Leseprobe - 3 - Die zwölf Nächte von Wien

Schottenring
Pawlak knallte den Telefonhörer auf die Gabel und trommelte auf der Schreibtischunterlage das Estuans Interius von Orff. Ein sicheres Zeichen dafür, dass ihm etwas sehr gegen den Strich ging. Endlich sprang er auf. »Mattheus!«
»Ja, Chef?« Wenn der Pawlak über den Gang hinweg brüllte, hieß es flink sein, sonst kam er herüber und dann war Zeus im Zorn ein neugeborenes Lamm gegen den Herrn Oberst.
»Wollen Sie mir gütigst erklären, wieso wir im Moment ein Überangebot an Mordfällen haben?«
»Entschuldigen Sie bitte, aber ich versteh nicht ganz …«
»Wir haben eine Leich’ im Pappelteich …«
Bei jeder anderen Gelegenheit hätte Juliane über den Vers gelächelt, aber nicht jetzt, nach zweieinhalb Stunden leichtem Schlaf auf der Bereitschaftspritsche und mit dem dringenden Bedürfnis nach einer heißen Dusche und ihrem eigenen Bett.
Pappelteich
»Der Pappelteich« klingt als Ortsangabe fast schon romantisch. In Wahrheit handelt es sich um ein ehemaliges Militärschwimmbad in Wien-Mauer. Auf Bezirksfremde wirkt es eher wie ein verwahrloster Swimmingpool oder wie ein, allerdings ohne besonderem Einfühlungsvermögen, gestaltetes, künstliches Biotop, bestehend aus drei Betonrändern und einer Seite aus Steinplatten. Meist bedecken Schilf, Seerosen und Sumpfgras vier Fünftel der Oberfläche und immer wieder liegt Totholz darin – ein pittoresker Anblick.
Trotzdem hat das Ganze keinerlei Ähnlichkeit mit einem Teich, denn es fehlt ihm das Weiche, Verwaschene, Verwunschene eines richtigen Teichs, und so ist und bleibt es halt nur ein rechteckiges Bassin in der Landschaft.
Revierinspektor Seiberl, der auf das Eintreffen der Zeugin und seiner Kollegen wartete, würde sich allerdings hüten, diese Kritik einem Bewohner von Mauer gegenüber laut zu äußern. Er kannte die Maurer und hatte sich schon des Öfteren ihren Lieblingsspruch anhören dürfen: »Mauer liegt am Pappelteich und rundherum liegt Österreich!«. Abgesehen von diesen chauvinistischen Anwandlungen waren sie jedoch ein liebenswertes Völkchen. Während er seine Hände in den Winterhandschuhen aneinander rieb und seine Runden um den Streifenwagen drehte, weil es wirklich grausam kalt war, träumte er ein wenig davon, wie überaus angenehm es sein musste, hier an einem lauen Sommerabend auf den Wiesen unter den Bäumen bloß so die Seele baumeln zu lassen oder nach einer ausgedehnten Wanderung ein abschließendes Picknick zu genießen.
Andererseits jedoch braucht es im Herbst nur ein klein wenig Nebel und schon führt der Anblick des Areals mit den laublosen, braungrauen Gerippen der Sträucher und den großteils kahlen Baumgruppen zuverlässig zu Depressionen.
Und im Winter kommt man nur mehr wohl oder übel hierher. Also wenn man zum Beispiel in der Gegend wohnt und einen Hund gassiführen muss.
So wie die Zeugin, eine Frau Lotte Hensch, ihren Buberl. Sie hatte kurz nach neun Uhr morgens im Polizeikommissariat Wien-Liesing angerufen, um ihre Beobachtung zu melden, und Revierinspektor Seiberl war losgefahren, um sich die Sache anzusehen.
Als er damit fertig war, hatte er ein vorläufiges Absperrband gespannt, seinen Vorgesetzten im Kommissariat verständigt und der wiederum hatte die Truppen in Bewegung gesetzt. Einen Taucher, die Spurensicherer und den Diensthabenden im LKA.
Nun umkreiste der Herr Revierinspektor wartend ein ums andere Mal seinen Dienstwagen, den er unter einer Pappel abgestellt hatte, inhalierte die morbide Stimmung eines überaus trübseligen frühen Donnerstag-Vormittags und blickte gelegentlich zum Teich hinüber. Das Sumpfgras darin war lange schon verschwunden und hatte die Seerosen samt ihren Blüten mitgenommen. Tief betrauert wurde der Verlust von einem ungewöhnlich großen, sich über das Ufer zum Wasser hinab neigenden Feld-Ahornbusch.
An den Rändern war etwas dickeres und zerklüftetes Eis zu erkennen. Und da, an einer Stelle, zwischen einigen im dunklen Wasser treibenden dünnen schmutzigweißen Eisplatten, ragten ein paar kümmerliche Schilfhalme hervor.
Und gleich daneben deutlich erkennbar drei Finger einer menschlichen Hand.
Um elf Uhr traf der Taucher von der Cobra aus der Rossauer Kaserne ein und das Team von der Spurensicherung.
Kurze Zeit später näherte sich auf dem Wanderweg eine weibliche Person mit einem Hund, die zielstrebig auf die Polizeibeamten zusteuerte. Frau Lotte Hensch mit ihrem Buberl. Nun sind Riesenschnauzer, wie schon der Name sagt, keine kleinen Hunde. Aber dieser Riesenschnauzer war ein riesiger Riesenschnauzer. Seine Besitzerin hingegen war ein Leichtgewicht – Seiberl schätzte ihre Körpergröße zwischen einen Meter vierzig und einem Meter fünfzig, weil sie dem Revierinspektor gerade bis zum Brusttascherl reichte – und wog wahrscheinlich um die vierzig Kilo. Ihrem Führerschein zufolge war sie achtundvierzig Jahre alt, was man ihr nicht ansah, von Beruf war sie Reitlehrerin in Kaltenleutgeben, ihre Hände waren sehnig und genauso braungebrannt wie ihr Gesicht und der lange Hals, der aus dem dicken Rollkragen emporwuchs. Die Haare waren schiefergrau meliert, schulterlang, mit einem Mittelscheitel ohne Stirnfransen. Ihre Nase war kurz und gerade, ihre Augen dunkelgrau mit einem scharf abgesetzten schwarzen äußeren Irisrand, der Mund breit, mit vollen Lippen und kleinen regelmäßigen Zähnen. Seiberls Fragen nach ihren Personalien beantwortete sie kurz und präzise. Er fand sie ziemlich beeindruckend. Gerade als er nach der Auffindesituation fragen wollte, trafen Juliane Mattheus und Max Dufek ein. Beider Laune war anfänglich eher mittelmäßig gewesen. Nachdem ihnen jedoch Frau Hensch vorgestellt worden war und diese zu schildern begann, was geschehen war, atmeten beide erleichtert auf.
Zeugen, die vernünftig reagieren, sich selbst nicht zu wichtig nehmen und Verständnis für die Gesamtsituation aufbringen, sind eine Wohltat – und eine Rarität.
Wenn sie darüber hinaus noch zusätzlich über einen leisen Humor und eine Prise Selbstironie verfügen, ist das so etwas wie ein Lotto-Sechser für Ermittler.
Jedenfalls mussten sowohl Juliane als auch Max bei Frau Henschs Schilderung mehrfach schmunzeln.
Der Hund hatte ein Wiesel aufgestöbert und verfolgt. Das Wiesel war unfallfrei über das Eis gekommen, der Buberl mit seinen zweiundvierzig Kilo war ziemlich in der Mitte eingebrochen, worauf ihn sein Frauerl an Land ziehen musste, weil das Eis am Rand leider zum Herausklettern ungeeignet war und immer wieder unter der Hundelast nachgegeben hatte. Bei dieser Plackerei war ihr die seltsame Form aufgefallen. Sie hatte sich das Ganze etwas näher angesehen und befunden, dass sie das nicht so einfach auf sich beruhen lassen konnte.
Nachdem ihr Haus nur fünfzehn Minuten entfernt lag, und sie ihr Mobiltelefon daheim vergessen hatte, war sie mit dem Hund einfach nach Hause gelaufen, hatte in Liesing angerufen, den Buberl und sich selbst trockengelegt und war dann wieder zum Teich zurückgekommen, um ihre Aussage zu machen. Der Hund lag neben ihren Füßen und hechelte zu ihr hoch.
Um den Teich herum huschten die Leute von der Spurensicherung, diesmal ohne Habek, wie Juliane neidvoll feststellte. Wahrscheinlich hatte er schon Urlaub. Nur für Max und sie gab es noch immer keine Ablöse. Plötzlich erhob sich der Taucher zwischen den dünnen Eisschollen und winkte Seiberl, Max und Juliane zu sich. Eigentlich war er auf eine Leiche gefasst gewesen, die er nach der fotografischen Dokumentation zu bergen gehabt hätte.
Aber da war nur die Hand im Eis gesteckt. Eine linke Hand.
Ein Kollege von der Spurensicherung verpackte das traurige Teil in einem Asservatenbeutel, während sich der Taucher im Wasser und die Beamten an Land einen kurzen Moment lang sinnend ansahen.
Dann zuckte Juliane bedauernd mit den Schultern und der Taucher nickte gleichgültig, ehe er damit begann, das Bassin Quadratmeter für Quadratmeter zu durchsuchen.
Eineinhalb Stunden später hatten sie das Puzzle beisammen, komplett, in vierzehn Einzelteilen. Juliane war froh, dass das Wetter kalt und die Teile tiefgekühlt waren. Sie hatte, nachdem ein Oberschenkel und die rechte Hand zum Vorschein gekommen waren, ihren Chef angerufen, um ihn über die Sachlage zu informieren.

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Echt klasse geschrieben. Super…Ich bin wirklich begeistert. :ok_hand:
.Buberl :rofl: :rofl: Für mich ist der Name total lustig. Ich weiß nicht ob das in Österreich auch so ist?

Buberl ist auch bei uns eher lustig gemeint …
Schön, dass es Dir gefällt.

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Ich hab leider die Trennstriche nicht wegeditiert … :frowning:

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Was hast du da gemacht? Sind noch mehr davon drin. Sind das die Trennstriche, die du meinst?

Braucht es das? Ist mir zu weich, passt irgendwie nicht rein.

Der Hund wiegt mehr als das Frauchen. :dizzy_face:

Soweit so gut. Jetzt kommen wir zu Spaß und Spannung.
Beides hervorragend! :+1:
Ich amüsiere mich prima und will dabei sein, wenn das alles aufgeklärt wird.
Hoffe, die dürfen bald mal schlafen? Und duschen? Die Armen.

Hallo VMK55, deine Leseprobe beginnt mit einer spannenden Eröffnung und weckt sofort mein Interesse, die Geschichte zu lesen. Die Ortsbeschreibung vermittelt eine Atmosphäre für viel Lesevergnügen. Die Zeugin Hensch trägt mit ihrer Charakterisierung zu einer weiteren Vertiefung der Leseerfahrung bei.
An einigen Stellen frage ich mich, ob die Sprünge im Text so gewollt sind und ob es Absicht ist, dass durch diverse Perspektivenwechsel nicht immer klar ist, wer da gerade denkt und spricht. Aufgrund der Kürze der Leseprobe ist es vermutlich gewollt, dass mir als Leser noch nicht klar ist, wohin die Geschichte führt.
Es würde mich freuen, wenn du uns mit weiteren Leseproben an der Projektentwicklung teilhaben lässt.
Herzliche Grüße
RK

Upps - Du bist kopfüber mitten hinein in die Geschichte geraten - meine Schuld. Ich hatte vergessen, die links zu den ersten beiden Teile anzugeben, sorry!

Danke für die Anerkennung. Wechsel im Erzählstil sind bewußt gewählt.
Das wird noch auffälliger, wenn Du Dir die beiden ersten Teile durchliest:

Und die am besten immer ganz oben, für Neueinsteiger. Der Anfang ist so klasse, den sollte man nicht versäumen :smiley:

Merci vielmals … jetzt bin ich ganz verlegen …

Dein Stil ist besonders, prägnant und doch erläuternd.

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Ich habe bislang nur zwei Krimiautoren in meinem Leben gelesen (ich lese sonst keine Krimis): Simon Beckett und Jilliane Hoffman.
Aber das hier finde ich gut geschrieben! Würde ich sogar kaufen, nicht nur weil es in Wien spielt. Viel Erfolg!

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