruckslosem Gesicht an.
„Hauptkommissar Schmidkte kannte ich persönlich von einer investigativen Recherche über die Frankfurter Bahnhofsmafia“, erklärte Pfeiffer genauer, „für die ich mit der Mordkommission vor ein paar Jahren zusammenarbeitete. Als er mich vor ein paar Tagen zu Marias Tod befragte, konnte ich ihn in meine Vermutungen einweihen, ohne dass meine Aussagen in die offizielle Untersuchung eingingen. Es war nicht auszuschließen, dass Klaus Töpfer auch Polizeibeamte erpresste.“

„Vermutungen?“ Bergers Stimme krächzte trocken.
Christian Pfeiffer fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Der junge Mann mit dem Smartphone kam mir irgendwie bekannt vor. Ich konnte ihn aber zunächst nicht zuordnen. Die gesamte Szene vor Deiner Haustür ergab einfach keinen Sinn. Zehntausend Euro zu fordern und sich nach nur einem Nein von Dir sofort zu erschießen. Wie hätten jemandem so verzweifelten zehntausend Euro geholfen?

Genauso wie der Anruf bei mir in der Redaktion. Warum gab Klaus Töpfer mir zwei Minuten Zeit, um ein Video hochzuladen? Ein Upload dauert wenige Sekunden, und wie wollte er sicher sein, dass ich nicht einfach auflege? Drohanrufe sind in einer Redaktion alltäglich.“
Pfeiffer schwieg plötzlich. Berger spürte, dass es Pfeiffer schwerfiel weiterzureden.
„Maria musste sterben. So oder so.“
Pfeiffer schluckte hörbar. „Einfach nur aus Grausamkeit. Als Mittel zum Zweck. Der Anruf in der Redaktion war aufgezeichnet. Perfide ausgearbeitet, das Runterzählen mit Sprechpausen, die mir Zeit gaben zu antworten und verzweifelter zu werden. Ganz gleich, wie schnell ich das Video hochgeladen hätte. Es wäre immer zu spät gewesen. Sie musste sterben, damit Klaus Töpfer mich mit meiner eigenen moralischen Schuld erpressen konnte.

Alle Widersprüche lösten sich erst auf, als ich den jungen Mann mit dem Smartphone wiedererkannte. Auf einem verblichenen Plakat, einer Werbung für ein Frankfurter Improvisationstheater. Das Laientheater war zwar bereits geschlossen, aber im Netz ließen sich Fotos der Schauspielgruppe finden. Hauptkommissar Schmidkte half mir bei meinen Nachforschungen. Seine Nichte war in die Aktivitäten der Impro-Gruppe verwickelt gewesen. Gegen die Theatergruppe wurde wegen wiederholter, illegaler Auftritte in der linksextremen Szene ermittelt, ohne dass es zu Festnahmen kam.
Was ich nicht weiß, ist, wie Töpfer es anstellte, dass Maria im Europapark vorm Verlagsgebäude wartete. Vielleicht mit einer fingierten Bombendrohung in der Redaktion? Sicherlich wird Hauptkommissar Schmidkte die offenen Fragen in den Verhören klären. Auch wie Klaus Töpfer Deine Schwester entführt hat.“

„Warum war die Pistole nicht echt, Christian? Warum lebe ich noch?“, hielt Berger dagegen.
„Im Profiling werden Täter wie Klaus Töpfer als Psychopathen klassifiziert, die unter einer psychotischen Störung leiden und während eines Wahnschubs in dissoziative Identitäten fliehen.“ Christian Pfeiffer bemerkte selbst, dass die Fachsprache für Berger nur schwer zu verstehen war, und versuchte, das Geschehene nachvollziehbarer zu erläutern. „Sicher war ich mir erst, als er uns anhand der fingierten Beweise im Waggon glauben machen wollte, Du vermietest Busse. Was nicht stimmt, und selbst wenn Du Busse vermieten würdest, haftest Du nicht für Straftaten, die mit den Bussen begannen werden. Wieder so ein Widerspruch.
Auch gibt es in meiner Redaktion keinen Konstantin Magnus. Konstantin Magnus war ein römischer Kaiser oder ist heute eine Mineralwassermarke. Aber kein Chefredakteur. Und schon gar nicht würde mich ein Chefredakteur schriftlich anweisen, Recherchen zur lokalen Unterwelt einzustellen. Das wäre ein schriftliches Indiz für einen Generalverdacht gegen ihn. Chefredakteure lehnen Artikel, die ihnen nicht passen, einfach mit fadenscheiniger Begründung ab.
Widerspruch stapelte sich auf Widerspruch, wie es aber für die Paranoia psychisch kranker Straftäter typisch ist. Und er wollte nicht Deinen oder meinen Tod, nicht hier oder jetzt. Für ihn durfte sein krankes Spiel nicht enden. Im Tod wäre unsere Qual vorbei, das Spiel zu Ende und damit würde sich seine Wahnfantasie auflösen. Zwangsläufig müsste er wieder in die für ihn so graue und langweilige Realität zurückkehren, in der es keine Möglichkeit gibt, vor seinem kranken Leiden zu entkommen.
Ich wusste nicht, ob er Dir oder mir eine Schreckpistole gibt oder wie die Falle aussieht, zu der er uns eingeladen hatte. Wir mussten mitspielen, damit er von der Polizei gestellt werden konnte. Und wir mussten echt sein, damit er nicht flieht und Marlene zu spät gefunden wird. Er tötet nur, um die Qualen für andere aufrechtzuerhalten und deshalb war Marlenes Leben in Gefahr, aber nicht Deins oder meines.“

Es läutete leise und die Aufzugtüren öffneten sich. Beide stiegen gemeinsam ein. Pfeiffer drückte den Knopf für den dritten Stock, auf dem sich Marlenes Krankenzimmer befand. Die Türen schlossen sich sanft und der Fahrstuhl setzte sich behutsam in Bewegung.
„Was aber“, begann Berger und sah Pfeiffer nachdenklich an. „Was aber, wenn Klaus Töpfer nicht alleine gehandelt hat?“
Plötzlich gab es einen lauten Knall, das Licht fiel aus und die Kabine kam ruckartig zum Halten.
„Verdammt“, grummelte Pfeiffer.

(C) Felyx

Jan

Sorgsam klappte Jan Alb den Deckel seines Laptops zu und stellte das Gerät vor sich auf eine große Holzkiste.
»Genug für heute, es wird Zeit.«
Eigentlich war er ja so gut wie fertig, es fehlte nicht mehr viel und bald würde er groß rauskommen.
Da war er sich ganz sicher.
Nur noch ein, zwei Stündchen und sein Lebenswerk wäre vollbracht.
Doch es blieb ihm keine Wahl. Er konnte es sich nicht leisten, zu spät zu kommen. Unpünktlichkeit wurde mit Repressalien bestraft und er hasste es, bestraft zu werden.

Das Quietschen der verrosteten Schiebetür schreckte ein paar Enten auf, die in der anbrechenden Dunkelheit auf dem nahen Eschbach dösten.

Jan liebte diesen Ort. Diese Gegensätze. Auf der einen Seite die marode, längst stillgelegte und verfallene Gleisanlage in Nieder-Eschbach, einem Stadtteil seiner Heimatstadt Frankfurt am Main und auf der anderen Seite die Idylle des Eschbaches, der dem Stadtteil seinen Namen gab.

Hierhin konnte er sich zurückziehen, wann immer er wollte und es ihm gestattet war.
Nur hier vermochte er so glaubwürdig zu schreiben und tief in seine Geschichte abzutauchen.
Kaum jemand verirrte sich in diese Gegend. Hier durfte er sein, wie er ist. Ohne Belehrungen mit erhobenem Zeigefinger, ohne Repressionen und vor allen Dingen ohne seine Mutter!

Ständig meckerte sie an ihm herum, gab ihm das Gefühl, wertlos zu sein. Überforderte ihn mit ihren Erwartungen und Wünschen. Ganz gleich ob diese ausgesprochen waren.
Er spürte einfach, was er zu tun hätte und trotzdem war es immer falsch.

Doch damit war es nun vorbei.
Jetzt lag sie sabbernd und desorientiert mit Demenz im Endstadium im Pflegeheim.
Sie erkannte ihn nicht mehr. Es störte ihn nicht. Sie bekam, was sie verdient hatte.
Nur schade, dass sie den Moment seines größten Erfolges nicht mitbekommen würde.

In der gemeinsamen Wohnung konnte er alleine nicht bleiben.
Wieder bestimmten Andere über sein Wohl. Das sollte sich ändern. Das musste sich ändern!

Jan duckte sich, um nicht mit dem Kopf an die obere Kante des Türrahmens zu stoßen und kroch mehr, als dass er aus dem Waggon kletterte.

Es lagen knapp 20 min. Fahrzeit vor ihm. Vorausgesetzt, der Verkehr und die Karre ließ dies zu.
Der alte Opel pfiff nämlich aus dem letzten Loch. Jan musste schmunzeln. »Irgendwie passend…«

Verkehr und Opel erfüllten ihre Aufgabe. Jan erreichte rechtzeitig sein Ziel und fand einen Parkplatz direkt vor dem Gebäude.

Im Radio begannen gerade die lokalen Abendnachrichten.
Dominierendes Thema war noch immer das ungeklärte Verschwinden der beliebten Pastorin Romero.
Jan schaltete das Gerät ab und stieg aus.

»20:05 Uhr, da bin ich, wie versprochen«, sagte er, hob die Hand zum Gruß in Richtung des Anmeldeschalters, durchquerte den Eingangsbereich des Agaplesion Markus Krankenhauses, nahm den Aufzug in die 2. Etage und betrat das Zimmer 4 in der psychiatrischen Abteilung.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass es hier viel angenehmer roch, als im ausrangierten Güterwagen mit den zwei verwesenden Leichen in der Kiste.

»Ich hätte auf Marlene hören sollen«, sinnierte Jan, zog seine Jeans aus und hängte sie zusammen mit der Jacke aus braunem Lederimitat an den Haken seiner Zimmertür.