Offene Enden Teil 2: Schreib Teil 3

Kapitel 3

Als Kriminalhauptkommissar Teudnach am Tatort Berger ankam, war die Leiche bereits unterwegs zur Rechtsmedizin. Der Tatort zeigte das gewohnte Bild. Am Gartenzaun und auf der Straße Schaulustige, mehr oder weniger aufdringlich. Vor der Haustür und im Vorgarten Mitarbeiter der Spurensicherung in weißen Ganzkörper-Plastikanzügen und blauen OP-Überziehschuhen. Sie sammelten Gegenstände ein und fotografierten.
Kleine gelbe Hütchen mit Nummern markierten wichtige Spuren.

»Chef.« Kriminalhauptmeister Werner begrüßte ihn mit einem Nicken. »Mojen, Werner. Was Neues über den Flüchtigen?« Werner verneinte. »Die Kollegen befragen weiterhin die Anwohner, bisher scheint aber keiner wirklich was gesehen zu haben.«

Während Teudnach sich auf das Haus zubewegte, brachte ihn Werner auf den aktuellen Stand. »Nachdem Frau Berger uns verständigt hatte, zog sich das Ehepaar in das Schlafzimmer im ersten Stock zurück. Beim Eintreffen der Kollegen waren beide leicht geschockt, aber vernehmungsfähig. Beide gaben an, dass ihnen die zwei Männer vollkommen unbekannt seien. Von dem zweiten Mann, der den Vorfall gefilmt haben soll, fehlt jede Spur. Er muss sich zügig entfernt haben, bevor die ersten Nachbarn auf den Vorgang aufmerksam wurden.Die Beschreibung lautet auf Jeans, Lederjacke, eventuell Kunstleder. Ungefähr einsachtzig groß, um die 25 Jahre, Hauttyp hell, Haare mittelblond, kurz geschnitten. Keine besonderen Merkmale.Ich hab’s in die Fahndung gegeben.«

»Danke, Werner. Machen sie hier bitte weiter, ich seh’ mir die beiden mal an.« Gerade als Teudnach die Treppe zur Haustür hochging, vibrierte sein Smartphone. Eine unbekannte Nummer. Er meldete sich, ließ dabei den Blick zurück über den Plattenweg schweifen.

»Klaus? Klaus, bist du das? Ich bin’s. Christian. Klaus, bitte…bitte, du musst mir helfen! Kannst du kommen? Sofort? Bitte! Es ist was Furchtbares passiert.«
Teudnach runzelte die Stirn. Christian Pfeiffer war ein alter Bekannter. Ein Journalist, den er eigentlich als eher unaufgeregt und pragmatisch beschreiben würde. Was konnte ihn so aus der Bahn werfen? Teudnach war sofort klar, dass es sich um etwas wirklich Außergewöhnliches handeln musste.

»Was ist passiert, Christian?« Teudnach hatte bereits umgedreht und ging schnellen Schrittes auf KHM Werner zu. Während er der verworrenen und aufgeregten Schilderung Pfeiffers zuhörte, gab er seinem Kollegen Anweisungen. »Ich muss zu einem Notfall. Mehrsen soll alles so schnell wie möglich digitalisieren und aufbereiten, wir treffen uns später im Büro.« Werner nickte bestätigend und wandte sich wieder dem Tatort zu.

»Ich komme zu dir. Bist du in der Redaktion?« »Nein, ich bin bei Ahmed im Grill. Oh Gott, das darf doch alles garnicht wahr sein. Maria…« Der Rest ging in einem Schluchzen unter.

Teudnach war beim Wagen angelangt und setzte sich auf den Beifahrersitz. Der Fahrer sah ihn fragend an. »Schillerpassage, so schnell es geht. Mit Blau und Martin.« Der Fahrer nickte und trat aufs Gas.

Über Funk erfuhr Teudnach, dass es vor einer Viertelstunde eine Tote vor der Redaktion des Generalanzeigers gegeben hatte. Eine junge Frau, Personalien unbekannt, war auf der Straße gegenüber des Gebäudes einer Schussverletzung erlegen. Teudnach atmete durch. Das musste diese Maria sein, von der Pfeiffer gesprochen hatte. Er hoffte inständig, dass dieser nichts mit der Tat zu tun hatte.

Er wies den Fahrer an, direkt vor Ahmed’s Grill zu halten und zu warten.

Als er eintrat, schlug ihm der Geruch von Döner entgegen. Der Grill war gut besucht, fast alle Tischchen besetzt und mehrere Wartende vor der Kochtheke. Dahinter war Ahmed in seinem Element. Lachend, scherzend, mit dem Messer spielend gab er seine gewohnte Show. Aus dem Lautsprecher tönte orientalische Popmusik, vielfältige Stimmen versuchten Unterhaltungen zu führen.
Teudnach fühlte sich zuhause hier. Viele Jahre lang war das sein Treffpunkt mit einigen Freunden gewesen. Christian Pfeiffer war einer davon.
Ahmed hatte offenbar auf ihn gewartet. Mit einem schnellen Seitenblick wies er nach hinten. Teudnach verstand. Er schlängelte sich Richtung Toiletten, ging aber daran vorbei und durch eine Tür, die hinter einem Vorhang verborgen war.

Hier fand er Pfeiffer. Emira, Ahmeds Frau, stand neben ihm, eine Hand beruhigend auf seiner Schulter. Vor ihm ein Tablett mir Tee und Mandelgebäck, beides offenbar unberührt.

»Klaus! Endlich!« Teudnach erschrak innerlich über den Zustand seines Freundes. Christian wirkte zerrüttet. Die Haare wirr, die Hände zitterten und sein Blick eine Mischung aus Verzweiflung, Unverständnis und reiner Panik. Emira grüßte kurz und verließ den Raum. Teudnach zog sich einen Stuhl heran, setzte sich Pfeiffer gegenüber und nahm dessen Hände zwischen seine.

»Christian. Sieh mich an. Ich muss dich etwas fragen.« Pfeiffer versuchte, seinen Blick auf Teudnach zu fixieren. Immer wieder irrten seine Augen umher, mal nach außen, mal nach innen gerichtet.

»Christian. War das deine Maria, auf der Straße vor dem Generalanzeiger? Ist sie die Tote?« Ein Schluchzen und ein Nicken. »Christian. Sieh mich an. Hast du was mit ihrem Tod zu tun?« Erneutes Nicken. »Ich bin schuld. Ich hab sie umgebracht. Ich hätte das Video…ich bin schuld! Ich bin schuld, Klaus!«

»Erzähl mir erstmal genau, was passiert ist. Du kanntest die Tote. Weißt du wie sie hieß und wo sie wohnte?«

»Maria«, antwortete Pfeiffer schwach. »Maria Berger. Sie ist gerade erst von einer Recherche zurückgekommen und wohnt bei einer Freundin. Ihre Eltern wohnen irgendwo in Sachsenhausen, auf dem Bonzenberg.«

Anachronica/Sigrid Heinz

»Wenn ich noch ein einziges Wort über diesen Richard Berger und seine Frau Dorothea lesen muss, kriege ich einen Anfall!« Kriminalkommissar Bernhard Mause zerknüllte ein eng beschriebenes Blatt und warf es in Richtung Papierkorb. »Schreibwettbewerb – pah! Solche Aktionen stammen doch aus dem letzten Jahrhundert.«
Sein Kollege Horst Kellermann sammelte es umgehend wieder auf. »Hey, das sind Beweisstücke, jetzt reiß dich gefälligst zusammen und mach deinen Job.«
Kriminalkommissarin Judith Balkow seufzte nur und angelte sich ein neues Blatt vom Stapel. »Soll dir nie was Schlimmeres passieren.«
»Ist doch wahr«, beschwerte sich Mause weiter. »Wo man hinschaut, läuft die Welt aus dem Ruder, aber wir dürfen uns mit so einem popligen Schreibwettbewerb rumschlagen und Beiträge sichten. Als ob sich da der Täter finden würden. Soko Zehntausend, das ist doch echt ein Witz!«
»Hättest du lieber einen Bombenanschlag in einem voll besetzten Fußballstadion?«, erkundigte sich Kellermann. »Wir haben hier vielleicht nicht den spektakulärsten Fall, doch wenigstens nur ein einziges Opfer.«
»Aber dafür Hunderte von Fortsetzungen zu dieser haarsträubenden Startszene mit dem Selbstmord. Als ob das im richtigen Leben so ablaufen würde.«
Alice Föhring, ebenfalls Kriminalkommissarin, nickte eifrig. »Sehe ich genauso, wer würde sich denn heute noch mit läppischen Zehntausend Euro zufrieden geben?«
»Es ist ja nur eine Geschichte, und dafür finde ich die Idee gar nicht mal so schlecht«, meinte Balkow. »Tatsächlich sind eine Menge richtig guter Beiträge dabei, ich gebe dir aber recht, so langsam kommt einem das Thema aus den Ohren. Egal, es gibt sonst keinerlei Anhaltspunkte, also müssen wir da durch. Gründliche Polizeiarbeit eben.«

Die Tür flog auf und ein uniformierter Kollege schleppte einen Wäschekorb voll weiterer ausgedruckter Seiten herein. »Soko Zehntausend? Dann ist der hier für euch. Wünsche frohes Schaffen.« Er grinste und schloss die Tür, bevor ihn die nächste Mause’sche Papierkugel treffen konnte.
»Was zum Geier ist das denn?« Kellermann schluckte. »Mir schwant Grauenvolles.«
»Nicht nur dir«, sagte Föhring. »Ich fürchte, das sind die Wettbewerbsbeiträge der nächsten Runde.«
»Echt jetzt? Das können die doch mit uns nicht machen. Ab morgen bin ich krank, ach was, ab sofort.«
»Mause, wenn du das durchziehst, stecke ich dem Boss, dass du …«

Die Tür öffnete sich erneut. »Leute, bitte etwas mehr Professionalität!« Kriminalhauptkommissarin Ilsa Lauenburg, die Leiterin ihrer Ermittlungsgruppe, erschien auf der Bildfläche. »Macht mal die Fenster auf und kocht frischen Kaffee. Und dann bitte ein ausführliches Briefing – wo stehen wir und was gibts Neues?«

Balkow machte den Anfang. »Wir haben ein Mordopfer: Heiner Pappelbach, einer der drei Leiter der Wortgetreu-Schreibakademie und außerdem Juror beim Sturmwind-Schreibwettbewerb. Todesursache: ein kräftiger Stich in die Halsschlagader, wahrscheinlich mit einem Füller.«
»Tatort: das Büro des Opfers, Todeszeitpunkt irgendwann in der Nacht zum Samstag. Entdeckt wurde das Opfer am Sonntagvormittag von Silke Heyer, einer Mitarbeiterin und mit-Jurorin. Darüber hinaus keine Zeugen, keine Spuren, kein garnichts. Wir tappen sowas von im Dunkeln, dass uns nur noch die verdammten Wettbewerbsbeiträge bleiben«, führte Kellermann weiter aus. »Die gehen wir gerade durch, was natürlich absolut nichts bringt.«
Lauenburg nickte. »Ab sofort wird es etwas bringen, vorhin ist nämlich in der Akademie so eine Art Bekennerschreiben eingegangen. Hört mal her:«

233 Beiträge alleine in der ersten Runde des jährlichen Sturmwind-Wettbewerbs. 232 davon stammen von Anfängern, Dilettanten, Nichtskönnern, Möchtegernautoren und sonstigen Stümpern, nur ein einziger wurde von einem wirklichen Könner verfasst: Meiner!
Aber wusste die restlos bornierte Jury das zu schätzen? Nicht im Mindesten!
Ich habe mir deshalb erlaubt, diesen Missstand anzuprangern, zugegebenermaßen auf eine etwas blutige, jedoch sehr wirkungsvolle Weise.
Damit die Aktion auch weiterhin die nötige Aufmerksamkeit erhält, werde ich ab sofort in jeden meiner Beiträge versteckte Hinweise auf meine Identität in die Handlung einbetten, die der intelligente Leser zusammentragen und auswerten möge. Schluss mit der Ignoranz, ich verlange die mir zustehende Anerkennung!
Werde ich nicht entdeckt, stirbt pro Woche ein weiteres Jurymitglied. Sollte der Wettbewerb vorzeitig abgebrochen werden, sehe ich mich leider gezwungen, die gesamte Jury zu eliminieren.

Sie ließ das Blatt sinken. »Fällt euch dazu irgendwas ein?«
»Außer, dass da jemand einen gewaltigen Sprung in der Schüssel hat?« Balkow schüttelte den Kopf. »Nee. Das kann man doch unmöglich ernst nehmen.«
»Leider nimmt dieserJemand die Sache todernst«, meinte Lauenburg, »deswegen bleibt es uns leider nicht erspart, uns auch weiterhin durch sämtliche Einsendungen durchzugraben. Natürlich läuft parallel das volle Programm, Spusi, Zeugen, Motive, Hintergründe und so weiter, aber ich habe den Verdacht, dass uns das nicht wirklich helfen wird.«
Das gesamte Team seufzte geschlossen auf.
»Gibts dabei wenigstens was Tolles zu gewinnen, oder warum sonst macht der Typ so einen Bohei?«, wollte Kellermann wissen.
Föhring kramte in ihren Notizen. »Außer der Ehre bekommt der Gewinner pro Runde eine Version ihres Schreibprogramms. Ein richtig gutes sogar, aber deswegen gleich einen Mord zu begehen …«
»Menschen sind schon aus weit geringeren Anlässen umgebracht worden«, sagte Balkow.
»Es geht ihm nicht um irgendeinen Preis, sondern um Anerkennung, das hat er doch klar und deutlich geschrieben«, sagte Mause. »Dass er sich dazu ausgerechnet so was aussucht … wie auch immer, jetzt stellt sich die Frage, ob wir schlau – und schnell – genug sind, seine Hinweise zu entschlüsseln.«
»Seine, oder ihre. Euch ist schon klar, dass der Täter genausogut eine Täterin sein kann?«
»Alice, lass bitte endlich diese bescheuerte Genderei«, begann Lauenburg, doch dann stockte sie. »Sorry, du hast natürlich absolut recht, hier hat die weibliche Form ihre Berechtigung.«
Kellermann kaute am Ende seines Stiftes. »Ich weiß nicht, jemanden mit einem Füller zu erstechen, das klingt mir eher nach einem Mann.«
Judith Balkow wühlte bereits im Wäschekorb mit den neuen Beiträgen. »Scheiße, das werden Überstunden ohne Ende. Immerhin eine gute Nachricht: Es geht nicht mehr um die Bergers, ab jetzt rückt der Journalist Christian Pfeiffer in den Mittelpunkt.«
»Natürlich, der aus der letzten Gewinnerstory. Wenigstens etwas, der war eh viel interessanter als die Bergers«, meinte Mause.
»Dann müssen wir jetzt nicht nur einen echten Mordfall lösen, sondern auch noch einen fiktiven?«, staunte Föhring. »Haben die Fälle überhaupt irgendwas gemeinsam?«
»Einen restlos durchgeknallten Täter«, meinte Kellermann. »Und nein, wir müssen nur den echten Fall lösen, der andere wird so nach und nach von den Teilnehmern des Wettbewerbs entwickelt.«
»Verrückte Idee, könnte aber Spaß machen«, fand Möhring.
Plötzlich zog Balkow eine einzelne Seite heraus. »Leute, ich hab hier was, das sollten wir uns näher ansehen.«

„Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert.“

Patrick Nowak saß auf einer Parkbank und beobachtete das Fenster, von dem Pfeiffer auf die Frau im roten Mantel starrte. Sie lag rücklings auf dem kalten Boden und blickte mit starren Augen in den blauen Himmel.

„Okay, er ist unterwegs. Du kannst aufstehen.“

Die junge Frau, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit Pfeiffers Geliebten hatte, war eine Prostituierte und hatte sich über die leicht verdienten fünfhundert Euro gefreut. Langsam stand sie auf und richtete ihre Kleidung.

„Gib Gas, er ist gleich da.“

Pfeiffer war schnell, aber als er unten ankam und aus der Tür rannte, war die Frau bereits verschwunden. Patrick beobachtete, wie der Journalist auf den großen Platz lief und sich panisch umschaute. „Maria!“, brüllte er immer wieder verzweifelt und hetzte hilflos zwischen den Bäumen hin und her. Es dauerte eine Weile, bis er realisierte, dass man ihn hereingelegt hatte.

Patrick wartete geduldig, bis Pfeiffer wieder ins Gebäude gegangen war, und stand auf. Er war stolz auf sich. Er hatte sein Opfer mittels psychischer Erpressung, durch eine Kombination von Drohung und Zeitdruck, zu einer schnellen Handlung gezwungen. Er hatte den Journalisten über Monate hinweg beobachtet. Er kannte ihn wie einen alten Feind, konnte in ihm lesen wie in einem offenen Buch. Für Pfeiffer gab es nichts Wichtigeres als seine Maria, mal abgesehen von seiner antiquierten Kaffeemaschine. Jetzt gerade würde er versuchen, seine Geliebte telefonisch zu erreichen. Patrick konnte es förmlich sehen, wie er erleichtert auf seinen Stuhl sank. Wie er sich nach dem befreienden Gespräch mit ihr einen neuen Kaffee brühte. Wie er irgendwann begriff, was er getan hatte.

„Tja Pfeiffer, du Pfeife. Das Video ist jetzt online und du kannst es nicht mehr rückgängig machen.“

Selbst wenn er es wieder aus dem Social-Media-Account der Zeitung löschen würde, wäre es mittlerweile hundertfach geöffnet worden. Die Leute hätten es kopiert oder weitergeleitet. Die Verbreitung war nicht mehr aufzuhalten. Das Video ging viral. Die Dinge würden nun ihren Lauf nehmen. So, wie Patrick es geplant hatte.

Er spazierte gemütlich Richtung Festhalle und nahm dort die U4 Richtung Enkheim. Seit dem Upload war mittlerweile fast eine Stunde vergangen. Genug Zeit, um sich im Netz zu verbreiten. Patrick wählte bewusst einen gut besetzten Waggon und lauschte genüsslich den Kommentaren der Fahrgäste, die gerade mit ihren Handys das schockierende Video betrachteten.

„Krass, hast du das schon gesehen?“

„Dieses miese Schwein.“

„Boah, der lässt den Alten für zehn Riesen Hops gehen.“

„Den sollte man an den eigenen Ei …“

„Yvonne, was sind das denn für Sprüche.”

„Ist doch wahr, Mama.“

Patrick lächelte zufrieden. Niemand würde ihn erkennen, ihn mit dieser Sache in Verbindung bringen. Er selber war auf der Aufnahme nicht zu sehen. Darauf hatte er geachtet.

Der Schauspieler mit dem grauen Bart hatte seinen Job mit Bravour erledigt. Für seinen Zwei-Minuten-Auftritt wollte er zweitausend Euro haben. Der Preis war fair, schließlich war auch eine gewisse Vorarbeit nötig gewesen, damit alles realistisch wirkte. Und bei Gott, das war es. Berger war viel zu irritiert gewesen, um genau hinzuschauen. Er hatte nur gesehen, was offensichtlich für ihn war. Die Drohung, der Schuss, das Blut – das reichte aus, um ihn in Panik geraten zu lassen. Zum Schluss noch ein wenig Stress machen und ihn anbrüllen, um auch den letzten Rest an klarem Verstand zu vernebeln.

Berger hatte bestimmt schnell gemerkt, dass die Szene nur gestellt war. Immerhin lag niemand in seinem Vorgarten. Für Patricks Plan spielte das keine Rolle. Bis zum Abend würden zigtausend Menschen gesehen haben, was für ein mieses Arschloch Berger war. Er hatte vor laufender Kamera entschieden, dass ein Mensch keine zehntausend Euro wert ist. Als freiwillige Zugabe hatte er sogar noch dazu aufgefordert, der Mann solle sich gefälligst auf der Straße erschießen.

Es lief perfekt, sogar viel besser als geplant. Alleine die Krawatte mit den Eurozeichen war Gold wert. So einen grandiosen Zufall hätte niemand planen können.

„Bald weiß jeder, was für ein mieses Schwein du bist.“ Patrick schaute durch das Fenster des U-Bahn Waggons in die Schwärze des Tunnels. „So schwarz, wie deine Seele“, murmelte er.

Patrick kannte Richard Bergers dunkles Geheimnis. Dieser hatte am Abend seiner eigenen Hochzeit im volltrunkenen Zustand eine junge Kellnerin vergewaltigt. Er hatte sie unter einem Vorwand nach draußen gelockt und hinter einen Strauch gezerrt. Damit sie nicht schreien konnte, hatte er ihr mit einer Hand die Kehle zugedrückt, während er mit der anderen Hand seine Hose öffnete. Anschließend hatte er noch gedroht: „Kein Wort. Wenn du jemandem davon erzählst, komme ich wieder. Dann wirst du beide Hände am Hals spüren.“

Sie hatte ihn trotzdem angezeigt, aber dem ehrenwerten und streng katholischen Sohn eines angesehenen Geschäftsmannes aus guten Frankfurter Kreisen hatte man mehr geglaubt als der polnischen Aushilfskraft. Diesen Abend hatte die junge Frau nie vergessen können, ihre Seele hatte tiefe Wunden behalten. Das traumatische Ereignis hatte Folgen. Nachdem sie das ungewollte Baby zur Welt gebracht hatte, ging sie zu Berger und forderte finanzielle Unterstützung.

„Was willst du hier, du polnische Nutte“, hatte er sie begrüßt.

„Geld, ich brauche Geld.“

„Hast du vergessen, dass Du Dir das nur ausgedacht hast?“ Berger hatte hämisch gelacht. „Die Anwälte meines Vaters haben dir doch klargemacht, dass du keinerlei Ansprüche hast.“

„Bitte, ich brauche zehntausend Euro für mein Kind. Für dein Kind. Damit komme ich eine Weile zurecht. Du hast das Geld und ich brauche es dringend.“

„Bist du bescheuert? Ich zahle doch keine zehntausend Euro für dich und deinen Balg. Verschwinde schleunigst, sonst rufe ich die Polizei.“

Drei Tage später fand man die junge Frau tot in ihrer Wohnung. Sie hatte sich mit einer Pistole in den Mund geschossen.

„Du hättest besser bezahlt, Vater. Damals wie heute.“

(C) Koebes / Helmut Jakob

Opferspiele

Es knallte und sie erschrak wider Willen, obwohl sie den Schuss erwartet hatte. Es war zugleich ihr Startschuss. Noch im Laufen zog sie sich den In-ear Stöpsel aus dem Gehörgang, knöpfte den roten Wollmantel auf und zog ihn aus. Als gleich darauf der dunkle Renault am Rand der Pariser Straße unter den Bäumen hielt, riss sie die Tür auf und sank, aller Eile zum Trotz, anmutig in den Beifahrersitz. Während der Wagen erst über die Europa-Allee, dann gen Süden die Stadt verließ, nahm sie die schwarze Langhaarperücke ab und verstaute sie zusammen mit dem Mantel in einer leeren Reisetasche, die sie auf den Rücksitz warf.

»Ich habe vor Aufregung total gezittert! Hat er mich auch wirklich gesehen?«, fragte sie den Fahrer, »Die Entfernung bis hoch zum Bürofenster war größer, als ich erwartet hatte!« Sie klappte den Kosmetikspiegel herunter, um sich mit den Fingern ihren blonden Bob zurechtzuzupfen.

»Da bin ich mir sicher!«, sagte der Fahrer und lachte. »Und jetzt erwartest du dein restliches, nennen wir es – Honorar?«

»Nur was du mir versprochen hast! Ich hab´ alles genau so gemacht, wie du´s erklärt hast. Glaubst du, er mir diese andere Frau abgekauft?«

»Ja, Süße, du warst brillant! Genauso genial wie meine Stimmwandler-App und der digitale Knall! Hätte er gleich nach dem ersten Schock aus dem Fenster geschaut, hätte er was gesehen?«

»Rein gar nichts, denn ich hatte mich schon in Luft aufgelöst. Aber du willst mir noch immer nicht verraten, warum du dem Typ diesen Streich gespielt hast?« Sie klang jetzt ein wenig maulig. »Immerhin ist dir der Spaß tausend Euro wert. Und du musst echt sauer auf diesen Pfeiffer sein, um ihn dermaßen zu erschrecken!«

Tanja nervte. Er kannte sie aus dem ›Etablissement‹, in das es ihn in der Zeit der qualvollen Trennung verschlagen hatte. Er mochte sie, weil sie eine hinreißende Figur hatte und ihn äußerlich an seine Maria, ja, das würde sie immer bleiben, erinnerte. Aber Tanja hatte weder Marias Intellekt noch ihre sinnliche Alt-Stimme, und er reagierte allergisch auf hysterisch hohe Tonlagen. Für Tanja würde ihm bald eine Lösung einfallen müssen. Erst mal zahlen und sehen, wie sich die Dinge entwickeln. Doch auf längere Sicht ist ihr Gequatsche zu anstrengend und zu gefährlich.

Er kannte sich aus im Milieu. Es ist gut, sich als Journalist mit allen, besonders mit den einfachen, Leuten gut zu stellen. Ihre Augen und Ohren sind Gold wert. So wie dieser verlebte Obdachlose, den er am Bahnhof aufgelesen, und der für wenige Euro seine einsame, verwundete Seele dem Teufel verkauft hatte. Der war, obwohl seine Jugend mindestens vier Jahrzehnte zurücklag, so vertrauensselig gewesen, dass man sich wunderte, wie er auf ›der Platte‹ überleben konnte. Hatte er ja auch nicht! Er war von einem Scherz ausgegangen, als er sich auf Geheiß den Revolver in den Mund gesteckt und abgedrückt hatte. Okay, ein paar Scheinchen hatten seinen Glauben zusätzlich gefestigt. Ein fataler Irrtum, den er nicht einmal hatte bedauern können, so schnell war es gegangen! Aber das entsetzte, teigige Gesicht von dem alten Berger war das Opfer wert gewesen. Vom Video mal ganz zu schweigen! Jetzt ist es für jeden sichtbar auf den Social-Media-Account des ›Generalanzeigers‹ hochgeladen worden. Ausgerechnet von dem lüsternen Bock, der Evolutionsbremse Christian Pfeiffer. Dem Kaffee-Gourmand, dem Nachrichten-Fossil. Wut loderte auf, die Sorte, die ihm schon Löcher in die Magenschleimhaut gebrannt hatte. Wut auf ihn und auf sie – Maria. Seine Maria, seine Frau.

»Ist was, Schatz?«, fragte Tanja mit ihrer Diskantstimme, »du bist plötzlich so still. Denkst du wieder an sie?«

Was sollte er sagen? Dass er eines Abends im Sommer, als er nochmal kurz in die Redaktion gekommen war, um sein vergessenes Diktiergerät zu holen, Geräusche aus der Büroküche gehört hatte, die ihn an das Schnaufen und Grunzen balzender Igelmännchen erinnert hatten? Und er so Zeuge von etwas geworden war, das ihn fast hatte durchdrehen lassen? Überraschung! Keine Igel! Marias nackter Arsch leuchtete, einer reifen Aprikose gleich, im Licht der untergehenden Sonne; neben ihr das, sich röchelnd abmühende, Relikt einer Filterkaffeemaschine. Hinter Maria stand der nicht minder keuchende Christian Pfeiffer in eindeutiger Aktion, während er nahm, was ihm und sich nicht gehörte! Über dem Akt hatte eine Aromamixtur aus Pheromonen und bitterem Kaffee gelegen, weshalb er sich bis heute ekelte, wenn er dieses Gesöff nur roch. Doch anstatt vor Ort eine Szene zu machen, hatte er sich zu innerer Distanz und Beherrschung gezwungen. War unbemerkt und wie ein misshandelter Köter davongeschlichen und hatte seine Wunden geleckt. Als sie zu verschorfen begannen, feilte er an seinem perfiden Plan.

Phase eins war die Versetzung Pfeiffers in die Online-Redaktion gewesen. Für ihn, seinen Vorgesetzten, ein Klacks. Er wusste, wie sehr er den Job hassen würde! Zu Phase zwei hatten die Bergers gehört. Doch das war erst die Ouvertüre gewesen, nur eine Art Betäubungsspritze, denn der kommende Schmerz würde trotzdem kaum auszuhalten sein! Auch seine Frau würde für diese Demütigung bezahlen müssen. Das Beste zum Schluss!

Maria Berger-Krumm, die Immer-noch-Gattin von Magnus Krumm und Adoptivtochter von Dorothea und Richard Berger, in deren Augen er nie gut genug war! Nicht einmal zur Hochzeit waren sie gekommen. Ihrer Meinung nach mangelte es ihm an Gottesfurcht und Geld. Deshalb waren sie ihm das erste Mal begegnet, ohne zu wissen, wer er war.

»Erde an Magnus?«

»Was soll schon sein. Frag nicht so viel. Hast du Lust auf einen neuen Schabernack? Ich leg auch noch was drauf!« Sie waren inzwischen südlich der City im Grünen. Magnus drosselte das Tempo, bog in einen Weg des Frankfurter Stadtwalds ab und blieb nach wenigen Metern stehen. »Mach mal das Handschuhfach auf, und gib mir die Pistole. Jetzt guck nicht wie ein paralysiertes Kaninchen! Die ist nicht geladen. Aber nimm den Mantel und die Perücke mit. Wir machen nur ein kleines Video. «

»Okay, bin dabei!« Tanja freute sich. Vielleicht würde sie dank des Geldsegens bald aus der winzigen Wohnung des versifften Mehrfamilienhauses in eine schickere Lage Frankfurts umziehen können. Etwas Kleines, am liebsten etwas außerhalb. Naturnah, das wäre herrlich! Sie liebte den Wald.

© Heather

Schema F

Im sterilen Treppenhaus des frisch renovierten, interdisziplinären Forschungstraktes stieg Dr. Sibylle Martínez müde die stählernen Stufen hoch. Selbst wenn ihr regelmäßig – so auch heute – spätestens in der dritten Etage die Luft wegblieb, kam eine Fahrstuhlfahrt für sie nicht mehr infrage. Zu oft war sie in der Vergangenheit mit einem ihr mehr oder weniger gut bekannten Kollegen in der kleinen, fensterlosen Kabine hinaufgefahren und hatte die misstrauischen Blicke ertragen, die sie nun seit fast einem Jahr in den Fluren des Instituts ständig begleiteten. Noch immer versetzte es ihr einen Stich, wenn sie daran dachte, wie sich der Umgang mit ihr von heute auf morgen verändert hatte. Respekt und Anerkennung angesichts ihrer akademischen Leistungen waren Skepsis und Argwohn gewichen. Anfangs hatte es vereinzelt noch ein mitleidiges Schulterklopfen oder neugierige Fragen gegeben, aber da sie keine davon je beantworten wollte oder konnte, gehörte dies nun der Vergangenheit an.

Das Treppenhaus hatte sie in der Regel ganz für sich allein. Dr. Martínez blieb kurz stehen, um einen Blick aus einem der bodentiefen Fenster heraus auf den östlichen Campus zu werfen. Die Sonne tauchte Wege, Wiese und die Sitzbänke in ein angenehmes warmes Licht. Personen standen in kleinen Gruppen zusammen, unterhielten sich, lachten und trennten sich winkend wieder voneinander.

Er könnte mitten unter ihnen sein. Wenn sie besser aufgepasst hätte, könnte er jetzt dort draußen stehen und mit seinen Kommilitonen über die letzte Vorlesung oder die nächste Prüfung plaudern? Sie wusste es nicht. Ihr wacher Geist, der sich in ihrem Berufsleben als so nützlich erwiesen hatte, quälte sie nun unaufhörlich mit Fragen nach dem Wie und nach dem Warum. Fragen nach der Schuld und nach dem Auslöser, den sie einfach nicht finden konnte.

Oben vor ihrem Büro wartete schon Jannek, ihr langjähriger Assistent, auf sie. Er balancierte drei Kaffeebecher in der einen und einen Stapel Hauspost in der anderen Hand.

»Guten Morgen. Die Dekanin ist heute außer Haus, daher habe ich mir erlaubt, Ihren Donnerstagstermin schon für heute einzuladen.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

»Danke, Jannek.« Dr. Martínez nickte anerkennend. Sie hatte ihm eingeschärft, diskret vorzugehen, wenn sie sich Nachforschungen widmete, die beim besten Willen nichts mit ihrem eigentlichen Forschungsgebiet zu tun hatten. Solange sie die üblichen Vorlesungen weiterhin hielt und wenigstens kurz bei den wichtigsten Gremiensitzungen auftauchte, ließen sie ihre Vorgesetzten weitgehend in Ruhe.

»Um wie viel Uhr kommt der Journalist?«, fragte Dr. Martínez, während sie durch ihr Büro zu den Fenstern schritt, um Sauerstoff in den stickigen Raum zu lassen.

»Er müsste in circa zehn Minuten da sein«, entgegnete Jannek und schob einen der Kaffeebecher über den Tisch auf sie zu. Er arbeitete inzwischen seit über drei Jahren für sie und war einer der wenigen Menschen im Gebäude, in dessen Gegenwart sie sich halbwegs normal fühlte. Ein großer Pluspunkt war, dass ihn das Getratsche im Institut nicht die Bohne zu interessieren schien.

»Ich habe Ihnen vorhin eine Mail weitergeleitet«, sagte Jannek. »Angehängt ist eine Aufnahme von dem Tod der Frau, aber diesmal aus einer anderen Einstellung. Dorian aus der IT hat sie über einen seiner Kontakte beschaffen können.«

Dr. Martínez fuhr hastig den PC hoch, setzte ihre randlose Lesebrille auf und sah sich das Video an. Leider machte es nicht den Eindruck, als könnten sie durch die veränderte Perspektive neue Erkenntnisse gewinnen.

»Vielleicht zeigen Sie die Aufnahme gleich dem Journalisten«, schlug Jannek vor.

»Ich glaube nicht, dass sich ein Video vom Tod seiner Freundin als Eisbrecher eignet«, erwiderte Dr. Martínez mit hochgezogener Augenbraue. »Wer will so etwas schon sehen«, fügte sie leiser hinzu. Ihr Blick wanderte zu der Fotografie, die links neben ihrem Schreibtisch auf dem vollgestopften Bücherregal lehnte. Da stand er, am Tag seines Abiballs, den Arm um sie gelegt und ein Lächeln im Gesicht. War er damals glücklich gewesen? Sie vermochte es nicht mehr zu sagen. Es kam ihr vor, als hätte die stolze Mutter auf dem Foto nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit der Frau, die ihr täglich aus dem Spiegel entgegenblickte. Die schlaflosen Nächte, die sie mit Grübeln verbrachte, zollten langsam ihren Tribut.

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Die Klinke wurde zögerlich heruntergedrückt und ein Mann, vielleicht ein paar Jahre älter als sie, trat herein. Er trug ein knitteriges, braunes Sakko und friemelte fahrig an dem Griff seiner schwarzen Aktentasche herum.

»Sie müssen Herr Pfeiffer sein«, begrüßte Dr. Martínez ihren Gast, »schön, dass Sie gekommen sind. Mein Name ist Sibylle Martínez, mit meinem Assistenten Jannek hatten Sie ja bereits Kontakt. Bitte, setzen Sie sich doch.«

»Ich weiß, wer sie sind«, sagte der Journalist und nahm auf einem der ledernen Besucherstühle Platz.

»Mit Milch und Zucker oder lieber schwarz?«, fragte Jannek und deutete auf die beiden übrigen Kaffeebecher.

»Schwarz, danke«, erwiderte Christian Pfeiffer und nahm den Pappbecher ungelenk entgegen. Er räusperte sich. »Also, Sie wollen mit mir über die Sache sprechen?«

»Ja. Wir hatten gehofft, dass wir uns gegenseitig weiterhelfen können. Wie Sie offenbar schon wissen, habe ich ein persönliches Interesse daran, der Sache auf den Grund zu gehen«, erklärte Dr. Martínez. »Ich habe gehört, dass Sie sich ebenfalls mit Nachforschungen beschäftigen, daher-«

»Woher wissen Sie das?«, unterbrach sie Pfeiffer mit gerunzelter Stirn.

»Als Journalist werden Sie sicher Verständnis dafür haben, dass ich meine Quellen nicht immer preisgeben kann«, erwiderte Dr. Martínez. »Irre ich mich, was Sie betrifft? Haben Sie mit der Sache bereits abgeschlossen?«

»Nein, das könnte ich nicht«, gab der Journalist zu und nahm einen kleinen Schluck aus dem Kaffeebecher. Missbilligend verzog er das Gesicht. »Na ja, ich nehme an, es spricht nichts dagegen, sich auszutauschen. Aber mir wäre es lieber, wenn wir unter vier Augen sprechen.«

Dr. Martínez warf Jannek einen entschuldigenden Blick zu. Ihr Assistent griff sich einen der Ordner mit Studienleistungen, die dringend korrigiert werden mussten, und verließ ohne Widerworte den Raum. Sie machte sich in Gedanken eine Notiz, ihm bei Gelegenheit eine Gehaltserhöhung anzubieten.

»Wir sammeln seit fast einem Jahr Hinweise, recherchieren, prüfen Zeugenaussagen und untersuchen sämtliche Aufzeichnungen der Vorfälle, die wir in die Finger bekommen«, sagte Dr. Martínez. »Doch je tiefer man gräbt, desto mehr Fragen tauchen auf. Es ergibt einfach keinen Sinn. Und die Polizei ist keine große Hilfe.«

»Es läuft immer nach demselben Schema ab«, meinte Christian Pfeiffer. »Außer bei Maria. Sie passt nicht ins Bild, oder?«

Dr. Martínez nickte. »Richtig, sie war das einzige weibliche Opfer. Und auch das einzige mit einer persönlichen Beziehung zu einer Person, der gedroht wurde.«

»Denken Sie auch, dass sie der Schlüssel zu allem sein könnte?«, fragte er.

»Das hoffe ich«, stimmte Dr. Martínez ihm zu. »Deshalb habe ich mich an Sie gewandt.«

»Verstehe«, murmelte er. »Ich habe in Marias Vergangenheit gegraben und bin dabei auf etwas gestoßen. Meine einzige heiße Spur bisher.«

»Das ist immerhin eine mehr, als ich nach all der Zeit aufzuweisen habe«, seufzte sie.

»Sagt Ihnen …«, Christian Pfeiffer zögerte, »sagt Ihnen der Name Chromortia etwas?«

»Nein, leider nicht.«

Er wirkte enttäuscht.

»Sie müssen mir versprechen, dass die Informationen, die ich Ihnen gebe, diesen Raum nicht verlassen. Sie dürfen darüber mit niemandem sprechen. Auch nicht mit Ihrem übereifrigen Assistenten da draußen. Geben Sie mir Ihr Wort!«, forderte er sie nachdrücklich auf.

»In Ordnung. Ich werde mit niemandem außer Ihnen darüber sprechen.« Dr. Martínez blickte ihn gespannt an. War das nun endlich der Durchbruch, auf den sie so lange hatte warten müssen?

Der Journalist öffnete seine Aktentasche, zog ein Handy mit einem zersplitterten Display und ein unscheinbares graues Heft hervor und legte beides auf dem Tisch ab.

»Was Sie gleich hören, wird Ihnen aber nicht gefallen«, meinte er.

„Wer ist bitte Christian Pfeiffer?“

Bundesinnenminister Jürgen Rietmann saß aufrecht an seinem Schreibtisch, die Hände zu einer Raute geformt, den Blick starr auf den Assistenten gerichtet, der seine übliche Sonntagmorgen-Routine – das akribische Durcharbeiten der Aktenberge – unterbrochen hatte. Der Assistent stand unsicher im Raum, ein iPad in den Händen, und zögerte, bevor er sprach.

„Christian Pfeiffer ist Redakteur bei FAZ Online, Herr Minister“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Er hat vor wenigen Minuten ein Video veröffentlicht.“

Der Assistent trat näher, drückte auf Play und hielt das iPad dem Minister hin. „Sie sollten es sehen.“

Die Aufnahme zeigte eine Wohnsiedlung. Im Hintergrund ragten die Hochhäuser Frankfurts auf. Zunächst schien nichts ungewöhnlich: Die Kamera schwenkte auf einen Vorgarten, dann auf ein Haus, aus dem ein Mann trat. Er wurde von einer anderen Person angesprochen, die zehn Tausend Euro forderte – andernfalls würde er sich selbst töten.

Ein schneller Kameraschwenk. Rietmanns Gesicht erstarrte. Der Mann auf dem Bildschirm war Paul Keller. Sein Lebensgefährte.

„Das kann nicht sein“, murmelte Rietmann. „Paul ist auf Dienstreise in der Schweiz!“ Doch der Mann im Video sah ihm erschreckend ähnlich. „Wie alt ist die Aufnahme?“

„Die Metadaten zeigen: Heute, 9:23 Uhr, Frankfurt“, erklärte der Assistent. „Apple iPhone 16 Pro. Keine Bearbeitung. Ultra-Weitwinkel, Blende f1.8, 4K…“

„Genug!“, unterbrach Rietmann, als Pauls Stimme wieder im Video erklang. Pauls Schultern waren hochgezogen, die Bewegungen fahrig, die Augen glasig. „Ich brauche zehn Tausend Euro! Sonst bringe ich mich um.“

Rietmanns Atem stockte. „Zehn Tausend Euro? Von wem wollte er das Geld?“

„Richard Berger“, erklärte der Assistent leise. „Herr Keller forderte das Geld von einem Richard Berger.“

„Richard Berger?“, Rietmann schaute ungläubig, „Ich kenne einen Richard Berger in Frankfurt. Ein Banker…“.

„Ja, ein ehemaliger Bänker im Vorruhestand. Er besitzt das Haus, vor dem sich Paul, Herr Keller…“ Der Assistent brach ab und holte tief Luft.

Das Video zeigte, wie Paul einen Schritt zurückwich, in seine Tasche griff und eine Waffe zog. Rietmann hielt den Atem an. „Nein…“, flüsterte er.

Ein Schuss ertönte. Paul sackte zusammen. Die Kamera wackelte, dann wurde das Bild schwarz.

Rietmann saß wie erstarrt und kämpfte mit der Fassung. „Was wissen wir?“ Seine Stimme klang tonlos.

„Bisherige Indizien deuten darauf hin, dass es tatsächlich Herr Keller ist“, antwortete der Assistent. „Die Laborbefunde stehen aber noch aus. Zudem gibt es Hinweise auf eine Gruppe, die sich ‚Die Schafe‘ nennt.“

Rietmanns Kiefer spannte sich. ‚Die Schafe‘? Welch ein Hohn!

Vor Jahren hatte er als Kommunalpolitiker in Frankfurt eine Allianz gegründet: Banker, Unternehmer, Staatsanwälte – darunter auch Richard Berger. Sie nannten sich ,Die Hüter‘. Ihr Ziel: die Gesellschaft schützen, Fake News bekämpfen, Radikale stoppen, den sozialen Zusammenhalt stärken. Doch irgendwann lief alles schief. Sie nahmen Geld aus dubiosen Quellen, zu viel Geld. Und als sie erkannten, dass sie sich mit mafiösen Kreisen eingelassen hatten, war es zu spät. Mehr oder weniger kleine Gefallen wurde ihr Preis.

Als Rietmann sich geweigert hatte, weiter mitzuspielen, erpresste man ihn: wöchentlich zehntausend Euro oder man würde seinem Umfeld etwas antun. Und nun waren die Drohungen zur grausamen Realität geworden.

„Gibt es irgendwelche Verdächtigen?“, fragte er scharf.

„Wie schon gesagt, Christian Pfeiffer“, antwortete der Assistent. „Er hat als Erster über Aktionen berichtet. Er scheint Kontakte zu haben. Außerdem betreibt er eine Website, auf der er das Finanzsystem kritisiert und von einer Gruppe Namens ‚Die Hüter‘ schreibt. Und immer wieder fällt dort die Summe: zehntausend Euro.“

Rietmann ballte die Fäuste. „Ich will Antworten“, sagte er fest. „Sofort.“

Der Assistent zögerte. „Was sollen wir tun?“

Rietmann betrachtete das Standbild von Paul. Dann hob er den Kopf.

„Nachrichtensperre über Paul“, befahl er kalt. „Personenschutz zu meiner Mutter und meinen Geschwistern.“

Rietmann fuhr sich gestresst durch die Haare „Und holen Sie Pfeiffer!Sondereinsatzkommando. Die Redaktion der FAZ wird gestürmt. Seine Website verschwindet.“

Als sein Assistent bereits das Büro verlassen wollte, stoppte ihn Rietmann. Er zog einen Zettel hervor, schrieb sechs Namen darauf, darunter Richard Berger, und reichte ihn seinem Assistenten.

„Es sind keine Schafe, mit denen wir es zu tun haben, sondern Wölfe“, sagte er leise. „Rufen Sie diese Männer an. Sagen Sie ihnen, dass sich die Hüter wieder treffen müssen. Unverzüglich.“

Der Schuss dröhnte in seinen Ohren. Pfeiffer sah wie festgefroren aus dem Fenster. Die schweren Atemzüge ließen die Scheibe beschlagen. Maria lag regungslos in der Mitte des Europaparkes. Ihre Arme und Beine standen in unnatürlichen Winkeln vom Rest ihres Körpers ab. Alles, was er sah, war rot. Das Rot des Mantels verschwamm mit dem des Blutes, welches sich wie ein Gemälde über die Plattenleinwand aus Beton ergoss.

Pfeiffers Gedanken drehten sich im Kreis. Er hatte das Gefühl, den Boden unter seinen Füßen zu verlieren. Mit festem Griff umklammerte er das Nächstbeste, dass er zu fassen bekam. Den dampfenden Kaffeepott. Er schien vollkommen apathisch, während sich seine Bewegungen in der Routine verloren. Das heiße Gebräu rannte ihm zu schnell die Kehle herunter, doch er spürte den Schmerz nicht. Sein Körper fühlte sich taub an. Maria. Sie war tot. Warum sie?
Das brummende Geräusch seines Mobiltelefons riss ihn abrupt in die Gegenwart zurück. Dieses verfluchte Gerät, dessen einzige Aufgabe darin zu bestehen schien, den Menschen die Zeit zu rauben oder ihr Leben in die Sinnlosigkeit zu treiben. Es hatte ihm Maria genommen. Pfeiffer sehnte sich danach, das fragile Konstrukt an die Wand zu werfen, doch er vermochte es nicht. Die unangenehm vertraute, unbekannte Nummer auf dem Display paralysierte ihn für einen Moment. Das Handy vibrierte mehrfach, bevor er den Hörer abnahm.
„Sie Mörder! Warum haben Sie sie umgebracht? Warum sie?“ schrie er verzweifelt.
„Das sind viele gute Fragen, Christian Pfeiffer“, antwortete die Stimme am anderen Ende der Leitung ruhig. „Hab ich das? Oder waren Sie das? War es Ihr Zögern? Es ist schon verrückt welche Streiche unser Kopf und unsere Augen uns spielen können. Schauen Sie hinaus!“

Zögerlich wandte sich Pfeiffer wieder dem Fenster zu. Erneut sah er nur Rot. Die roten Betonplatten hoben sich vom tristen Grau der Stadt ab, standen im Kontrast zum Grün des Parkes. Aber etwas war anders. Kein Körper. Keine Maria. Nur das tiefrote Blut und ein heller Fleck, auf dem sie vor wenigen Sekunden noch gelegen hatte. Wo war sie?
„Wo ist sie? Was haben Sie mit ihr gemacht?“, brüllte Pfeiffer in sein Handy.
„Sind Sie bereit, Christian Pfeiffer?“, überging die Anruferstimme seine Fragen.
„Bereit wofür? Was wollen Sie von mir?“ blaffte er den Anrufer an.
„Das war erst der Anfang! Ich bin mir sicher ab jetzt werden Sie kooperativer sein. Richard Berger, der Mann aus dem Video war nur der erste Dominostein. Es geht weiter, Christian Pfeiffer. Es müssen Entscheidungen getroffen werden. Die Story muss erzählt werden. Das ist Ihre Aufgabe. Denken Sie an Maria.“
„Was ist das für ein perverses Spiel?“, fragte Pfeiffer jetzt mit deutlich ruhigerer Stimme. Professioneller als zuvor. Der Kaffee wirkte. Der Journalist in ihm gewann die Kontrolle zurück. Seine Gedanken überschlugen sich, doch die Richtung, in die sie rasten, war die Richtige.
Ein leises Klicken, dann war die Leitung tot. Keine weiteren Antworten. Nervös betätigte Pfeiffer in stoischer Regelmäßigkeit die Mechanik seines Kugelschreibers. Ein Geräusch, das ihm beim Nachdenken half. Stift und Schreibblock. Die zwei mächtigsten Werkzeuge eines guten Journalisten. In unglaublichem Tempo schrieb Pfeiffer alle ihm bekannten Informationen auf den kleinen Notizblock. Die seltsam ästhetischen Hieroglyphen auf dem Block waren nur für ihn lesbar. Ähnlich wie die Handschrift eines Arztes zogen sich die feinen Linien über das Papier. Eine gute Stunde später hatte er die Blätter gefüllt und das Gefühl, Richard Berger bereits besser zu kennen als sich selbst.

Ein helles „Pling“ seines Rechners brachte Pfeiffer wieder in die Welt der modernen Technik zurück. „Jetzt entscheiden ihre Leser“, lautete der Betreff einer weiteren Wegwerf E-Mail Adresse. „Teile das Live-Video. Die Zeit läuft. Eine Stunde, 100.000 Euro, sonst wird er sterben.“ stand in der Nachricht. Darunter ein blau unterlegter Link.
Mit zittrigen Fingern klickte Pfeiffer. Er schluckte. Auf dem Video sah man einen spärlich beleuchteten Raum. Darin befand sich nichts außer einem Stuhl. Ein junger Mann mit Designeranzug saß darauf. In seinen Händen hielt er eine Pistole.

Mit kurzen Pausen dazwischen wiederholte er immer wieder denselben Satz: „Zahlen Sie, bitte! Sonst muss ich mich umbringen.“ In der linken oberen Ecke tickte ein Countdown erbarmungslos herunter. 59:49. 59.48. 59.47. Daneben leuchtete eine grausam niedrige Zahl 0,00€. „Was für ein krankes Schwein“, dachte Pfeiffer laut.

Wie sollte er weitermachen. Die Polizei anrufen? Das Video teilen und das perfide Spiel einfach mitspielen? Er hatte keine andere Wahl. Maria. Lebte sie noch? War sie die Nächste, wenn er sich weigern würde? Er kopierte den Link und teilte ihn auf dem Social-Media-Account der Zeitung. 8.749 Kommentare. Das Zwischenergebnis des Shitstorms, den das erste Video herbeigeführt hatte. Das würde ihn seine Karriere kosten, dessen war Pfeiffer sich sicher. Doch er hatte keine andere Wahl. Er klickte den Button. Das Video war live.

Erst Berger, dann Pfeiffer. Rückgratlose Versager.
Er stieß den Teller von sich, zu angeekelt von der ach so weltoffenen und rücksichtsvollen Gesellschaft, um auch nur einen weiteren Bissen herunterzubringen. Einzig seinen Flat White hatte er geleert.
»Na, na, Leon, was ist denn los? Schmeckt es dir etwa nicht?«
Mit aller Macht drängte er die Wut hinter eine kalte Mauer aus Selbstbeherrschung zurück. So wie er es immer tat. Sein gezwungenes Lächeln entging der Frau mit dem ausgehärmten Gesicht und den trüben Augen, die ihm gegenüber am Küchentisch saß.
»Ich glaube, ich habe mir gestern den Magen verdorben«, log er und schob den Teller ein Stück weiter in ihre Richtung.
Sie seufzte, griff nach ihrer Gabel und schob sich eine Portion seines kaum angerührten Kartoffelbreis in den Mund.
»Aus dir wird nie etwas, wenn du weiterhin isst wie ein Spatz.«
»Ach, Oma.« Er verdrehte die Augen und tätschelte ihre faltige Hand.
»Ja, ja, die Jugend von heute. Nun geh schon, hast sicher Besseres zu tun als deiner alten Großmutter beim Essen zuzuschauen.«
Er schenkte ihr ein Lächeln. Ein aufrichtiges Lächeln. Etwas, das ebenso selten geworden war, wie der Eisbär in der Arktis.
»Ich würde dir lieber beim Essen zusehen, als mich an meine Hausaufgaben zu setzen. Aber du weißt ja …«
»Immer am Arbeiten. Heute ist Sonntag, du solltest dich lieber mit deinen Freunden treffen. Wenn deine Eltern noch …«, sie ließ den Satz in der Luft hängen, als hätte er nicht auch im halbgaren Zustand die Durchschlagskraft einer Pistolenkugel.

Als Leon sein Zimmer betrat, zuckte sein Blick zu den drei Computermonitoren auf dem Schreibtisch. Der neueste Instagram-Post der FGZ.NET leuchtete ihm entgegen und seine Laune hob sich, als er durch die Kommentare unter dem Video scrollte. Ein weiterer Bildschirm zeigte das Bild der gehackten Kamera vor dem Gebäude des Frankfurter Generalanzeigers. Die Traube aus Polizisten und Schaulustigen hatte sich zerstreut, von der Leiche waren kaum mehr als ein paar angetrocknete Blutreste übrig. Leon empfand kein Mitleid. Nur ein Gefühl leiser Genugtuung, das durch die eisige Leere in seinem Inneren sickerte.
Geizige Bonzen.
Inkompetente Journalisten.
Korrupte Polizeibeamte.
Er griff nach einem der Wegwerfhandys und öffnete die Nachrichtenapp. Seine Finger flogen über den Touchscreen, eilten seine Gedanken hinterher, die sich auf ein einziges Ziel konzentrierten – Gerechtigkeit.

Wenn Sie möchten, dass Ihr kleines Hobby unter Verschluss bleibt, gehen Sie um 14.15 Uhr zum Börsenplatz und halten Sie Ihre Handykamera bereit. Alle weiteren Instruktionen bekommen Sie vor Ort.

Er hängte das Video an, das er aus der Datenbank seines zukünftigen Kameramanns ausgegraben hatte und drückte auf senden. Keine 5 Minuten später piepte das Handy.

Ich werde da sein.

Es war lächerlich einfach, geeignete Kandidaten für sein Vorhaben zu finden. Und genau das war das Abscheuliche an der Sache. Leons Nase kräuselte sich unwillkürlich, als hätte er etwas Schlechtes gerochen. Den fauligen Gestank menschlicher Verderbtheit, der ihm seit dem Tag in der Nase hing als man seine Eltern … Das selbstgefällige Lächeln des Kommissars flackerte vor seinem inneren Auge auf und er biss die Zähne so fest zusammen, dass es knackte. Es war Zeit, mit den Spielchen aufzuhören und ernst zu machen.
Leon griff nach seinem Headset, drückte auf das kleine Symbol der Voice-Changing-KI, aktivierte den Störsensor, der eine Zurückverfolgung des Anrufs verhinderte und wählte die Nummer.
»Mertens«
»Ich weiß.« Leon legte ebenso viel Selbstsicherheit in seine Stimme, wie er es bei seinem Gespräch mit Pfeiffer getan hatte. Den Rest erledigte die KI. »Kriminalkommissar Friedrich Mertens, seit 28 Jahren im Dienst und noch immer kein Hauptkommissar.« Leon schnalzte missbilligend mit der Zunge.
»Wer spricht da? Was wollen Sie?«
»Sie haben 15 Minuten Zeit, um zum Börsenplatz zu gehen und dem Mann, der Sie dort ansprechen wird ein Statement über Ihre Arbeit für den Frankfurter Geldwäschering abzugeben.«
»Sind Sie irre? Was für ein Scherz ist das bitteschön? Und wie zur Hölle kommen Sie an meine Privatnummer?«
»15 Minuten«, wiederholte Leon, »oder alle Mitarbeiter, die sich auf dem Börsenparkett befinden, werden sterben.«
»Sie sind ja völlig durchgeknallt.«
Leon konnte beinahe den Speichel Mertens auf seinem Gesicht spüren, als dieser ihn anbrüllte.
»Dann drehen Sie sich mal um.«
»Sie-«
Leon sah auf den dritten Bildschirm, beobachtete den bulligen Kommissar, der nach kurzem Zögern einen Blick über seine Schulter warf - und erstarrte.
»Kein Kontakt zu Kollegen. Aber das Spiel kennen Sie ja sicher.«
»I-i-ich … werde da sein.«
Leon legte auf und wechselte vom Bild des geschockten Kommissars zu dem eines Codes, der den gesamten Bildschirm ausfüllte. Seine Verbindung zur Zentralverriegelung, der Telefonanlage und den Börsencomputern. Er fügte dem Bildschirm einen weiteren Code hinzu – der Überwachungskameraloop aktivierte sich automatisch in fünf Minuten.
Dann tippte er eine letzte Nachricht in das Handy:

Alles ist vorbereitet, du kannst loslegen.

Das Endgame hatte begonnen …

Als Pfeiffer das Polizeirevier verließ, wehte ihn ein kalter Wind an. Er schlug den Mantelkragen hoch und suchte nach einer Zigarette. Ein Mann kam hinter ihm aus dem Gebäude und überholte ihn. Im Vorbeigehen blickte er Pfeiffer an. Sein Gesicht war so leer und blass, wie Pfeiffer sich fühlte.
Der Mann war schon ein gutes Stück die Straße herunter, als Pfeiffer ihn erkannte.
Er warf die Zigarette auf den Boden und ging in die gleiche Richtung. An der Bushaltestelle setzte der Mann sich auf einen der Sitze. Pfeiffer setzte sich daneben. Zum zweiten Mal trafen sich ihre Blicke. Beide Gesichter waren gezeichnet von dem Horror, den sie erlebt hatten.
„Sie sind der Mann auf dem Video, nicht wahr?“, fragte Pfeiffer. „Und ich vermute, Sie wurden auch bis eben von der Polizei verhört?“
Der Mann nickte.
„Ich denke, wir sollten reden.“

Zwanzig Minuten später in einer Bahnhofsspelunke. Beide Männer tranken schlechten Kaffee. Erzählten sich die Erlebnisse des Tages. Schwiegen.
„Warum?“, fragte Berger schließlich. „Warum ich? Warum wir? Warum diese sinnlosen Taten?“
Ja, warum, dachte Pfeiffer. Warum Maria? Warum jetzt? Warum nicht irgendwann in den vielen Jahren der Einsamkeit, in denen ihm alles egal gewesen war? Warum kam der Faustschlag in den Magen genau in dem Moment, als Maria den Eispanzer um seine Seele weggetaut hatte? Warum, du dreckiges Schicksal? Und warum stellst du dich nie, damit man dir auch mal in den Sack treten kann?
Laut sagte er: „Lassen Sie uns davon ausgehen, dass die Morde für den Täter durchaus einen Sinn ergeben. Wenn wir diesen Sinn entschlüsseln, finden wir den Mann vielleicht.“
„Wie soll man denn entschlüsseln, was in so einem kranken Gehirn vor sich geht!“
„Was wissen wir schon alles über den Täter? Denken Sie nach, Berger!“
Wieder Schweigen.
Dann sagte Berger: „Er ist wütend. Sehr wütend.“
„Ja“, sagte Pfeiffer. „Er ist voller Hass. Und jedenfalls nicht nur auf die Leute, die er umgebracht hat. Wahrscheinlich nicht mal in erster Linie auf die, sondern auf uns.“
„Auf uns? Ich hab ihm nichts getan, Sie vielleicht?“
„Er hat jedenfalls versucht, mich komplett zu vernichten“, sagte Berger. „Mich als Menschen und als Journalisten lächerlich zu machen. Und Maria war …“ Er stockte. „Maria war mir sehr wichtig. Das muss er gewusst haben.“
Berger nickte. „Ich hatte auch das Gefühl, dass er mich persönlich zerstören wollte. Nicht mit der Kugel, sondern moralisch. Mich als abgrundtief schlechten Menschen darstellen wollte. Aber warum?“
„Wir wissen weiterhin“, sagte Pfeiffer, „dass der Mann sehr gut organisiert ist und planvoll vorgegangen ist. Das mit mir und Maria war ein Geheimnis. Niemand wusste davon. Er schon. Das heißt, er muss mich zuvor überwacht haben. Sie wahrscheinlich auch.“
Berger wurde rot und biss sich auf die Lippen. Er sah nun noch unglücklicher aus.
„Wir wissen weiterhin“, sagte Pfeiffer, „dass der Mann deutlich jünger ist als Sie und ich. Was immer wir ihm getan haben, es muss in den letzten zwanzig Jahren geschehen sein. Plusminus. Mehr fällt mir nicht ein.“
„Etwas haben Sie vergessen“, sagte Berger. „Wir wissen noch etwas über den Mann. Er ist brutal und gefährlich. Sehr gefährlich.“
Auf der Straße vor dem Fenster versuchte ein Crack-Junkie ihren Dealer herunterzuhandeln. Weinen, Schreien, Zerren an der Jacke, als der sich nicht darauf einließ.
Pfeiffer sah ihnen eine Weile gleichgültig zu, dann sagte er: „Okay, die entscheidende Frage ist jetzt: Was ist die Schnittmenge zwischen uns beiden? Was haben Sie und ich gemeinsam, das uns mit dem Täter verbindet?“
„Ich habe keine Ahnung“, sagte Berger. „Ich habe Sie noch nie im Leben gesehen.“
„Ich Sie auch nicht“, sagte Pfeiffer. „Und Sie wissen, was das bedeutet?“
„Was bedeutet es?“
„Striptease. Wir beide. Jetzt.“
Berger blickte ihn verständnislos an.
„Wenn die Verbindung zwischen uns nicht offensichtlich ist, dann liegt sie irgendwo im Detail verborgen. Das heißt, Sie und ich, wir werden uns jetzt unser Leben erzählen. Von Anfang an. Jahr für Jahr und mit schonungsloser Offenheit. Bis wir die verborgene Verbindung finden. Nur so finden wir auch diesen Dreckskerl, verstanden?“
Wieder wurde Berger rot, aber er nickte.

„Stopp!“, rief Pfeiffer eine halbe Stunde später. „Was haben Sie gerade gesagt?“
„Dass ich nach Frankfurt gewechselt bin, nachdem mein erstes Reisebüro in Karben so gut lief, dass ich …“
„Sie hatten ein Reisebüro in Karben?“
„Ja, wie ich sagte: meine erste Selbständigkeit.“
„Ich hab mal in Karben gearbeitet. Volontariat bei so einem Lokalblatt.“
Berger blickte auf. „Ich sehe trotzdem noch nicht die Verbindung. Hab ich vielleicht mal in dem Blatt inseriert?“
„Wo war Ihr Reisebüro? Ich brauche die genaue Adresse?“
Berger sagte es ihm.
Pfeiffer schüttelte langsam den Kopf. „Ich glaube es nicht“, sagte er. „Nach so langer Zeit…“
Dann blickte er Berger ins Gesicht und begann zu erzählen: „Damals, als Sie Ihr Reisebüro aufmachten, wollte ich ein großer investigativer Journalist werden. Ich war nicht zimperlich. Hab überall rumgeschnüffelt und in die Pfanne gehauen, wen ich konnte. Journalistische Standards? Hab mir da so die eine oder andere Nachlässigkeit zugestanden. War ja noch in der Ausbildung. Und hab nur für so Provinzblätter geschrieben, bei denen es nicht so genau genommen wurde. Jedenfalls hab ich in Karben mal so einen Imbiss öffentlich verrissen.“
„Oh nein“, sagte Berger. „Doch nicht etwa…“
„Eben der“, sagte Pfeiffer. „Ich hatte eine Nacht lang gekotzt, nachdem ich dort gegessen hatte. Am nächsten Morgen bin ich hin und hab mir jeden Hygienemangel notiert, den ich finden konnte und mir noch ein paar ausgedacht. Und dann einen gepfefferten Artikel geschrieben, der einen kleinen lokalen Aufruhr ausgelöst hat. Und das Ordnungsamt auf den Plan gerufen hat. Ich hab das weitere nicht verfolgt. Mein Volontariat war vorbei. Aber ich habe später gehört, dass der Imbiss schließen musste. Hatte das damals als großen Erfolg gebucht. Und dann völlig vergessen. Ich hätte nicht gedacht, dass mich das je wieder einholen würde.“
Berger blickte ihn fassungslos an. „Dass der Imbiss plötzlich schließen musste, war meine Chance auf die Selbständigkeit“, sagte er. „So günstige Räumlichkeiten hätte ich sonst nirgends bekommen.“
„Kann man Ihnen ja nicht vorwerfen“, sagte Pfeiffer.
„Nun, ich war vielleicht etwas hart gegenüber dem Vorbesitzer“, fuhr Berger fort. „Es gab damals ein Treffen mit ihm, der Vermieterin, dem Ordnungsamt und mir. Der Imbissbetreiber, Vossen war sein Name, hat gefleht und gebettelt, dass er noch eine Chance bekäme. Der Mann vom Ordnungsamt blieb hart. Vossen sollte seine Ausstattung nachrüsten. Zehntausend Euro hätte ihn das damals gekostet. Das Geld hatte er nicht. Er hat sogar mich angebettelt, es ihm zu leihen. Wollte mir Zinsen dafür zahlen, wenn sein Geschäft wieder laufen würde.“
„Sie haben ihm das Geld nicht geliehen?“
„Pah. Da hätte ich das Geld auch in den Müll werfen können. Die Spelunke warf ja so schon nichts ab. Der Mann musste schließen. Ich habe der Vermieterin angeboten, die Renovierung des Ladens komplett zu übernehmen und bekam den Zuschlag als Nachmieter. Wochenlang habe ich Tag und Nacht geschuftet, um den Laden auf Vordermann zu bringen. Der Fettgestank hängt mir heute noch in der Nase.“
„Es scheint, wir haben die Verbindung, die wir gesucht haben“, sagte Pfeiffer.
„Aber der Täter war nicht Vossen. Der müsste ja heute so alt sein, wie wir. Der Täter war ein junger Mann.“
Pfeiffer holte sein Handy heraus. „Ich habe Vossen nie gesehen“, sagte er. „Sie schon. Schauen Sie sich das Video noch mal an, ob sie ihn wiedererkennen.“
„Ich sagte doch, der Täter ist viel zu jung“, sagte Berger.
„Nicht der Täter“, sagte Pfeiffer. „Der andere.“
Berger blickte angestrengt auf den Bildschirm. Dann wurden seine Augen groß. „Er ist viel älter. Und viel fertiger“, sagte er. „Aber ja, der Mann, der vor meiner Haustür erschossen wurde, könnte Vossen sein.“
„Das macht schon wieder keinen Sinn“, sagte Pfeiffer. „Bis jetzt dachte ich, Vossen ist der, der einen Grund hat, sich an uns zu rächen. Aber jetzt ist er auch ein Opfer. Das will mir nicht recht klar werden.“
„Eins ist jedenfalls klar“, sagte Berger. „Es gibt noch zwei weitere Menschen, die damals involviert warten. Die Vermieterin und der Typ vom Ordnungsamt. Wir müssen sofort die Polizei informieren.“
„Nein“, sagte Pfeiffer. „Noch nicht. Lassen sie uns unsere Hypothese erst noch überprüfen.“

Pfeiffers Wagen war nicht für Observationen geeignet. Zu alt, zu klein und zu unzuverlässig. Und ohne Standheizung, was sich jetzt in den frühen Morgenstunden bemerkbar machte. Pfeiffers Blase drückte und er stieg aus dem Auto, um sich an einem Baum zu erleichtern. Er machte sich keine große Mühe, sich zu verbergen. Die Straße war menschenleer. Und wenn ihn doch jemand beobachtete, würde er denken, dass er aus dem Pflegeheim auf der anderen Straßenseite entlaufen war. Ein verbrauchter alter Sack, der nicht mehr an sich halten konnte. So sah er jedenfalls aus, wenn er in den Autorückspiegel blickte.
In dem Pflegeheim lebte Frau Siegmund, die ehemalige Vermieterin der unglückseligen Räume, die einmal ein Imbiss und dann ein Reisebüro gewesen waren. Und eines der nächsten potentiellen Opfer des verrücken Killers.
Es hatte eine Weile gedauert, bis er Berger davon überzeugt hatte, dass sie sich hier erst mal ohne die Polizei umsehen sollten. Sie waren jeder in seinem eigenen Auto nach Karben gefahren, einem Vorort von Frankfurt, und hatten sich die beiden Personen aufgeteilt, die sie überwachen wollen. Es hatte Pfeiffer nur einen Anruf in der Redaktion des Lokalblattes gekostet und sie hatten die Adressen von Frau Siegmund und Herrn Claus bekommen, der ehemaligen Vermieterin und des Beamten vom Ordnungsamtes. Während die alte Dame nun im Pflegeheim lebte, war Claus zum Chef der Behörde aufgestiegen. Und während Pfeiffer nun vor dem Pflegeheim Wache hielt, stand Berger vor einem Reihenhaus am Rande des Ortes.
Pfeiffer griff in die Manteltasche und fühlte nach dem Revolver, der darin steckte. Er wollte hier keine Hypothese überprüfen, wie er es Berger weisgemacht hatte. Er wollte das Schwein, das Maria auf dem gewissen hatte, selbst erledigen. Das war keine Aufgabe für die Polizei. Das war seine eigene, verdammte Pflicht.
Sein Handy klingelte. Es war Berger. Pfeiffer nahm das Gespräch an: „Alles klar, bei Ihnen?“
„Nein“, flüsterte es am anderen Ende. „Hier ist gar nichts klar. Mein Gott, sie müssen sofort kommen!“
„Was ist denn Los, verdammt?“, sagte Pfeiffer.
„Unsere Hypothese stimmt“, klang eine entsetzte Stimme aus dem Handy. Aber es ist komplizierter, als wir gedacht hatten. Oh, Gott, bitte kommen Sie schnell!“
Dann wurde die Verbindung unterbrochen.

Kapitel 3. Noah.
„Es ist die Liebe, die uns erschafft und uns zerstört. Die Liebe ist die einzige Kraft, die dazu imstande ist…“
Zu der Zeit als Christan Pfeifer wie ein Besinnungsloser gegen das bruchsichere Glas in den Räumen seiner Redaktion hämmerte, starb Maria, auf der asphaltierten Straße, nah Europapark. Ihre pechschwarze Locken flogen in dem Wind, sobald ihr Kopf auf dem harten Boden aufschlug. Die Pistole fiel mit einem dumpfen Geräusch aus ihrer Hand und blieb neben dem schlaffen Körper liegen. Sie hatte zarte Finger mit akkurat lackierten Nägel in der Farbe passen zu ihrem Mantel, deren weiches Kaschmir nun ausgebreitet in dem sommerlichen Staub lag.
Sie sieht aus wie ein roter Schmetterling, dachte Noah. Er warf das Handy zur Seite und stieg aus seinem Versteck. Mit wenigen schnellen Schritten erreichte er auf dem Boden liegende Frau. Der Pistole schenkte er nur einen desinteressierten Blick zu. Die sterbende Frau bekam mehr Aufmerksamkeit.
Er beugte sich zu Maria und sah einen Herzschlag lang in ihre schöne, große Augen, bis deren Strahlen allmählich verblasste. Eine Träne hinterließ glitzernde Spur auf ihrer blassen Wange. Noah streckte seine behandschuhte Hand und wischte die Träne weg, dann schloss er Marias Augenlider, für immer.
Danach drehte er sich schnell um und sah nach oben. Zu dem Fenster, hinter dem Pfeifer wie ein gehetztes Tier umher rannte. Noahs schmale Lippen zuckten verächtlich, sobald sich deren Blicke trafen. Der Journalist erstarrte hinter dem Glas und fing an zu schreien. Durch die geschlossene Scheibe drang kein Ton hindurch, doch man sah den Mund von dem Mann, der sich öffnete und wieder schloss. Noah ahmte ein paar Mal die Mundbewegungen von Pfeifer nach, wie ein Fisch der nach Luft schnappt und genoss die Verwirrung auf Pfeifers Gesicht. Dann drehte sich zu Maria und rief nach Hilfe. „Sie hat sich umgebracht! Rufen Sie schnell die Polizei, ich habe schon den Krankenwagen gerufen!“ Schrie er den Fußgenger zu. Dass Maria, keinen Krankenwagen mehr brauchen wird, wusste Noah natürlich. Doch lenkte dieser Satz die Aufmerksamkeit der Menschen ab.
Um Maria versammelte sich bereits eine kleine aufgeregte Passantengruppe und Noah nutzte die Gelegenheit, um sich zu fliehen.
Sein Apartment am Rande der Stadt, erreiche er erst spät abends, während das künstliche, gelbe Licht der Laternen bereit angefangen hat die Welt mit Sepiafarbe zu kolorieren. Sein Hund Sell, ein großer, brauner Ridgeback, wartete schon ungeduldig auf ihn.
„Hast du Hunger?“ Fragte er ihn beim Eintreten. „Natürlich hast du Hunger.“ Antwortete er sich selbst. Er lies den Pappkarton, den er mitgebracht hat auf den Boden gleiten und ging in die Küche. Die Futterschüssel von dem Hund füllte er mit braunen, streng riechenden Kroketten und goss etwas Wasser drüber. „Es war ein langer Tag.“ Sagte Noah zu dem Vierbeiner und stellte die gefüllte Schüssel in Größe einer Salatschale, auf den schmutzigen Boden.
Sell wedelte mit dem Schwanz und wartete auf die Erlaubnis zu fressen. Noahs Blick blieb auf dem Hund haften, doch er sah ihn nicht. Stattdessen sah er wieder die Augen von Maria, umrandet von dichten, schwarzen Wimpern und ihr Kaschmir-Mantel, und dachte, dass sie wie ein roter Schmetterling aussah. Traurig fragte er sich, ob diese Opfer wirklich notwendig waren. Und eine innere Stimme flüsterte zu ihm: „unvermeindlich“. Er schloss die Augen und hörte zu, wie sein Herz in seinem Brustkorb schlug, wie ein Uhrwerk regelmäßig und friedlich.
Das leise Winseln von dem hungrigen Hund ries Noah aus der Versunkenheit. Er gab Sell die Erlaubnis zu fressen und erblickte den mitgebrachten Karton, der immer noch auf dem Boden lag.
Er hob den Pappkarton und schüttelte ihn leicht. Das Klappern im Inneren der Schachtel bereitete ihm eine Freude. Er wiegte den Karton wie ein Baby in der Hand und brachte ihn schaukelnd zu einem großen Regal, das wie ein Altar geschmückt war.
Noah entfernte das transparente Klebeband mit einem Ruck ab und sah eine kleine Filtermaschine mitten in einem Haufen Papierschnipsel liegen. Das Gerät war alt und hatte einen Sprung in dem Korpus. Noahs Finger berührten die Blutflecken an der Stelle, wo die Verkleidung gesprungen war. Das Gerät strömte ein intensives Kaffe-Geruch aus und erinnerte Noah daran, dass er selbst heute kein Kaffe getrunken hat.
Doch diese Maschine wird nie wieder das braune Gebräu ausspucken. Sie bleibt für immer ein leeres, totes Gefäß, so wie ihr ehemaliger Besitzer.
Noah schob er die Maschine behutsam ins Regal, zu einem wie ein Weihnachtskugel aussehendem Gegenstand, das in Wirklichkeit ein Knoten war. Ein Knoten, gebunden aus einer grünen Krawatte, mit goldenen Eurozeichen darauf.
Ein Objekt fehlte noch in der Sammlung. Daran dachte Noah, als er sich von dem Regal abwandte und in sein Arbeitszimmer ging.
Der spärlich möblierter Raum wirkte unspektakulär. Hochinteressant war allerdings die Wand. In der Mitte der Wand war ein Baum gemalt. Die Geldscheine, stellten die Blätter dar. Es waren allesamt Eineuro Scheine, die mit langen Nadel an dem Putz der Wand befestigt waren. Wenn jemand diese nachgezählt hätte, hätte sich eine Summe von genau zehntausend ergeben. Doch außer Noah und Sell war Niemand in diesem Raum gewesen. Niemand außer den beiden, bekam den Baum und die Bilder, die neben den Scheinen klebten, je zur Gesicht.
An der Stelle, wo der Baum einen dunklen Stamm hatte, hangen diverse Papierblätter. Unterlagen, Karten, Fotografien. Mittig sah man ein kariertes Blatt Papier auf dem drei Namen standen.
Noah holte roten Edding und betrachtete die kurze Liste aufmerksam. Berger, Pfeiffer, Offenbach, waren drei Namen, die auf dieser Liste standen.
Berger war bereits durchgestrichen, neben Pfeifer stand ein dicker Punkt, Offenbach war mit einigen Stricken umkreist.
Noah strich den Name Pfeiffer entschieden durch. Einmal, dann noch ein Mal. Urplötzlich rammte er den roten Stift mit einer Wucht gegen die Wand, dass die Spitze abbrach und die Kunststoffhülle splitterte. Ein Splitter blieb in seiner Haut stecken und er zog es langsam heraus. Sell der aufgesprungen war und ihn besorgt beäugte, roch das Blut und fing an, die Tropfen auf dem Boden abzulecken. Noah beobachtete ihn eine Weile, dann drehte er sich wieder zu der Liste. Er berührte den Namen Offenbach mit dem Zeigefinger und hinterließ einen blutigen Abdruck.
“Die Fuchse sind raus, es wird die Zeit, einen Löwen zu jagen.“ Sagte er. Dann sah er seinen Hund an, der ihn nicht aus den Augen lies. „Nun Sell, was meinst du. Wollen wir einen Löwen jagen?“ Her Hund entblößte eine Reihe scharfer, weißer Zähne und hechelte. Ja, diesmal jagen wir einen Löwen, dachte Noah. Und wir werden nicht aufhören, bis er tot ist. Selbst wenn, es womöglich unsere letzte Jagd sein wird.
Sein Handy klingelte.

Maria

Zuvor …

Maria öffnete die Haustür.

Ein junger Mann stand davor, der sie ernst ansah.

„Hallo, ich bin ein Mitarbeiter von Christian. Er möchte, daß Sie sich ein Video ansehen.Sie wüßten Bescheid,er sollte sich inzwischen gemeldet haben.“

„Bescheid? Nein,angerufen hat niemand.Vielleicht eine Nachricht auf dem Handy. Ich habe noch nicht nachgesehen.“

„Kein Problem“,erwiderte der Fremde, “ich habe das Video hier.“

Er hielt ihr sein Handy entgegen, auf dem ein Standbild zu sehen war.“Sehen Sie es sich einfach kurz an“.

Etwas irritiert nahm Maria das Handy an. Wenn es von Christian kam, war das ja in Ordnung. Anschließend konnte sie ihn immer noch anrufen. Oder der junge Mann würde hinterher erklären, was Christian von ihr erwartete.

Sie startete das Video.

Zwei Männer, einer nicht sichtbar, da er das Video drehte, sowie ein älterer Herr, der an einer Haustür erschien, nachdem der Filmer geläutet hatte.

Ein Dialog entspann sich, wie er irrer nicht sein konnte. Maria dachte zuerst an eines der vielen Spaß-Videos, die im Netz kursierten, jedoch passte der Tonfall des Gesprächs nicht zu einem lustigen Clip.

Als sie dann in Großaufnahme sah, wie sich der andere Mann erschoss, zuckte sie zusammen und hätte beinahe das Handy fallen lassen. Reaktionsschnell griff der Fremde zu und nahm es ihr ab.

Maria war geschockt und genauso sah sie den Fremden auch an. Sie wartete auf eine Erklärung.

Sollte sie die Polizei rufen? Einfach zurück ins Haus und abschließen? Oder Christian anrufen! Ja, er hatte den Mann ja geschickt, oder?

Statt dessen blieb sie stehen und hörte den Mann reden.

„Ich werde Ihnen jetzt sagen,was Sie für mich tun werden“,begann er. „Sie werden mich begleiten, und wenn ich es Ihnen sage, werden Sie sich erschießen.“

Beinahe hätte sie gelacht, aber die Situation war alles andere als komisch. Was verlangte dieser Kerl von ihr? Der kam doch niemals von Christian.

„Wer sind Sie? Sie kommen doch nicht von Christian,das ist doch Irrsinn.“

Der Fremde lächelte kurz. „Eine kleine Notlüge,ich gebe es zu. Aber Sie müssen ihm trotzdem bei etwas helfen,nämlich dabei, zu überleben. Wenn Sie sich nicht erschießen,wird nämlich er sterben. Ihre Entscheidung.“

Und jetzt stand sie also gegenüber dem Bürotower, in dem Christian arbeitete, die Hände in die Manteltaschen vergraben und einen Revolver umklammert, dessen Griff von ihrem Handschweiß feucht war.

Auf der anderen Straßenseite stand ER und telefonierte. Mit Christian, aber das konnte sie auf die Entfernung und durch den Verkehrslärm nicht hören.

Zögerlich hob sie den Blick, hinauf zu Christians Fenster und erschauerte, als sie ihn dort sah.

Im selben Moment war er auch schon wieder verschwunden.

Der Fremde sah zu ihr herüber, machte auf sich aufmerksam.

„Wenn ich das Zeichen gebe,nehmen Sie den Revolver,stecken ihn in den Mund und drücken ab“, hatte er gesagt, „dann bleibt Christian am Leben.“

Sie zitterte. Jeden Moment konnte er ihr das tödliche Zeichen geben.

Würde sie sich wirklich für Christian erschießen? Vielleicht war doch alles nur ein böser (ein sehr böser) Scherz?

Aber wenn sie es nicht tat, hatte sie ein Leben auf dem Gewissen. Es konnte doch nicht wirklich so enden? Sie wollte sich nicht töten, und doch …

Das Zeichen!

Ihr Herz übersprang einen Schlag, dann zog sie die Hand mit dem Revolver aus der Tasche …

…und bei null hörte er den Schuss.

Christian fiel das Handy aus der Hand. Hatte er bis zuletzt die winzige Hoffnung gehabt, alles wäre nur ein böser Scherz, so hatte ihn der Schuss gnadenlos vom Gegenteil überzeugt.

Er rannte zum Fenster, wollte es eigentlich nicht sehen, nicht wahrhaben, Aber er brauchte Gewissheit.

Schwer stützte er sich auf die Fensterbank, blickte hinunter auf die andere Straßenseite und sah sie.

Maria.

Stand da, hielt den rechten Arm ausgestreckt und zielte mit einem Revolver auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dann fiel die Waffe aus ihrer kraftlos gewordenen Hand, sie sank auf die Knie und erlitt einen Nervenzusammenbruch.

Während die Passanten nach dem Schuss Abstand zu ihr genommen hatten, versammelten sie sich auf der anderen Seite um den Mann, der reglos auf dem Pflaster lag.

Polizeipräsidium Frankfurt am Main

„Kolleeeeegen!“, Hauptkommissar Walther unterstützte seinen Ordnungsruf mit einem Klatschen in die Hände. Langsam ebbten die Stimmen ab und Walther schaute zufrieden in die Runde. Es kam nicht häufig vor, dass er sich in der Form in Szene setzte, aber die Diskussion drehte sich nun schon eine Weile im Kreis.
Er war nicht dafür bekannt, einen autoritären Führungsstil zu pflegen. Das hätte auch nicht zu ihm gepasst. Knapp 1,70m gross, um die Hüfte breiter als um die Schultern und dazu mit einem Haarkranz um das lichte Haupt, sah er aus wie ein gemütlicher Opa. Dabei war er gerade mal Ende 40 und seine einzige, spät geborene Tochter soeben erst in der Pubertät angekommen. Enkelkinder waren somit noch lange nicht in Sicht.
Seine körperliche Konstitution hätte auch fast seine Polizeilaufbahn verhindert. Was hatte er sich durch den 3000m Lauf gequält. Auf der letzten Rille konnte er dann mit Mühe und Not die Normzeit unterbieten. Und heute? Bräuchte er nur das deutsche Sportabzeichen vorzeigen und hätte sich das alles gespart. Die Welt war definitiv nicht gerecht. Den damaligen Kommentar seiner Frau, einer passionierten Hobbyläuferin, dass sie die Strecke in seiner Zeit gerne als Warmlaufübung vor einem Intervalltraining absolvierte, ignorierte sein Gedächtnis dabei geflissentlich.
Dafür waren seine Denkleistungen umso erstaunlicher. Kein Team in der Mordkommission des Polizeipräsidiums Frankfurt am Main hatte eine so hohe Aufklärungsquote wie seines. Und aufgrund der konstanten Auftragslage beschäftigen sich dort einige Teams mit Mordaufklärungen. Sein Instinkt gepaart mit starken analytischen Fähigkeiten, führte ihn dabei fast immer auf die richtige Fährte. Aber das heute hier schien solch ein „fast“-Fall zu sein.
Niemand im Team hatte eine Idee zu Motiven oder Motivationen. 10000 Euro sind sicher viel Geld, auch für einen verbeamteten Kommissar einer Mordkommission, aber dafür jetzt schon das zweite Todesopfer?
Im Wesentlichen drehte sich die Diskussion bis soeben um die Frage: „die oder wir“. Überliess man Team Kusewitter den Fall, denn die hatten ja schliesslich beim Berger bereits angefangen zu ermitteln? Oberkommissar Matthias Malzahn repräsentierte die Fraktion „die“. Er hatte dabei wohl vor allem das Spiel seiner SGE gegen den VfB im Kopf. Wenn sie jetzt anfingen, in den Fall einzutauchen, konnte er sich schon langsam Gedanken machen, an wen er denn sein Ticket noch los würde. So kurz vor Spielbeginn dazu.
Seine Kollegin Valerie Kaminski dagegen war durch den Tod der Frau tief erschüttert und hoch motiviert, sofort in die Ermittlung zu starten. Wenn Matthias mal wieder den Allerwertesten nicht hochbekam, war ihr das herzlich egal. Kusewitter hat doch keine Ahnung. Ihm die Fälle zu überlassen, bedeutete, die Akten gleich in den Schrank mit dem Aktenzeichen „XY Ungelöst“ zu packen. Nein, das würde sie nicht zulassen!
Aber jetzt schauten die Streithammel zu ihrem Chef und erwarteten gespannt, auf wessen Seite er sich denn schlug.
Walther dagegen ging gar nicht auf die Frage ein. „Mir erschliesst sich die Sache einfach nicht“, sinnierte er. „Wieso erschiesst sich jemand vor der Haustür im Höchst und wieso eine zweite Person kurze Zeit später im Europaviertel. Und das nur weil das Video vom ersten Vorfall ein paar Sekunden zu spät im Online-Portal von diesem Käseblatt hochgeladen wurde?!“
Malzahn trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und schaute ungeduldig zwischen seinen beiden Kollegen hin und her. „Hannes, ich verstehe, dass das ein interessantes Rätzel für dich ist. Aber das ist Kusewitters Fall. Der war schon bei dem Berger vor Ort, hat die stundenlang vernommen. Wir können ihm doch jetzt nicht einfach so reinfunken“. Mit einem Seitenblick auf Valerie, die zum Sprechen ansetzte, fügte er an „natürlich berührt mich das auch, aber wir können doch nicht immer die Welt retten wollen!“
Valerie rollte mit den Augen. „Ja klar interessiert dich das, nicht ganz so sehr, wie die Frage, wer bei Eintracht heute der zweite Torhüter ist, aber es berührt dich…“. Spöttisch musterte sie ihren Kollegen. „Ich habe auf jeden Fall Brkcic schon einmal gebeten, ein paar Fakten zur Toten zusammenzutragen. Er hat zwar jede Menge Anfragen auf dem Tisch, aber wollte sich zwischendurch Zeit nehmen für uns. Vielleicht bringt uns der Weg ein wenig weiter.“
„Konnte er deinen Rehaugen nicht wiederstehen?“, versuchte Malzahn sie aufzuziehen.
„Klappe!“, konterte Valerie kühl. Sie hatte keine Lust, sich mit ihrem attraktiven Äusserem aufziehen zu lassen.
Auch im Jahr 2024 hatte es Frau in der von männlichen Alphatieren und Super-Egos durchsetzten Frankfurter Polizeibehörde noch immer nicht einfach. Dass sie gleichzeitig mit Malzahn zur Mordkommission gestossen war und erst 2 Jahre nach ihm zur Oberkommissarin befördert wurde, war ein Skandal. Sie hatte sich damals nirgends beschwert. Ihre Karten wären nicht so schlecht gewesen, denn der Leistungsausweis konnte nicht die Grundlage für diese Behandlung gewesen sein. Stattdessen hatte sie bei der Arbeit noch mehr Gas gegeben. Irgendwann kam Mann dann nicht mehr an ihr vorbei. Wenn sie dann wirklich mal einen kleinen Vorteil aus ihrer Geschlechtszugehörigkeit ziehen konnte, nicht einmal für sie persönlich, hatte sie keine Lust, sich ausgerechnet von Malzahn dumm kommen zu lassen.
„Leute! Bleibt mal bitte bei der Sache.“, mischte sich Walther wieder ein und kam auf Malzahns Einwand zurück. „Kusewitter kann das nicht alleine mit seiner Truppe machen. Ich weiss noch nicht, was uns erwartet, aber das war noch lange nicht alles. Da können wir uns sicher sein. Wir müssen unbedingt heraus bekommen, worum es hier wirklich geht“ Er legte seine Stirn in Falten, stand auf, nahm einen Stift in die Hand und trat zum Flipchart.
„Richard Berger, Christian Pfeiffer, Maria Kamps, unbekannt 1, unbekannt 2“ kommentierte er die Namen, die er auf das weisse Papier schrieb.
„Du hast Dorothea Berger vergessen“, warf Valerie ein.
„Genau du hast Recht“ nickte Walther und fügte Richard Bergers Frau hinzu. Dann malte er eine Linie von Maria zu „unbekannt 1“. Eine Zweite verband Berger und Pfeiffer. „Wo ist die Verbindung? Gibt es eine Beziehung unter den Toten? Oder zwischen den Zielpersonen?“
„Wer sagt uns, dass es überhaupt solch eine Verbindung gibt?“, hakte Malzahn ein, der eingesehen hatte, dass er mit seiner Verweigerungshaltung gegen seine Kollegen nicht ankam. „Vielleicht war das nur Mittel zum Zweck? Er hatte es eigentlich auf Berger abgesehen und um Aufmerksamkeit zu bekommen, hat er dann Pfeiffer benutzt.“
Valerie schüttelte den Kopf „Glaube ich nicht. Das wäre doch arg heavy. Er hätte das doch nur irgendwo hochladen brauchen und das hätte sich wie ein Lauffeuer von selber verbreitet, ohne das jemand hätte was machen müssen“.
„Das kann sein“ erwiderte Matthias Malzahn. „Aber wenn du es selber hochlädst, hinterlässt du natürlich viel mehr Spuren. Ausserdem könnte es gut sein, dass dann der Contentfilter bei den Plattformen zuschlägt und du gar nicht so weit kommst.“
„Haben wir denn hier keine Chance über den Cloud-Speicher an die Person ranzukommen?“ überlegte Walther. Online Medien waren jetzt nicht so seine grösste Stärke.
„Theoretisch schon, aber erstens dauert das, bis die die Daten rausrücken. Dazu reicht für diesen Dienst eine nichtssagende Email-Adresse als Identifikation und hochgeladen wurde das garantiert mit VPN, Proxy und was weiss ich… Keine Chance.“ antwortete Malzahn.
„Was ist eigentlich mit den Beteiligten? Den Bergers und Pfeiffer?“ fragte Valerie. „Können wir die nochmal vernehmen?“
„Die Bergers können wir nicht vernehmen, die gehören Kusewitter! Davon rede ich doch die ganze Zeit Mensch!“ sprang Malzahn direkt wieder an. „Ausserdem werden die mittlerweile psychologisch betreut.“
„Was sollen die uns auch Neues sagen? Wir wissen doch gar nicht, was wir fragen wollten.“ Walther winkte ab und schritt vor dem Flipchart auf und ab. „Die Verbindung ist nicht zufällig! Davon bin ich fest überzeugt. Der Schlüssel ist Berger… oder vielmehr jemand im Hause Berger“, präzisierte er.
„Und es geht nicht um Geld“, warf Valerie ein. „Dafür ist der Betrag zu lächerlich. Hier will sich jemand rächen und zwar so, dass Berger nie wieder auf die Beine kommt.“
„Damit könnest du Recht haben“, stimmte Malzahn zu. „Alles andere ist…“
Er kam nicht dazu weiterzusprechen, weil Valerie in dem Moment aufstöhnte. „Ach du scheisse“, murmelte sie, während sie die Informationen in der Mail von Brkcic las. „Maria Kamps, geboren 1983 in Frankfurt am Main als Maria Elisabeth Berger, 1986 aufgrund häuslicher Gewalt aus dem Gewahrsam der Eltern genommen, adoptiert 1988 von Marion und Egbert Kamps.“
Malzahn hörte mit dem Trommeln auf, lehnte sich in seinem Stuhl zurück, fuhr mit den Händen durch seine kurzen braunen Haare, verschränkte sie hinter dem Kopf und murmelte, während sein Blick im Nichts festhing, „Na grossartig…“. Ob er jetzt die neu eingetroffene Information meinte, oder das soeben in weite Ferne gerückte Fussballspiel, war nicht genau zu erkennen.
Walther löste sich aus seiner Starre, ging zur Tür und drückte den Griff nach unten. „Ich hole jetzt Kusewitter.“

Das Medienereignis

Ricarda Langenberg, ehemalige Junioren Meisterin im Hammerwerfen, fiel beinahe der Löffel aus dem Mund.

Rick war im Fernsehen.

Sie hatte es sich gerade auf seinem Sofa gemütlich gemacht und war dabei eine ordentliche Portion bunte Maiskringel in Milch zu verputzen. Rick vergötterte Ricarda, seitdem sie ihm im Sandkasten seine Schaufel und den Eimer entrissen hatte, um beides im hohen Bogen über den Zaun zu werfen. Sie war der Boss. Als ihre Pflegeeltern sie rauswarfen, weil sie einfach mehr von ihr erwarteten, als ehemals den Hammer geschwungen zu haben, kroch sie bei Rick unter. Er tat alles, damit sie bei ihm blieb und ihn liebte. Außer arbeiten. Das war nichts für ihn. Ab und an etwas Berauschendes schon eher. Trotzdem las er Richarda jeden Wunsch von den Lippen ab und nahm jede Gelegenheit für schnelles Geld an. Er tat, was er sollte, und sie bekam, was sie wollte. Weil sie gern aß, hatte Rick für einen großen Vorrat an Lebensmitteln gesorgt. Die sollten reichen, bis er wieder da war. Seine Heizung war auf Stufe fünf eingestellt und der Regen peitschte an die dreckigen Fensterscheiben. Eingehüllt in eine Fellimitat Decke und umgeben von einem riesigen Berg Kissen, wie Prinzessin auf der Erbse, wollte sie eigentlich nur ein bisschen durch die Programme surfen. Eine Reportage über Orang-Utans auf Borneo bei TV23 wurde unterbrochen.

Breaking News.

„Meine Damen und Herren, wir unterbrechen die Sendung und berichten live vom Frankfurter Generalanzeiger. Dort spielen sich im Moment dramatische Szenen ab. Es sieht so aus, als ob der mutmaßliche Selbstmorderpresser, auf dessen Konto mittlerweile acht Selbstmorde gehen, gefasst ist. Unsere Reporterin Linda Marx ist live vor Ort und berichtet für uns. Linda, du hast Menschen aus dem Umkreis von Christian P. gefragt. Was ist das für ein Mensch? Er wurde strafversetzt in die Online – Redaktion, warum? Im Moment hält er sich im Gebäude auf. Sind Personen in Gefahr und um welches ominöse Video handelt es sich genau? Er hat ein Video hochgeladen, so heißt es. Was ist darauf zu sehen und warum hat er das getan? Wollte er Aufmerksamkeit? Welche Beziehungen zu den Opfern können ihm bisher nachgesagt werden oder sind sie alle nur Zufallsopfer? Und kann man hier von Mord auf Bestellung sprechen?“

Eine Liveschaltung wurde eingespielt und ein rotes Banner mit weißer Schrift lief über den Bildschirm. Eine brünette Frau mit windgepeitschtem Haar berichtete in ein ebenso zerzaustes Mikrofon, welches Ricarda an ihre alte Perserkatze erinnerte. Diese bekam sie von ihren Pflegeeltern zum Einzug in ihr neues nobles Heim. Eine Menschenmenge war aufgelaufen und im Hintergrund reflektierten Blaulichter in den gläsernen Fassaden. Polizei, Krankenwagen und Feuerwehr. Das volle Programm. Knapp hinter der Reporterin und halb verdeckt, stand Rick. Sein schmächtiger Körper war gut zu erkennen, genau wie sein lichtes rötliches Haar und der helle Kunstfellkragen seiner unmodischen Jeansjacke. Er hielt sein Handy hoch und filmte die Szenerie. Man konnte zwar nur Teile von ihm erkennen, aber Ricarda war alarmiert.

Was für ein Idiot, dachte sie und kniff ihre Augen zu kleinen Schlitzen zusammen.

Ein Text lief über den Bildschirm. ** mutmaßlicher Serienerpresser aufgespürt – ist Online – Redakteur beim Frankfurter Generalanzeiger - zwang seine Opfer zum Selbstmord – wie, ist noch unbekannt - mögliches Motiv, Rache - persönlicher Kontakt zum letzten Opfer festgestellt -gerade erst strafversetzt in Online – Redaktion - Kollegen schildern ihn als starrsinnigen Einzelgänger - Polizei bittet Bevölkerung um Mithilfe unter der Telefonnummer 069/30603565 - wer hatte ungewöhnlichen Kontakt zu Christian P. - sie könnten in Gefahr sein**

„Ja, danke Klaus.“, sagte Linda. „Hier spielen sich dramatische Szenen ab. Das kann man wirklich sagen. Christian P. hat sich in seinem Büro eingeschlossen und droht jedem, der hinein will, damit, Feuer zu legen. Was ihn zu diesen Wahnsinnstaten gebracht hat, ist im Moment noch nicht auszumachen. Auch nicht, wer seine Komplizen sind. Wie ich gerade höre, sind noch zwei weitere Videos aufgetaucht. Insgesamt gibt es aber acht Selbsttötungen mit einer Schusswaffe. Ob die mit Christian P. im Zusammenhang stehen, wird noch untersucht. Zu einem Opfer ist ein persönlicher Bezug nachweißbar. Sein Kollege ist jetzt hier bei uns und kann uns vielleicht mehr über ihn sagen. Herr Magnus Stricker, sie sind der Vorgesetzte von Christian P., was können sie uns über ihn sagen, warum wurde er gerade erst in die Online – Redaktion versetzt?“

„Ich kann und darf darüber nichts sagen. Die Ermittlungen laufen noch.“

„Was wissen sie über sein Privatleben? Das letzte Opfer, soll eine persönliche Beziehung zu Christian P. gehabt haben?“ Magnus Stricker sah auf einmal sehr zornig aus.

„Oh, ich höre, wir müssen hier unterbrechen.“

Die Kamera zoomte auf die Häuserfront. Im achten Stock des zwölfstöckigen Hauses stand ein Mann mittleren Alters auf dem Fenstersims und hielt sich mit den Händen am Rahmen fest. Sein Blick war nach unten gerichtet und der Wind wehte ihm seine Krawatte ins Gesicht. Er war kurz davor zu springen. Seine Verzweiflung war ihm anzusehen. Die Feuerwehr breitete unter ihm ein großes Sprungtuch aus und zwei Personen stiegen in die Gondel einer Feuerwehrleiter.

Die Kamera schwenkte kurz weg und im Anschluss wurden Bruchstücke aus dem Video gezeigt. Die Tonqualität war hervorragend, die Aufnahme leicht verwackelt, aber gut genug, um alles zu erkennen.

„Junger Mann.“, interviewte die Reporterin Rick. „Sie haben alles aus nächster Nähe beobachtet, als die Frau auf sich selbst geschossen hat. Was war ihr Eindruck von der jungen Frau? Warum hat sie das getan? Konnten sie noch mit ihr sprechen? Warum waren sie vor Ort? Haben sie die Polizei gerufen?“

Ricarda lief das Essen aus den Mundwinkeln und der Löffel schlug eine Flinse in die Müslischale.

© EffEss

Sweety, die GSG 9 und eine Grünlilie

„Sry, wird heute nix, Sweety. Der Ball muss ohne mich rollen. ILU“, tippte Cornelia Thoms, drückte auf „Senden“ und warf das Handy zurück auf den zugemüllten Schreibtisch. Fast schob es beim Aufprall ihr Namensschild vom Tisch und blieb genau auf dem Bericht liegen, den sie gerade gelesen hatte. Stöhnend verfrachtete sie es in ihre Handtasche. Dann rückte ihre Brille in Position, griff erneut nach dem Dossier und versuchte, sich auf den Sinn der Zeilen zu konzentrieren. Doch schon nach einem Absatz verlor sie die Geduld. Eine halbe Seite über die Krawatte von Berger? In einem Bericht an die Polizeipräsidentin? Hatte der Bearbeiter beim Anblick der Eurozeichen vom Weihnachtseinkauf geträumt? Oder vielleicht vom letzten Abendvergnügen ohne Gattin? Sie schnaubte. Das Land war seit drei Tagen in Aufruhr, es gab fünf Tote, ein halbes Dutzend unter Schock stehender Zeitungsredakteure, die erst munter Killervideos veröffentlicht hatten, um sich dann bei den Befragungen in verschreckte Rehböcke ohne jegliche Sprachfähigkeit zu verwandeln, ein paralysiertes Erstopfer nebst Gattin mit Psychatrieeinweisung und 21 Trittbrettfahrer von München bis Rendsburg. Ganz zu schweigen von Panikattacken beim Öffnen der Wohnungstür, Hamsterkäufen und allem was einer verunsicherten Bevölkerung sonst noch einfiel. Und der schrieb über Krawatten? Sie erwog, ihn kurzfristig für die Beantwortung von Presseanfragen abzustellen - da wurde gerade jede Unterstützung gebraucht.

Stöhnend stützte sie die Ellenbogen auf den Schreibtisch und bettete ihren schmerzenden Kopf darauf. Sie hätten den Fall lösen müssen. Gerade heute brauchten sie wirklich keine durchgedrehten Psychopathen auf freiem Fuß.

Es klopfte und durch die Tür schoben sich erst ein Tablett und dann der schmale Mattke.

„Ihr Tee, Frau Präsidentin“, erklärte er das Offensichtliche und versuchte erfolglos, einen freien Platz auf dem Schreibtisch zu finden.

„Was Neues in Hessen und der Welt, Mattke?“

„In Offenbach wurden drei Jugendliche festgenommen, die an Haustüren drohten sich umzubringen, wenn sie nicht 500 Euro bekommen, Frau Präsidentin. Sie hatten wohl schon 5.000 Euro in der Tasche. Außerdem berichtet die Bild-Zeitung von Geldknappheit an Bankautomaten. Der DFB hat eine Schweigeminute vor dem Spiel angekündigt und das Bundespräsidialamt für morgen eine Rede.“

Sie verdrehte die Augen und griff nach der dampfenden Teetasse. Hässlich wie die alte. „Also nichts wichtiges, ja?“

„In 20 Minuten beginnt die Lagebesprechung mit der GSG 9. Herr Minister bittet Sie, zu ihm ins Büro zu kommen.“

Der Tee schwappte fast über den Rand, als sie zusammenfuhr.

„Raus!“

Mattke verschwand.

GSG 9, pah. Die Elite-Futzis hatten ihr den Auftrag geklaut. Hatten alles an sich gerissen und ihre Chance zerstört: Gestern Nachmittag hatte sie ihre Belobigungsurkunde noch vor sich gesehen, dann kam plötzlich diese E-Mail:

„Min hat besondere Gefahrenlage erklärt + GSG9 angefordert.“

Nur eine Zeile. Keine Anrede, keine Grußformel, kein nix. Geschweige denn ein Anruf oder eine persönliche Info. Es grenzte an ein Wunder, dass nur die Teetasse gefallen war. Cornelia Thoms sprang aus ihrem Stuhl und stapfte vor dem Fenster auf und ab.

Sie war die Polizeipräsidentin, verdammt nochmal. Rund um die Uhr im Einsatz für das Land. Freizeit ein Fremdwort. Nicht mal das Spiel der Nationalmannschaft heute Abend war drin. Nicht mal das. Klar, Sweety würde Verständnis haben. Das hatte er immer. Aber sie - ganz - sicher - nicht!

Er hatte in ihr Territorium eingegriffen. Hatte ihre Entscheidung torpediert. Hatte sie nicht einmal um Rücksprache gebeten dazu. Er war der Innenminister, ja. Aber sie war die Polizeipräsidentin. Sie hätte die Spezialeinheit anfordern müssen. Sie hätte Ludewig von der Bundespolizei benachrichtigen müssen. Hatte sie aber nicht. Und zwar nicht etwa, weil sie gerade den Lidstrich nachzog. Nein! Sondern weil sie hier nichts weniger brauchten als diese Möchtegern-Experten, die alles von links nach rechts drehten und keinen Stein auf dem anderen ließen. Ob sie schon die Telefonverbindungen der Journalisten geprüft hätten, hatten die als erstes gefragt. Unverschämtes Pack!

Hinter ihr hüstelte es und sie fuhr herum. Mattke war im fahlen Vorabendgrau kaum zu sehen.

„Sie stören!“

„Frau Präsidentin, in fünf Minuten müssen Sie oben sein.“

Die kleine Bewegung ihres Handgelenks machte unmissverständlich klar, dass er verschwinden sollte, doch Mattke atmete tief durch, richtete sich auf, so dass er ein klein wenig größer, gleichzeitig aber noch dünner wurde und erklärte fast ohne zu stottern: „Ich würde jetzt gern Feierabend machen, Frau Präsidentin. Ich habe Karten fürs Spiel, wissen Sie?“

In ihrem Inneren schien ein geschmuggelter Silvesterböller zu detonieren. Cornelia Thoms explodierte. Und weil die Teetasse auf dem Schreibtisch in Sicherheit war, griff sie nach dem Tontopf mit der Grünlilie. Er zerschellte knapp neben Mattke an der Wand, die Scherben flogen wie bei einem Polterabend, die Erde verteilte sich auf den Nadelstreifen und die Pflanze landete auf dem Sockel des Kleiderständers.

Mattkes linke Augenbraue zierte ein blutiger Kratzer. Mit großen Augen starrte er sie an. Augen wie Fußbälle.

In diesem Moment durchbrach ein helles, langgezogenes Piepen im Nebenraum die Stille. Mattkes Augen wurden noch größer, noch runder und dann lief er hinüber.

Ihr Handy vibrierte. Zitternd holte sie es aus ihrer Tasche und las: „Lass dich nicht ärgern, Darling. Ich winke für Dich in die Kameras. ILU2.“

„Frau Präsidentin, ein Fax.“ Mattke stand schon wieder in der Tür.

„Ein Fax?“ Sie zog das Wort in die Länge, weil sie nicht glaubte, was sie da hörte. „Heutzutage faxt niemand mehr.“

„Lesen Sie“, drängte Mattke und weil sie hoffte, dass es sie von Sweety, der GSG 9 und dem Dreck an der Tür ablenken würde, tat sie genau das. Der erwünschte Effekt trat unmittelbar ein.

„Sehr geehrte Frau Präsidentin,

wie Sie sind wir zutiefst betroffen von den Vorkommnissen, die unser Land seit letztem Sonntag beschäftigen und in Unruhe versetzen. Seien Sie versichert, dass wir gewillt sind, diesen Zustand schnellstmöglich zu beenden. Sie werden feststellen, dass unsere Bedingungen annehmbar und leicht zu erfüllen sind. Bitte entscheiden Sie für unser Land, für die Sicherheit der Fußballfans aus Frankfurt und aller Welt und mit besonderem Blick auf Sweety, was zu tun ist.“

Ein kurzes Strecken des Rückens und eine Bewegung der Augenbraue verrieten ihre Irritation, doch sie las weiter:

„Frau Präsidentin, wir fordern Sie hiermit auf, innerhalb der nächsten Stunde das Fußballspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Albanien abzusagen. Die Entscheidung muss vom DFB mitgeteilt werden, so dass Albanien zum Sieger der Partie erklärt wird. Das alles bis 18:30 Uhr.

Sollten Sie unserer Forderung nicht nachkommen, können weder Sie, noch die GSG 9 oder der liebe Gott die 62.000 Menschen im Frankfurter Stadion retten. Und Sweety schon gar nicht.“

Cornelia Thoms las das Fax noch einmal, blickte kurz in die Dunkelheit des Abends hinaus und überflog es anschließend ein drittes Mal. Dann murmelte sie: „Endlich eine Spur“, setzte sich an ihren Schreibtisch und griff zum Telefon.

… Verständnislos starrte er auf das Mobiltelefon, als hätte er nie zuvor in seinem Leben eines gesehen. Er stand völlig neben sich und beobachtete sein Selbst wie von außerhalb des Körpers. So musste es sein, wenn man stirbt, wollte man den Berichten über Nahtod-Erfahrungen glauben. Und in gewisser Weise war gerade ein Teil von ihm gestorben. Zusammen mit Maria.
Er griff zur Tasse und nippte gewohnheitsmäßig am immer noch heißen Kaffee. Mit einer steifen Bewegung stellte er das Getränk zurück neben das herabgestürzte Handy auf den Schreibtisch. Dann zwang Christian Pfeiffer seinen Blick erneut durch die Scheibe auf die Straße.
Beim Anblick der Leiche, die vor wenigen Sekunden noch die wunderbarste Frau der Welt gewesen war, gingen ihm absurde Gedanken durch den Kopf.
Sie hat einfach ein untrügliches Gespür für Farben, dachte er angesichts der bizarren Szenerie. Die Blutlache dehnte sich immer weiter aus und verschmolz mit dem Rot des Mantels, wurde eins mit ihm.
Das schwarzgelockte Haar umrahmte weich das schneeweiße Antlitz der Toten. Als letzten Pinselstrich hatte der Wind ein gelbliches Blatt auf ihr Gesicht geweht, so dass die schauderhafte Wunde, die ihr Mund nun bildete, gänzlich verdeckt war. Der Anblick mutete an wie das morbide Gemälde eines verrückten Künstlers.

Pfeiffer riss sich los vom Bild, das sich ihm auf der Straße bot. Sekunden später ließ sein markerschütternder Schrei die menschenleeren Redaktionsräume erbeben. «Mariiiaaa …»
Christians Erstarrung löste sich endlich. Die halbvolle Kaffeetasse schleuderte er mit all der Kraft einer plötzlich entfachten Wut gegen die graue Betonwand des Coworking-Spaces. Anschließend rieb er seine geröteten Augen und das Gesicht mit dem bereits ergrauten Bart. Er musste etwas tun!
Ganz in der Ferne ertönte ein Konzert von Martinshörnern verschiedener Einsatzfahrzeuge. Wahrschlich das übliche Aufgebot. Polizei, Feuerwehr, Rettungswagen.

Es wurde Zeit, zu verschwinden. Er riss seine Kunstlederjacke von der Stuhllehne und bestieg den Fahrstuhl in Richtung Tiefgarage. Noch bevor die sich schnell nähernden Autos am Unglücksort eingetroffen waren, raste Christian mit seinem alten, olivfarbenen Jeep stadtauswärts. Er würde herausfinden, was da draußen vor sich ging und vor allem, wer Maria auf dem Gewissen hatte. Nie und nimmer hätte sie sich selbst getötet, noch dazu auf diese martialische Art. Die bürokratischen Mühlen von Polizei und Justiz mahlten zu langsam. Und Zeit durch stundenlange Verhöre zu verplempern, konnte er sich in dieser Situation auch nicht leisten. Er nahm das selbst in die Hand. Im Alleingang. Wozu hatte er denn in seinem früheren Leben viele Jahre als Investigativ-Journalist gearbeitet?

Der Parkplatz des Mega-Kinos außerhalb der Stadt war riesig. Hier lenkte er den Jeep auf einen Stellplatz, schaltete den Motor aus und versuchte, den chaotischen Gedankenstrom in seinem Kopf in geordnete Bahnen zu lenken.
Der Mann auf dem Video mit dem rundlichen Gesicht hinter der Tür …, irgendwoher kannte er den. Mit geschlossenen Augen atmete er mehrmals tief ein und aus, um sich etwas zu beruhigen. Vielleicht auch eine Methode, seinem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge zu helfen. «Konzentrier dich endlich!», schrie er sein Spiegelbild in der heruntergeklappten Sonnenblende an. Und plötzlich wusste er es wieder. Das war der Typ aus dem Reisebüro. Er hatte im letzten Jahr seinen Urlaub bei dem gebucht. Schon damals trug er eine an Scheußlichkeit nicht zu überbietende Krawatte.

Aber was sollte es für eine Verbindung zwischen ihm, Maria und diesem Spießer geben? Er kramte sein Tablet aus dem Rucksack, das Handy hatte er in der Redaktion liegen lassen.
Ach ja! Richard Berger hieß der Mann. Ein paar weitere Klicks und Pfeiffer hatte die Privatadresse herausgefunden.
Sofort startete er den Motor und machte sich auf den Weg. Während der Fahrt überlegte er, warum ihm auch der Getötete auf dem Video so seltsam bekannt, fast schon vertraut, vorkam? Irgendwie spooky, schoss es Pfeiffer durch den Kopf. Doch jetzt wollte er sich erstmal voll und ganz auf Richard Berger konzentrieren. Ein Opfer wie er selbst.

Das gediegene weiße Haus mit den in Falten gelegten Gardinen vor den Fenstern und die schwere Eichenhaustür erkannte er sofort. Alles wie in der Handy-Aufzeichnung. Der alternde Journalist sprang die Stufen hoch und betätigte den Klingelknopf. Selbst jetzt im Dunkeln konnte man noch die Flecken von Blut auf den Steinen erkennen. Er schellte ein zweites Mal, diesmal vehementer, und sogar ein drittes Mal, bevor sich etwas hinter der Tür regte.
Licht wurde eingeschaltet. Das quietschende Massivholz-Ungetüm schob sich langsam eine Handbreit auf und das aus dem Video bekannte Gesicht Richard Bergers tauchte dahinter auf. Bevor Pfeiffer auch nur einen Ton sagen konnte, fuhr der Reisebüro-Mann ihn an: «Das ist nicht möglich! Sie sind tot. TOT, mausetot.»
Die Stimme überschlug sich mit jedem Wort mehr und mündete in maximaler Hysterie. «Sie haben sich heute Morgen hier auf diesen Stufen erschossen, vor meinen Augen.»
Berger griff sich ans Herz. Seine Haut wurde noch grauer, als sie ohnehin schon war. Christian Pfeiffer versuchte, den Mann zu beruhigen. Drang aber gar nicht erst zu ihm durch. Was meinte er mit diesen makabren Beschimpfungen? Wieso tot?
Derweil schrie der Mann im Haus wie von Sinnen weiter und ging zum „Du“ über: «Jeder Einzelne deiner Gesichtszüge hat sich auf meiner Netzhaut eingefräst. Deine toten Augen – für immer in mein Hirn eingebrannt.»

Während Berger weiterhin seine Tiraden über ihn ergoss, erhaschte Pfeiffer durch den Türspalt im hellerleuchteten Eingangsbereich einen Blick auf Frau Berger mit ihren schwarzen Locken. Fassungslos starrte er sie an Berger vorbei an. Eine ältere Ausgabe seiner Maria drückte sich ängstlich in die hinterste Ecke der Diele. Und an der Garderobe rechts neben der Tür hing ein roter Mantel. Genau so einer, wie Maria ihn heute getragen hatte.

Pfeiffer spürte, wie ihm die Kontrolle entglitt. Die Panik wogte in ihm, jede Welle schwerer als die letzte, bis sie ihn völlig zu überrollen drohte. Es war, als ob die Wände sich um ihn zusammenzogen, ihn einsperrten. Alles fühlte sich falsch an

Er taumelte zum Fenster, suchte mit Blicken die Straße ab, hektisch, verzweifelt.

Wo war sie? Maria. Sie hatte einen roten Mantel getragen. Rot wie Blut.

Blut.

Der Gedanke war so scharf, dass er ihn fast körperlich spürte. Würde man das Blut darauf erkennen? Er biss die Zähne zusammen, schüttelte den Kopf. Reiß dich zusammen, Mann! Doch die Panik ließ sich nicht unterdrücken. Seine Augen huschten über den Asphalt, durchsuchten jeden Schatten. Aber da war nichts.

Dann begann es.

Erst ein Klingeln. Das Diensthandy. Dann das neben dem Kaffeepott. Und gleichzeitig – die Türklingel. Die Geräusche zerrissen die Stille wie Messerklingen, synchron und gnadenlos. Und bevor er überhaupt reagieren konnte, begann jemand an die Tür zu hämmern. Schwer, drängend, als würde derjenige sie eintreten wollen.

Pfeiffer starrte zur Tür. Sein Herzschlag hämmerte wie ein drohender Countdown in seinen Ohren. Wer auch immer dahinter war – er wusste, dass es nichts Gutes bedeutete.

Das Hämmern wurde lauter, fordernder.

Langsam, wie betäubt, bewegte er sich zur Tür. Jeder Schritt schien durch die Luft zu hallen. Seine Hand zitterte, als er den Türgriff fasste. Er zögerte. Was, wenn…?

Er riss die Tür auf.

Da stand sie.

Maria.

Ihr Gesicht war blass, ihre Augen funkelten vor Zorn und etwas anderem – war es Angst? Der rote Mantel lag schwer auf ihren Schultern, der Stoff wirkte feucht. Hat es etwa geregnet? Pfeiffer starrte sie an, unfähig, ein Wort zu sagen.

„Maria“, brachte er schließlich hervor, seine Stimme ein heiseres Krächzen. „Du… du lebst.“ Eine Welle aus Erleichterung, Unglauben und etwas, das er nicht benennen konnte, rauschte durch ihn. Er war verliebt in diese Frau, obwohl er sie kaum kannte, wollte sie in seine Arme reißen, doch etwas an der Art, wie sie ihn ansah, ließ die Freude sofort in Unsicherheit umschlagen.

„Ob ich lebe?“ Ihre Stimme war leise, fast ein Zischen, durchzogen von Bitterkeit. Plötzlich brach sie in ein Lachen aus, hektisch und schrill, bis sie abrupt abbrach, als hätte jemand einen Schalter umgelegt „Warum Christian?“, sagte sie, ihre Hände ballten sich zu Fäusten. „Wie konntest du mir so etwas Grausames schicken?“ Ihr Blick war eiskalt. Sie machte einen Schritt nach vorne, und Pfeiffer spürte, wie die Kälte von ihr auf ihn überging. „Was zum Teufel spielst du bloß für ein krankes Spiel?“, fuhr sie fort. Sie streckte ihm einen Umschlag entgegen. Ihre Hände zitterten. „Hier. Erklär mir DAS.“

Er nahm den Umschlag, wie ein Automat, ohne nachzudenken.

„Was meinst du?“ Seine Worte klangen hohl, selbst für ihn.

„Das Video!“ Ihre Stimme überschlug sich, wurde fast zu einem Schrei. Sie holte Luft, die Worte kamen stoßweise, zerrissen von Wut und Verzweiflung. „Du… du hast es mir geschickt! Per WhatsApp!“ Ihre Hände fuhren fahrig durch die Luft, als könnte sie die Erinnerung greifen. „Ich war schon auf dem Weg zu dir, als du…“ Sie brach ab, schnappte nach Luft, ihre Augen glitzerten. „Als du mich angerufen hast.“ Ihre Stimme schwankte, mal leise, mal laut. „Du hast mich angefleht! Hast gesagt, ich soll mir die Aufnahme sofort anschauen! Und dann…“ Sie lachte auf, kurz, hart. „Dann sollte ich draußen vor dem Redaktionsgebäude warten, bis ich dich im Fenster sehe! Und als ob das nicht schon verrückt genug war, kam noch eine Nachricht – ich sollte dir diesen verdammten Umschlag bringen!“ Ihre Stimme brach, eine scharfe, fast verzweifelte Pause „Und jetzt? Jetzt stehst du da und tust so, als wüsstest du von nichts? Willst du mich verarschen? Was läuft hier wirklich, verdammt noch mal?“

„Maria, ich…“ Seine Stimme versagte. „Ich habe dir nichts geschickt.“ Er schüttelte den Kopf, als könne er sich selbst nicht begreifen, als wüsste er nicht, wie er sie davon überzeugen sollte, was er wusste – oder eben nicht wusste.

Maria starrte ihn an. „Was… was redest du da? Was soll das heißen?“ Ihre Stimme war brüchig. Du hast mir dieses verdammte Video geschickt. Ich habe es gesehen, klar und deutlich. Du… du hast mich angerufen und mir gesagt, was ich tun soll!“ Sie trat einen Schritt zurück, als ob sie vor ihm zurückwich, als würde seine leere Erklärung sie noch mehr erschüttern. „Du hast es mir geschickt, und jetzt tust du so, als wäre alles in Ordnung? Du lügst!“ Sie zog ihr Handy aus der Manteltasche, entsperrte es mit einer schnellen Bewegung und hielt es ihm hin.

Da war die Nachricht. Sein Name. Sein Bild. Die Worte, unmissverständlich:

„Unter der Fußmatte ist ein Umschlag. Bringe ihn mir.“

Pfeiffer starrte auf den Bildschirm, als würde er ihn verschlingen. Es fühlte sich an, als würde jemand seine Lungen zusammendrücken. „Ich… ich war das nicht“, stammelte er schließlich.

„Wirklich?“ Maria trat einen Schritt näher, ihre Stimme bebend. „Und wer dann, Christian? Wer?“

Seine Hände zitterten so sehr, dass der Umschlag fast zu Boden fiel, als er ihn aufriss. Ein Zettel kam zum Vorschein, darauf mit krakeliger Schrift geschrieben:

„Allerletzte Chance. Sonst ist sie tot! Lade das Video hoch. Jetzt. Du hast diesmal 1.000 Sekunden.“

Pfeiffer schüttelte den Kopf. „Ich habe es doch schon hochgeladen“, flüsterte er.

„Ich verstehe nicht“, Maria starrte ihn an.

„Das Video… von dem alten Mann. Der Selbstmord…“

„Was für ein alter Mann?“ Ihre Stimme war jetzt nur noch ein Hauch, doch ihre Augen wurden größer. „Christian, ich habe das Video gesehen. Da war kein alter Mann.“

„Doch! Ich habe es auch selbst gesehen! Der bärtige Mann…“

„Nein! Das Video zeigt eine Frau. Sie stand vor einer großen Kirche. Sie war verzweifelt, wollte Geld, doch der Pfarrer gab ihr nichts.“

Die Nacht war wieder still geworden. Das blaue Flackern der Polizeisirenen war längst erloschen, das leise Murmeln der Beamten verklungen. – alles war verstummt, nur die Kälte der Nacht und die bedrückende Leere blieben. Der tote Körper war fort, abtransportiert in einem Leichensack. Doch seine Präsenz schien das Haus immer noch zu durchdringen, wie ein Schatten, der sich an den Wänden festgekrallt hatte.

Berger saß in seinem Sessel, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Händen verborgen. Neben ihm stand eine halb geleerte Flasche Whisky, die er in der Hoffnung geöffnet hatte, seine Nerven zu beruhigen. Es hatte nichts gebracht.

Es war ein langer Tag gewesen, durchzogen von der zermürbenden Präzision der polizeilichen Befragungen. Die Kommissarin, eine Frau mit eisernen Zügen und einem Namen, der zur Jahreszeit passte– Schattengrau – hatte keine Milde gezeigt. Ihre Fragen waren unnachgiebig, „Wer war der Junge mit der Kamera?“ hatte sie gefragt. „Warum hat er alles aufgenommen? Wo ist er jetzt, und wo ist das Video?“ Fragen, auf die er keine Antwort hatte. Dorothea hatte nichts gesehen, oder wollte nichts gesehen haben.

Jetzt war Dorothea in der Küche, ihre Schritte waren leise, fast geisterhaft, während sie ziellos hin und her ging. Als sie schließlich ins Wohnzimmer trat, war ihre Stimme brüchig und kaum hörbar. „Er ist tot“, sagte sie. „Ein Mann hat sich vor unserer Tür erschossen, und jetzt… jetzt ist er einfach weg.“

Berger hob seinen Kopf und schnaubte. „Und dieser Feigling, der gefilmt hat, ist auch weg! Einfach weggelaufen.“ Seine Augen glommen wie Kohlen. „Es war alles ein verdammtes Theaterstück.“

Dorotheas Blick wurde kalt und durchdringend. „Ein Theaterstück?“ Ihre Stimme bebte. „Ein Mann ist tot, Richard! Und du redest von einem Theaterstück? Was ist aus dir geworden?“

Er wich ihrem Blick aus, griff nach dem Glas, trank. „Der Typ war ein Niemand“, murmelte er.

„Er war kein Niemand!“ Dorotheas Stimme erhob sich, und ihre Augen funkelten vor ungezähmtem Zorn. „Er hat alles gesehen. Er hat gesehen, wie…“ Sie stockte, als wollte sie einen Namen nennen, hielt inne und fuhr leise fort: „…wie der Alte zerbrochen ist. Zerbrochen, weil du ihn abgewiesen hast!“

Berger fuhr auf, seine Stimme scharf. „Was hätte ich tun sollen? Er war ein Irrer, Dorothea! Mit einer Waffe in der Hand! Ich konnte ihn nicht einfach einladen und fragen, wie es ihm geht.“

Dorothea trat einen Schritt näher. „Er wollte nur, dass du ihn anhörst. Mehr nicht. Aber stattdessen hast du ihn in den Tod geschickt!“

Berger sprang auf, die Bewegungen fahrig, die Fäuste geballt. „Was erzählst du für ein Schwachsinn? Letzte Zeit verstehe ich dich nicht mehr. Das war nicht meine Schuld. Was immer ihn hierhergebracht hat – es hatte nichts, verdammt noch mal, nichts mit mir zu tun!“

Ein Vibrieren unterbrach die explosive Spannung. Eine Nachricht. Berger spähte misstrauisch auf Dorotheas Handy. „Wer schreibt dir so spät?“ fragte er argwöhnisch.

„Maria“, antwortete Dorothea.

„Maria? Unsere neue, ach so hübsche Gemeindereferentin? Die, mit der du in diesen Kirchenrunden abhockst?“ Berger setzte sich wieder, lehnte sich zurück, die Whiskyflasche fest umklammert, und musterte Dorothea mit einem Blick, der zwischen Spott und Abscheu schwankte. „Was macht ihr da eigentlich? Betet ihr um bessere Zeiten? Oder plant ihr gleich die nächste Revolution?“

Dorothea schnaubte, doch er ließ ihr keine Gelegenheit zur Antwort. „Mir wurde zugetragen,“ lallte er, „dass sie alle zur Nächstenliebe bekehren möchte!“ Er brach in ein schiefes, bitteres Lachen aus. „Das ich nicht lache! Was will sie wirklich, Dorothea? Die Welt retten? Mein Busunternehmen ruinieren, weil ich angeblich die Umwelt verpeste? Kapitalismus abschaffen?“ Er nahm einen weiteren tiefen Schluck, diesmal direkt aus der Flasche. „Oder vielleicht Frauenrechte in der Kirche stärken? Ja, genau! Will sie Priesterin werden? Alles lächerlich!“

Dorothea ignorierte seine Worte, ihre Miene spiegelte blankes Entsetzen wider. Ihre Arme sanken langsam an ihre Seiten, während sie ihn unverwandt ansah. „Das Video, Richard,“ sagte sie schließlich. Es wurde veröffentlicht. Und es geht… viral.“

Der Automat sprang auf Rot.
„Parkzeit abgelaufen.“ Las der Mann hinter dem Steuer.
Er hatte genug gesehen. Nichts Neues, nur wieder jemand, der seine Chance auf Wahrheit vertan hatte. Er beendete den Anruf und startete den Wagen. Eine grüne Welle spülte ihn an den Rand der Stadt in ein weniger exklusives Wohnviertel. Hier hatte sich in all den Jahren nichts verändert. Er fuhr mit traumwandlerischer Sicherheit an den altbekannten schmutzigen Fassaden, den tabakblinden Fenstern von Uschis Kneipe, der wilden Deponie in der Lücke zwischen sieben und elf vorbei zum Treffpunkt. Der Wagen blieb im raschelnden Laub gegenüber der Schule stehen.
Damals kam ihm alles viel größer vor. Der Mann legte seine Hände um die kühlen Stäbe der Umzäunung und schaute über den Pausenhof. Laub und Abfall wehten über den grauen Asphalt. Der Kreideumriss und das Flatterband waren nicht mehr da. Natürlich nicht. Doch er fand die Stelle augenblicklich. Sie hatte sich in seine Netzhäute gebrannt. Seither sah er alles mit anderen Augen.
„He Sie, was machen Sie da?“ Gellte die Stimme des Hausmeisters über den Hof.
Nur ein kleiner Fisch, dachte sich der Mann. Er löste seinen Griff und schlenderte hinüber in den Park. Damals gab es dort einen Spielplatz. Auf dem Heimweg von der Schule hatten Freddy und er oft … Der Mann ließ den Gedanken los. Er würde nur wehtun. Ihn wütend machen. Doch er brauchte jetzt einen kühlen Kopf. Wie von selbst fanden seine Füße den Weg über die Wiese. Der Zahn der Zeit hatte sich nicht mit dem hölzernen Zaun begnügt. Außer dem kippenverseuchten Sandkasten und einer schiefen Schaukel gab es hier nichts mehr. Kein Ort für Kinder. War es nie. Eilig lief er weiter zur Bank am Mahnmal. Sie hatte keine Sitzfläche mehr. Was solls, auf dieses Dreckding hätte er sich sowieso nie gesetzt. Der Mann schlug den Kragen seiner schwarzen Jacke aus Lederimitat hoch und schaute auf das Smartphone. Fünf vor zwölf. Er grinste.
„Fünf vor zwölf.“ Wiederholte er laut.
Der Gedanke gefiel ihm.
„Bin ich zu spät?“ Fragte der Junge atemlos.
Er war gerannt.
„Nein gar nicht.“
„Und was machen wir jetzt?“
„Wir erhöhen den Einsatz.“ Sagte der Mann.
„Hä?“
„Steig ein. Wir fahren ins Grüne.“
Es war nicht einfach, das Haus der Richterin zu finden.
„Hier sieht alles so gleich aus.“ Sagte der Junge.
Der Mann schaute über die menschenleere Straße des Neubaugebietes. Kleine weiße Würfel mit schwarzen Dächern, ordentlich gepflasterten Einfahrten und Wärmepumpen vor den grauen Türen.
„Hier ist es. Rosenweg eins.“
Die Gründerzeitvilla der Richterin befand sich ganz am Ende der Sackgasse. Im Garten hinter dem schmiedeeisernen Zaun reckten sich alte Bäume in den grauen Himmel. Das Haus der Familie Grundbach trennte sich vom schwarzweißgrauen Einerlei der weniger betuchten Häuslebauer ab, wie Fett von Wasser. Der Mann zog die Waffe aus seinem Holster und entsicherte sie. Ein Schatten huschte über das picklige Gesicht des Jungen.
„Keine Sorge.“ Sagte der Mann. „Du sollst sie ja nur erschrecken.“
„Und warum gerade sie?“
„Weil sie ein scheinheiliges Miststück ist. Sie alle!“ Platzte der Mann heraus.
Der Junge zog den Kopf ein und musterte seine Füße.
„Weil sie mir, nein, weil sie uns allen etwas schuldig ist.“ Sagte der Mann ruhiger.
„Und was ist mit meinen Schulden?“
„Egal wie es ausgeht, ich verspreche dir, in zwei Minuten bist du alle Sorgen los.“
Der Mann drückte ihm die Waffe in die Hand.
„Auf gehts!“

Hoffnung

„Was sehen Sie auf diesem Bild, Frau Markoff?“ Die beruhigende Stimme von Dr. Zimmermann hallte selbst am Morgen nach der letzten Sitzung noch in Julias Gedanken. Es war einer dieser Termine, zu denen sie sich einmal im Monat quälte, nur um am Ende mit einem schlechten Gewissen und einer weiteren Tintenzeichnung auf dem Bett zu liegen.
Sie hatte diese Rorschach-Tests schon immer gehasst und teilte nicht annähernd die gleiche Obsession wie der alte Kauz, der stets so tat, als wären diese Bildchen und Interpretationen der Spiegel zu ihrer Seele. Ihr war bewusst, was er nach all den Jahren am liebsten von ihr hören wollte: Hoffnung. Doch für sie waren es nichts weiter als tiefe Abgründe, die sie nervös machten.
Das Blatt flog in einem hohen Bogen auf den Boden zu den anderen und ihr Blick glitt an die gegenüberliegende Seite des Bettes. Der schwarze Schimmel zog sich über die Hälfte der Wand, breitete sich seit Wochen weiter aus und formte sich zu ihrem persönlichen Rorschach-Test. Julia entwich ein trockenes Lachen. Zimmermann wäre begeistert.
Sie schlug die klamme Decke auf, schlüpfte in ihre abgetragenen Pantoffeln und stieg über einen Haufen leerer Pizzakartons hinüber zum einzig funktionierenden Lichtschalter. Die alte Glühbirne in der Mitte des Raumes benötigte ein paar Sekunden, flackerte, bevor sie mit einem anhaltenden Summen das Chaos der Einzimmerwohnung preisgab. „Verdammte Bruchbude“, murmelte sie und trat gegen einen vollen Eimer Wasser. Sie sah hinauf zur Decke und auf den grauen Fleck , der in ein paar Monaten schon ein neues, schwarzes Bild preisgeben würde. „Hoffnung, hmm?“

Der Wasserhahn in der winzigen Kochnische schlackerte mit jeder Berührung und anstatt Wasser drang lediglich ein spöttisches Gurgeln aus den Rohren. Sie ließ ihren Blick über den ungeöffneten Stapel Briefe gleiten. In einem davon, da war sie sich sicher, hatte man sie darüber informiert es abzustellen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man ihr auch den Strom nehmen würde.
Sie zuckte mit den Schultern und griff nach ihrem Handy. Ein altes Model, abgenutzt und so langsam, dass es sie oft in den Wahnsinn trieb. Doch es war ihr einziger, wertvoller Besitz: ein Portal in eine andere Welt und eine Chance ihrer zu entkommen.
Die verzerrten Buchstaben auf dem gesprungenen Glas waren kaum zu erkennen, aber es reichte aus, um Träume zu wecken, die sie nicht mehr gewagt hätte zu träumen.

Vielen Dank für Ihre Registrierung bei unserem Gewinnspiel. In Kürze werden wir Sie darüber informieren, ob Sie ausgewählt wurden.

Wort für Wort las sie die SMS, vor und zurück, bis sich der weiße Hintergrund in ihren Verstand brannte.
Wie lange es wohl dauern würde? Im Internet konnte sie nichts dazu finden. Selbst die Anzeige, die vorher noch in roter Schrift auf jeder geöffneten Seite verheißungsvoll geblinkt hatte, war verschwunden.
Womöglich war sie auf Trickbetrüger hereingefallen und hatte ihre Daten an einen modernen nigerianischen Prinzen verkauft. Handynummer, Anschrift, Alter und Geschlecht. Selbst den Gesundheitszustand wollte man wissen. Vielleicht würden eines Nachts vermummte Gestalten kommen, sie betäuben und ihr eine Niere stehlen.
Für eine Sekunde überkam sie ein mulmiges Gefühl, doch sie zwang es mit einem Schluck des trüben Eistees hinunter. Was sollte schon schlimmer sein als das Leben, das sie seit Jahren ertrug?
Sie öffnete die Galerie auf dem Handy. Unter ihrem Zeigefinger verschwammen unzählige Nackt- und Fußbilder, die sie später auf ein Portal online stellen würde. Die gestiegenen Lebenskosten waren mittlerweile zwar auch bei den Perversen angekommen, doch die wenigen Stammkunden, die sie noch hatte, sicherten ihr wenigstens eine kleine Mahlzeit.
Auf dem Screenshot, den sie am Abend zuvor in weiser Voraussicht erstellt hatte, blieb ihr Finger stehen. Die rote Schrift auf schwarzem Grund löste ein warmes Kribbeln aus. „The Challenge – Price of Life: 1 Million Euro Gewinnchance“
Sie kniff die Augen zusammen, um die winzigen Buchstaben darunter zu entziffern. Teilnahme ab 18, Registrierung bindend.
Wenn es tatsächlich ernst gemeint war und keine Organmafia dahintersteckte, dann war das etwas, was das Wort Hoffnung wirklich verdient hatte.
Die Vibrationen in ihrer Hand ließ sie aufschrecken. Am oberen Bildschirmrand flackerte die Vorschau einer neuen Nachricht.
Herzlichen Glückwunsch Julia. Sie sind dabei.
Ihr Herz polterte gegen die Brust und zum ersten Mal seit Ewigkeiten fühlte sie sich wieder lebendig. Es folgte eine weitere Nachricht.
Mit der Teilnahme bestätigen Sie die Spielregeln zu akzeptieren. Ein Widerruf ist nicht möglich. Haben Sie verstanden?
Ihre Finger huschten über das Display. Ja
Ausgezeichnet. Die Anweisungen der Spielleitung müssen zwingend befolgt werden. Jede Abweichung führt zur Disqualifikation. Haben Sie verstanden?
Julia verzog das Gesicht. „Was für eine weirde Scheiße.“ – Ja
Die nächste SMS ließ einige Sekunden auf sich warten.
Vor ihrer Tür liegt eine Tasche. Bringen Sie diese bis 11:00 Uhr zum Paulsplatz. Schauen Sie nicht hinein. Keine Umwege, keine Verspätung. Filmen Sie dabei alles ab dem Startkommando. Haben Sie verstanden?
Sie sah auf die Uhr. 10:13. „Fuck.“
Ihr rechter Daumen zitterte und blieb über dem Senden-Button stehen. Ein Blick auf das Chaos ihrer Wohnung und dem Kunstwerk aus Feuchtigkeit und Schimmel gab ihr den dringend benötigten Mut. „Was soll´s“, sagte sie und drückte auf senden – Ja
Klicken Sie auf den nachfolgenden Link und starten Sie den Livestream. Das Spiel beginnt jetzt
Julia öffnete den blau hinterlegten Link, richtete die Kamera des Handys geradeaus und eilte zur Tür. Im Gehen schlüpfte sie in das letzte intakte Paar Sneakers, zog sich ihren schwarzen Mantel über und trat hinaus.
Auf der Fußmatte, die aufdringliche Vertreter und Zeugen irgendwelcher Sekten mit den Worten Fuck off abschrecken sollte, lag eine neonpinke Umhängetasche in der Größe eines A4-Ordners. Ohne darüber nachzudenken, griff sie das Band und schwang es um ihre Schulter.

Der eisige Wind brannte auf ihren Wangen, während sie so schnell in die Pedalen ihres klapprigen Hollandrads trat, dass ihr schwindelig davon wurde. Immer wieder huschte ihr Blick auf den Bildschirm des Handys. Laut der Anzeige neben dem fröhlich grinsenden Smiley nahm sie an, dass ihr 2879 Personen dabei zusahen, wie sie sich einen Weg durch den dichten Berufsverkehr schlängelte und zig Verkehrsregeln brach. Innerhalb der letzten 15 Minuten waren knapp 1000 Zuschauer dazugekommen. Wer sie wohl waren? Sie schüttelte den Gedanken ab. Es spielte keine Rolle. Doch wenn sie für eine Show hier waren, sollten sie diese auch bekommen. Ein Fußgänger in Anzug und farblich passender Aktentasche wurde unfreiwillig zum Hauptdarsteller, als er während einer Grünphase die Straße überquerte. Im letzten Moment wich er aus und landete in der einzigen Pfütze weit und breit.
«Selbst schuld, Idiot», brüllte Julia. Hätte er keine Kopfhörer in den Ohren gehabt, hätte er ihr Rad hören müssen.

Hinter dem großen Gebäudekomplex ragte der Kirchturm der Paulskirche in den Himmel. 10:43 Uhr. Sie hatte es fast geschafft.
„Sorry für das Gewackel“, stammelte sie in das Mikrofon, während sie über das Kopfsteinpflaster fuhr und dabei immer wieder versuchte, den aufkommenden Menschenmassen auszuweichen. Eine so volle Fußgängerzone war ungewöhnlich, vor allem zu dieser Uhrzeit. Erst, als sie die vielen Polizeiautos und die bewaffneten Einsatzkräfte rund um die Kirche entdeckte, fiel es ihr wieder ein. Den ganzen letzten Tag hatte sie Nachrichten über die bevorstehende Kundgebung des Bürgermeisterkandidaten gehört und irgendwann gelangweilt das Radio ausgeschaltet. Männer wie er interessierten sich nicht für die Probleme von Menschen wie ihr. Da war es nur fair, dass sie nichts auf Politik gab.
Die Masse, die sich rund um den Kirchplatz versammelt hatte, schien das anders zu sehen. „So ein Mist.“
Sie sprang vom Rad, schmiss es an die nächste Hauswand und bahnte sich einen Weg durch die Menge. In ihrer Hand vibrierte es.
Sie haben noch drei Minuten. Begeben Sie sich in die erste Reihe und warten Sie auf weitere Anweisungen.
Zentimeter für Zentimeter schob und quetschte sie sich zwischen den Körpern hindurch, bis sie keuchend und verschwitzt gegen ein Gitter stieß.
„Sehr geehrte Bürger der wundervollen Stadt Frankfurt“, blökte es aus den Lautsprechern neben der Bühne. „Ich darf nun herzlich den Bürgermeisterkandidaten, Herrn Rolf Kohlmeister zu mir bitten.“
Der untersetze Mittfünfziger wurde von einem lauten Beifall begleitet und schleppte sich in einem Watschelgang auf das Podest. Wieder vibrierte es.
Sehen sie nun in die Tasche.
«Moment», sagte Julia und sprach dabei in ihr Handy. «Ich sollte vor 11:00 Uhr die Tasche abliefern. Es ist 10:59 Uhr und ich bin hier. Ich habe gewonnen!»
Jetzt
Widerwillig öffnete sie den Klettverschluss und starrte auf eine Akte mit der Aufschrift: Projekt Kohlmeister – C.P. – Vertraulich. Aus dem braunen Karton ragten Dutzende Blätter hervor, die sie kurz überflog. Reisebuchungen, Zahlungsbelege in schwindelerregenden Summen und ausgedruckten Mails. Dazwischen Bilder verschiedener Personen, darunter auch von Rolf Kohlmeister, leicht bekleidet und degeneriert grinsend inmitten eines Haufens gefesselter Frauen. Schnell klappte sie die Tasche wieder zu. „Was für eine Scheiße geht hier ab?“
Die Antwort kam prompt mit der nächsten SMS.
Schauen Sie unter die Akte.
Für einen Moment überlegte Julia einfach zu gehen. In der Masse unterzutauchen, auf ihr klappriges Rad zu steigen und zurück unter die klamme Bettdecke in ihrem Schimmelhort zu schlüpfen. Doch das Versprechen, die eine Million Euro und die Hoffnung auf ein besseres Leben klammerten sich an das Gitter und ließen ihr keine Wahl. Das kratzende Geräusch des sich auseinanderreißenden Kletts löste eine Gänsehaut aus. Ihre steifen Finger wühlten in der Tasche, gruben sich unter das Papier und stießen auf einen metallenen Gegenstand. Ihre Gedanken rasten und setzten das Puzzle bereits zusammen, bevor die nächste Nachricht kam.
Nehmen Sie die Waffe und ziehen Sie die Sicherung zurück.
Alles um sie herum begann sich zu drehen. Gesichter verschwammen, tanzten als bunte Flecken vor ihren Augen, während Kohlmeisters blecherne Stimme im Hintergrund von Einigkeit und Moral schwadronierte.
„Ihr kranken Wichser“, stieß sie hervor und versuchte, den Livestream auf dem Display zu beenden. Wieder vibrierte es.
Jede Abweichung der Anweisung führt zur Disqualifikation. Ein Gewinn ist somit ausgeschlossen. Wie weit sind Sie bereit, für eine Million Euro zu gehen, Julia?
Versteckte Kamera schoss es ihr durch den Kopf. Irgendein neues, hippes Format eines alten Klassikers, wiederbelebt, um sich dem Zahn der Zeit anzupassen. Und irgendwo stand ganz sicher ein Fernsehteam versteckt und hielt auf ihr von Tränen und Schnodder verunstaltetes Gesicht. Die Zuschauer und Polizisten – alles Schauspieler, die Waffe in der Tasche nur eine Requisite.
„Was … was muss ich tun?“

Richten Sie den Lauf gegen Ihre Schläfe und rufen Sie laut und deutlich folgende Worte: „Erzählen Sie der Welt, wo Sie am 15.02.2023 waren und was Sie dort gemacht haben. Sollten Sie sich weigern ein öffentliches Geständnis abzulegen, werde ich mich vor den Augen aller umbringen.“
Sie haben exakt zwei Minuten Zeit diese Aufgabe auszuführen. Um das Spiel zu beenden, muss entweder ein Geständnis erfolgen, oder der Abzug gedrückt werden

Tränen ließen die Schrift verschwimmen, ebenso die Zahl neben dem gelben Smiley. Fünfstellig war sie, das konnte sie noch erkennen. „Ihr seid doch alle krank!“
Sie haben noch 40 Sekunden.
Ihre Finger umklammerten die Pistole. „Die Waffe ist nicht echt, oder?“
30 Sekunden
Adrenalin peitschte durch ihre Adern und erfüllte sie mit Hitze. „Scheiß drauf“, murmelte sie, stieg mit den Füßen auf das Gitter und öffnete den Klett. Die Waffe lag schwer in ihrer rechten, das Handy auf Rolf Kohlmeister ausgerichtet in ihrer linken Hand. Die eisige Luft brannte in ihrer Kehle, als sie tief einatmete. „Hey Arschloch!“
Ihre Hand wanderte aus der Tasche hinauf zur Schläfe. „Wo waren Sie am 15.02.2023 und was haben sie dort gemacht? Reden Sie oder ich bring mich um!“

Kohlmeisters Augen wurden groß, das Gesicht bleich. Er stammelte, taumelte zurück und hob die Hände. „Sie hat eine Waffe!“
10 Sekunden.
Ihre Stimme zitterte. „Ich brauche ein Geständnis, sofort!“
Die Schauspieler um sie herum schrien, rannten in alle Himmelsrichtungen davon, während die fake Polizisten geradewegs auf sie zustürmten.
Die Zeit ist um. Betätigen Sie den Abzug, um die Aufgabe zu erfüllen und das Spiel zu beenden.
Julia schloss die Augen, dachte ein letztes Mal an den Schimmel, den Stapel ungeöffneter Briefe und an Dr. Zimmermanns Tintenbild. „Hoffnung“, murmelte sie und drückte ab.

Sensationslust

Auf der Straße hatte sich eine Menschentraube um Maria gebildet. Ein Mann kniete neben ihr und fühlte ihren Puls, was eigentlich in dieser Situation völlig irre war. Er schaute hilflos in die Runde, doch niemand bot sich an, ihm beizustehen. Maria lag im Sterben. Aus einer Eintrittswunde mitten in der Brust, pulsierte dunkles Blut, das sich langsam auf den Gehsteig ergoss und eine glänzende, immer größer werdende Blutlache bildete.

Das Getöse des Verkehrs wurde immer lauter. Ein vielseitiges Hupen und Bremsenquitschen, das sich wie ein Echo die ganze Straße entlang ausbreitete, weil Sensationsgeile, blind und ohne Verstand, die Straße überquerten.

Christian kämpfte sich schreiend durch die Menge. Krampfhaft versuchten besessene Gaffer, ihre Plätze zu verteidigen, und hielten ihn am Sakko fest. Doch der Name „Maria“, den er immer wieder aus voller Lunge brüllte, machte auch dem Begriffsstutzigsten klar, den Mann durchzulassen zu müssen. Im inneren Kreis der Menschenansammlung angekommen, lies sich Christian auf die Knie, fallen, nahm Maria in die Arme und wiegte sie, begleitet von einem herzzerreißenden Weinkrampf.

„Machen Sie bitte den Weg frei!“,schrie eine Stimme, die sich durch die Menschentraube arbeitete. Es war ein Polizist, alarmiert von der Menschenansammlung und der dadurch ausgelösten Verkehrsbehinderung. Von Weitem hörte man die Martinshörner herannahender Streifenwagen und Rettungsdienste, die sich durch den Stau quälten.

Der Polizist kniete sich vor Christian, der mittlerweile so blutverschmiert war, dass der Beamte sich nicht sicher sein konnte, ob er nicht ebenfalls verletzt ist. Der Polizist kniete nur stumm da, unfähig, auf den verzweifelten Mann vor ihm einzugehen. Er wandte sich an die Zuschauer:
„Hat jemand den Vorfall beobachtet?“
Die einzige wahrnehmbare Reaktion darauf war, dass die Menschentraube begann sich aufzulösen und in das Blut traten, das mittlerweile in einem kleinen Rinnsal, Richtung Straße floss.
„Es muss doch jemand etwas gesehen haben!“, versuchte er es erneut, jedoch ohne Erfolg. Unzählige Passanten – und niemand will etwas gesehen haben.

Er wandte sich wieder Christian zu:
„Wer sind sie, ist das ihre Frau?“
Er konnte die Einschusswunde nicht sehen, da Christian sie an seinen Körper presste. Als der Polizist versuchte, Maria an der Halsschlagader zu berühren, zog Christian sie besitzergreifend nur noch enger an sich heran. Erschrocken wich der Polizist zurück, der völlig überfordert schien, mit dieser Situation umzugehen.

Mit quietschenden Reifen hielt der erste Streifenwagen. Die Beamten stiegen aus und bahnten sich einen Weg durch die Schaulustigen.
„Zurücktreten, machen Sie den Weg für die Einsatzkräfte frei!“, forderten sie mit Nachdruck. Das forsche Auftreten zeigte Wirkung. Ein Beamter breitete die Arme aus und drängte auch die letzten Unwilligen vom Tatort weg. Sein Kollege ging in die Hocke und fragte:
„Was ist passiert?“ Er schaute in das Gesicht des vollkommen ratlosen Kollegen.
„Ich weiß nicht. Der Mann hier ist nicht ansprechbar, und Zeugen gibt es anscheinend auch keine“, antwortete er kleinlaut und resigniert.

Zwei Sanitäter und ein Notarzt kamen dazu.
„Der Mann steht anscheinend unter Schock“, sagte der Polizist zum Notarzt. „Machen Sie etwas.“ Der Arzt klappte seinen Koffer auf und zog eine Spritze auf. Ein Blick genügte, um die Einschätzung des Polizisten nicht infrage zu stellen.

Christian wiegte Maria immer noch in seinen Armen. Die Spritze, die er bekam, nahm er nicht wahr. Bei jedem Versuch, ihn von Maria zu trennen, klammerte er sie noch enger an sich – wie ein trotziges Kind, dem man die Lieblingspuppe wegnehmen will. Die Spritze begann zu wirken. Das Wiegen wurde langsamer, und schließlich gelang es, die beiden zu trennen. Die Blutung pulsierte nicht mehr. Der Polizeibeamte sah den Notarzt fragend an, der angesichts der Blutmenge, die Maria verloren hatte, nur leicht den Kopf schüttelte. Maria war tot.

Neue Erkenntnisse
Die Vernehmung von Christian Pfeifer war erst am zweiten Tag nach dem Mordanschlag möglich. Der Chefarzt des Krankenhauses hatte Christians Zustand als problematisch eingestuft und ihm mindestens zwei Tage Ruhe verordnet. Der Tod seiner Freundin Maria Lösch hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen.

Der Kommissar Alfons Beermann von der Mordkommission hatte die Ermittlungen übernommen. Aus der pathologischen Untersuchung wusste er bis jetzt nur, dass Maria mit einem Geschoss Kaliber 9 mm aus nächster Nähe getötet worden war. Auch über das Video, das Christian auf den Server der Onlineredaktion FGZ.NET hochgeladen hatte und das nach dem Erscheinen von der Redaktion sofort wieder gelöscht und zur Anzeige gebracht worden war, wusste er Bescheid. Der Zusammenhang, der zum Tod von Maria führte, war ihm aber bis jetzt nicht klar geworden.

Alfons Beermann betrat in Begleitung seines Assistenten Benno Klimm das Krankenzimmer von Christian, der in seinem Bett lag und die Decke anstarrte, und das Eintreten der beiden nicht bemerkte oder nicht bemerken wollte.

„Guten Morgen“, sagte der Kommissar. Keine Reaktion von Christian, der weiterhin nur die Decke fixierte.

„Ich bin Kommissar Alfons Beermann, und das ist mein Assistent Benno Klimm. Ich habe den Fall Maria Lösch übernommen.“

Sofort liefen bei Christian Tränen über das Gesicht – Tränen, die allein der Name Maria auslöste.

„Ich benötige dringend ein paar Informationen von Ihnen. Es ist leider unvermeidlich.“

Christian drehte den Kopf zu ihm und schaute durch ihn hindurch.

„Da draußen scheint ein Wahnsinniger seinen perfiden Trieben nachzugehen, den wir so schnell wie möglich stoppen müssen. Verstehen Sie mich?“ Alfons nahm sich einen Stuhl und setzte sich direkt neben das Bett.

Christian drehte den Kopf wieder zurück und starrte weiterhin die Decke an. Wenigstens, dachte Alfons, war er aufnahmefähig. Ein vorsichtiges Herantasten war jedoch geboten.

„Ich habe das Video gesehen, das Sie hochgeladen haben. Den Umständen nach zu urteilen, vermute ich, taten Sie das nicht freiwillig, oder?“

„Sie vermuten richtig“, sagte Christian. „Dieser Wahnsinnige hat mich dazu gezwungen. Er hat gedroht, meine Freundin zu töten, wenn ich es nicht hochlade.“

„Aber Sie haben es doch hochgeladen?“

„Er hat mir ein Zeitfenster von zwei Minuten gegeben. Es war unmöglich.“

„Sie haben es trotzdem versucht.“

„Ja, aus reiner Verzweiflung.“

„Dann verstehe ich nicht, dass er geschossen hat.“

„Das Video war hochgeladen, aber noch nicht online, als die Zeit um war.“

Christian schien wieder in Panik zu geraten. Es war offensichtlich, dass er es nicht verarbeiten konnte, seine Freundin nicht gerettet zu haben, und sich selbst die Schuld dafür gab. Alfons war klar, dass der Chefarzt mit seiner Einschätzung richtig lag: Christian war völlig neben der Spur. Alfons hatte seine eigenen Erfahrungen durch Verhörmethoden, die einen Menschen so zusetzen können, dass sie komplett aus dem Ruder laufen. Er beschloss, Christian etwas Zeit zu geben.

„Ich hätte Lust auf einen Kaffee. Gibt es hier einen genießbaren?“ fragte Kommissar Alfons Beermann.

„Ich glaube, in der Cafeteria. Sie dürfte nicht weit sein, ich kann ihn riechen, wenn er frisch aufgebrüht wird.“

„Trinken Sie einen mit?“

Christian nickte leicht, und Alfons registrierte ein kleines, wenn auch nur sehr kurzes Lächeln.

„Möchten Sie etwas dazu? Kekse oder so etwas?“ Auch dieses Mal nickte Christian leicht. Alfons gab seinem Assistenten mit einer Kopfbewegung ein Zeichen, und Benno Klimm stand auf und verließ das Zimmer.

„Wissen Sie“, fuhr Alfons fort, „ich bearbeite auch den Fall, von dem Sie das Video hochgeladen haben.“ Christian wurde aufmerksamer.

„Das war die gleiche Stimme wie am Telefon“, erwiderte Christian.

„Sind Sie sich da sicher?“, fragte Alfons nach.

„Ja.“ Christian nickte.

„Leider sieht man ihn auf dem Video nicht, da er ja gewissermaßen die Kamera ist, aber wir haben eine gute Beschreibung von ihm und auch ein Phantombild anfertigen lassen.“ Alfons zog ein gefaltetes Blatt Papier aus seiner Brusttasche, faltete es auf und reichte es Christian, der es aufmerksam betrachtete.

„Bitte bedenken Sie, dass es nur eine Phantomzeichnung ist. Suchen Sie nur nach Ähnlichkeiten. Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?“

Nach kurzer Zeit schaute Christian wieder auf.

„Tut mir leid, ich kann keine Ähnlichkeiten mit irgendwelchen Personen feststellen, die ich kenne.“

„Sie müssen ihn nicht in Ihrem Bekanntenkreis suchen. Wir haben Profiler, die unschwer analysieren konnten, dass die beiden keine Geistesblitze waren. Ihr Wortschatz war eingeschränkt. Das Auftreten der beiden erinnert mich an ‚Süßes oder Saures‘. Es gibt dumme Menschen, deren Selbstbewusstsein grenzenlos ist. Ein Kollege von mir äußerte einen Verdacht, weil er mit dem Selbstmord überhaupt nicht klarkam, und sagte zu mir: „Stell dir vor, der Selbstmörder ging davon aus, die Waffe sei nicht geladen, und sie stammte von dem, der mit dem Handy filmte.“

„Ein ganz neuer Ansatz. Sie meinen, das könnte so gewesen sein?“, fragte Christian.

„Wer weiß … Das mit dem Selbstmord ist schließlich vollkommen irrsinnig.“

Die Tür ging auf, und Benno kam herein. Er hatte es wieder gut gemeint: ein Tablett mit zwei Kännchen Kaffee, drei Tassen und rechts und links in den ausgebeulten Sakkotaschen Tüten mit Keksen. Er musste selbst über sich grinsen, als er die Tür mit dem Fuß zuschlug.

„Sie hatten nur Kuchen. Ich musste Kekse in Tüten kaufen. Ich habe, glaube ich, eine gute Wahl getroffen.“ Er stellte das Tablett auf dem kleinen Tisch vor dem Fenster ab und begann, den Kaffee einzuschenken.

„Wo sind wir stehen geblieben? Ach, fällt mir wieder ein … Wissentlich begangener Selbstmord möchten wir gerne ausschließen. Auf dem Video sieht man, dass der mit der Kamera vor dem Schuss einen Schritt zurücktritt, was auch bedeuten könnte, dass er wusste, dass die Waffe geladen war.“

Christian war wieder voll da, wie ausgewechselt. Das Gespräch brachte ihn auf andere Gedanken.

„Steht denn die Identität des Toten schon fest?“, fragte Christian, bei dem der Journalist wieder erwachte.

„Nein, bisher nicht. Wir haben aus dem Video leider nur Profilbilder von diesem Mann, außer wenn er am Boden liegt, aber da fehlt ihm der Unterkiefer. Die Bilder kennen Sie ja aus dem Video. In der Pathologie versucht man, den Unterkiefer zu rekonstruieren. Wenn das keine brauchbaren Ergebnisse bringt, muss er digital ersetzt werden, um ein Frontalbild zu erstellen. Wir vermuten, dass dieser Mann aus der Obdachlosenszene stammen könnte, was an seiner Kleidung und seinem mehr als ungepflegten Äußeren abzulesen war.“

„Kommen Sie, setzen wir uns.“
Der Kommissar stand auf und ging zum Tisch. Christian war ein wenig gehandicapt und wickelte seine Zudecke um sich.

„Entschuldigung, aber ich habe keine Kleidung mehr, und das Hemdchen, das ich anhabe, ist hinten offen. Ich habe das Personal gebeten, meine Kleidung zu entsorgen. Ich kann und will sie nicht mehr tragen.“

„Das kann ich verstehen. Ich kann Ihnen anbieten, dass ein Beamter bei Ihnen zu Hause vorbeifährt und Ihnen Kleidungsstücke holt.“

„Das ist nicht nötig. Eine Krankenschwester besorgt mir in ihrer Mittagspause einen Trainingsanzug, Socken und ein paar Turnschuhe.“

„Das nenn ich mal einen Service.“ Christian grinste zufrieden und griff zu den Keksen. Alfons schlürfte seinen Kaffee und lächelte. Er war zufrieden – ein Arzt hätte es nicht besser machen können, dieses Häufchen Elend, das Christian noch vor kurzem gewesen war, wieder auf die Beine zu stellen.

„Kann man trinken. Sehr gut. Ich hasse Kaffeeautomaten“, sagte Alfons.

„Wenn ich da an meine alte, vergilbte Kaffeemaschine im Büro denke, wo ich ein Warnschild aufgeklebt habe: Bitte Kanne nur mit klarem Wasser ausspülen, um das Aroma zu erhalten. Den Tipp hat mir mal ein alter Spanier gegeben“, sagte Christian und lächelte den Kommissar an.

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und der Chefarzt streckte seinen Kopf herein.
„Alles in Ordnung bei euch?“

„Alles gut, wie Sie sehen können“, erwiderte der Kommissar.

Das Telefon. Schon wieder dieses verdammte Telefon.
Berger saß an seinem Küchentisch, stumm vor sich hin starrend, eine Tasse Kaffee neben sich. Konnte man irgendeine Situation als „die Hölle“ bezeichnen, dann hatte er sie die letzten Stunden mehrmals durchschritten.
Der Selbstmord, die Leiche, die Sanitäter, der Leichenwagen, die Polizei, die unangenehmen Fragen, die Psychologen. Alles hatte er überstanden. Dann rollte die zweite Welle der Hölle an. Nachbarn, Bekannte, die langsam in immer größerer Zahl auftauchenden Unbekannten, teils Journalisten irgendwelcher Käseblättchen, teils Freunde von Bekannten, mit den immerselben Formulierungen von wegen „habe gehört, dass“ und „wir kennen uns zwar nicht, aber wenn sie reden wollen“.
Kam ihm diese zweite Welle schon groß vor, brach nun der Tsunami los.
Irgendeinem karrieregeilen Journalisten hatte man das Video zugespielt und dieser hatte es prompt auf die Seite einer online-Zeitung hochgeladen. Jetzt war kein Halten mehr. Ohne Unterlass klingelte es. An der Tür, auf seinem Festnetzanschluss, seinem Handy. Selbst das seiner Frau läutete durchgängig.
Er hätte alles ausstöpseln oder lautlos stellen können, aber dann war es leise gewesen und in der Stille hörte er immer und immer wieder den Schuss und das Geschreie danach. In diesen Momenten sah er es auch direkt wieder vor sich. Das Blut, den angstverzerrten Ausdruck im Gesicht des sterbenden Mannes, die wütende Fratze des schreienden Filmers.
Er hatte die Wahl zwischen Pest und Cholera. So entschied er sich für das Klingeln.
Aber auch dieses wurde ihm bald zu viel.
Es war die Enge des Hauses, der er entfliehen musste. Nur wie? Draußen war alles belagert von Schaulustigen. Kaum öffnete er die Tür, ging ein ohrenbetäubendes Geschreie los, weil jeder der Erste sein wollte, der ein Interview bekäme.
Ein neuer Klang mischte sich unter die Kakophonie der bisherigen nervtötenden Geräusche: das Martinshorn eines Krankenwagens.
Jedoch wurde es nicht wieder leiser, sondern blieb in höchster Intensität bestehen, als stünde der Wagen direkt vor seiner Tür. Er lugte durch die zugezogenen Vorhänge und entdeckte zu seiner Überraschung, dass sein Gehör ihn nicht in die Irre geführt hatte. Das Auto war rückwärts die Einfahrt hochgekommen und stand keine zwei Meter entfernt vor seiner Tür.
Hastig wurden vorne und hinten Türen aufgerissen, Männer mit Notarztkluft und riesigen roten Rucksäcken sprangen heraus, zogen eine klappbare Trage heraus und kamen eiligen Schrittes auf die Haustüre zu. Es klopfte.
Überfordert von der unerwarteten Situation öffnete Berger ohne nachzudenken.
Ein Blitzlichtgewitter setzte ein. Vor dem Zaun zu seinem Grundstück hatten sich zahllose Fotografen in Position gebracht, die auf das beste Foto für den nächsten reißerischen Bericht warteten. Nun witterten sie ihre Chance und drückten wie wild die Auslöser ihrer Kameras.
Die rot-weißen Männer kamen herein und schlossen die Türe hinter sich.
Während er sie noch ratlos anstarrte, packte ihn einer der Notärzte am Hals und drückte ihn rückwärts an die Wand. Die anderen beiden stellten sich recht uns links daneben, bereit, jeden Moment zu reagieren. Ihrer Statur zufolge sahen sie aus der Nähe nun weniger aus wie Sanitäter. Sie hatten breite Schultern und dicke Arme. Jeder hätte gut als Türsteher eines Clubs durchgehen können. Außer dem Mann in der Mitte. Dieser war eher normal gebaut. Jedoch war das Momentum auf seiner Seite, weswegen er nun in der Position war, Berger ruhiggestellt zu haben.
Er drückte sich an ihn, die Hand weiter fest an seinem Hals. „Hör mir genau zu“, raunte er und kam mit dem Mund direkt neben Bergers Ohr. „Dir wird nichts passieren. Es sind nur zu viele Richtmikrofone hierher gerichtet, als dass wir unendlich Zeit hätten, herumzuschreien. Ich erzähle dir jetzt, wie es weitergeht, und du wirst nichts anderes tun als das, was ich dir sage.“
Berger bekam kaum Luft. Natürlich würde er nichts anderes machen können.
„Du legst dich jetzt hier auf die Trage, wir legen ein Tuch über dich und bringen dich ins Auto. Weder wirst du dich wehren, noch bewegen, etwas sagen oder schreien.“
Panik stieg in Berger auf. Diese Typen wollten ihn tatsächlich entführen. Er nahm all seinen Mut zusammen und zog mit aller Kraft mit einem Ruck sein Knie nach oben.
Der Treffer saß. Die Hand um seinen Hals löste sich, der Unbekannte krümmte sich vor Schmerzen.
Dachte Berger eben noch, dass er damit entkommen könnte, trafen sofort von beiden Seiten zwei Hände auf ihn und pressten seinen Körper wie Schraubzwingen an die Wand. Die Guards hatten ihn an der Schulter gepackt, einer rechts, einer links. Es gab kein Entkommen. Vor Wut zuckte er noch einige Male und versuchte, sich zu befreien, aber gegen diese schiere Übermacht an Muskeln war er machtlos.
Heftig atmend richtete sich der Anführer wieder auf, den Schmerz in seinem Unterleib verdauend.
„Du willst sicher klaren Verstandes hier herauskommen und nicht weggetreten, oder? Wir werden in einer Minute hier raus sein, mit dir zusammen. Wenn du nicht kooperierst, schlagen wir dich bewusstlos.“
Berger nickte, soweit es die wieder fester zupackende Hand an seinem Hals zuließ.
War es eben noch ein Wunschziel gewesen, hier herauszukommen, brannte nun kein größerer Wunsch in ihm, als hierbleiben zu können. Aber er konnte sich den drei Männern gegenüber nicht wehren. Es war aussichtslos.
Würde die Hand noch ein wenig weiter drücken, würde er das Bewusstsein verlieren. Also musste er klein beigeben und ihre Forderung erfüllen, wenn er wenigstens eine minimale Chance haben wollte zu fliehen.
Wie in Trance legte er sich auf die Trage, sie schnallten ihn fest, legten ein weißes Tuch über ihn und rollten hinaus ins Auto. Als sie gerade durch die Haustüre fuhren, fiel ihm noch etwas ein.
„Meine Frau…“ Sofort fühlte er eine bleierne Hand auf seinem Mund, die ihm fast die Luft zum Atmen nahm.
Er fühlte, wie das Untergestell der Rolltrage in die Schienen des Krankenwagens einrastete und er hineingeschoben wurde, hörte die Türen zufallen und den Wagen losfahren.
Mit atemberaubender Beschleunigung und Martinshorn rasten sie durch Frankfurt. Wäre er nicht festgeschnallt gewesen, es hätte ihn mehrmals durch den Raum gewirbelt.
Zu Beginn konnte er anhand der Bewegungen noch die Straßen nachverfolgen, die sie fuhren, dann verlor sich sein Orientierungssinn irgendwo in den Außengebieten Frankfurts.
Ohne Vorankündigung bremste der Wagen abrupt ab und kam zum Stehen. Das Tuch wurde entfernt und die Fesseln lösten sich.
„Guten Tag Herr Berger. Pfeiffer mein Name. Entschuldigen sie den Überfall, aber ich sah keine andere Chance als diese. Wir müssen reden.“