Minoritenplatz
Er lehnte in der Ecke und starrte ins Leere. Der Schnee hatte ihn leicht angezuckert und war dann an ihm festgefroren. Es war kurz vor vier Uhr morgens und sehr glatt.
Leicht beschwipst und heiter vor sich hinsummend stöckelte Sandra Buchwiesner nach Hause, rutschte aus und stieß im Fall gegen die Beine des reglosen Herrn. Worauf dieser aus dem Gleichgewicht geriet, sich sachte und steif um die eigene Achse drehte und der Länge nach auf Sandra landete.
Sensengasse
»So was sieht man auch nicht oft.«
Doktor Larisch blickte Juliane Mattheus entgegen und wies auf die Stange, die auf dem Seziertisch neben dem Toten lag.
»Man hat ihn gepfählt. Gnädigerweise ist er allerdings zuvor zu Tode betäubt worden. Dann wurde ihm diese behelfsmäßige Lanze von rechts oben durch die fossa supraclavicularis hinter der clavicula vorbei in den Körper gerammt …«
Er registrierte Julianes einseitig hochgezogene Augenbraue, schnaufte kurz und fuhr fort: »Dies geschah mit beträchtlichem Kraftaufwand und vermutlich unter Zuhilfenahme eines schweren Hammers. Quer durch die Lunge und die cavita – ähem, die Bauchhöhle – bis in den Oberschenkel. Man hat sich sogar die Mühe gemacht, das Stangenende zur Gänze im Körper verschwinden zu lassen. Danach wurde er augenscheinlich aufrecht stehend tiefgefroren. Wenn er auch im Großen und Ganzen keine Schmerzen empfunden haben wird – wer immer das gemacht hat, hat ihn bestimmt nicht besonders gut leiden können.«
»Den Eindruck habe ich auch.«
Juliane warf einen kurzen Blick auf das unbewegte Gesicht ihres Gegenübers.
»Außerdem kann ich mich auch des Eindrucks nicht erwehren, dass ich diesen Mann schon einmal gesehen habe.« Sie starrte den Toten an und versuchte sich zu erinnern, bei welcher Gelegenheit das gewesen sein mochte. Schließlich schüttelte sie resignierend den Kopf. Es wollte ihr partout nicht einfallen.
Larisch unterbrach ihre Überlegungen.
»Da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen, meine Verehrteste, ich muss jetzt weiterarbeiten. Die Bekleidung befindet sich schon in der KPU. Die Stange schicke ich sofort ins Labor und wenn ich noch etwas Interessantes finden sollte, erhalten Sie natürlich wie immer umgehend Bescheid. Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag.«
Er griff wieder nach seinem Diktiergerät und nickte dem zweiten Obduzenten zu, der als Auszubildender schweigend den Ausführungen gelauscht hatte. Der dritte im Bunde, ein neben den beiden Medizinern wartender Assistent, verstand den Wink seines Chefs, eilte dienstbeflissen zur Tür und öffnete diese mit einer angedeuteten Verneigung. Beim Doktor Larisch war man immer schnell wieder draußen.
Schottenring
In der kriminalpolizeilichen Untersuchungsstelle (kurz KPU) war zwischenzeitlich das Gewand des Toten sorgfältigst untersucht und sämtliche vorhandenen Utensilien gesichtet und katalogisiert worden.
Der leitende Chefinspektor höchstpersönlich begrüßte Juliane. Die wusste genau, dass es der Nehuda im Gegensatz zum Larisch immer gerne spannend machte, und bat gleich um einen Kaffee.
Auf einem Arbeitstisch lag sorgfältig ausgebreitet die gesamte Garderobe des Toten. Die Leibwäsche (weißes Baumwollunterhemd, eine ebensolche Unterhose und schwarze lange Socken), ein weißes Herrenhemd mit Tab-Kragen, eine schmale pfirsichfarbene Krawatte, ein dunkelblauer Anzug mit passender Weste und schwarzem Gürtel, ein halblanger grauer Wintermantel und schwarze Herren-Stiefeletten. Alle Sachen waren ein wenig feucht, ein paar Flecken an der Oberbekleidung zeugten vom Kontakt mit dem schmutzigen Asphalt des Gehsteigs. Blutflecken waren bei oberflächlicher Betrachtung nicht zu erkennen.
Dem Arrangement fehlte nur die Leiche, dann hätte das Ganze gewirkt wie ein Papier-Anziehpuppen-Set.
»Alles vom Feinsten.«, meinte Nehuda anerkennend. »Alles von Zimmerli und Blacksocks, der Rest Maßanfertigungen, sogar der Gürtel!«
Letzteres kam etwas neidvoll heraus.
Der Alois Nehuda trug einen stattlichen Backhendlfriedhof vor sich her und der Kauf eines Gürtels stellte bei diesem Körperumfang durchaus eine beträchtliche Herausforderung dar.
»Gut, gut. Das heißt, wenn er keine Ausweispapiere mit sich herumgetragen hat, dann könnten wir ja bei der Maßschneiderei nachfragen – falls die Etiketten noch dran sind.«
»Könnten wir, müssen wir aber nicht.«.
Der Chefinspektor griff in eine Asservaten-Kiste.
»Die Etiketten sind dran. Aber es wird nicht notwendig sein. Es handelt sich hier um die Lieferung eines Gesamtpakets – mit wirklich allem – Ausweise, Brieftasche, Handy, Armbanduhr, Schlüssel, alles da …«
Stolz präsentierte Nehuda die Gegenstände in ihrer Reihenfolge und legte auf dem Tisch eine Strecke wie ein erfolgreicher Jäger.
»Und?? … ich bitt’ dich, Lois, mach weiter! Name??«
»Bei dem Toten handelt es sich um den Doktor Eberhard Rotter …«
Juliane verschluckte sich an ihrem Kaffee.
»Bitte?? Also doch …!«
Nehuda nickte.
»Ja. Genau der, der immer so gern speziell die Herrn von rechts verteidigt hat. Ein Rechts-Verteidiger zusagen.«
»Ich kann mich erinnern. Jetzt fällt es mir wieder ein. Der ist mir in der Pathologie schon so bekannt vorgekommen. Das ist jetzt schon ein Zeiterl her, dass er den Wülfers herausgepaukt hat, der saubere Herr Anwalt. Das war wegen des Sprengsatzes an der Gedenktafel am Morzinplatz, mit den zwei schwerverletzten Passanten und irgendwas war auch mal in Wels. Hab’ ich doch recht gehabt, dass ich den Kuckuck kenn’, hin und wieder war er sogar in der Presse, obwohl er sich ja gern bedeckt gehalten hat.«
Der Chefinspektor nickte düster und fuhr dann fort: »Jedenfalls haben wir Unmengen an Luminol an sämtliche Gegenständen versprüht und keinen einzigen Tropfen Blut gefunden.«
»Das passt ins Bild. Da war jemand sehr genau.«, nickte Juliane.
»Und medizinisch eindeutig nicht ganz unbedarft – wie mir der Doktor Larisch berichtet hat – leider ein bisserl zu spät, sonst hätt‘ ich mir das Luminol sparen können.«
»Na ja, das mit dem Speer, oder der Lanze, oder was auch immer, das könnte auch schon jeder Medizinstudent im zweiten Semester veranstalten. Das Betäubungsmittel zu beschaffen ist schon wieder nicht so einfach – aber möglich ist es sicher, dem Internet sei Dank.«
»Richtig. Das Internet. Kürzlich hab ich dort ein Angebot über Luminolkristalle gefunden. Ein Gramm um zwölf Euro. Inklusive Gebrauchsanweisung zum Mischen mit Natriumcarbonat und Wasserstoffperoxid zwecks Nachweis von Blutspuren.«
»Ich verkneife mir jetzt die Frage, warum du im Netz nach Luminol suchst – du reitest momentan auf diesem Thema herum, ich glaube fast, das Zeug ist eine fixe Idee von dir.«
»Aus gegebenem Anlass – vor vierzehnTagen bin ich wieder im Sperrfeuer gesessen. Es ging um das Budget der Verbrauchsgüter der KPU. Das sind Mickymausbeträge bei uns. Eigentlich. Aber unsere Finanzbubis stammen ja alle in direkter Linie vom alten Dagobert Duck ab. ‚Wieso ist der Verbrauch so hoch? Wissen Sie, was ein Gramm kostet? Was, wir haben im letzten Quartal schon wieder so viel davon versprüht?‘ Und so weiter und so fort. Als ob wir hier bei uns das Zeug zur Happy Hour saufen täten. Kein Wort darüber, dass sie`s in der Kriminaltechnik kanisterweise verbrauchen. Aber wenn unsere Abteilung was braucht – ha! es ist zum aus der Haut fahren – Kruzineser noch mal!«
»Ganz ruhig, Lois, ich versteh dich. O ja.«
Juliane starrte in ihre Kaffeetasse und dachte an ihren eigenen leicht cholerischen Vorgesetzten. Wenn der von Budget-Besprechungen kam, war er vierzehn Tage lang als Chef nicht zu gebrauchen. Wehe, wenn sich just in diesem Zeitraum – aus Gründen, auf die die ermittelnden Beamten keinerlei Einfluss hatten – eine Untersuchung verzögerte. Dann schon lieber zur Magistratsabteilung Achtundvierzig, Müll sortieren, als dem Oberst Pawlak über den Weg laufen.
Sie griff nach dem Schlüsselbund und der Brieftasche des Toten. Führerschein, Zulassung, Personalausweis, diverse Kreditkarten, ein Mitgliedsausweis einer Organisation namens DeKo, eine weiße Karte mit griechischen Buchstaben, eine e-Card, ein Blutspendeausweis und eine ec-Karte, weiters fünfzig Euro in Geldscheinen, sieben Euro vierzig in Münzen sowie zwei Token mit Werbeaufschrift für Einkaufswagen.
»Schmuck hatte er keinen? Keine Halskette, kein Ring?« Der Chefinspektor schaute schief und wies wortlos auf die leere Asservaten-Kiste.
»Schon recht, ich frag’ ja nur. Also gut. Schick’ bitte das Mobiltelefon an die Kriminaltechnik – am besten gleich zum Lukas mit einem lieben Gruß von mir. Die Brieftasche und die Schlüssel nehm’ ich mit. Wo unterschreib’ ich? Danke. Und danke für den Kaffee. Ach ja, fast hätte ich’s vergessen. Wo wurde er eigentlich gefunden?«
»Minoriten Platz 2, bei der Kirche. Die genaue Auffindesituation ist im Akt dokumentiert.«
Er wollte ihr die Mappe in die Hand drücken, aber sie winkte ab: »Ich will jetzt nichts lesen. Wer hat ihn gefunden?«
»Eine junge Frau, die vom ‚Solo‘ heimgegangen ist. Leicht alkoholisiert. Aber nicht berauscht genug, um keinen veritablen Schreikrampf zu bekommen.«, schmunzelte er. »Gottseidank ist Wien keine Kleinstadt, und darum waren auch zu dieser Stunde noch genügend Menschen unterwegs, die dann die Rettung gerufen haben. Und der begleitende Arzt war ein wiffer Bursche und hat den ‚erfrorenen Betrunkenen‘ gleich in die Gerichtsmedizin fahren lassen, worauf der Larisch den Staatsanwalt informiert und die Spurensicherung hingeschickt hat. Und den Rest kennst du ja.«
»Zu dieser Stunde heißt wann genau?«
»Vier Uhr morgens. Ein toller Beginn für den Christtag.«
»Ich versuch’ grad, meine Euphorie zu mäßigen … Pfiat di, Lois.«
»Vier Uhr in der Früh … wie lange ist der da gestanden?«, murmelte Juliane, mehr zu sich selbst als zum Nehuda, der sich schon wieder über seine Listen beugte und geistesabwesend ihren Gruß erwiderte.
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