Seitenwind 2024
Offene Enden – fünfter Teil
Die Cleaning Art Agency
In der Steuerzentrale der Cleaning Art Agency ging es geschäftig zu. OW saß am Regiepult und starrte entsetzt auf die Monitorwand. Berger und Pfeiffer standen im grellen Scheinwerferlicht und blinzelten abwehrend in die Kamera. »Leute, was ist denn das für ein furchtbares Licht. Verdammt! Bully! So kann ich nicht arbeiten! Unternimm etwas!«
Der Kameramann schüttelte missmutig den Kopf, während er zwischen den Kabeln hinter seinem Schreibtisch verschwand. Nur sein widerwilliges Grummeln war zu hören. »Der eine will mehr Licht, der andere weniger. Könnt Ihr euch mal einigen? Stellt endlich einen Beleuchter ein, ich bin Kameramann.«
In diesem Moment flackerte der Baustrahler im Eisenbahnwaggon und gab schließlich den Geist auf. Pfeiffer und Berger verschwanden für einen kurzen Augenblick im Dunkeln, dann flammte das Notlicht auf. OWs wutfaltige Stirn entspannte sich wieder. Sein Blick hellte sich sogar ein wenig auf. »Verdammt! Das Bild ist echt gut, trotz der miesen Lichtverhältnisse dort.« Er wandte sich wieder an den Kameramann. »Gute Arbeit! Wie hast du das hingekriegt?«
»Neue Hardware mit Nachtlichtlinsen und verbesserter Software«, erklärte Bully stolz.
»Das ist echt super«, murmelte OW. »Düster und krisselig wie in Der dritte Mann. Der kleine Dicke könnte glatt Orson Welles sein.«
»Aber Orson Welles war von großer Statur«, wandte Carson ein. »Außerdem dachte ich, dass du in diesem Projekt Orson Welles bist. OW, der große Regisseur!« Sie kicherte stumm und verdrehte die Augen.
»Von großer Statur?« Der Regisseur schnaubte verächtlich. »Nur weil du dieses Mal am Drehbuch mitgeschrieben hast, musst du nicht gleich so geschwollen daherreden. Bleib auf dem Teppich. Wir benutzen doch alle ein Pseudonym. Ich hab mir halt Orson Welles ausgesucht, so wie du Carson McCullers. Was dich übrigens nicht automatisch zu einer genialen Autorin macht. Ende der Debatte. Wichtig ist nur, dass wir unsere Rolle spielen und alles sauber über die Bühne bringen.«
»Auf die Bühne«, korrigierte Carson ihn grinsend. »Na ja, auf die digitale Bühne«, fügte sie hinzu.
OW ignorierte sie und wandte sich wieder den Monitoren zu. Er betrachtete fasziniert Richard Berger, der zitternd im körnigen Halbdunkel stand und verwirrt auf die Waffe in seiner Hand starrte. »Was für ein Bild! Was für eine Atmosphäre! Unsere Klienten werden begeistert sein! Leute, schaltet die Leitungen frei. Der Showdown kann beginnen.«
Weitere Monitore flackerten auf. Zuschauer aus aller Welt loggten sich mit einem teuer bezahlten Zugangscode ein. Außerdem schalteten sich die Auftraggeber der Show dazu: Die örtliche Vertretung einer osteuropäischen Mafia-Organisation, die in dieser Gegend die Prostitution und den dazugehörigen Menschenhandel kontrollierten, sowie einige ihrer geheimen Geschäftspartner und Unterstützer. Darunter angesehene Bürger der Stadt, wie der Herausgeber des Frankfurter Generalanzeigers, Konstantin Magnus – ein sehr besonderer Kunde des Venustempels mit sehr besonderen Bedürfnissen.
Er war es schließlich gewesen, der den Kontakt zur Cleaning Art Agency geknüpft hatte, als es brenzlich wurde und sie eine Lösung brauchten. Genauer gesagt, hatte er den Kontakt zu Muller hergestellt, dem Begründer der Agentur und ehemaligen Schulfreund. Er war der kreative Kopf des Unternehmens. Wenn es um die Bereinigung von unerwünschten Situationen ging, war er ein wahres Genie in Dramaturgie und Storytelling. Magnus bewunderte ihn dafür. Er hätte ihn gern als Autor in seiner Redaktion gehabt. Muller hatte auch die Idee zur Online-Performance. Ausgewählte Gäste konnten sich live zuschalten und sogar auf den Verlauf der Ereignisse wetten. Muller ließ die vorbestimmten Opfer gegeneinander antreten oder spielte sie gegeneinander aus, was an Zynismus kaum zu überbieten war. Es war so etwas wie ein zeitgenössisches Kunst-Projekt für Psychopaten. Ein Auftragsmord als inszenierte Performance oder die ausgefallene Dramaturgie einer Entführung mit Todesfolge – was auch immer verlangt wurde, in der Umsetzung war der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Auftraggeber oder zahlende Teilnehmer konnten sich dabei um eine Rolle bewerben, entweder als Autor, Regisseur oder Protagonist. Eine sehr beliebte Rolle war die des Rächers, auf dessen Konto gingen die meisten Morde. Aber auch Möchtegern-Regisseure fühlten sich berufen, das Drehbuch zu ihrem Meisterwerk ganz in Quentin Tarantino Manier zu schreiben. Eine ausgewählte Elite von internationalen Verbrechern und wohlhabenden Voyeuren sah dabei online zu und machte sich vor Aufregung ins seidene Höschen. Magnus lächelte bei dem Gedanken daran. Er suchte den kleinen Bildschirm nach Muller ab, aber er sah nur einen pixeligen Pfeiffer mit grimmigem Blick unter einer albernen Hutkrempe, und Berger, dessen Gesichtsausdruck zwischen Verwirrung und purer Angst wechselte – von Muller keine Spur.
Doch Muller war genau da, wo er sein sollte. Als der Baustrahler plötzlich erlosch, hatte er instinktiv einen Ausfallschritt Richtung Waggontür gemacht. Die gesamte Muskulatur seines Körpers war angespannt, er war auf alles gefasst gewesen. In dieser Geschichte rechnete er zwar kaum mit Widerstand, doch man konnte nie voraussehen, was geschah. Nun, im schwachen Schein der Notlichtlampe entspannte er sich wieder und ging zurück auf seine Position unterhalb der Kamera, darauf bedacht, nicht von ihr erfasst zu werden. Mullers Blick streifte Pfeiffers Fedora. Für ihn war dieser Hut im Gegensatz zu Magnus‘ Auffassung ganz und gar nicht albern. Bei seinem Anblick kamen ihm spontan Film-Szenen mit Humphrey Bogart als Sam Spade oder Philip Marlowe in den Sinn – Rollen, die er liebend gern einmal spielen würde. Doch jetzt hatte er eine andere Rolle zu spielen, nämlich die des Rächers. Ein Mann, der den moralischen Wertvorstellungen des christlichen Abendlandes huldigt und jene, die dem zuwiderhandeln, auf eigene Faust der gerechten Strafe zuführt. Das dies nur einer ausgefeilten Dramaturgie folgte und eigentlich reiner Bullshit war, machte es nicht besser. Er hatte diese Rolle zwar erdacht, aber er hatte sie nie spielen wollen. Doch Magnus hatte darauf bestanden: Du schuldest mir was. Ich will, dass du die Sache ein für alle Mal erledigst! Und damit meine ich jeden, der uns gefährlich werden könnte. Die Pastorin, ihren Bruder, den Reiseunternehmer, die Vertraute der Pastorin, die übrigens ausgerechnet die Ehefrau des nervigen Pfeiffers ist, einem Journalisten in meinem Haus. Den kannst du bei der Gelegenheit gleich mit entsorgen.
Muller sah zu Pfeiffer rüber. Sein Blick bedeutete Ärger. Typen wie er, machten immer Ärger. Er verstand Magnus’ Standpunkt. Diese Leute waren alle miteinander verbunden. Wenn man einen von ihnen loswerden wollte, musste man alle loswerden. Er kannte die Vorgeschichte. Nachdem Magnus den Journalisten Pfeiffer von der Story abgezogen hatte, weil der ihm zu dicht auf den Fersen gewesen war, wurde es in der Öffentlichkeit still um den Venustempel – zumindest eine Zeit lang. Doch schon bald tauchte eine neue Bedrohung auf, die Pastorin. Sie fühlte sich berufen, den verlorenen Seelen im Venustempel beizustehen. Nach ihrem Hausverbot sprach sie draußen mit den Mädchen. Mit der Zeit gewann sie ihr Vertrauen und schließlich die zärtliche Zuneigung einer jungen Frau aus Bulgarien, Vera. Die Pastorin versuchte, zu widerstehen, doch es gelang ihr nicht. Liebe macht blind, so sagt man. Man sagt auch, sie lässt die Menschen sanft und nachsichtig werden. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Marlene Romero sah ihre Liebe im Tempel der Wollust und der Gewalt gefangen und das machte sie hart, verbittert und unnachgiebig. Ihre Bemühungen, die neugewonnene Liebe zu befreien, mündeten schließlich in einem plumpen Fluchtversuch, bei dem Vera starb und sie selbst verletzt in einem dunklen Kellerloch landete. Magnus’ Opfer waren allesamt moralisch integre Leute. Für Muller war es nur logisch, für diesen Auftrag die Rolle des moralischen Rächers ins Spiel zu bringen. Sie war glaubhaft, und nur darum ging es ihm beim Storytelling. Die äußere Rahmenhandlung war nicht wichtig, sie konnte so absurd sein, wie sie wollte. Die Geschichte musste nur in sich schlüssig sein, dann würden die meisten Leute glauben, dass sie wahr sei.
Eine plötzliche Bewegung in den Augenwinkeln riss ihn aus seinen Gedanken. Berger hob die Waffe und richtete sie zitternd auf ihn. »Was ist, wenn ich es nicht tue? Wenn ich nicht mich, sondern Sie erschieße?« Seine Stimme war brüchig, doch in ihrem Beben lag trotziger Aufruhr.
Muller sah ihn aufmerksam an. Trotz der kühlen Abendluft schwitzte Berger. Sein Atem ging schwer und in seinem Blick lag der Ausdruck tiefer Verzweiflung. Er könnte es tun, dachte Muller für einen Augenblick. Doch dann schüttelte er gedanklich den Kopf. Nein! Aber diese, wenn auch nur vage Idee könnte das Geschäft ankurbeln. »Das hatten wir doch schon! Dann stirbt Ihre Schwester«, antwortete Muller ruhig. »Außerdem sind sie gar nicht in der Lage, einen Menschen zu verletzen, geschweige denn zu töten«, fügte er beinahe mitleidig hinzu. Er machte eine kleine Kunstpause und sah ihn herausfordernd an. »Oder doch?«
Das war das Stichwort für den Regieraum. »Meine Damen und Herren! Wie entwickelt sich die Geschichte nun weiter? Wird Berger sich selbst richten, um seine Schwester zu retten? Oder wird er sich gegen sein unvermeidliches Schicksal auflehnen. Die Wetten können platziert werden«, verkündete OW.
»Was soll das?«, rief Magnus unsicher. »Glaubst du wirklich, dieser Typ könnte sich wehren?«
»Du solltest wissen, wie unser Geschäftsmodell funktioniert«, erwiderte OW flüsternd. »Wir ziehen diese Szene nur etwas in die Länge, um die Wetteinsätze zu ermöglichen. Am Ende werden sie dennoch alle sterben. So wie geplant, du wirst sehen. Muller weiß, was er tut. Er hat alles unter Kontrolle!«
Das hatte Muller tatsächlich. Er hatte wie immer alles gründlich vorbereitet, die Protagonisten überprüft und ein psychologisches Profil von ihnen erstellt. Deshalb hatte er auch Berger die Waffe überlassen und nicht Pfeiffer, der anfällig für unkontrollierbare emotionale Ausbrüche war. Zur Sicherheit war die Waffe so präpariert, dass sie nur in sehr kurzer Entfernung tödlich war. Und um ganz sicherzugehen, trug er darüber hinaus eine Schutzweste. Daher blickte er einigermaßen gelassen in die Mündung der Pistole, die Berger mit zittriger Hand auf ihn richtete.
»Ich könnte Sie verletzen, Ihnen wehtun, bis Sie mir verraten, wo Sie meine Schwester gefangen halten«, drohte Berger mit unsicherer Stimme.
»Nun, das könnten Sie, nicht wahr? Wenn Sie so wären wie ich! Aber sind Sie das? Wir alle müssen uns irgendwann die Frage stellen, wer wir sind und wozu wir fähig sind, angesichts einer Bedrohung oder einer scheinbar ausweglosen Situation.« Er sah Berger geradewegs in die Augen und wusste, dass er ihn richtig eingeschätzt hatte. Er würde nicht abdrücken. Im Gegensatz zu Pfeiffer, dessen verzweifelte Wut in seinen verzerrten Gesichtszügen erkennbar war. Hätte er in diesem Moment die Waffe in der Hand, würde er wohl schießen, dachte Muller grimmig. OWs Stimme erklang plötzlich in seinem rechten Ohr: »Die Wetten sind platziert! Gut gemacht!« Gleichzeitig nahm er ein Zucken in Pfeiffers Gesichtsmuskeln wahr. Er machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts.
Der Journalist hatte in diesem Moment tatsächlich daran gedacht, einen Sprung nach vorn zu wagen und Muller niederzuringen. Doch er zögerte, wartete ab, was Berger tun würde. Sollte er tatsächlich schießen, wollte Pfeiffer nicht in die Schussbahn zwischen die beiden geraten.
Und so beobachteten die drei sich gegenseitig, angespannt und abwartend, während sie ihrerseits durch die Linse einer hochauflösenden digitalen Webcam betrachtet wurden. Jeder hatte dabei seine eigenen Interessen im Blick und niemand dachte in diesem Augenblick an etwas anderes, schon gar nicht an Dorothea Berger. Weder Ihr Mann, noch Pfeiffer, noch Muller, der ansonsten immer alles im Blick hatte. Für ihn war sie eine unscheinbare Randfigur in der Betrachtung der Geschichte – jedoch eine, die unbemerkt einen Stein ins Rollen gebracht hatte, nachdem ihr Mann und Pfeiffer das Haus verlassen hatten. Eigentlich war es sogar mehr als nur ein Stein, es war eine Lawine, die in ihrer Größe und Wucht das ganze Theater zu zerschmettern drohte. Sie hatte nämlich wider ihren Versprechungen und trotz ihrer Zweifel die Polizei alarmiert.
Kommissar Brandt kam dieser Anruf sehr gelegen, denn er hatte die Betreiber des Venustempels schon länger im Visier. Er hatte sogar eine neue Task Force eingerichtet, die jeder möglichen Spur gefolgt war. Die Kollegen hatten auch mit der Pastorin, Marlene Romero, in Verbindung gestanden und mit ihr Informationen ausgetauscht. Nach ihrem Verschwinden vor zwei Tagen hatten sie ihre Untersuchungen verstärkt und sich voll und ganz auf diesen Fall konzentriert. Schließlich konnten sie die Verbindung zwischen Venustempel, Konstantin Magnus und der Cleaning Agency nachvollziehen. Mit dem Anruf, den Dorothea Berger an diesem Abend mit aufgewühlter Stimme und schlechtem Gewissen tätigte, hatte Brandt endlich einen handfesten Grund mit seiner Task Force auszurücken. Sie teilten sich auf und fuhren Richtung Venustempel sowie zum Hauptsitz der Cleaning Art Agency und dem Industriegelände am Rande der Stadt.
Inzwischen wurde Pfeiffer langsam ungeduldig. »Was ist nun?«, fragte er und sah Berger erwartungsvoll an.
Doch Berger reagierte nicht, war in sich gekehrt. Er haderte mit dieser vermaledeiten Frage, wer er war, und wer er in dieser Situation sein wollte. Ganz so, als könnte er sie beantworten, sich erheben und tun, was getan werden musste. Doch die Wahrheit war, dass er mit dieser Situation vollkommen überfordert war. Er war kein Intellektueller, hatte kein ausgeprägtes selbstreflektierendes Bewusstsein über sich selbst. Doch soviel wusste er, er war ein einfacher Mann – freundlich genug, um nachsichtig gegenüber seiner liebevollen Frau zu sein und ihre furchtbare Scherzkrawatte zu tragen, ohne sich zu beschweren, doch auch naiv und verantwortungslos genug, um dunkle Geschäfte mit Mafiosi zu machen, deren Details er bewusst ignorierte, während er wegsah. Er starrte auf die Waffe, sie lag schwer in seiner Hand. Nicht nur die Schwerkraft zerrte an ihr, auch sein Gewissen, seine Schuldgefühle und seine verfluchte Angst drückten sie unerbittlich nach unten. Schließlich ließ er sie erschöpft sinken. Er wischte sich über das schweißnasse Gesicht und seufzte: »Ich kann das nicht!«
Muller hörte durch seinen Ohrstöpsel den Jubel jener, die richtig gewettet hatten und die ärgerlichen Kommentare derer, die daneben lagen. Er lächelte still in sich hinein, denn bei solchen Transaktionen konnte er als Veranstalter nur gewinnen. Er wandte sich an Berger, der wie ein Häufchen Elend in sich zusammengesunken war und jetzt auf den hölzernen Planken des Waggons saß. »Nun gut! Dann halten Sie jetzt ihre Ansprache. Stehen Sie auf und schauen Sie direkt in die Webcam. Wiederholen Sie die Worte, die ich vorgegeben habe. Danach richten Sie sich selbst, am besten durch einen Kopfschuss.«
Doch Berger reagierte wieder nicht. Er saß nur da und schluchzte vor sich hin. Pfeiffer dagegen vibrierte am ganzen Körper. Sein Siedepunkt war erreicht und Berger hatte den Weg für ihn freigemacht. Mit einem gewaltigen Satz sprang er auf Muller zu. Dieser hatte zwar die Anspannung Pfeiffers vor dem Sprung aus den Augenwinkeln wahrgenommen, konnte aber nicht schnell genug reagieren. Er griff nach seiner Pistole, doch der Lauf hing am Futter seiner Jackentasche fest, und der Schuss, der sich im darauffolgenden Gerangel löste, ging geradewegs durch seinen rechten Fußrücken. Die Kugel zerschmetterte den gewölbten Spann und jagte einen gewaltigen Schmerz durch Mullers Nervensystem. Sein Geschrei übertönte die Geräusche in seinem rechten Ohr: die aufgeregten Rufe und die Schusswechsel in der Steuerzentrale der Agentur, als Brandts Task Force dort eintraf. Im nächsten Moment tauchte Brandt selbst mit einigen seiner Kollegen am Eisenbahnwaggon auf und stürmte hinein. Er hatte einige Mühe, Pfeiffer von Muller zu trennen, der wie von Sinnen all seine Wut in Muller hinein prügelte, ganz so, als könnte er sich auf diese Art von ihr befreien. Als Brandt ihn schließlich von ihm getrennt hatte, war Muller einen Moment lang unbeobachtet. Er Griff in die Jackentasche und zog seine Pistole heraus. Halb betäubt durch den Schmerz schoss er auf gut Glück um sich. Eine Kugel traf Berger mitten ins Herz. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Richard Berger erstaunt auf, dann entspannte sich sein Gesicht beinahe zu einem Lächeln. Er sank ein letztes Mal in sich zusammen. Muller starb Sekunden später im Kugelhagel der Task Force.
Bergers Tod holte Pfeiffer schlagartig aus seinem tranceartigen Zustand aus Wut, Hass und Verzweiflung. Der ganze emotionale Moder tropfte von ihm ab und er sackte in sich zusammen, wie Berger in sich zusammengefallen war – nur nicht so endgültig. Er fühlte sich leer und irgendwie hohl – ein einzelner Gedanken schien in ihm haltlos umherzuirren. Maria! Maria? Maria…
Brandt half ihm auf die Beine. »Hey, ist alles okay? Sind Sie verletzt?«
Pfeiffer schüttelte den Kopf. Langsam füllte sich die Leere wieder mit Erinnerungen, Gefühlen und Gedanken. Es war schmerzhaft, aber bald konnte er sich wieder in der Wirklichkeit orientieren. »Was ist mit der Pastorin?«, fragte er schließlich. »Habt Ihr sie gefunden?«
»Sie meinen Marlene Romero? Ja, es kam gerade über Funk durch. Sie ist im Keller des Venustempels gefunden worden. Sie ist verletzt, aber sie wird es wohl überstehen. Die Mitarbeiter des Bordells und der sogenannten Cleaning Art Agency sind verhaftet. Ebenso ihr Chef, Konstantin Magnus.«
Pfeiffer schaute für einen Moment verdutzt drein, dann schüttelte er grinsend den Kopf. »Gut«, erwiderte er. »Dann ist die Sache also endlich vorbei?«
»Vorbei?« Brandt lachte bitter. »Jetzt geht es erst richtig los. Spurensicherung, Verhöre, Zeugenbefragungen, Berichte und unzählige Formulare. Und Sie haben sicherlich auch einiges zu tun, nicht wahr?«
Pfeiffer sah ihn fragend an.
Brandt legte eine Hand auf seine Schulter und schob ihn vorwärts. »Nun ja, die Öffentlichkeit muss schließlich informiert werden. Ich will einen ausführlichen Artikel im Frankfurter Generalanzeiger lesen. Ein wohlwollender Kommentar bezüglich meiner Task Force ist übrigens durchaus willkommen«, fügte er lächelnd hinzu.
Hätte OW diese Schlussszene jetzt sehen können, wäre er wohl begeistert gewesen. In diesem körnigen Licht entfernten sich zwei Männer aus dem Waggon. Der eine trug einen Fedora, der andere eine Uniform. Sie schritten gemeinsam in die Nacht, einer Zukunft entgegen, die für alles offen war, sogar für den Beginn einer wunderbaren Geschichte.