20th Century’s Finest
Vorbemerkung:
Die Geschichte erzählt von einer folgenreichen Weihnachtsfeier der Belegschaft des Mittelrhein-Museums Koblenz. Das Mittelrhein-Museum ist ein Kunstmuseum und existiert wirklich. Wie alle kleinen Museen träumt es von einer großen Ausstellung, die einmal Geschichte schreiben wird. Stattdessen ist der Etat jedoch eng begrenzt und zwingt zu ständigen Kürzungen. In dieser fatalen Situation lassen sich die Mitarbeiter*innen nach dem unabsichtlichen Genuss bewusstseinserweiternder Plätzchen, die absichtlich ins Weihnachtsbuffet geschmuggelt worden waren, etwas Geniales einfallen…
Diese Geschichte wurde tatsächlich auf der Weihnachtsfeier der Belegschaft des Mittelrhein-Museums vorgetragen. Alle Mitarbeiter des Mittelrhein-Museums Koblenz werden namentlich erwähnt und sollten in der Geschichte vorkommen. Die Personen gibt es also wirklich. Ansonsten ist die Geschichte natürlich frei erfunden.
Unvorstellbar, ein Weihnachten ohne Weihnachtsgeschichte. Aus diesem Grund möchte ich erzählen, was sich so im Städtischen Museum einer mittelgroßen Stadt am Zusammenfluss von Rhein und Mosel zugetragen hat. Vielleicht ist es aber nur ein Produkt meiner grenzenlosen Fantasie. Erwähnen muss ich aber, dass Ähnlichkeiten mit realen Handlungen und lebenden Personen weder frei erfunden noch rein zufällig, sondern vollkommen beabsichtigt sind!
Ich beginne am Ende der Geschichte, als der scheidende Kulturdezernent Knopp bereits vor Öffnung des Mittelrheinmuseums im Forum Confluentes morgens vor der gläsernen Eingangstür steht und mit neugierigem Blick, wild gestikulierend auf sich aufmerksam macht. Hinter dem Kassenbereich stehen eine große dunkelhaarige und eine etwas kleinere grauhaarige Dame. Beide wirken unschlüssig, wie sie mit dem unruhigen Herrn vor der Tür verfahren sollen. „Wir müssen ihn reinlassen,“ meint die ältere der beiden: „der hat sicher um die Zeit noch Knöpfe vor den Augen. Rufen wir den Chef an!“ Beide winken dem ungeduldigen Herrn vor der Tür freundlich zu, bereits das Telefon in der Hand. Es dauert nicht lange, der Museumsleiter entsteigt dem Aufzug und wendet sich verunsichert seinen beiden Kassenkräften zu. „Was mache ich bloß, wie sollen wir das erklären?“
Gepaartes ratloses Schulterzucken aus dem hinteren Kassenbereich und ein eher zaghaftes: „Das schaffen Sie schon! Sie wissen doch, einer für alle und alle für …!“, aber da öffnet der Museumsleiter bereits die Tür mit weichen Knien.
„Nein, was haben Sie da an Land gezogen“, ruft Knopp, voller Tatendrang im Begriff gleich die Treppe zur Sonderausstellung stürmen zu wollen. „Gestern stand es in der der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Der Philipp Schmidt hat einen knappen Kommentar dazu geschrieben. Er sagt, das hat Koblenz noch nie gesehen. „Kunst des 20. Jahrhunderts“. Ich habe schon immer gewusst, dass das alles mit dem Etat für Sie doch machbar sein wird. Gute Leute bekommen gute Konditionen!“ Spricht und klopft dem Direktor jovial auf die Schulter.
Der wird bleich, Übelkeit steigt ihm auf, ein Sodbrennen meldet sich. Zuviel Moselriesling war das in den letzten Tagen und an andere Sachen kann er sich kaum erinnern. Wie Nebelschwaden ziehen Fetzen des Geschehenen der letzten Tage durch seinen Kopf und dann:
Knopp scheint nicht genug, da nähern sich in wallenden Gewändern die Vorsitzende des Museumsvereins Frau Sauer-Kirchlinne und im Schlepptau mit Kamera behängt Frau Dr. Lieselotte Sauer-Kaulbach, Kulturredakteurin der Rheinzeitung.
„Herr Dr. von der Bank, das ist ja fantastisch, eine Ausstellung, wie sie das Rheinland noch nicht gesehen hat. Guten Tag Herr Lemler!“, grüßt Frau Sauer-Kirchlinne den Hausmeister, der gerade mit einer Plastiktüte blauer Farbpigmente aus der Sonderausstellung die Treppe hinauf nach oben ins Foyer jagt. In der anderen Hand ein Eimerchen, auf dem Schildchen ist „Celluloseleim“ zu lesen. Der sonst so smarte junge Mann wirkt eher etwas ungepflegt, die Haare stehen wild auf, ein Dreitagebart verunziert das Gesicht und Jeans und T-Shirt sind fleckig. Die Vorsitzende des Museumvereins rümpft die Nase, als er an ihr vorbeiläuft. Sie brummelt etwas von zwei, drei Tage nicht gewaschen“ vor sich hin, wahrt aber Haltung und lächelt wie immer freundlich.
„Nun, Herr Dr. von der Bank, dann lassen Sie uns doch mal schauen, jetzt, wo Koblenz den ganz großen Coup gelandet hat. Frau Ackermann hat uns ja in der Nacht noch angerufen.“
Der Museumsdirektor will gerade antworten, da schiebt sich ihm ein Bild vor Augen, wie seine Verwaltungschefin zwei Abende zuvor an ihm vorbeigeflogen war. Ja, da muss er fast lächeln. Vorbeigeschwebt, feengleich und ihr blondes Haar bewegte sich fast wie in einem Sommerwind. Von der Bank schüttelte den Kopf. Was war bloß mit ihm los?
Da kam es wieder das Bild und dann die Erinnerung an ein Telefonat. “Ackermann“, hörte er die blonde Fee ins Telefon sagen, „Guten Abend, Frau Dr. Sauer-Kaulbach, wir wollten Ihnen von unserer neuen Sonderausstellung erzählen. Gerne können Sie wie immer vorab einen Blick hineinwerfen. Natürlich freuen wir uns, wenn Sie zeitnah in der Rheinzeitung davon berichten würden!“
Und dann war da wieder so ein Fetzen, wie der blonde Engel neben ihm im Malraum des Museums saß. Wann war das gewesen? Mindestens zwei Tage musste das her gewesen sein, irgendwie waren alle dabei, die ganze Truppe. „Weihnachtsfeier“, jetzt dämmerte es ihm.
Es ging direkt am Freitag nach Schließung des Museums los. Da kamen sie alle, Frau Kemmer, die Volontärin machte den Anfang mit einem Einmachglas saurer Gurken, geputzte Möhrchen und Selleriestängel im Pappbecher, vegane Snacks erhoben sich auf dem tristen Weiß des leeren Buffettisches. Frau Dr. Wirtler mit einer Platte Roggenbrotschnittchen, belegt mit Salami und Ei, Frau Dr. Heitmann einen Tortellinisalat und gleich hinterdrein Achim Grothe mit einem Kartoffelsalat, Frank Fries balancierte eine Armee kleiner Tomaten mit Mozarellaköpfchen in einem Meer von Basilikumblättern auf einer silbernen Aufschnittplatte. Dann kamen Frau Volk mit einem Reissalat, Irina Litwinowa brachte eine Platte Weißbrotscheiben belegt mit Lachs, Ei und Dill, die Kassenkräfte marschierten auf: Couscous, Hackfleischbällchen, Erbsenmuffins, Blätterteig mit Frischkäse und Speckwürfelchen und zwischendurch dampfte es. Wer den Dibbekuche gebracht hat, das war ihm entgangen. Er hatte nur davon gehört, legendär soll der früher immer gewesen sein, der echte, der vom Peter Hau und dann, da war da noch ein kleiner bunter Weihnachtsteller mit ebenso kleinen unscheinbaren Keksen. Wer die da hingestellt hatte, das blieb von allen völlig unbemerkt. Komisch, zugreifen musste er, er stand ja so auf süß. Und gleich hat er sich gewundert, etwas fremdartig waren die im Geschmack, Koriander, Thymian. Er kam nicht drauf.
„Nun lassen Sie uns doch mal hinuntergehen, Herr Dr. von der Bank“, beginnt Frau Sauer-Kirchlinne erneut. Er zuckt zusammen. Sie muss in der Zwischenzeit schon mehrfach an seinem Sakko gezupft haben. Langsam setzt er sich in Bewegung, endlich schweigen die Damen und Knopp, Knopp der scheidende Kulturdezernent kann kaum Ruhe bewahren. Unruhig tippelt er hin und her. Das hat gerade noch gefehlt, jetzt, kurz vor dem Ende seiner Dienstzeit noch so ein Ereignis.
Flau wurde dem Museumsdirektor im Magen.
Langsam schreitet die kleine Gruppe die Treppe zur Sonderausstellung hinab. Die Tür zum Ausstellungsraum steht offen. Dem Direktor schwindelt, als er den Ausstellungsraum betritt. Vor der Gruppe erstrahlt eine Holzwand 2 auf 4 m in einem satten Ultramarinblau.
Da, ein Aufschrei, Frau Sauer-Kirchlinne völlig verzückt: “Wie haben Sie das denn fertiggebracht? Ein Yves Klein in Koblenz!“ Dr. Lieselotte Sauer-Kaulbach stöhnt nur: “Die blaue Epoche“.
Genauso stöhnte der Direktor. Wieder blitzte ein Bild in seinem Kopf auf: Er sah, wie der kleine Mann von Kowadi am Buffet langlief, er lud sich den Teller voll, griff zum Schluss noch nach den kleinen Keksen, die irgendwie orientalisch anmuteten und legte der Frau hinter ihm in der Schlange gleich zwei mit auf den Teller, Frau Dr. Heitmann, seiner Museumspädagogin. Die kicherte gutgelaunt. Da, da ein weiterer Blitz! Er sah die beiden kurze Zeit später zusammen im Untergeschoss. Der eine wild mit Schmirgelpapier die Kanten und Ecken glättend, die Dame bereits in einer Ecke blaue Farbpigmente auf die große Leinwand auftragend.
Dann sieht er, wie die Kulturredakteurin mit dem Bleistift wild Notizen auf ihren Block macht. Er hört sie etwas vom „monochromen Blau“ murmeln, dem „Sog in die Unendlichkeit“ und „Perfektion ohne Reflexion“.
Der Direktor schweigt, es war ihm nicht einerlei. Wieder ein Aufschrei. Diesmal ist es der Kulturdezernent Knopp. Hat der doch nur noch wenige Tage in seinem Amt. „Musste der heute noch kommen, kurz vor Weihnachten?“, fragte sich von der Bank.
Und wieder hörte er wie im Nachhall die angenehme Stimme des blonden Engels ins Telefon flötet: „Mit nur wenigen Exponaten werden wir hier Geschichte schreiben!“ Da würde er wohl dem blonden Engel im neuen Jahr noch Bescheid geben müssen!
Zwei Tage später und die ganze Sache, wäre weggeputzt gewesen, aber nun? - zu spät.
Begeistert schreit Frau Sauer-Kaulbach auf: „Wo haben Sie den her? Ein echter Jackson Pollock!
Und es blitzt erneut im Kopf des Direktors. Frank Fries, wie er am Buffet vorbeilief, Reissalat, Hähnchenschenkel - wer hatte die gebracht? Zwei Mozarellabällchen und dann die Kekse, die ihn irgendwie an einen Marokkourlaub während seiner Studentenzeit erinnerten. Gleich drei hatte der auf dem Tellerrand. Wie war das überhaupt. Lemler und Emunds hatten die letzte Sonderausstellung geräumt, Hardy hatte Anweisung gegeben die Stellwände umzustellen und die Farbe stand noch im Untergeschoss. Auf dem Boden lagen die Papierrollen, das Parkett sollte nicht zu Schaden kommen und da stand der Fries, zuverlässige Aufsicht während der Woche und nun, die Quaste in der Hand und immer wieder tunkte er sie in den Farbeimer. Rot, blau, grün. Es tropfte und dann voller Ekstase. Er war Frank, Frank the Dripper! Jackson Pollock hätte nicht besser malen können. Das war Action-Painting! Der Direktor konnte nicht anders. Er schmunzelte.
Frau Sauer-Kaulbach gerät außer sich: „Wie Sie das hier hingebracht haben, Herr Dr. von der Bank, diese Synergie der ursprünglichen Formen, diese indigenen Motive, das Großflächige, das Primitive. Und wie das natürliche Unbewusste hier zum Vorschein kommt.“
Von der Bank beginnt leicht zu schwitzen. Wie er das Machwerk so vor sich betrachtet, scheint ihm am Rand die Farbe noch leicht zu glänzen und zu fließen. Von der Bank nickte ihr zu und ihm rutscht unbekümmert aus: „Sie wissen, bei Pollock steht der Fertigungsprozess des Kunstwerkes im Vordergrund!“
Unmittelbar nach dieser unbedachten Äußerung sieht er die Beine der kleinen Rotgelockten von der Kasse hinter der Stellwand links über einer Zinkwanne auf Rollgestell strampeln. Mit dem rechten Arm rudernd, um wieder das Gleichgewicht zu erlangen, in der Hand einen kleinen roten Verbandkasten. Was ist das?
Ein Deja-vu vor Augen, sah er die Zinkwanne wieder vor sich. Die Beierin, seine dunkelhaarige Kassenkraft zusammen mit Frau Stauch schoben die Wanne auf dem Untergestell mit Rollen vor sich her am Buffet vorbei. In der Wanne liegend und glucksend ein kleiner blondgelockter Putto, das war die kleine Dewiwje, in der linken Hand ein Glas Sekt, mit der rechten Hand nach den Gaben auf dem Buffet greifend. Und der Putto langte zu, griff sich zwei Kekse und warf einen von beiden den Kollegen hinter ihm zu. Die Kekse schienen sie offensichtlich zu euphorisieren. Die kurzen bestiefelten Beine des glucksenden Engelchens strampelten und von der Bank erinnerte sich noch daran, dass er rief: „Das ist die Wanne von Frau Bauermeister. Wo sind die Lumpen und Kamelköttel? Sie haben doch nicht etwa die Wanne geputzt?“ Die Antwort kam prompt von seiner sonst so besonnenen Frau Portugall, kichernd und noch Kekskrümel in den Mundwinkeln. Es traf ihn wie ein Schlag: „Nicht geputzt, Herr Dr. von der Bank, geschrubbt! Wir wollen doch unseren Sekt zum Kühlen nicht zwischen den Kamelmist stellen!“
Knopp ist in der Zwischenzeit an die Zinkwanne gelangt und erblickt die Klarsichthülle eines Verbandmullpäckchens auf dem Boden. Irritiert schaut er um sich, sieht die kleine rothaarige Kassenkraft, wie sie sich auf den Abfall stürzt. „Hab‘ mich geschnitten“, sagt die und läuft eilends davon, den kleinen roten Verbandkasten hinter ihrem Rücken verbergend.
Frau Sauer-Kirchlinne tritt langsam auf die Wanne zu. „Wenn ich mich recht erinnere,“ sagte sie, „steht das doch unter Glas im Lenbachhaus“. Sie blickte in die Wanne mit Heftpflaster, Mullbinde, Fett und Kupferdraht. Tatsächlich ein Beuys! Es ist nicht zu fassen. Noch bevor der Museumsdirektor ihr antworten konnte, steht Thomas Hardy, sein Restaurator neben ihm, nickte ihr zu und kommentiert sachlich trocken: „Glasabdeckung kommt noch rüber! Nur für´s Foto oben ohne.“
Der Museumsdirektor muss sich große Mühe geben, nicht in Schnappatmung zu verfallen wie gerade neben ihm Frau Dr. Lieselotte Sauer-Kaulbach. Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn als er sie in abgehackten Worten stammeln hört: „Und das da, da ist ja ein Malewitsch!“
Ein Bild nahm vor ihm Konturen an, seine zuverlässige Mitarbeiterin Frau Dr. Wirtler, den Kopf hin und her werfend, die langen Haare fliegend in der Hand einen Eimer roter Farbe und laut rufend: „Rot ist Blut, Blut ist Fleisch und Fleisch ist…“
In Gedanken brachte er den Satz zu Ende. „Fleisch ist Lust.“ Das Entsetzen packte ihn, wollte sich seine Mitarbeiterin gerade die Kleider vom Leib reißen. „Nun tun sie doch was, bringen sie die zur Vernunft“, rief er Frau Kemmer, der Volontärin zu. Die aber stand völlig ungerührt daneben, zuckte mit keiner Wimper, biss in einen Selleriestängel und er hörte es knacken. Es schüttelt ihn bei dem Gedanken an so viel rohes Grün. „Hab ich schon versucht, ich hab der schon gesagt, Otto Muehl ist richtig tot und Hermann Nitsch glaubt schon lange nicht mehr an die unbefleckte Empfängnis.“ Da hielt seine Mitarbeiterin unvermittelt in der Ekstase inne, zuckte mit den Schultern und gab etwas schnippig zur Antwort: „Gut, dann eben kein Fest des psycho-physischen Naturalismus. Versumpft der weibliche Körper eben nicht.“ Er sah sie noch am Buffet vorbeilaufen, die Hand nach den kleinen offensichtlich aphrodisierenden Keksen ausstreckend und mit einem Eimer roter Farbe im Untergeschoss verschwinden. Er hatte auch wieder zugegriffen. Die hatten was, sie schmeckten nach Heublume, gepaart mit herber Süße und dann das Wohlgefühl, was sich ausbreitete…
„Dass ich den noch nicht gesehen habe?“ Frau Sauer-Kaulbach strahlt über das ganze Gesicht. „Wie soll sie auch“, denkt von der Bank, „Malewitsch dreht sich im Grab um, roter Kreis auf weißem Grund, das kann die Welt noch nicht gesehen haben.“
„Das war offensichtlich der Moment, wo sich Malewitsch von dem Gegenstandslosen entfernt hat“, sagt die Redakteurin und ist eifrig dabei, ihren Block mit Notizen zu füllen.
Von der Bank beginnt leicht zu zittern. Das Maß ist voll, denkt er, aber Frau Sauer-Kirchlinne schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und scheint in Ehrfurcht zu erstarren. Dennoch, er bemerkt noch, wie ihre Augen unruhig zwinkern. Jetzt gilt es jegliche Zweifel zu zerstreuen. Fast fliegt er zur gegenüberliegenden Wand. Noch nie hatte er mit der Hand in ein Pissoir gegriffen. Jetzt steht er da, mit der linken wie festgeklebt über dem banalen Schriftzug „Villeroy & Boch“. Der Kulturdezernent nickt mit dem Kopf und Frau Dr. Lieselotte Sauer-Kaulbach schaut ihn fragend an. „Das ist aber nicht die Marke Bedfordshire? Duchamps Repliken seines berühmten „Fountain“ sind gezählt, Herr Dr. von der Bank.“ Und: „Wieso haben Sie das hängend angebracht? Das Ready-mate liegt doch?“
Von der Bank wirkt müde, die Hand fest auf den Schriftzug gepresst und in schräger legerer Seitenlage.
Nebelschwaden schieben sich beiseite. Er sah Herrn Simon aus der Seitentür im Untergeschoss treten, fast liebevoll ein Pissoir mit beiden Armen umfassend. Neben ihm seine Frau mit Wasserwaage und und einem Töpfchen Spachtelmasse. Vor ihm lief Achim Grothe, den kleinen Teller Kekse auf der linken balancierend, ständig Vorsicht mahnend und hier und da einen Keks an die Kollegen verteilend. Dann war da noch Herr Lemler mit der Hilti im Anschlag. Der Knabe fackelte nicht lange, zwei Löcher in die Wand, Hohlraumdübel gesetzt und auf dem Boden liegend Herr Bach, wie er das Pissoir stemmte. „Ich hab doch Rücken“, hörte er ihn noch ächzen. Gerne hätte er auch geächzt. „Duchamps Fountain?“, die waren komplett größenwahnsinnig. Wo hatten die denn alle diese Ideen her? Aber da war ihnen ein gravierender Fehler unterlaufen, seitlich gekippt, zum Pinkeln völlig untauglich, so kannte er das Original und dann winkte ihm noch Frau Portugall zu mit einem gelben Mikrofasertuch. Hatte sie doch tatsächlich auch das Ready-mate hemmungslos gewienert.
Mit jeder Minute wird dem Direktor mulmiger. „Das kann nicht gutgehen“, denkt er und lächelt schief in Richtung von Frau Dr. Lieselotte Sauer-Kaulbach. Nun ist es aber genug. Doch da hören sie ein sanftes Läuten wie von einem Glockenspiel. Der Direktor geht zurück in die Aufrechte, wischt sich verstohlen die Hand an der Hose ab und dankt im Stillen Frau Portugall für den Einsatz der Mikrofasern. Die vier bewegen sich in Richtung des Klangspiels und machen Halt vor einem gigantischen Schrottspektakel. Unten auf dem Boden sieht er Krümel brauner Kekse, dann reißt von der Bank die Augen auf und seine Nasenflügel weiten sich.
Mit dem sanften Klingen der Kupferplatten unter dem Lüftungsauslass kommt ihm auch wieder die Erinnerung. Emunds und Lemler mit Lötkolben, dann Frau Litwinowa mit Schweißerbrille und Acetylenflasche. Mitten in dem Wunderwerk von Fahradnaben, Zahnrädern, Ketten, Elektromotoren und Kugellagern stand Herr Meudt. Er balancierte auf zweien der Ausstellungshocker. An ihm schien trotz der akrobatischen Höchstleistung die Hektik der anderen Mitarbeiter völlig vorbeizugehen. Oben, inmitten der Skulptur, steckte er einen Fäustel in ein Gussrohr. Meudt drehte und wendete jedes der Teile, schob, passte, fügte zusammen und legte erleichtert schließlich einen Stecker neben die Steckdose an der Wand.
Knopp strahlt beim Anblick des Schrotthaufens vor ihm. Frau Dr. Sauer-Kaulbach umrundet das Werk seiner Mitarbeiter, nickt gefällig und murmelt „Maschinenplastik, greift die Elemente Malewitschs auf“ und „erlebt der Betrachter melancholisch“. Da passiert etwas, mit dem keiner der vier gerechnet hat. Knopp bewegt sich mit einem Satz nach vorne, wie ein Raubtier die Beute packt, so greift er nach dem Stecker, der eben noch achtlos auf dem Boden lag und schiebt ihn behände in die Steckdose. Es beginnt zu rattern, zu tösen, der Fäustel auf der Spitze schlägt zu und trifft auf einen Knauf. Der setzt ein Zahnrad in Bewegung und der Fäustel trifft erneut. Mit jedem Schlag nimmt der Lärm im Untergeschoss zu, bis plötzlich mit einem letzten metallischen Klirren der Knauf zerspringt. Jetzt hatte die Maschine begonnen, sich selber zu zerstören und setzte ihr Werk unter ohrenbetäubendem Lärm fort.
„Ja“, sagt von der Bank, „das ist ein Tinguely, wie er besser nicht sein könnte »Die Maschine, die die Geister rief und sie anschließend wieder vernichtet«. So heißt das phänomenale Werk.“ Frau Sauer-Kirchlinne tritt hastig einen Schritt zurück, greift nach dem Arm des Kulturdezernenten und flüstert ihm ins Ohr: „Autodestruktive Kunst, Herr Knopp, nur mit den Augen gucken!“, und zieht ihn Richtung Tür.
Langsam, aber bestimmt drängt der Museumsdirektor seine drei Besucher zum Ausgang. Fast schiebt er sie vor sich die Treppe hinauf. Mit jeder Stufe, die er hinaufsteigt, kommen ihm weitere Erinnerungen an den fatalen Abend der Weihnachtsfeier.
Und so hatte alles begonnen:
Von der Bank versucht die unzusammenhängenden Bilder zu einem klaren Film zusammenzuschieben. Drei Tage waren seither vergangen, an denen sie alle hier gewerkelt hatten. In der Nase ist ihm ein Geruch von Zimt, Vanille und Apfelstrudel. Frau Volk brachte immer wieder Unmengen davon in sein Büro und dann waren da noch die kleinen unscheinbaren Kekse vom Buffet. Was war das bloß für ein Geschmack? Brownis mit Kräutertee? - Im Abgang ein Nachgeschmack von schwarzem Afghanen. Sie schienen jedenfalls die Einfälle sehr gefördert zu haben. Mein Gott, was hatten sie sich alle damit vollgestopft…
Nein, was war da aus dem Ruder gelaufen? Er sah sie fröhlich sitzen und gerade gab es Beifall für seine Begrüßungsrede zur Weihnachtsfeier. Er hatte sich bedankt für die Arbeit im vergangenen Jahr, etwas von großem Einsatz gesagt und „gemeinsam für eine Sache“. Alle erhoben ihr Glas und dann entspannten sich lebhafte Diskussionen um Kunst, ums Schaffen und Runde um Runde kreiste ein Teller kleiner brauner Kekse. Immer beschwingter wurden die Gespräche. Und er hörte Frau Löhr, verantwortlich für die Pressearbeit, rufen: „Was uns in Koblenz fehlt, ist eine Ausstellung, wie sie das Rheinland noch nicht gesehen hat, über die Kunst des 20. Jahrhunderts. Und seine Sekretärin stimmte ein: „Chef, wie wäre es mit dem Titel: 20th Century‘s Finest?“, sagte es, rückte ihre Brille auf der Nase zurecht und verschwand gleich in ihrem Büro, einen Keks zwischen den Zähnen zermalmend. Und auf einmal hörte er den ersten rufen: „Ja, das machen wir! Das machen wir selbst. Was juckt uns der Etat!“ Und dann hörte er: „Einer für alle…“ und wie es zurückschallte „und alle für einen!“. Stifte wurden gezückt, Papier mit Zeichnungen gefüllt und eine wahnwitzige Idee nahm Konturen an. Es sollte die beste Ausstellung moderner Kunst werden nördlich der Alpen.
Schwindelnd durch die plötzliche Erkenntnis greift der Museumsdirektor mit einer Hand zur Theke des Kassenbereiches, um sich festzuhalten. Die Knie sind ihm ganz weich. Gleichzeitig winkt er seinen drei Besuchern zum Abschied zu. Er sieht seine Mitarbeiter um sich herum, alle ein wenig knuselig. Drei Tage harter Arbeit liegen hinter ihnen. Sie lachen noch immer fröhlich, seine beiden Hausmeister wischen sich die Hände an den Hosen ab und klatschen sich ab. Er hört auch noch Gläserklirren aus dem Malraum. Einer nach dem anderen läuft an ihm vorbei auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz und dann sieht er noch die kleine Rotgelockte von der Kasse. Sie verlässt gerade das Museum, hebt den Arm zum Gruß und ruft ihm beschwingt „Frohe Weihnachten“ zu.