„Bi Ei Bi !“
Es würde ein verkaufsoffener Samstag wie viele andere werden. Das dachte Herbert Fahl – wir nennen ihn einfach Herbert - jedenfalls noch am Morgen des 15. Dezember, als er mit dem Rad aus seiner wenig vornehmen Wohnsiedlung in Richtung der Innenstadt fuhr. Nach wochenlangem Regenwetter schien zum ersten Mal die Sonne und er musste die Augen vor der ungewohnten Helligkeit zusammenkneifen. Sie waren im Laufe der Jahre ohne nachvollziehbaren Grund immer empfindlicher geworden. Als Vorsichtsmaßnahme hatte er stets eine Sonnenbrille dabei, die er schließlich aufsetzte. Er wäre gerne einfach immer weitergefahren, wie er es oft tat.
Es gab für ihn als vom Arbeitsmarkt Aussortierten nicht mehr viel zu tun. Hin und wieder nahm er jedoch die Gelegenheit wahr, sich ein kleines Zubrot zu verdienen. Auch heute musste er wieder in diese alberne Verkleidung steigen, er hatte es Fred gestern fest versprochen. Fast jeder in dieser Stadt – so viel hatten ihn achtundfünfzig Jahre gelehrt - trug eine Verkleidung, egal ob es sich um Banker, Fußballfans, Bürotanten, Hip Hopper, um Hartz-IV-Sippen oder Autonome handelte. Weshalb sollte er daher nicht in einem Weihnachtsmannkostüm die Vielfalt des Maskenballs erweitern und für eine Pizzakette werben?
Alles war wie immer. Fred Timmermann wartete ungeduldig auf dem Hinterhof mit den bereits gefüllten Einkaufstrolleys auf seine Mitarbeiter. In jedem der acht Wagen befanden sich tausend Werbezettel, die innerhalb der nächsten vier Stunden verteilt werden mussten. Zunächst aber wechselte Herbert sein Outfit und zog das leichte rote Kostüm über seine Kleidung.
Fred verdiente sein Geld mit Massen von Verteilern, die in der ganzen Stadt täglich zehntausendfach Werbung in jeder erdenklichen Form unters Volk brachten. Zum Abschluss kontrollierte er die Weihnachtsmannparade, rückte hier und da Jacken, Bärte und Zipfelmützen zurecht, bis er einen zufriedenen Seufzer von sich gab: „Auf in den Kampf, ihr Rotröcke!“
Mit einem Kleinbus wurde die Gruppe schließlich zu ihren Verteilstellen gebracht, Herbert als dienstältester Weihnachtsmann stieg im Stadtzentrum vor dem größten Kaufhaus aus. Es gab ein wenig Gemurre über sein Privileg, gerade hier in den Menschenmassen verteilen zu dürfen, aber Fred erstickte jede Diskussion im Keim: „Hocharbeiten, Kinder. Herbert war schon im Morgenblatt, jeder kennt ihn hier, da sollt ihr erst einmal hinkommen. Das hat mir richtig Umsatz gebracht.“ Er entließ Herbert mit dem üblichen Spruch: „Hau rein, wir sehen uns.“
Der stets hektische Fred mochte Herbert, weil der schweigsam und zuverlässig war. Bei Herbert gab es keine Beschwerden oder Prospektbündel in Altpapiercontainern, während andere im ständig wechselnden Heer der Verteiler nur kurz etwas Geld ohne Gegenleistung abgreifen wollten.
Ein paar Minuten später ging Herbert langsam über den großen Platz in
Richtung Kaufhaus, Menschenmengen bewegten sich bereits auf die Eingangstüren zu. Ungefähr in der Mitte des Platzes angekommen, wurde er zu seinem Erstaunen von mehreren anderen Weihnachtsmännern mit gefüllten Plastiktüten überholt. Verblüfft blieb er stehen. War es eine Halluzination? Er zählte mit geschlossenen Augen still bis dreißig, um sich zu beruhigen. Als er die Augen wieder aufschlug, befand er sich inmitten einer Masse von Weihnachtsmännern und -frauen, die sich vor dem Kaufhaus versammelt hatten. Alle holten ihre Handys aus den Taschen und blickten wartend auf die Displays. Herbert versuchte einen Blick auf das Gerät der neben ihm stehenden Weihnachtsfrau zu werfen. Sie sah ihn erstaunt an: „Noch zwanzig Sekunden. Geht deines nicht?“ Mehr als ein „Akku defekt“ fiel ihm dazu nicht ein.
Mit einem Ruck setzte sich die Menge in Bewegung und drängte durch die Türen in das Kaufhaus hinein. Herbert konnte gar nicht anders, wie ein Tropfen im Fluss wurde er zum Bestandteil der Bewegung und befand sich schon auf einer Rolltreppe. Die Kostümträger verteilten sich mit ihren Tüten wie nach einem geheimen Plan, während er wie gelähmt auf einem breiten Gang stehen blieb. Sein Wagen mit den Prospekten war weg, er hatte ihn einfach irgendwann losgelassen. Ihm wurde schwindlig, aber keine Sitzgelegenheit war in Reichweite. Er wollte sich nur kurz aufstützen, um alles zu überdenken und einen klaren Kopf zu bekommen. In wenigen Metern Entfernung entdeckte er einen langen Kassentresen, hinter dem ihn zwei Mitarbeiterinnen wortlos anstarrten. Mehrere wartende Kunden wichen vor ihm zurück, als er sein Ziel endlich erreicht hatte.
Er wollte etwas zu seiner Entschuldigung sagen: „Das ist ein … .“ Ein älterer Kunde nutzte Herberts Zögern, um den Satz zu ergänzen: „ … ein Überfall, was sonst.“ Wenige Sekunden verstrichen, bis eine Frau hinter dem Kunden einen spitzen Schrei ausstieß, der in einen Weinkrampf überging. Die anderen Kunden hoben die Hände. Herbert griff in die Jackentasche, um nun endlich sein Handy zu suchen und Fred anzurufen. Die Situation war absurd und schrie nach Auflösung. Er holte Luft für eine neue Erklärung: „Das ist ein … .“ als der ältere Kunde sehr bestimmt fortfuhr:
„Lassen sie die Waffe stecken. Bitte! Wir haben sie verstanden.“ und an die Mitarbeiterinnen gerichtet: „Geben sie ihm endlich Geld, mein Gott, Tüten haben sie ja genug hier. Wir wollen doch nicht als Helden sterben. Meine Enkelkinder kommen morgen zum Adventskaffee.“ Tatsächlich öffnete eine der Angestellten die Kasse und stopfte bündelweise Scheine in eine Tüte, während der anderen Angestellten die Beine nachgaben.
Langsam rutschte sie mit dem Rücken an der Wand auf den Boden und murmelte: „Das ist zu viel für mich.“
Die Angestellte schaut Herbert mit einem leicht irren Blick an: „Was haben sie gesagt? Das ist zu viel?“
„Nun ist aber Schluss!“, Herbert platzte der Kragen: „Ich habe nur das wiederholt, was ihre arme Kollegin gerade gesagt hat. Um es klarzustellen. Das ist hier ein … . “ Wieder fiel ihm der ältere Kunde mit erhobenem rechtem Zeigefinger ins Wort: „Wie gut, dass sie uns daran erinnern, was hier gerade passiert. Nehmen sie endlich die Tüte und verschwinden sie!“
Als Herbert einen Moment ratlos abwartete, hasteten etliche Weihnachtsmänner an der Kasse vorbei und mahnten ihn zur Eile: „Das Zeitfenster ist gleich dicht, sieh zu.“ Der ältere Kunde nahm der Angestellten die mit Geld gefüllte Tüte ab und drückte sie Herbert mit einer leisen Mahnung in die Hand: “Sie haben es doch gehört. Das Zeitfenster. Jetzt aber los.“ Herbert wurde sanft in Richtung der Rolltreppe geschoben.
Dort versuchte er, Kontakt zu einem vor ihm stehenden Weihnachtsmann zu knüpfen. Er klopfte ihm sanft auf die Schulter und versuchte es erneut: „Was ist das hier, ein … ?“ Weiter kam er nicht, da der Kostümierte auf Herberts gefüllte Einkaufstüte wies: „Hey, das verstößt gegen die Regeln. Es wird nichts wieder mitgenommen, das weißt du genau.“
„Ich wollte nichts mitnehmen, es wurde mir … .“ Herbert musste sich festhalten, da die Rolltreppe abrupt stehen blieb. Ein schwerer Kerl hinter ihm verlor den Halt und verursachte einen Dominoeffekt, dem sich keiner entziehen konnte. Fluchend und stöhnend purzelten etliche auf ihren Vordermann oder die Vorderfrau. Langsam rappelte sich die rot gekleidete Gesellschaft wieder auf und zog in Richtung der von anderen Weihnachtsmännern weit geöffneten Kaufhaustüren.
Plötzlich stand Herbert von der Sonne geblendet wieder auf dem Platz, wurde aber durch die Menge immer weiter vorwärts gedrängt. Um ihn herum waren unendlich viele Stimmen und laute Rufe, im Hintergrund hörte er jedoch das Geräusch von nahenden Polizeisirenen. Langsam gingen die einzelnen Rufe in einen gemeinsamen Rhythmus über, der von einigen Trommeln begleitet wurde. Herbert erschloss sich der Sinn der Worte oder Wortfetzen nicht: „Bi Ei Bi!“ Schließlich gelang es ihm, unter der Kostümierung seine Sonnenbrille zu finden. Als er sie aufsetzte und sich schließlich zum Kaufhaus umdrehte, traute er schon wieder seinen Augen nicht. Ein riesiges Transparent war vom Dach über die Fassade heruntergelassen worden. Nur drei Worte standen dort: „Bring It Back!“
Er starrte auf die Plastiktüte in seiner linken Hand und fühlte sich ertappt. Langsam bahnte er sich einen Weg zurück zum Eingang des Kaufhauses, als er ihn entdeckte: seinen Einkaufstrolley mit den Werbezetteln. Er stand in einiger Entfernung einfach an der Fassade des Kaufhauses. Ein ehrlicher Mensch musste ihn dort abgestellt haben. „Bring it back“ seufzte Herbert laut und sein Gewissen trieb ihn weiter, wobei er gleichzeitig den Rollwagen mit ständigen Seitenblicken unter Kontrolle hielt. Das Kaufhaus wurde gerade durch Angestellte von innen verriegelt. Sie deuteten ihm durch Handbewegungen an, endlich zu verschwinden. So stand Herbert in seinem Weihnachtsmannkostüm mit Sonnenbrille allein vor dem Eingang. Er drehte sich um und sah eine rot gekleidete Menschenmenge, die nach wie vor „Bi Ei Bi“ skandierte und im Takt Einkaufstüten schwenkte. Die Sirenen näherten sich von links und mussten jede Sekunde eintreffen. Herbert entwich der Zwickmühle in Richtung seines Rollwagens.
Dort zog er mehrere Stapel der Werbezettel heraus und stopfte die Plastiktüte hinein, als er eilige Schritte hinter sich vernahm. Eine Hand legte sich schwer auf seine linke Schulter. Herbert dreht sich langsam um und erwartete das Klicken von Handschellen. Er streckte gehorsam die Hände in Richtung der beiden Polizisten: „Das ist ein … .“
„Scheiß Tag, das können wir unterschreiben, den auch keine Pizza mehr retten kann.“ brüllte ihn einer der Polizisten an und zog langsam an Herberts Rauschebart. Gleichzeitig hob er mit der anderen Hand Herberts Sonnenbrille etwas an. „Ach, du bist’s, sag das doch gleich.“ Er nickte in Richtung seines Kollegen: “Kai, das ist Herbert und keiner von den Chaoten da hinten. Für den leg ich meine Hand ins Feuer. Steht immer hier und verteilt Werbung. Bekannt aus der Lokalpresse.“ Der Kollege zuckte mit den Schultern und ging bereits wieder zurück zum Kaufhauseingang, der halbkreisförmig von mehreren Polizeiwagen gesichert war. „Sieh‘ zu, dass du dich vom Acker machst, aber zieh vorher die Klamotten aus. Sonst kassiert dich die nächste Streife ein.“ Der Polizist verabschiedete sich mit einem Kopfnicken, kam jedoch zu Herberts Erstaunen gleich noch einmal zurück:
„Sag‘ mal, wie viel Bonus gibt’s für eine Pizza? Hast du ein paar von den Zetteln für die Wache?“ Herbert versuchte ein letztes Mal die Situation zu erläutern: „Ich schaffe es heute einfach nicht, einen einzigen … .“ „Werbezettel unters Volk zu bringen.“ unterbrach ihn erneut der Polizist und fuhr freundlich fort: „Mach dir nichts draus. Bist wirklich ein netter Kerl.“
Herbert verstand die Welt nicht mehr. Nachdem er mit dem Bus zu Freds Sammelstelle gefahren war und den Trolley zurückgebracht hatte, mochte er zunächst nicht nach Hause. Fred hörte wie üblich den Polizeifunk ab und hatte bereits von der Kaufhausstürmung gehört, er wusste jedoch auch noch nichts Genaues über den Hintergrund der Aktion. Ein wenig ratlos gingen sie schließlich auseinander und wollten in der kommenden Woche über neue Verteilaktionen sprechen. Zu Herberts Erstaunen wartete kein Polizeiwagen vor seiner Haustür.
Er stellte die Plastiktüte zunächst auf seinen Küchentisch und sah lange aus dem Fenster. Später holte er sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und sortierte die Scheine durch, bis Häufchen von fünf bis einhundert Euro vor ihm lagen. Daneben legte er sein Handy. Es war kein Vermögen, das war ihm klar, aber andererseits eine Art aufgedrängtes … ja, was eigentlich? Herbert sah abwechselnd zum Geld und dann zum Handy und wieder zurück. Nach der dritten Flasche Bier schlief er erschöpft mit dem Kopf auf der Tischplatte ein und begann zu träumen – das erste Mal seit sehr langer Zeit.
Zwei Wochen später öffnete Herbert die Augen und musste sich gleich wieder die Sonnenbrille aufsetzen. Von der Liege aus wanderte sein Blick über den weißen Strand auf das türkisfarbene Meer. „Nichts werde ich zurückbringen.“ flüsterte er gut gelaunt. Für einen Moment fiel ihm seine kleine Wohnung ein, in der ein Zeitungsartikel auf dem Küchentisch lag. Dann schloss er wieder die Augen und freute sich auf die vor ihm liegenden Urlaubstage.
MorgenBlatt 16.12.
Weihnachtsmänner stürmen Kaufhaus
Hunderte Aktivisten der Umweltgruppe „BIB“ („Bring It Back“) stürmten gestern in Weihnachtsmannkostümen das Barstadt-Kaufhaus. Sinn der Aktion war es laut einem uns vorliegenden Bekennerschreiben, nicht mehr benötigte aber noch intakte Konsumartikel „zurück“ in das Kaufhaus zu bringen. Nach eigener Darstellung legten die Aktivisten 2000 Artikel in die Regale, von denen bis gestern Abend jedoch nur wenige entdeckt wurden. Die Konzernleitung von Barstadt zeigte sich von der Aktion entsetzt und erstattete Strafanzeige. Gleichzeitig nutzte anscheinend ein Trittbrettfahrer sein Insiderwissen und raubte innerhalb von Minuten brutal eine Kasse aus. Nur durch das besonnene Verhalten der Mitarbeiter und Kunden konnte Schlimmeres verhindert werden. Die Polizei vermutet den Täter innerhalb der Aktivistengruppe und hat gestern mit den ersten Hausdurchsuchungen begonnen.