Schema F
Im sterilen Treppenhaus des frisch renovierten, interdisziplinären Forschungstraktes stieg Dr. Sibylle Martínez müde die stählernen Stufen hoch. Selbst wenn ihr regelmäßig – so auch heute – spätestens in der dritten Etage die Luft wegblieb, kam eine Fahrstuhlfahrt für sie nicht mehr infrage. Zu oft war sie in der Vergangenheit mit einem ihr mehr oder weniger gut bekannten Kollegen in der kleinen, fensterlosen Kabine hinaufgefahren und hatte die misstrauischen Blicke ertragen, die sie nun seit fast einem Jahr in den Fluren des Instituts ständig begleiteten. Noch immer versetzte es ihr einen Stich, wenn sie daran dachte, wie sich der Umgang mit ihr von heute auf morgen verändert hatte. Respekt und Anerkennung angesichts ihrer akademischen Leistungen waren Skepsis und Argwohn gewichen. Anfangs hatte es vereinzelt noch ein mitleidiges Schulterklopfen oder neugierige Fragen gegeben, aber da sie keine davon je beantworten wollte oder konnte, gehörte dies nun der Vergangenheit an.
Das Treppenhaus hatte sie in der Regel ganz für sich allein. Dr. Martínez blieb kurz stehen, um einen Blick aus einem der bodentiefen Fenster heraus auf den östlichen Campus zu werfen. Die Sonne tauchte Wege, Wiese und die Sitzbänke in ein angenehmes warmes Licht. Personen standen in kleinen Gruppen zusammen, unterhielten sich, lachten und trennten sich winkend wieder voneinander.
Er könnte mitten unter ihnen sein. Wenn sie besser aufgepasst hätte, könnte er jetzt dort draußen stehen und mit seinen Kommilitonen über die letzte Vorlesung oder die nächste Prüfung plaudern? Sie wusste es nicht. Ihr wacher Geist, der sich in ihrem Berufsleben als so nützlich erwiesen hatte, quälte sie nun unaufhörlich mit Fragen nach dem Wie und nach dem Warum. Fragen nach der Schuld und nach dem Auslöser, den sie einfach nicht finden konnte.
Oben vor ihrem Büro wartete schon Jannek, ihr langjähriger Assistent, auf sie. Er balancierte drei Kaffeebecher in der einen und einen Stapel Hauspost in der anderen Hand.
»Guten Morgen. Die Dekanin ist heute außer Haus, daher habe ich mir erlaubt, Ihren Donnerstagstermin schon für heute einzuladen.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
»Danke, Jannek.« Dr. Martínez nickte anerkennend. Sie hatte ihm eingeschärft, diskret vorzugehen, wenn sie sich Nachforschungen widmete, die beim besten Willen nichts mit ihrem eigentlichen Forschungsgebiet zu tun hatten. Solange sie die üblichen Vorlesungen weiterhin hielt und wenigstens kurz bei den wichtigsten Gremiensitzungen auftauchte, ließen sie ihre Vorgesetzten weitgehend in Ruhe.
»Um wie viel Uhr kommt der Journalist?«, fragte Dr. Martínez, während sie durch ihr Büro zu den Fenstern schritt, um Sauerstoff in den stickigen Raum zu lassen.
»Er müsste in circa zehn Minuten da sein«, entgegnete Jannek und schob einen der Kaffeebecher über den Tisch auf sie zu. Er arbeitete inzwischen seit über drei Jahren für sie und war einer der wenigen Menschen im Gebäude, in dessen Gegenwart sie sich halbwegs normal fühlte. Ein großer Pluspunkt war, dass ihn das Getratsche im Institut nicht die Bohne zu interessieren schien.
»Ich habe Ihnen vorhin eine Mail weitergeleitet«, sagte Jannek. »Angehängt ist eine Aufnahme von dem Tod der Frau, aber diesmal aus einer anderen Einstellung. Dorian aus der IT hat sie über einen seiner Kontakte beschaffen können.«
Dr. Martínez fuhr hastig den PC hoch, setzte ihre randlose Lesebrille auf und sah sich das Video an. Leider machte es nicht den Eindruck, als könnten sie durch die veränderte Perspektive neue Erkenntnisse gewinnen.
»Vielleicht zeigen Sie die Aufnahme gleich dem Journalisten«, schlug Jannek vor.
»Ich glaube nicht, dass sich ein Video vom Tod seiner Freundin als Eisbrecher eignet«, erwiderte Dr. Martínez mit hochgezogener Augenbraue. »Wer will so etwas schon sehen«, fügte sie leiser hinzu. Ihr Blick wanderte zu der Fotografie, die links neben ihrem Schreibtisch auf dem vollgestopften Bücherregal lehnte. Da stand er, am Tag seines Abiballs, den Arm um sie gelegt und ein Lächeln im Gesicht. War er damals glücklich gewesen? Sie vermochte es nicht mehr zu sagen. Es kam ihr vor, als hätte die stolze Mutter auf dem Foto nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit der Frau, die ihr täglich aus dem Spiegel entgegenblickte. Die schlaflosen Nächte, die sie mit Grübeln verbrachte, zollten langsam ihren Tribut.
Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Die Klinke wurde zögerlich heruntergedrückt und ein Mann, vielleicht ein paar Jahre älter als sie, trat herein. Er trug ein knitteriges, braunes Sakko und friemelte fahrig an dem Griff seiner schwarzen Aktentasche herum.
»Sie müssen Herr Pfeiffer sein«, begrüßte Dr. Martínez ihren Gast, »schön, dass Sie gekommen sind. Mein Name ist Sibylle Martínez, mit meinem Assistenten Jannek hatten Sie ja bereits Kontakt. Bitte, setzen Sie sich doch.«
»Ich weiß, wer sie sind«, sagte der Journalist und nahm auf einem der ledernen Besucherstühle Platz.
»Mit Milch und Zucker oder lieber schwarz?«, fragte Jannek und deutete auf die beiden übrigen Kaffeebecher.
»Schwarz, danke«, erwiderte Christian Pfeiffer und nahm den Pappbecher ungelenk entgegen. Er räusperte sich. »Also, Sie wollen mit mir über die Sache sprechen?«
»Ja. Wir hatten gehofft, dass wir uns gegenseitig weiterhelfen können. Wie Sie offenbar schon wissen, habe ich ein persönliches Interesse daran, der Sache auf den Grund zu gehen«, erklärte Dr. Martínez. »Ich habe gehört, dass Sie sich ebenfalls mit Nachforschungen beschäftigen, daher-«
»Woher wissen Sie das?«, unterbrach sie Pfeiffer mit gerunzelter Stirn.
»Als Journalist werden Sie sicher Verständnis dafür haben, dass ich meine Quellen nicht immer preisgeben kann«, erwiderte Dr. Martínez. »Irre ich mich, was Sie betrifft? Haben Sie mit der Sache bereits abgeschlossen?«
»Nein, das könnte ich nicht«, gab der Journalist zu und nahm einen kleinen Schluck aus dem Kaffeebecher. Missbilligend verzog er das Gesicht. »Na ja, ich nehme an, es spricht nichts dagegen, sich auszutauschen. Aber mir wäre es lieber, wenn wir unter vier Augen sprechen.«
Dr. Martínez warf Jannek einen entschuldigenden Blick zu. Ihr Assistent griff sich einen der Ordner mit Studienleistungen, die dringend korrigiert werden mussten, und verließ ohne Widerworte den Raum. Sie machte sich in Gedanken eine Notiz, ihm bei Gelegenheit eine Gehaltserhöhung anzubieten.
»Wir sammeln seit fast einem Jahr Hinweise, recherchieren, prüfen Zeugenaussagen und untersuchen sämtliche Aufzeichnungen der Vorfälle, die wir in die Finger bekommen«, sagte Dr. Martínez. »Doch je tiefer man gräbt, desto mehr Fragen tauchen auf. Es ergibt einfach keinen Sinn. Und die Polizei ist keine große Hilfe.«
»Es läuft immer nach demselben Schema ab«, meinte Christian Pfeiffer. »Außer bei Maria. Sie passt nicht ins Bild, oder?«
Dr. Martínez nickte. »Richtig, sie war das einzige weibliche Opfer. Und auch das einzige mit einer persönlichen Beziehung zu einer Person, der gedroht wurde.«
»Denken Sie auch, dass sie der Schlüssel zu allem sein könnte?«, fragte er.
»Das hoffe ich«, stimmte Dr. Martínez ihm zu. »Deshalb habe ich mich an Sie gewandt.«
»Verstehe«, murmelte er. »Ich habe in Marias Vergangenheit gegraben und bin dabei auf etwas gestoßen. Meine einzige heiße Spur bisher.«
»Das ist immerhin eine mehr, als ich nach all der Zeit aufzuweisen habe«, seufzte sie.
»Sagt Ihnen …«, Christian Pfeiffer zögerte, »sagt Ihnen der Name Chromortia etwas?«
»Nein, leider nicht.«
Er wirkte enttäuscht.
»Sie müssen mir versprechen, dass die Informationen, die ich Ihnen gebe, diesen Raum nicht verlassen. Sie dürfen darüber mit niemandem sprechen. Auch nicht mit Ihrem übereifrigen Assistenten da draußen. Geben Sie mir Ihr Wort!«, forderte er sie nachdrücklich auf.
»In Ordnung. Ich werde mit niemandem außer Ihnen darüber sprechen.« Dr. Martínez blickte ihn gespannt an. War das nun endlich der Durchbruch, auf den sie so lange hatte warten müssen?
Der Journalist öffnete seine Aktentasche, zog ein Handy mit einem zersplitterten Display und ein unscheinbares graues Heft hervor und legte beides auf dem Tisch ab.
»Was Sie gleich hören, wird Ihnen aber nicht gefallen«, meinte er.