Die 11. Weihnachtswoche von Seitenwind

„Bi Ei Bi !“

Es würde ein verkaufsoffener Samstag wie viele andere werden. Das dachte Herbert Fahl – wir nennen ihn einfach Herbert - jedenfalls noch am Morgen des 15. Dezember, als er mit dem Rad aus seiner wenig vornehmen Wohnsiedlung in Richtung der Innenstadt fuhr. Nach wochenlangem Regenwetter schien zum ersten Mal die Sonne und er musste die Augen vor der ungewohnten Helligkeit zusammenkneifen. Sie waren im Laufe der Jahre ohne nachvollziehbaren Grund immer empfindlicher geworden. Als Vorsichtsmaßnahme hatte er stets eine Sonnenbrille dabei, die er schließlich aufsetzte. Er wäre gerne einfach immer weitergefahren, wie er es oft tat.

Es gab für ihn als vom Arbeitsmarkt Aussortierten nicht mehr viel zu tun. Hin und wieder nahm er jedoch die Gelegenheit wahr, sich ein kleines Zubrot zu verdienen. Auch heute musste er wieder in diese alberne Verkleidung steigen, er hatte es Fred gestern fest versprochen. Fast jeder in dieser Stadt – so viel hatten ihn achtundfünfzig Jahre gelehrt - trug eine Verkleidung, egal ob es sich um Banker, Fußballfans, Bürotanten, Hip Hopper, um Hartz-IV-Sippen oder Autonome handelte. Weshalb sollte er daher nicht in einem Weihnachtsmannkostüm die Vielfalt des Maskenballs erweitern und für eine Pizzakette werben?

Alles war wie immer. Fred Timmermann wartete ungeduldig auf dem Hinterhof mit den bereits gefüllten Einkaufstrolleys auf seine Mitarbeiter. In jedem der acht Wagen befanden sich tausend Werbezettel, die innerhalb der nächsten vier Stunden verteilt werden mussten. Zunächst aber wechselte Herbert sein Outfit und zog das leichte rote Kostüm über seine Kleidung.

Fred verdiente sein Geld mit Massen von Verteilern, die in der ganzen Stadt täglich zehntausendfach Werbung in jeder erdenklichen Form unters Volk brachten. Zum Abschluss kontrollierte er die Weihnachtsmannparade, rückte hier und da Jacken, Bärte und Zipfelmützen zurecht, bis er einen zufriedenen Seufzer von sich gab: „Auf in den Kampf, ihr Rotröcke!“

Mit einem Kleinbus wurde die Gruppe schließlich zu ihren Verteilstellen gebracht, Herbert als dienstältester Weihnachtsmann stieg im Stadtzentrum vor dem größten Kaufhaus aus. Es gab ein wenig Gemurre über sein Privileg, gerade hier in den Menschenmassen verteilen zu dürfen, aber Fred erstickte jede Diskussion im Keim: „Hocharbeiten, Kinder. Herbert war schon im Morgenblatt, jeder kennt ihn hier, da sollt ihr erst einmal hinkommen. Das hat mir richtig Umsatz gebracht.“ Er entließ Herbert mit dem üblichen Spruch: „Hau rein, wir sehen uns.“

Der stets hektische Fred mochte Herbert, weil der schweigsam und zuverlässig war. Bei Herbert gab es keine Beschwerden oder Prospektbündel in Altpapiercontainern, während andere im ständig wechselnden Heer der Verteiler nur kurz etwas Geld ohne Gegenleistung abgreifen wollten.

Ein paar Minuten später ging Herbert langsam über den großen Platz in

Richtung Kaufhaus, Menschenmengen bewegten sich bereits auf die Eingangstüren zu. Ungefähr in der Mitte des Platzes angekommen, wurde er zu seinem Erstaunen von mehreren anderen Weihnachtsmännern mit gefüllten Plastiktüten überholt. Verblüfft blieb er stehen. War es eine Halluzination? Er zählte mit geschlossenen Augen still bis dreißig, um sich zu beruhigen. Als er die Augen wieder aufschlug, befand er sich inmitten einer Masse von Weihnachtsmännern und -frauen, die sich vor dem Kaufhaus versammelt hatten. Alle holten ihre Handys aus den Taschen und blickten wartend auf die Displays. Herbert versuchte einen Blick auf das Gerät der neben ihm stehenden Weihnachtsfrau zu werfen. Sie sah ihn erstaunt an: „Noch zwanzig Sekunden. Geht deines nicht?“ Mehr als ein „Akku defekt“ fiel ihm dazu nicht ein.

Mit einem Ruck setzte sich die Menge in Bewegung und drängte durch die Türen in das Kaufhaus hinein. Herbert konnte gar nicht anders, wie ein Tropfen im Fluss wurde er zum Bestandteil der Bewegung und befand sich schon auf einer Rolltreppe. Die Kostümträger verteilten sich mit ihren Tüten wie nach einem geheimen Plan, während er wie gelähmt auf einem breiten Gang stehen blieb. Sein Wagen mit den Prospekten war weg, er hatte ihn einfach irgendwann losgelassen. Ihm wurde schwindlig, aber keine Sitzgelegenheit war in Reichweite. Er wollte sich nur kurz aufstützen, um alles zu überdenken und einen klaren Kopf zu bekommen. In wenigen Metern Entfernung entdeckte er einen langen Kassentresen, hinter dem ihn zwei Mitarbeiterinnen wortlos anstarrten. Mehrere wartende Kunden wichen vor ihm zurück, als er sein Ziel endlich erreicht hatte.

Er wollte etwas zu seiner Entschuldigung sagen: „Das ist ein … .“ Ein älterer Kunde nutzte Herberts Zögern, um den Satz zu ergänzen: „ … ein Überfall, was sonst.“ Wenige Sekunden verstrichen, bis eine Frau hinter dem Kunden einen spitzen Schrei ausstieß, der in einen Weinkrampf überging. Die anderen Kunden hoben die Hände. Herbert griff in die Jackentasche, um nun endlich sein Handy zu suchen und Fred anzurufen. Die Situation war absurd und schrie nach Auflösung. Er holte Luft für eine neue Erklärung: „Das ist ein … .“ als der ältere Kunde sehr bestimmt fortfuhr:

„Lassen sie die Waffe stecken. Bitte! Wir haben sie verstanden.“ und an die Mitarbeiterinnen gerichtet: „Geben sie ihm endlich Geld, mein Gott, Tüten haben sie ja genug hier. Wir wollen doch nicht als Helden sterben. Meine Enkelkinder kommen morgen zum Adventskaffee.“ Tatsächlich öffnete eine der Angestellten die Kasse und stopfte bündelweise Scheine in eine Tüte, während der anderen Angestellten die Beine nachgaben.

Langsam rutschte sie mit dem Rücken an der Wand auf den Boden und murmelte: „Das ist zu viel für mich.“

Die Angestellte schaut Herbert mit einem leicht irren Blick an: „Was haben sie gesagt? Das ist zu viel?“

„Nun ist aber Schluss!“, Herbert platzte der Kragen: „Ich habe nur das wiederholt, was ihre arme Kollegin gerade gesagt hat. Um es klarzustellen. Das ist hier ein … . “ Wieder fiel ihm der ältere Kunde mit erhobenem rechtem Zeigefinger ins Wort: „Wie gut, dass sie uns daran erinnern, was hier gerade passiert. Nehmen sie endlich die Tüte und verschwinden sie!“

Als Herbert einen Moment ratlos abwartete, hasteten etliche Weihnachtsmänner an der Kasse vorbei und mahnten ihn zur Eile: „Das Zeitfenster ist gleich dicht, sieh zu.“ Der ältere Kunde nahm der Angestellten die mit Geld gefüllte Tüte ab und drückte sie Herbert mit einer leisen Mahnung in die Hand: “Sie haben es doch gehört. Das Zeitfenster. Jetzt aber los.“ Herbert wurde sanft in Richtung der Rolltreppe geschoben.

Dort versuchte er, Kontakt zu einem vor ihm stehenden Weihnachtsmann zu knüpfen. Er klopfte ihm sanft auf die Schulter und versuchte es erneut: „Was ist das hier, ein … ?“ Weiter kam er nicht, da der Kostümierte auf Herberts gefüllte Einkaufstüte wies: „Hey, das verstößt gegen die Regeln. Es wird nichts wieder mitgenommen, das weißt du genau.“

„Ich wollte nichts mitnehmen, es wurde mir … .“ Herbert musste sich festhalten, da die Rolltreppe abrupt stehen blieb. Ein schwerer Kerl hinter ihm verlor den Halt und verursachte einen Dominoeffekt, dem sich keiner entziehen konnte. Fluchend und stöhnend purzelten etliche auf ihren Vordermann oder die Vorderfrau. Langsam rappelte sich die rot gekleidete Gesellschaft wieder auf und zog in Richtung der von anderen Weihnachtsmännern weit geöffneten Kaufhaustüren.

Plötzlich stand Herbert von der Sonne geblendet wieder auf dem Platz, wurde aber durch die Menge immer weiter vorwärts gedrängt. Um ihn herum waren unendlich viele Stimmen und laute Rufe, im Hintergrund hörte er jedoch das Geräusch von nahenden Polizeisirenen. Langsam gingen die einzelnen Rufe in einen gemeinsamen Rhythmus über, der von einigen Trommeln begleitet wurde. Herbert erschloss sich der Sinn der Worte oder Wortfetzen nicht: „Bi Ei Bi!“ Schließlich gelang es ihm, unter der Kostümierung seine Sonnenbrille zu finden. Als er sie aufsetzte und sich schließlich zum Kaufhaus umdrehte, traute er schon wieder seinen Augen nicht. Ein riesiges Transparent war vom Dach über die Fassade heruntergelassen worden. Nur drei Worte standen dort: „Bring It Back!“

Er starrte auf die Plastiktüte in seiner linken Hand und fühlte sich ertappt. Langsam bahnte er sich einen Weg zurück zum Eingang des Kaufhauses, als er ihn entdeckte: seinen Einkaufstrolley mit den Werbezetteln. Er stand in einiger Entfernung einfach an der Fassade des Kaufhauses. Ein ehrlicher Mensch musste ihn dort abgestellt haben. „Bring it back“ seufzte Herbert laut und sein Gewissen trieb ihn weiter, wobei er gleichzeitig den Rollwagen mit ständigen Seitenblicken unter Kontrolle hielt. Das Kaufhaus wurde gerade durch Angestellte von innen verriegelt. Sie deuteten ihm durch Handbewegungen an, endlich zu verschwinden. So stand Herbert in seinem Weihnachtsmannkostüm mit Sonnenbrille allein vor dem Eingang. Er drehte sich um und sah eine rot gekleidete Menschenmenge, die nach wie vor „Bi Ei Bi“ skandierte und im Takt Einkaufstüten schwenkte. Die Sirenen näherten sich von links und mussten jede Sekunde eintreffen. Herbert entwich der Zwickmühle in Richtung seines Rollwagens.

Dort zog er mehrere Stapel der Werbezettel heraus und stopfte die Plastiktüte hinein, als er eilige Schritte hinter sich vernahm. Eine Hand legte sich schwer auf seine linke Schulter. Herbert dreht sich langsam um und erwartete das Klicken von Handschellen. Er streckte gehorsam die Hände in Richtung der beiden Polizisten: „Das ist ein … .“

„Scheiß Tag, das können wir unterschreiben, den auch keine Pizza mehr retten kann.“ brüllte ihn einer der Polizisten an und zog langsam an Herberts Rauschebart. Gleichzeitig hob er mit der anderen Hand Herberts Sonnenbrille etwas an. „Ach, du bist’s, sag das doch gleich.“ Er nickte in Richtung seines Kollegen: “Kai, das ist Herbert und keiner von den Chaoten da hinten. Für den leg ich meine Hand ins Feuer. Steht immer hier und verteilt Werbung. Bekannt aus der Lokalpresse.“ Der Kollege zuckte mit den Schultern und ging bereits wieder zurück zum Kaufhauseingang, der halbkreisförmig von mehreren Polizeiwagen gesichert war. „Sieh‘ zu, dass du dich vom Acker machst, aber zieh vorher die Klamotten aus. Sonst kassiert dich die nächste Streife ein.“ Der Polizist verabschiedete sich mit einem Kopfnicken, kam jedoch zu Herberts Erstaunen gleich noch einmal zurück:

„Sag‘ mal, wie viel Bonus gibt’s für eine Pizza? Hast du ein paar von den Zetteln für die Wache?“ Herbert versuchte ein letztes Mal die Situation zu erläutern: „Ich schaffe es heute einfach nicht, einen einzigen … .“ „Werbezettel unters Volk zu bringen.“ unterbrach ihn erneut der Polizist und fuhr freundlich fort: „Mach dir nichts draus. Bist wirklich ein netter Kerl.“

Herbert verstand die Welt nicht mehr. Nachdem er mit dem Bus zu Freds Sammelstelle gefahren war und den Trolley zurückgebracht hatte, mochte er zunächst nicht nach Hause. Fred hörte wie üblich den Polizeifunk ab und hatte bereits von der Kaufhausstürmung gehört, er wusste jedoch auch noch nichts Genaues über den Hintergrund der Aktion. Ein wenig ratlos gingen sie schließlich auseinander und wollten in der kommenden Woche über neue Verteilaktionen sprechen. Zu Herberts Erstaunen wartete kein Polizeiwagen vor seiner Haustür.

Er stellte die Plastiktüte zunächst auf seinen Küchentisch und sah lange aus dem Fenster. Später holte er sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und sortierte die Scheine durch, bis Häufchen von fünf bis einhundert Euro vor ihm lagen. Daneben legte er sein Handy. Es war kein Vermögen, das war ihm klar, aber andererseits eine Art aufgedrängtes … ja, was eigentlich? Herbert sah abwechselnd zum Geld und dann zum Handy und wieder zurück. Nach der dritten Flasche Bier schlief er erschöpft mit dem Kopf auf der Tischplatte ein und begann zu träumen – das erste Mal seit sehr langer Zeit.

Zwei Wochen später öffnete Herbert die Augen und musste sich gleich wieder die Sonnenbrille aufsetzen. Von der Liege aus wanderte sein Blick über den weißen Strand auf das türkisfarbene Meer. „Nichts werde ich zurückbringen.“ flüsterte er gut gelaunt. Für einen Moment fiel ihm seine kleine Wohnung ein, in der ein Zeitungsartikel auf dem Küchentisch lag. Dann schloss er wieder die Augen und freute sich auf die vor ihm liegenden Urlaubstage.

MorgenBlatt 16.12.

Weihnachtsmänner stürmen Kaufhaus

Hunderte Aktivisten der Umweltgruppe „BIB“ („Bring It Back“) stürmten gestern in Weihnachtsmannkostümen das Barstadt-Kaufhaus. Sinn der Aktion war es laut einem uns vorliegenden Bekennerschreiben, nicht mehr benötigte aber noch intakte Konsumartikel „zurück“ in das Kaufhaus zu bringen. Nach eigener Darstellung legten die Aktivisten 2000 Artikel in die Regale, von denen bis gestern Abend jedoch nur wenige entdeckt wurden. Die Konzernleitung von Barstadt zeigte sich von der Aktion entsetzt und erstattete Strafanzeige. Gleichzeitig nutzte anscheinend ein Trittbrettfahrer sein Insiderwissen und raubte innerhalb von Minuten brutal eine Kasse aus. Nur durch das besonnene Verhalten der Mitarbeiter und Kunden konnte Schlimmeres verhindert werden. Die Polizei vermutet den Täter innerhalb der Aktivistengruppe und hat gestern mit den ersten Hausdurchsuchungen begonnen.

Heiligabend im Straßengraben
Wütend starrte sie durch die ver-schmierte Frontscheibe ihres Dienstwagens in die einsame Schneewüste. Die Konturen verschwammen hinter dem peitschenden Eisregen. Da draußen sah es genauso düster aus, wie in ihrem Innern. Susanne unterdrückte einen Fluch auf die Familie, die sie eben besucht hatte. Und auf die davor. Und die noch davor. Es war immer dasselbe:
Der Vater – Trinker, langzeitarbeitslos, von allen Seiten abgelehnt, auf der Suche nach jeder Art von Anerkennung.
Die Mutter – unfähig zur Alltagsbewältigung, frustriert, gereizt gegenüber den nervenden Kindern und dem nörgelnden Ehemann. Die Kinder – quengelig und blass vom vielen Fernsehen, vernachlässigt, orientierungslos - verhaltensgestört.
In dieser Situation dann an sie als Sozialarbeiterin die Bitte der Eltern:
„Bringen Sie unsere Kinder zur Vernunft! Machen Sie aus uns wieder eine richtige Familie!“
Susanne hieb mit der Faust aufs Lenkrad. Wut und Hoffnungslosigkeit breiteten sich im Wagen aus. Was sollte sie hier schon ausrichten?! Dem Vater Arbeit besorgen, damit er zu trinken aufhörte und seine Frau nicht mehr schlug? Der Mutter Geld geben, damit ihr das Leben weniger trostlos erschien? Oder die Kinder adoptieren, damit diese wenigstens einmal im Leben ein richtiges Familienleben kennen lernten? – Dann hätte sie schon mindestens dreißig Kinder zuhause.
Inzwischen übertönte ihr Magen das Geschimpfe. Seit dem Morgen hatte Susanne nichts mehr gegessen. Sie schaute auf die Armbanduhr. Die Zeiger standen auf zehn vor halb zwei. Andere Mütter hantierten jetzt in der Küche, sahen Mann und Kindern beim Baumschmücken zu oder packten letzte Geschenke ein. Auch ihr Arbeitstag war eigentlich seit zwölf Uhr zu Ende. Doch die nächste Familie wartete seit dem Vormittag auf sie. In der neun Kilometer entfernten Kreisstadt. Und was sollte sie denen erzählen?
Es war sinnlos, so weiterzufahren. Susanne suchte am Straßenrand nach einer Ausweichstelle. Der zugige Wind, der sich auf den Feldern zu beiden Seiten der Straße austobte, hatte alle Umrisse verweht. Selbst die Straßenbegrenzungspfosten duckten ihre Köpfe in die Schneedünen. Endlich erschien ihr eine Stelle geeignet zum Anhalten. Susanne blinkte und verließ die Straße.
Aus ihrer Tasche kramte sie eine Schnitte hervor. Blutwurst. Auch das noch! Sie schimpfte noch einmal. Plötzlich lief ein Ruck durch das Fahrzeug, begleitet von einem plustrigen „Puff!“. Die Beifahrerseite lag jetzt wesentlich tiefer, als der Rest des Wagens. Ratlos blickte sich Susanne um. Sie holte ihr Handy hervor – kein Netz. Verzweiflung verdrängte die Wut und verdichtete den Knoten in ihrem Magen. Was nun? Was, wenn sie hier nicht mehr herauskam? Wenn sie auf dieser gottverlassenen Straße bis zur Dunkelheit ausharren musste? Oder länger?
Susanne hüllte sich enger in ihre Jacke. Sie warf sich gegen die Fahrertür - und versank draußen bis an die Oberschenkel im Pulverschnee. Schneeklümpchen blieben an ihrer Jeans hängen und froren sofort fest. Kopfschüttelnd betrachtete sie das tief im Schnee liegende Auto. Gegen ihren Willen musste sie lachen.
Mit zusammengekniffenen Augen sah sie sich um. Zum Glück flaute der Wind ab. Die Schneewolken zogen in Richtung Süden davon. Weit und breit war kein Mensch, kein anderes Fahrzeug in Sicht. Aufs Autodach gelehnt, blickte Susanne in die Ferne. Der Himmel war nicht mehr ganz so grau. Eine blasse Wintersonne blinzelte zwischen den Wolken hindurch. Vorwitzige Strahlen zauberten reflektierende Punkte wie Diamanten in die weiße Landschaft. Das Wurstbrot schmeckte nicht mehr ganz so fade. Langsam begann Susanne die Zusammenhänge wieder so zu sehen, wie sie waren. Natürlich tranken die Väter in den von ihr betreuten Familien und auch für Zigaretten würden sie immer Geld haben, auch wenn der Kühlschrank leer blieb. Doch Susanne hatte im Laufe der Jahre auch erkennen gelernt, dass dies die beiden Dinge waren, an denen sich ihre Klienten festhielten. Die einzigen Fixpunkte inmitten eines Lebens voller Abgründe. Die von ihr Betreuten gehörten zu den ärmsten der Armen. Sie meldeten sich alle paar Wochen auf dem Amt, sonst gab es kein Geld. Dort legten sie, gemeinsam mit Hunderten gleich Betroffenen, einen Zettel vor, der Kundenkarte hieß, und der neben ihrem Namen nur noch die Berufskennziffer, so sie denn eine hatten, und die Kundennummer enthielt. Die Erfindung der Kundennummer war dem Datenschutz geschuldet, den es hier nicht gab und welche die Leute gegen ihr letztes bisschen Würde eingetauscht hatten. Sie verbrachten die Zeit, während die Kinder in der Schule waren, vor dem Fernseher und sahen Talkshows über Leute wie sie, um nicht der völligen Isolation zu verfallen. Die Nachmittage vergingen ebenso vor dem Fernseher, denn nur so konnte man die Chancenlosigkeit der eigenen Kinder ignorieren, wenn sie einen mit Fragen konfrontierten, warum dieser und jener Dinge besaßen, die sie nie haben würden oder Hobbys pflegten, die sie nie ausprobieren würden. Sie klauten Kohlen oder beheizten den einen Ofen mit den Holzresten, die das nahegelegene Sägewerk ihnen überließ. Im Winter spielte sich das Leben in dem einzigen beheizbaren Raum ab und der Umgangston wurde in der Enge immer rüder. Gerade hier auf dem Land.
„Du bist Deutschland.“, ging es Susanne durch den Kopf.
Der nachlassende Wind wirbelte Glitzerkristalle auf und setzte sie an anderer Stelle wieder ab. Andere funkelten, bis auch sie fortgetragen wur-den. Der Himmel hüllte sich in pas-tellfarbene Schleier. Eine sich ständig ändernde Kulisse. Darunter leuchtete das jungfräuliche Weiß des pulvrigen Schnees, der noch nicht die Zeit gehabt hatte, schmutzig zu werden. Eine Laune der Natur und ein grandioses Schauspiel für jeden, der die Zeit aufbrachte, zuzuschauen. Zeit, davon hatten ihre Klienten viel zu viel. Susanne wusste, was sie tun würde: Sie würde mit der nächsten Familie ins Freie gehen. Ein Winterspaziergang, vielleicht mit dem Schlitten, eine Schneeballschlacht mit Mutter, Vater und den Kindern. Den Reichtum der Natur, die Faszination dieses einzigartigen Farbenspiels, den Spaß am Umgang miteinander und vielleicht – für ein paar Stunden nur – eine Ahnung davon, das eigene Leben selbst gestalten zu können, das würde sie ihnen bringen.
Ein Fischtransporter hielt an. Minuten später war sie mit ihrem Wagen wieder unterwegs. Mit den Fingern trommelte sie den Takt eines Weihnachtsliedes aufs Lenkrad.

Depression am Heiligabend.

Einsam tapse ich durch die winterliche Landschaft. Meine Schritte gehen schwer.
Heiligabend.
Ich bin alleine. Neidvoll wandert mein Blick zu den festlich geschmückten Häusern und Wohnungen, an denen ich vorbei schreite. Gerne wäre ich bei einer fröhlichen Familienfeier dabei. Aus vereinzelten Häusern und Wohnungen erklingt festliche Weihnachtsmusik.
Doch ich bin alleine. Keine Frau, keine Arbeit, keine Familie sowie keine Freunde.
Irgendwann bin ich des Neids überflüssig, welchen ich gegenüber den fröhlichen Familien hege. Viele Geschenke werden ausgetauscht. In glücken Kinderaugen ist die Freude zu sehen.
Ich komme an einem Park vorbei. Eine Sitzbank steht alleine am Wegrand. Sie ist genauso einsam wie ich und wird schwach von einer Laterne beschienen.
Nachdem ich mich setze, quälen mich wieder diese Gedanken, welche mich die Einsamkeit spüren lassen. Ich ziehe meinen Mantel enger und überkreuze meine Arme vor der Brust, um mir selbst Wärme zu spenden. So sitze ich lange und falle in meine depressive Welt zurück.
Plötzlich spricht mich jemand an. Ich erhebe meinen Kopf aus der lethargischen Haltung und erblicke einen alten Mann mit langem grauen Bart. Er trägt einen roten Mantel mit Gürtel. Dazu eine rote Pudelmütze mit weißem Bommel. Über der Schulter hängt ein prall gefüllter Jutesack. Ich erkenne ihn sofort. Der Weihnachtsmann.
Was will der hier? Hat der nichts zu tun?
„Verschwinde“, sage ich unwirsch zu ihm. „Dieses Jahr war ich nicht artig. Du verschwendest deine Zeit. Beglücke lieber die Kinder. Die haben es mehr verdient.“
Durch meine vielen Probleme und Schicksalsschläge bin ich ein vergrämter, alter Mann geworden, der in seinem Leben keinen Sinn mehr sieht. Ich wende den Blick vom Weihnachtsmann wieder ab und senke erneut den Kopf. Die Arme immer noch vor mir verschränkt.
In dieser Haltung vernehme ich die Stimme des Weihnachtsmanns. Sie klingt zwar alt, aber sie hat einen tröstenden und ruhigen Unterton.
„Das ist für dich mein Sohn. Nutze diese Gelegenheit für einen Neuanfang. Es wird alles wieder gut.“
Der Weihnachtsmann legt irgendetwas neben mich auf die Bank und entfernt sich.
Ich sehe nicht auf. Gerede. Alles wird gut. Oft wurde es mir schon gesagt. Absage über Absage ereilte mich. Die Zuversicht schwand. Und nun kommt da so ein verkleideter Weihnachtsmann her und verspricht mir, es würde alles wieder gut werden? Wer’s glaubt, wird selig.
Nach vielen Minuten des Selbstmitleids erfüllt mich dennoch ein bisher unbekanntes Gefühl. Die Neugierde erfasst mich. Ich öffne die Augen und drehe den Kopf. Im schwachen Laternenlicht erkenne ich den Arbeitsmarktteil einer Zeitung. Sogleich fällt mein Blick auf eine bestimmte Anzeige. Als ich sie im Laternenlicht durchlese, ergreift mich mit einem Mal das Gefühl der Hoffnung. Diese Stelle könnte was werden.
Irritiert sehe ich in die Richtung, in die der Weihnachtsmann verschwand. Natürlich hat die Dunkelheit ihn verschluckt.
Woher wusste er?
Seltsam. Am Ende war es gar kein verkleideter Weihnachtsmann, der eine Familie nach der anderen am Heiligabend gegen Geld aufsucht.
Sondern …
Ich mag diesen Gedanken gar nicht weiterspinnen. Zu unheimlich wäre es. Dennoch hat der Weihnachtsmann eines erreicht. Er weckte in mir die Lebensgeister. Sogleich verlasse ich die Sitzbank und gehe in mein karges Heim. Am selben Abend schreibe ich die Bewerbung und stecke sie in den Briefkasten.
Ein gutes Gefühl übermannt mich. Es sollte mich nicht wundern, wenn ich angenommen werde. Das wäre ein großer Schritt vorwärts für mich.

BEITRAG

Hallo Gott

Mein Weihnachtsbrief 2022.

Hallo Gott,

wenn du diesen Brief hier liest, musst du nicht gleich sauer sein. Ich weiß ja, dass du es gewohnt bist, mit „Lieber Gott“ angesprochen zu werden, aber woher soll ich wissen, ob du tatsächlich lieb bist? Und Einschleimen ist nicht wirklich meine Sache. Was sollte es bringen? Außer, dass man Zeit verballert, ist noch nie etwas Nachhaltiges aus Speichelleckerei entstanden. Jedenfalls ist mir kein solcher Fall bekannt. Ein Lobbyist mag das anders sehen, aber ich bin eben keiner von denen, die Andere aus egoistischen Gründen in die Pfanne hauen. Wenn jemand mit meiner Ehrlichkeit nicht umgehen kann, dann habe nicht ich ein Problem, sondern er. Die Entscheidung liegt also bei dir.

Aber warum schreibe ich dir überhaupt diesen Brief? Nun. Schau dich doch mal um. Das hier ist deine Welt. Und wie geht es auf ihr zu? Ich denke, wenn du selbst mal genauer hinschaust, wirst du Verständnis dafür haben, dass ich Zweifel an deiner Gesinnung hege. Aber, ich weiß ja nicht, ob das deine Zeit zulässt.

Viele Menschen meinen tatsächlich, dass du alles allein machst. Ich wage, zu behaupten, dass es sogar die meisten sind. Nur wie soll das funktionieren? Klar könnte ich sagen, das überschreitet meinen Erkenntnishorizont oder meine Fähigkeiten, etwas zu verstehen, aber damit würde ich mich doch auch wieder nur selbst verarschen.

Ich behaupte, nun zuck nicht gleich zusammen, bloß, weil ich hier mal etwas dreister auftrete, als du es vielleicht gewohnt bist, dass niemand alles allein machen kann. Damit meine ich auch, dass es unmöglich ist, dass du alles allein machst. Das müssen die Leute, die deine Bibel geschrieben haben, auch schon erkannt haben. Wieso sonst hätten sie die Sache mit den Engeln ins Leben rufen sollen? Am Ende haben sie dir sogar noch einen Sohn angehängt. Ohne Mutter. Sowas hatte nicht mal Zeus geschafft, obwohl man in der griechischen Mythologie mit solchen Sachen nicht gerade zimperlich umging. Anscheinend wussten sie nicht, wie deine Frau heißt.

Ah, da kommt mir ein Gedanke. Wegen deiner Frau meine ich. Wenn sie dir in der Bibel eine Frau an die Seite geschrieben hätten, wäre nicht mehr klar gewesen, wer da oben die Fäden in der Hand hält. Jetzt verstehe ich das. Aber was das für Folgen gebracht hat, da haben die Leute nicht dran gedacht. Schau doch nur mal, was gerade im Iran los ist. Da fordern die Frauen zu Recht ihr Recht. Aber stopp, komm mir jetzt nicht damit, dass dies nicht deine Baustelle sei, weil man dort nicht der Bibel, sondern dem Koran huldigt. Der Chef von der Riege bist am Ende doch auch wieder du.

Aber bevor ich zu sehr abschweife, was auch mal erlaubt sein muss, lass mich nochmal auf deinen Job zu sprechen kommen und darauf, dass du da alles allein machen musst. Wie schon erwähnt, ich glaube …

Ha, jetzt habe ich dich erwischt. Ich habe genau im Voraus gesehen, wie du bei den letzten Worten gelächelt hast. Wohl, weil du etwas gelesen hast, was dir gefällt. Aber der Satz war noch nicht zu Ende. Also, ich glaube, du machst nicht alles allein. Ich glaube, halt, nicht schon wieder, ich glaube, du hast einen riesigen Verwaltungsapparat.

Wie ich darauf komme, fragst du dich? Nun, mit nicht funktionierenden Behörden kennen wir uns hier auf der Erde aus. Davon haben wir genug. Da kann ich nur hoffen, dass dein Apparat schon voll digitalisiert ist und nicht auch noch per Fax kommuniziert. Obwohl das einiges erklären würde.

Was ich damit meine? Das kann ich einfach erklären. In letzter Zeit müssen irrsinnig viele Beschwerden über einen Typen Namens Putin bei euch eingegangen sein, jedoch ohne, dass ihr darauf reagiert habt. Und dass, obwohl doch dein orthodoxer Vertreter, dieser Patriarch der Rus, seine Heiligkeit Wladimir Michailowitsch Gundjajew, der sich mit Putin sogar einen Vornamen teilt, jeden Tag direkt auf dessen Schoss sitzt. Da scheinen wohl einige Faxe bei euch noch in der Pipeline zu stecken. Wenn ich dir dazu mal was empfehlen darf, dann würde ich mir an deiner Stelle mal ganz dringend die IT-Abteilung vornehmen. Bei denen scheint ziemlich viel Sand im Getriebe zu stecken.

Auch das kennen wir hier auf der Erde zu Genüge. Aber ich glaube, ich gehe schon wieder zu sehr in die Breite. Ich habe da nämlich noch einen anderen Verdacht, den ich hier erwähnen muss. Aber halt dich fest, bevor du das liest. Das kratzt ganz schön an deiner Autorität. Aber was gesagt werden muss, muss gesagt werden. Ich hatte ja schon erwähnt, wie ich es mit der Ehrlichkeit halte.

Also, zu meinem Verdacht. Ich denke, dass du gar nicht der große Zampano bist, als den dich hier auf Erden so viele preisen. Ich glaube, du bist nicht der Chef des Ganzen, sondern nur sowas wie ein Abteilungsleiter oder wie der Geschäftsführer einer GmbH. Die Spitze der Hierarchie ist auf deiner Ebene noch nicht erreicht. Über dir tummeln sich noch weitere Chefs. Sowas wie Aufsichtsräte. Vielleicht hat man dich nur zum Boss für unser Universum gemacht, was ja schon eine echte Herausforderung ist. Deshalb versteh das mit dem ‚nur‘ bitte nicht falsch. Ein ganzes Universum zu managen, würde ich mir niemals zutrauen, aber ich bin ja auch kein Gott. Vielleicht wolltest du mehr und machst den Job mehr schlecht als recht, weil man ihn dir aufs Auge gedrückt hat.

Wenn du also unser COO bist, dann könnte es wirklich sein, dass du mit der Position nicht zufrieden bist. Als Gott würde ich wahrscheinlich auch nach Höherem streben, da verstehe ich dich schon. Aber manchmal sind die Dinge eben, wie sie sind, und dann muss man das Beste draus machen. Ich wäre ja bereit, dich dabei zu unterstützen, aber dann müsstest du erstmal anfangen, hier unten so einiges wieder ins Lot zu bringen.

Die Liste der Missstände, die einfach so nicht hinzunehmen sind, ist lang. Ich werde nicht alle Punkte ansprechen können, aber ein paar dürfen einfach nicht unerwähnt bleiben.

Lass mich mal bei dem Krieg in der Ukraine anfangen. Wie bekloppt muss man sein, um so einen Krieg zu führen? So sehe ich das zumindest mit meinem, zugegeben, wenig göttlichen Weitblick. Da hätte die Queen in England, wäre sie noch am Leben, ja gleich mitziehen können. Ein moderner Sir Franzis Drake wäre sicher schnell gefunden, vielleicht hätte sich Boris Johnson angeboten, um ihn auf einer Golden Hinde in See stechen zu lassen, mit dem Auftrag, für sie neue Kolonien zu erobern. Hat sie aber nicht gemacht. Weil sie empathisch war und nicht so ein hirnloses Monster wie dieser Putin. Allerdings sollte nicht unerwähnt bleiben, dass es da noch einige Klone von Putin gibt. Zumindest gedankliche und ideologische Klone. Müsstest du dich auch mal drum kümmern.

Und dann ist da die Sache mit dem Iran. Du bräuchtest diesen machtgeilen Mullas doch bloß die Lizenz zum Denken entziehen, damit sie wegen augenscheinlicher Blödheit ihre Jobs verlieren. Aber halt, was sage ich da, vielleicht hast du das sogar schon getan. Nüchtern betrachtet sieht es jedenfalls so aus. Nur ihre Jobs sind sie noch nicht los, weil es immer noch Leute gibt, die in ihrem Fahrwasser schwimmen. Da kann ich den vielen Frauen, den Leuten überhaupt, die sich den verpeilten Idioten widersetzen, nur Glück wünschen, und, dass sie es bald schaffen, sich von diesen Zecken zu befreien. Für meine drastischen Worte entschuldige ich mich, aber wie sonst soll ich zum Ausdruck bringen, wie mich diese pseudoreligiösen Despoten ankotzen.

Wenn du dich um den Iran kümmern solltest, dann kannst du nebenan in Afghanistan gleich auch noch Hand anlegen. Die Taliban scheinen keine Abnehmer mehr für ihre Drogen zu haben, weshalb sie das Zeug jetzt selbst und im Übermaß konsumieren. Die haben sich doch alles, was Sinn macht, längst aus dem Schädel gekifft. Die Schimpansen aus den tiefsten Urwäldern Afrikas scheinen mehr von sozial gerechten und funktionierenden Strukturen zu verstehen als die Turbanträger in Afghanistan.

Die Reihe nach Osten setzt sich aber noch fort. Schau mal nach Burma. Hoppla, das heißt ja heute Myanmar. Und südwestlich ist auch was los. Im Sudan etwa oder in Äthiopien. In Afrika gibt es ohnehin noch viel für dich zu tun. In Südamerika und in Fernost aber auch.

Und dann ist da noch die Sache mit dem Klima. Da hast du uns gleich alle an der Backe, weil den Mist kein Einzelner verursacht hat. Das waren wir alle. Derzeit wohl so um die acht Milliarden Menschen. Wenn du das lösen willst, dann kommst du mit der Bearbeitung per Fax nicht mehr weit. Dann ist deine Erde längst eine riesige Wüste, bevor du die letzte Seite gelesen hast. Also, hau rein bei der Digitalisierung und lass dir mal was einfallen, dass man Nachrichten endlich schneller versenden kann als mit Lichtgeschwindigkeit. Wenn sich die Kommunikation zwischen dir und uns verbessern soll, wann muss eine schnellere Technik her. Sowas wie Beamen ohne Quantenbindung. Ich weiß nicht, ob das so funktionieren würde, aber du kannst es ja mal prüfen.

Dann wäre da noch was, das mich schwanken lässt. Immer, wenn ich über den Sinn nachdenke, weshalb ich überhaupt hier auf der Erde bin, komme ich ins Grübeln und niemals ans Ziel. Es gibt unglaublich viele schöne Sachen, in die ich mich stürzen könnte, an denen ich den Grund für mein Dasein festmachen könnte, aber bisher hat das immer nur dazu gereicht, dass ich mit einem einigermaßen positiven Gefühl meine Tage verbracht habe. Überzeugen konnte ich mich nie. Es kann doch nicht sein, dass ich hier unten auf der Erde nur meine Zeit absitze, nett bin und am Ende vergessen werde. Nun strebe ich nicht nach Ruhm, aber ein Leben ohne Sinn ist doch sinnlos. Wenigstens für mich.

Aber vielleicht siehst du das ja anders, vielleicht sind wir nur so etwas wie Spielzeuge für dich, mit denen du dir die Zeit vertreibst. Wie das bei uns die Kinder tun. Die sind mit ihren Babypuppen zeitweise ganz fest und vergessen sie dann ganz einfach, weil irgendwann neben der Konsole keine Zeit mehr für sie bleibt. Nur, was für mich gegen diese Theorie spricht, ist die Frage, warum du dann so viel Mist auf der Erde oder in unserem Universum entstehen lässt. Das kann selbst dir keine Freude bereiten. Glaube ich zumindest. Du könntest doch einfach alles ordentlich parken, was du gerade nicht brauchst. Dann würde etwa so ein Putin jetzt starr mit nacktem Oberkörper auf seinem Pferd verharren und könnte niemandem Befehle erteilen, die Ukraine mit Raketen zu beschießen. Denk doch einfach noch mal drüber nach.

Jetzt muss ich aber langsam mal zum Schluss kommen, obwohl es noch so viel gibt, was ich dir schreiben möchte. Aber sicherlich wird dies nicht der einzige Brief sein, den du zu Weihnachten bekommst und die anderen wollen auch gelesen werden. Also nimm es mir bitte nicht übel, dass ich hier so offen auftrete. Ich will dich damit nicht schlecht reden, nur aufwecken. Ich kann mir vorstellen, dass du auch manchmal müde und erschöpft bist und dann den einen oder anderen Anstoß brauchst, um wieder in die Gänge zu kommen. Wie das bei uns allen so ist.

Und mal ganz ehrlich, Gott, wann, wenn nicht zu Weihnachten, soll ich dir so einen Brief schreiben? Im Alltag würde er doch voll untergehen. So aber hat er wenigstens eine kleine Chance, gelesen zu werden. Nicht nur von dir, auch von den anderen, die ich in den Verteiler mit aufgenommen habe. Wir müssen uns nämlich alle engagieren, um dich zu unterstützen.

Immer in der Hoffnung, dass du wirklich ‚lieb‘ bist und es richtig findest, dass wir nach Frieden und Freiheit streben, dass wir für Frauen dieselben Rechte fordern, wie sie für Männer gelten, dass wir uns gegen Kriege wehren, dass wir in den Augen von Kindern keinen Hunger lesen wollen, dass wir viel mehr Lachen in den Gesichtern von Menschen sehen möchten, dass wir für Respekt und Freundlichkeit eintreten und dass wir uns gegen jede Form von Unrecht wehren.

Wenn wir diesbezüglich dieselbe Sprache sprechen, dann hast du mich auf deiner Seite. Da hier in meinem Brief aber so viele ‚wenn‘ und ‚aber‘ stehen, werde ich nicht warten, bis deine Antwort bei mir eintrifft, sondern schon mal alleine versuchen, die Welt ein bisschen besser zu machen. Kann ja nicht verkehrt sein.

In diesem Sinne wünsche ich dir schöne Weihnachten.

Dein Jos

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Weihnachten wider Willen

Weihnachten. Das Fest der Liebe, Hoffnung und Besinnlichkeit. Oder in seinem Fall: die schlimmsten Tage des gesamten Jahres. Normalerweise verbrachte er diese Zeit im Büro und meldete sich jedes Jahr freiwillig für den Dienst zwischen den Feiertagen. Denn zuhause erwartete ihn nichts. Nur eine kleine, graue Wohnung, die unablässig daran erinnerte, dass er alleine war.

Aber in diesem Jahr war alles anders. Zum ersten Mal hatte sein Chef, Michael Bernard, den Betrieb für zwei Wochen in Ferien geschickt. Erfahren hatte er es wie die meisten anderen Angestellten auf der Weihnachtsfeier am vergangenen Wochenende. Zu jener war er das erste Mal, seit er für Bernard arbeitete, gegangen. Und das nur, weil der neue Kollege, Liam Monroe, ihn regelrecht dazu genötigt hatte.
Zwei Wochen bezahlten Urlaub, von dem er nicht wusste, was er damit anfangen sollte. Er fuhr sonst nie in den Urlaub und Krankheitstage erlaubte er sich auch nicht. Kaden war in den vergangenen Jahren immer im Büro gewesen. Denn die Einsamkeit in der kleinen Wohnung war erdrückend.

Und nun? Nicht zum ersten Mal an diesem Morgen saß er bewegungslos auf der Bettkante und hatte den Kopf in die Hände gelegt und versuchte, die aufkeimende Panik niederzuringen. Zwei Wochen … eine unendlich lang erscheinende Zeit. Zeit genug für die Dämonen seiner Vergangenheit sich erneut in seinem Leben einzunisten und ihn in den Abgrund zu reißen.
Ein leichtes Zittern erfasste immer wieder seinen Körper.
Die Vernunft erinnerte lautstark daran, dass er nicht jeden Abend zur Flasche greifen konnte, und doch war das der Weg, der ihn in den letzten Jahren immer durch die Weihnachtstage geführt und gerettet hatte. Doch was würde ihn dieses Mal retten?

Gerade rechtzeitig vor Ladenschluss hatte Kaden es geschafft das Haus zu verlassen und sich mit ausreichend Wein eingedeckt. Auch wenn die Vernunft protestierte, was sollte er denn sonst tun?
Regelrecht erschöpft ließ er sich auf den grauen Zweisitzer nieder und starrte zur Decke.
Überall bunte Lichter, Kinderlachen und Menschen, die in letzter Minute Weihnachtseinkäufe getätigt hatten. Trotz der Anspannung in ihren Gesichtern hatte auch eine gewisse Vorfreude dort geruht. Eine Vorfreude, die er nicht teilen konnte.
Das Klingeln des Handys riss Kaden aus seiner Lethargie und ließ ihn verwirrt die Stirn runzeln. Seit wann hatte er Liams Nummer gespeichert? Und woher verdammt, kam dieses seltsame Gefühl, was ihn die ganze Woche begleitet hatte, sobald Liam aufgetaucht war?
Ein Moment, dann drückte er den Anruf weg. Nein. Heute nicht. Liam hatte sein Leben in den letzten drei Monaten genug auf den Kopf gestellt. Und der Höhepunkt war diese schreckliche Weihnachtsfeier gewesen, wo er nicht einmal wusste, wie er nach Hause gekommen war. Nach der Ankündigung des Betriebsurlaubs war der Alkohol sein bester Freund gewesen. Und wenn er ehrlich war, wollte er seine Erinnerungen an den Abend nicht zurückhaben. Wer wusste schon, was er alles angestellt hatte, nachdem er betrunken gewesen war.
Erneut klingelte das Handy und wieder war es Liam. Erneut drückte Kaden ihn weg. Das ganze wiederholte sich einige Male, bis er sich geschlagen gab und die Ausdauer des jungen Mannes belohnte.
„Kaden! Schön, dass ich dich doch noch erreiche.“, selbst wenn er den Dunkelhaarigen nicht sehen konnte, wusste Kaden beim Klang seiner Stimme, dass er ein Grinsen im Gesicht trug.
„Liam. Was willst du? Es ist Weihnachten. Solltest du nicht bei deiner Familie sein?“, Kaden versuchte, gewohnt kühl und abweisend zu klingen. Nur warum fiel ihm das immer schwerer in Liams Gegenwart? Selbst jetzt am Telefon.
„Sicher. Ich breche gleich auf. Ich wollte dich fragen, ob du nicht Lust hättest mich zu begleiten. Ich weiß, dass du heute nichts besseres vorhast, also versuch gar nicht erst eine Ausrede zu erfinden.“
Schlagartig wich sämtliche Farbe aus Kadens Gesicht. Woher zum Teufel wusste der Kerl das? Oder war er einfach gut im Raten?
„Ich … Also ich …“, Kaden fehlten die Worte, um etwas Gescheites zu erwidern.
„Schön, dann hole ich dich gegen drei Uhr ab. Bis später.“ Und bevor Kaden erwidern konnte, dass Liam doch überhaupt nicht wusste, wo er wohnte, hatte der junge Mann schon aufgelegt und ließ einen vollkommen überrumpelten Kaden zurück.

Anderthalb Stunden später hatte Kaden sich nicht einen Millimeter bewegt. Stattdessen waren seine Gedanken immer wieder um die verfluchte Weihnachtsfeier gekreist. Was hatte er dort getan, nachdem der Alkohol sich seiner bemächtigt hatte? Hatte er seine Privatadresse etwa Liam gegeben? Und ihm mitgeteilt, dass er Weihnachten allein verbringen würde? Dieses Jahr ging alles schief. Und dass es nicht besser werden würde, zeigte sich, als um Punkt drei Uhr jemand seine Klingel betätigte.
Reglos blieb Kaden sitzen. Er wollte niemanden sehen und allem voran nicht Liam. Möglicherweise handelte es sich aber nur um eine Verwechslung der Klingel. Denn das Klingeln blieb eine einmalige Sache.
Seine Hoffnungen wurden zerstört, als ein Klopfen an der Tür ertönte. Kaden fuhr erschrocken zusammen und erkannte augenblicklich die Stimme, die sich von dort meldete.
„Kaden, mach die Tür auf. Ich weiß, dass du da bist.“
Woher Liam seine Adresse kannte, wusste er nicht. Seine Hoffnung, dass der junge Mann durch Ignoranz die Lust verlieren und verschwinden würde, erübrigte sich. Fünfzehn Minuten später war er immer noch da und malträtierte seine Tür mit gleichbleibender Intensität.
„Was willst du hier?“, fuhr Kaden ihn an, nachdem er endlich die Tür geöffnet hatte.
Ein freches Grinsen begegnete ihm und bevor er Liam davon abhalten konnte, hatte sich dieser in seine Wohnung geschoben. Ein Seufzen verließ seine Lippen, bevor er die Tür schloss. Er musste Liam schleunigst wieder los werden.
Doch als er sich umdrehte, hatte dieser den langen schwarzen Wintermantel ausgezogen und es sich auf dem Zweisitzer bequem gemacht. Es würde schwierig werden. Das war Kaden bereits jetzt klar. Es war immer schwierig mit Liam.
„Du bist nicht fertig.“, eine wertungslose Feststellung seines Gegenübers.
„Ich habe auch nicht zugesagt. Du hast mich überrumpelt und über meinen Kopf hinweg entschieden.“, erwiderte Kaden, der mittlerweile mit verschränkten Armen im Türrahmen lehnte.
„Das musste ich. Sonst hättest du den heutigen Abend alleine verbracht und dich dem Alkohol hingegeben. So wie auf der Weihnachtsfeier.“, entgegnete Liam und deutete auf die beiden Kartons mit den Weinflaschen.
Kaden konnte spüren, wie sich die Hitze in seinen Wangen ausbreitete, war er doch regelrecht auf frischer Tat ertappt worden.
„Außerdem bin ich hier um dir deinen Wunsch zu erfüllen.“, fuhr Liam lächelnd fort.
„Meinen Wunsch?“, Kaden konnte sich nicht daran erinnern, in Liams Gegenwart einen Wunsch geäußert zu haben. Außer den, dass Liam ihm nicht auf die Nerven fallen sollte, wie er es gerne während der Arbeitszeit tat.
„Ja, letzte Woche nach der Weihnachtsfeier, als ich dich nach Hause gebracht habe. Da hast du mir gesagt, dass du dir wünschen würdest, Weihnachten nicht alleine verbringen zu müssen.“
Kaden wollte etwas erwidern, stattdessen schaffte er es nur, Liam anzustarren. Daran konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern.
„Also, ab ins Bad, ich leg dir in der Zwischenzeit etwas Passendes raus.“

Eine Stunde später saßen sie in Liams Wagen und Kaden fragte sich, ob es noch schlimmer kommen konnte. Nicht nur, dass er höchstwahrscheinlich vollkommen unangekündigt mit Liam bei dessen Familie aufkreuzte, der graue Winterhimmel kündigte von neuem Schneefall. Und dieser konnte in ihren Breiten recht heftig werden.
Liams Rat eine Tasche zu packen war nicht von ungefähr gekommen und dieses Mal hatte Kaden sich eine Diskussion gespart. Ansonsten hätte Liam es selbst in die Hand genommen und Kaden konnte darauf verzichten, dass der weiter in seinen Sachen herum wühlte.
„Wohin fahren wir?“ Sie waren, wenn Kaden sich nicht täuschte, in nördliche Richtung unterwegs. Aber was, außer einem heftigen Schneesturm, dort auf sie warten sollte, wusste er nicht.
„Zum Haus meiner Mutter. Der Sektempfang war zwar für fünf geplant, aber ich denke, sie verzeiht es uns, dass wir erst gegen sechs dort auftauchen werden.“ Ein Grinsen erhellte Liams Züge und Kaden konnte ein Seufzen nicht unterdrücken.
„Und das sagst du mir erst jetzt?“
„Was denn? Ich hatte dir gesagt, wann ich dich abhole. Du warst nicht fertig.“
„Ja, weil … Ach vergiss es. Das ist doch zwecklos.“ Kaden biss sich auf die Zunge, um nichts weiter zu erwidern, während ein mulmiges Gefühl sich in seinem Magen festsetzte. Jetzt war ihm noch viel weniger wohl bei dem Gedanken an einen Abend und - sollte der Schnee es schlecht mit ihm meinen - einer Nacht bei wildfremden Menschen. Hätte er doch bloß Liam vor der Tür stehen lassen.

Während der weiteren Fahrt schwieg Kaden eisern. Jeden Versuch seitens Liams ein Gespräch zu beginnen, blockte er ab. Wieder einmal steckte er dank dieses Kerls in einer unmöglichen Situation.
Gegen kurz nach sechs erreichten sie ihr Ziel.
Kaden staunte nicht schlecht. Das ‚Haus‘ war ein Anwesen. Ein riesiges, zweigeschossiges Gebäude mit mindestens sechs Fenstern zu jeder Seite der Eingangstür. Warmes Licht drang aus einem halben Dutzend Fenster und lud dazu ein, das kalte Schneetreiben zu verlassen und sich in die Wärme des Gebäudes zu flüchten.
Der Schneefall hatte vor einer halben Stunde eingesetzt und begann immer dichter zu werden. Kadens Hoffnung, zu späterer Stunde abzureisen, war zerschlagen worden. So weit draußen würde ihn kein Taxi abholen.
Sie hatten die Eingangstür noch nicht erreicht, als diese aufgerissen wurde und eine junge, blonde Frau erschien. Sie trug ein aufreizendes, schwarzes Paillettenkleid und hielt ein Sektglas in der Hand.
„Liam! Ob du es in diesem Leben jemals schaffst, pünktlich zu sein?“, fuhr die junge Frau den Dunkelhaarigen neben Kaden an. Wie Kaden, hatte er sich den Schal um Nase und Mund geschlungen. Das verräterische Funkeln seiner Augen kündigte von einem Grinsen auf seinen Lippen.
„Ach Schwesterherz. Entspann dich doch mal. Wir sind vor dem Essen da. Also alles halb so wild.“, erwiderte der Dunkelhaarige neben ihm.
Kaden brauchte einen Moment, bevor er sich an den Namen der jungen Frau erinnerte. Lara, aus der Rechtsabteilung. Verschwommene Bilder zogen vor seinem geistigen Auge auf. Nie wieder würde er sich in Gesellschaft so gehen lassen, was den Alkohol betraf.
Lara schüttelte nur den Kopf, bevor Kaden in ihr Blickfeld geriet. Ihre Miene wurde sogleich sanfter und ein warmes Lächeln erschien auf ihren roten Lippen.
„Hallo Kaden. Es freut mich, dass du hier bist und die Einladung angenommen hast. Liam wird dir dein Zimmer zeigen und dann könnt ihr beide euch zu uns in den Salon gesellen. Das Essen ist gegen sieben fertig.“
Derweilen hatten sie das Haus erreicht und die Eingangshalle betreten. Drinnen war es angenehm warm und die schweren Mäntel fehl am Platz. Lara hatte ihr Sektglas abgestellt und half ihnen, die Mäntel abzulegen und brachte sie in einen Nebenraum.
Für einen Augenblick war Kaden wie gelähmt. Er war noch nie in einem solch herrschaftlichen Haus gewesen. Allein der Eingangsbereich mit der breiten Treppe, die in die oberen Stockwerke führte, war phänomenal. Der Boden war mit Marmor gefliest und das alte Holz des Treppengeländers auf Hochglanz poliert. Armleuchter erhellten den Weg zu beiden Seiten der Eingangshalle und die Treppe gab ein leises Knarzen von sich, als Kaden den Fuß auf die erste Stufe setzte.
„Bist du hier aufgewachsen?“, entkam Kaden die Frage, ohne das er sie hatte stellen wollen.
„Nicht ganz. Nach der Scheidung meiner Eltern, lebten wir lange Zeit in einem kleinen Zwei-Zimmer-Apartment. Daran änderte sich erst etwas, als meine Mutter bei Onkel Michael einstieg. Irgendwann überlegten die beiden dann, dieses Anwesen zu kaufen und zu renovieren. Sie vermieten es das Jahr über, aber Weihnachten gehört es nur uns.“ Liams Augen hatten angefangen zu glänzen, während er erzählte.
Kaden wandte eiligst den Blick ab, wurde das bisher unwohle Gefühl in der Magengegend bei diesem Anblick von etwas anderem abgelöst. Wieder war da dieses seltsame Kribbeln, dieses komische Gefühl. Kaden konnte es nicht zuordnen.
„So, das ist dein Zimmer. Ich hoffe es gefällt dir. Das Bad ist gleich neben an und der Ausblick ist traumhaft. Zumindest wenn draußen nicht gerade ein Schneesturm tobt.“, erklärte Liam lachend und drehte sich zu ihm herum.
Kaden wusste nicht, was er sagen sollte. Das Zimmer war so groß wie seine gesamte Wohnung und luxuriös eingerichtet. Er wusste nicht, womit er das hier verdient hatte. Wieso man ihn aus seiner tristen, kleinen Wohnung entführt hatte und ihm einen solchen Luxus bot.
Schließlich war es Liam, der ihm die Tasche abnahm. Versunken in die Betrachtung des Zimmers, hatte Kaden diese ganz vergessen.
„Ich denke, wir sollten die anderen nicht länger warten lassen. Außerdem hast du später genug Zeit, das Zimmer ausgiebig zu erkunden.“
Liam hatte auf dem Absatz kehrtgemacht, als Kaden nach ihm griff und ihn am Handgelenk zu fassen bekam. Einen Moment lang standen sie so da und Liams Blick wanderte von Kadens Hand hinauf in sein Gesicht.
Peinlich berührt ließ Kaden ihn los, als er sich der Situation bewusst wurde und senkte den Blick.
„Wieso … wieso ich? Ich meine, wieso schleppst du deinen Arbeitskollegen mit zu einer Familienweihnachtsfeier? Ist das nicht … unangemessen?“, wollte Kaden schließlich wissen. Mittlerweile wusste er nicht mehr, ob das hier ein Alptraum oder nicht doch eher ein Traum war. Es war so anders als die letzten Jahre und Kaden hatte überhaupt nicht mit dieser Entwicklung gerechnet.
Er zuckte zurück, als Liam plötzlich dicht vor ihm stand. Der intensive Blick seiner grünen Augen ruhte auf ihm und sein Gesicht war so nah, dass es nicht viel brauchte um die Kluft zwischen ihren Lippen zu überwinden.
„Darf ich es dir zeigen?“, fragte Liam und ein schelmisches Grinsen umspielte seine vollen Lippen. Kadens Herz machte einen Satz, bevor es doppelt so schnell weiter schlug und er gegen den plötzlichen Kloß in seinem Hals ankämpfen musste. So brachte er nur ein sachtes Nicken zustande, nicht wissend, ob Liam ihn jetzt küssen würde oder nicht.
„Gut, dann komm mit.“, erklang da Liams Stimme und Kaden blinzelte mehrfach. Er hatte nicht bemerkt, wie der Dunkelhaarige sich von ihm entfernt hatte. Noch wusste er, wieso eine leichte Enttäuschung sich in ihm breit machte, weil Liam ihn nicht geküsst hatte. Hatte er sich das etwa gewünscht? Wieso kreisten seine Gedanken überhaupt um solche Dinge? Was machte dieser Kerl mit ihm?
Schamesröte schlich sich auf seine Wangen und er folgte Liam mit gesenktem Kopf.

Vier Stunden später war Kaden um einiges klüger. Er war an diesem Abend nicht der einzige Gast im Hause Bernard/Monroe. Fünf weitere Kollegen verbrachten die Weihnachtstage ebenfalls hier. Darunter war auch seine Teamkollegin Olivia.
Für sie und die anderen war es nicht das erste Weihnachten auf dem herrschaftlichen Anwesen. Seit mehreren Jahren sorgte Liams Mutter dafür, dass an Weihnachten niemand alleine war. Von Kadens Schicksal hatte sie erst nach der Weihnachtsfeier erfahren. Liam hatte ihr erzählt, dass er niemanden hatte.
Kaden wusste nicht, ob er dem jungen Mann dankbar sein sollte oder nicht.
Im Salon waren sie zu den übrigen Gästen gestoßen. Sie waren herzlich begrüßt worden und Olivia hatte sich wahnsinnig gefreut, Kaden zu sehen. Sie hatte ihm ein Sektglas in die Hand gedrückt und ihn direkt den anderen vorgestellt, die Kaden nur flüchtig gekannt hatte.
Gegen sieben Uhr waren sie in den Speisesaal umgezogen. Dort hatte man eine große Tafel aufgebaut, an der alle Platz fanden. Gemeinsam hatten sie ein wundervolles Weihnachtsessen genossen.
Im Anschluss daran, hatte man sie ins Kaminzimmer geführt. Dort gab es allerlei Sitzmöglichkeiten. Karten- und Brettspiele wurden heraus gesucht. Es gab Wein, Whiskey oder Bier. Oder eine warme Schokolade mit Sahne und ein paar selbstgebackene Weihnachtskekse. Und so hatten sie eine ganze Weile beisammen gesessen und einen schönen Abend miteinander verbracht, bevor die Ersten sich ins Bett verabschiedet hatten.

Jetzt war es fast Mitternacht und Kaden der Letzte, der übrig geblieben war. Bis vor zehn Minuten hatten Lara und Olivia die Stille mit ihren leisen Stimmen durchbrochen, jetzt waren es nur das Knistern des Feuers und das Heulen des Windes, die an Kadens Ohren drangen.
Sein Blick wanderte von der großen Standuhr zurück zum Feuer. Ein frischer Holzscheit wurde gerade von allen Seiten von den Flammen bedrängt und färbte sich zunehmend schwarz, während er hin und wieder ein Knacken vernehmen ließ.
Dieser Abend war anders verlaufen, als Kaden es sich vor Wochen ausgemalt hatte. Doch er war nicht unglücklich über diese unverhoffte Wendung. Dieser bunt zusammengewürfelte Haufen hatte diesen Abend mit Lachen und Freude gefüllt, doch jetzt schlich sich wieder die Einsamkeit in sein Herz. Wehmütig dachte er an das letzte Weihnachtsfest mit seiner Familie zurück.
Stundenlang hatte seine Mutter in der Küche gestanden und das Abendessen vorbereitet. Es hatte Gans gegeben, wie heute Abend auch. Dazu Rotkohl und Kartoffelklöße, alles selbstgemacht. Und zum Nachtisch hatte es Mutters eigene Kreation eines Weihnachtspuddings gegeben. Sie hatte alles dafür getan, damit es das perfekte Essen wurde und es war perfekt gewesen.
Zusammen mit seinem Vater hatte er den Tisch eingedeckt und seinen Schwestern kopfschüttelnd dabei zugesehen, wie sie immer wieder versucht hatten, durch das Schlüsselloch der Wohnzimmertür einen Blick auf den Weihnachtsbaum und die Geschenke zu erhaschen. Doch es war vergebens gewesen.
Er erinnerte sich daran, wie er die Augen verdreht hatte. Heute würde er alles dafür geben, sie noch einmal zu sehen und ihre kindliche Freude über das Weihnachtsfest erleben zu dürfen.
Während des Essens hatte im Hintergrund leise Weihnachtsmusik gespielt und beim Nachtisch waren seine Schwestern voller Ungeduld gewesen.
„Hier.“ Eine Stimme durchbrach die einst schönen Erinnerungen, die zu seiner persönlichen Hölle geworden waren und ein Taschentuch hing vor seiner Nase.
Erst jetzt bemerkte Kaden, dass seine Wangen nass waren und Tränen von seinem Kinn herabtropften. Eilig nahm er das Taschentuch an und trocknete sich die Augen.
„Danke.“, sagte er leise und räusperte sich, war seine Stimme belegt. Als er den Blick hob, war es Liam, der sich neben ihn in den Sessel fallen ließ. Wer auch sonst war immer in der Nähe, wenn es zu peinlichen Zwischenfällen kam? Sowohl auf der Arbeit als auch der Weihnachtsfeier und jetzt hier.
„Ich dachte, du wärst im Bett.“ War Liam nicht vor einer Stunde verschwunden?
„Ich habe Lisa ins Bett gebracht. Die Gute kennt leider ihr Limit nicht und brauchte dementsprechend ein wenig Hilfe.“ Bei einem Seitenblick stellte Kaden fest, dass der Dunkelhaarige ein Grinsen trug. Nur warum erschien es ihm in diesem Zusammenhang so völlig daneben?
„Du bringst gerne Leute ins Bett.“, stellte Kaden fest und wunderte sich selbst über den bitteren Klang seiner Stimme.
„Nicht unbedingt. Aber bei guten Freunden mache ich gerne eine Ausnahme. Und hin und wieder bei interessanten Arbeitskollegen.“
Wieder einmal wusste Kaden nicht, was er damit anfangen sollte. Nahm er ihn auf den Arm? Machte sich lustig über ihn? Oder war das ernst gemeint?
„Aber wo wir gerade beim Thema sind, soll ich dir den Weg in dein Zimmer auch nochmal zeigen?“, bot sich Liam an. Das anzügliche Grinsen auf seinen Lippen ließ Kaden letztlich wegsehen. Er war noch weniger als sonst an Liams seltsamen Spielchen interessiert.
„Nein. Ich kann sowieso noch nicht schlafen.“, erwiderte Kaden leise. Und er wollte sicher nicht da liegen und sich in den Schlaf weinen. Dazu war er zu nüchtern.
„Ein gutes Buch kann dabei helfen, ein wenig Ablenkung zu finden. Oder gute Gesellschaft.“, schlug Liam vor und klang recht vergnügt.
„Da es hier keine gute Gesellschaft gibt, ist das Buch vorzuziehen.“
„Autsch. Das war nicht nett, Kaden.“, eine milde Empörung mischte sich in Liams Stimme, doch das Amüsement kehrte rasch zurück. „Letzten Samstag schien ich dir eine hervorragende Gesellschaft gewesen zu sein.“
Kadens Blick flog zu Liam, der mit einem selbstzufriedenen Grinsen da saß und ihn betrachtete. Fast schon herausfordernd sah er zu ihm, als wollte er, dass Kaden endlich fragte. Und obwohl Kaden sich nicht ködern lassen wollte, sorgten Liams Anspielungen dafür, dass er sich im Laufe des Abends immer wieder mit dieser verfluchten Weihnachtsfeier befasst hatte.
„Was ist letzten Samstag passiert?“ Sein Versuch, ruhig zu klingen, scheiterte.
„Und ich dachte schon, du fragst nie!“
„Liam! Ich meine es ernst.“
„Beruhig dich. Es ist gar nichts passiert. Du warst betrunken, hast dich nett unterhalten und schlechten Witzen gelauscht. Irgendwann hab ich dir dann Wasser untergejubelt und dich heimgebracht, nachdem ich sicher war, dass du mir nicht ins Auto kotzt.“
„Und dann?“ Das konnte doch nicht alles sein. Liam hatte doch Anspielungen bezüglich irgendwelcher Wünsche gemacht. Unsicher und ein wenig verständnislos sah er zu dem jungen Mann.
„Dann hab ich dich ins Bett gebracht. Du warst sehr redselig und hast mir mehr oder weniger dein Herz ausgeschüttet. Dass du die Einsamkeit Leid bist und du sie unglaublich vermisst. Es ist mir später nicht schwergefallen, herauszufinden, was du damit meintest. Der Unfall war damals in fast allen Zeitungen.“ Eine Hand schob sich über seine und drückte sie sanft. Verständnisvoll und mitfühlend.
Das war der Moment, in dem Kaden aufsprang. Von allen Menschen auf der Welt war Liam der Letzte, dem er das hatte erzählen wollen. Dieser undurchsichtige Spaßvogel war nicht der richtige Mensch für solche ernsten Gespräche.
„Hey Kaden, warte mal. Das war doch längst nicht alles.“, rief Liam, da hatte Kaden bereits die Tür erreicht.
„Was denn noch?“, wollte er unwirsch wissen und fuhr herum.
Liam hatte sich erhoben und schlenderte gelassen auf ihn zu. Seine Ruhe steigerte Kadens Wut.
„Ich hab ja gehofft, dass du dich daran erinnerst. Aber du musst vollkommen betrunken gewesen sein, wenn du unsere wilde Knutscherei auf deinem Bett vergessen hast.“
„Was?!“ Kaden blinzelte, schüttelte sachte den Kopf. Hatte er das gerade richtig verstanden? Sie sollten WAS getan haben?! Oder war das einer von Liams besonderen Scherzen? Was hatte er dem Dunkelhaarigen getan, dass er ihn immer und immer wieder so behandelte?
„Ich hatte gehofft, dass du dich erinnern würdest und mir eine Chance gibst. Ich würde den Mann, der hinter der unterkühlten Fassade steckt, gerne näher kennen lernen. Ich glaube, er ist ein besonderer Mensch. Einer dieser Menschen, auf die man gut Acht geben muss, weil sie einem nicht oft im Leben begegnen.“
Liams ernste Worte machten das Gefühlschaos in Kaden perfekt. Bewegungslos stand er da und starrte Liam an, der vor ihm zum Stehen gekommen war. Dieser legte einen Arm um Kadens Rücken und mit dem anderen strich er ihm ein paar lose Strähnen aus dem Gesicht.
Dieses bescheuerte Kribbeln meldete sich wieder und doch wusste Kaden nicht, was er jetzt tun sollte. Stattdessen hielt er den Atem an und wartete gebannt darauf, was als Nächstes passieren würde.
Liam beugte sich vor und sein warmer Atem streifte Kadens Lippen. „Natürlich nur, wenn du das auch möchtest.“
Und so überließ Liam es ihm, ob er die wenigen Zentimeter überbrückte oder sich von ihm befreite. Und während sein Verstand versuchte, zu verarbeiten, was da passierte, verlor sein Herz keine Zeit mit der passenden Reaktion.
Eine kleine Woge aus Glück durchströmte ihn, während sie sich küssten.
„Fröhliche Weihnachten, Kaden.“

Weihnachten in Familie

Unsere Nichte Desiree saß über Eck neben mir. Für uns wirklich überraschend teilten sie und ihr Freund Robin mit, dass sie Eltern werden. „Gib mir mal Deine Hand!“, sagte ich zur Nichte. Sie reichte sie mir. Mit beiden Händen umfasste ich diese fest: „Wenn Du anfängst mit dem Kind zu reden, dann sag´ ihm, dass es willkommen ist!“ Es wurde der emotionalste Moment des Abends. Robin war überrascht, wie sehr die Nachricht besonders mich berührte. Es folgte die Feststellung, dass es genauso anstrengend sei, Großtante und Großonkel zu werden wie Oma und Opa. Wir schmiedeten heitere Pläne, welche Aufgaben sich Opa und Großonkel teilen könnten. Natürlich ging es primär darum, das Kind zum Lachen zu bringen. Um die ernsten Seiten sollen sich die Eltern mal schön selber kümmern. Inzwischen ist unsere Nele da. Sie beginnt verständlich zu sprechen. Schon mehrmals wurde uns mitgeteilt, dass bei Besuchen an anderer Stelle der Gastgeber mit ´Onkel Udo´ betitelt wird. Die Phase wird vorbeigehen. Aber sie erheitert mich. Neles ´ältere Schwester´ ist ein kleiner Hund mit Namen ´Luna´. „Das machen Nele und Luna unter sich aus.“, hat Mama Desiree schon manchmal völlig entspannt zu uns gesagt, wenn wir uns heiter wunderten, wie stark die Verbindung zwischen den ungleichen Schwestern ist. Es ist immer wunderbar, die Begeisterung zu sehen, wenn Luna und Nele zu Oma und Opa aufs Land kommen. Luna flitzt dann erst einmal im Garten umher und um das Haus herum. Das schafft Nele natürlich noch nicht.

(Liebe Community!
Vielleicht ist es nicht sehr kreativ, aus einem bereits veröffentlichten Text wieder nur zu zitieren. Aber die Geschichte hat sich Weihnachten vor 5 Jahren in unserer Familie so zugetragen. Und daran wollte ich Euch teilhaben lassen. Es ist doch Weihnachten… Gruß, Udo)

Hier mein zweiter und letzter Beitrag. Oben hatte ich schon versehentlich in der Mehrzahl von »Beiträgen« gesprochen … Auch für diesen hier gilt: Ich nehme meine Beiträge von der Verlosung aus!
Nach nicht beendeten Versuchen zu Last-Minute-Shopping-Zombies im Einkaufszentrum, die von der Erzählerin mit dem eben gekauften Paintballset für ihren Bruder erledigt werden; über die durch den Spiegel fallende Pechmarie, die an Heiligabend die Putzfrau vertreten soll; sowie zuletzt über das alternde Schneewittchen mit ihren sieben Botox-Spritzen, ist es mir doch noch gelungen, einen halbwegs romantischen Beitrag zusammenzubekommen. Na ja, glaub ich jedenfalls. Lest selbst:

Von Schnepfen und Fröschen

»Quak!«
»Ne, echt nicht …« Wie kam dieser verdammte Frosch in mein Badezimmer?
»Quak, quak.«
Ich stapfte in die Küche und zog ein leeres Bohnenglas aus dem Altglasbeutel. Scheppernd fiel er um. Hätte ihn längst wegbringen sollen, aber die Aufgabe war auf meine To-Do-Liste fürs nächste Jahr gewandert. Heute wollte ich in Ruhe Weihnachten verbringen. Allein mit meiner Playstation. Jetzt würde ich diesen Frosch fangen, nach draußen bringen und dann endlich Pizza essen und zocken.
Vorsichtig öffnete ich die Badezimmertür und spähte hinein. »Wo bist du, kleiner Frosch?«
»Quak«, tönte es von oben.
Ich blickte zur Stange des Duschvorhangs. »Wie bist du da hoch gekommen?« Warum redete ich eigentlich mit einem Frosch?
»Na, gehüpft!«, quakte er.
Das Bohnenglas fiel mir aus der Hand und zersprang auf den Fliesen. Mit offenem Mund starrte ich ihn an. Jetzt war es so weit: Ich war völlig durchgeknallt.
»Kannst du mich auffangen? Aber richtig, ich will nicht in den Glasscherben landen.«
»Du kannst gar nicht reden. Ich bilde mir das nur ein.« Ich näherte mich der Badewanne und kniff die Augen zusammen. »Hast du ne Krone auf?«
»Quak! Ich dachte schon, du bist blind.«
»Du sprichst wirklich …«
»Äh … jaaaa. – Achtung, ich springe jetzt.« Platsch. Der Frosch landete auf meiner Brust. »Quak. Du riechst gut, aber rasiert hast du dich nicht.«
Ich kratzte über die Bartstoppeln. »Wozu auch …«, murmelte ich. Seit ich Single war, hatte ich mich eingeigelt und gab nicht mehr viel darauf.
»Ich habe Hunger«, quakte der Frosch.
»Hast du nicht ne Prinzessin, die auf dich wartet und dich von ihrem Tellerchen essen lässt? Oder warte – war das ein anderes Märchen?«
»Ja schon, aber du kannst mich nicht zurückschicken, sonst muss ich sie heiraten. Sie ist furchtbar eingebildet und verwöhnt. Bitte nicht! Ich bin auch ganz lieb, quak. – Außerdem: Ich steh nicht auf Frauen.«
Ich stockte. »Oh … OK. Das … versteh ich.«
»Und denk nicht dran, mich nach draußen zu bringen, da erfriere ich.«
»Keine Sorge.« Vielleicht sollte ich stattdessen hinausgehen und mich einfrieren. Eine Kälteschocktherapie machen. Womöglich mangelte es meinem Hirn an Sauerstoff. Sicherheitshalber lüftete ich durch, aber der Frosch mit der Krone verschwand nicht.
Seufzend holte ich die Pizza aus dem Ofen und brachte sie ins Wohnzimmer.
»Leeecker«, sagte der Frosch und mampfte.
Nach dem Essen fegte ich die Scherben im Bad zusammen und startet endlich die Playstation. Der Frosch war davon ziemlich angetan, leider kamen seine kleinen Finger nicht mit dem Controller zurecht, sonst hätten wir zu zweit spielen können.
Zwei Uhr. Langsam war es Zeit, ins Bett zu gehen, damit ich morgen nicht zu spät bei den Eltern zum Mittagessen aufschlug.
»Dann gute Nacht«, sagte ich und gähnte.
»Quak …«
Nach dem Zähneputzen schlurfte ich ins Schlafzimmer und verkroch mich unter die Decke. Ganz schön kalt …
»Quak?«
»Was … du willst doch nicht etwa in meinem Bett schlafen? Was, wenn ich dich aus Versehen plattwalze?«
»Das wird nicht passieren, wenn … du mir einen Kuss gibst.«
»Na klar. Sonst noch was?«
»Pass auf: Wenn du mir einen Kuss gibst, dann verschwinde ich. Versprochen.«
»Meinetwegen.«
Der Frosch zog die Lippen zusammen, ich näherte mich ihnen langsam. Nein! Was tat ich hier? Ich war doch völlig … Der Frosch sprang zu mir und berührte meine Lippen. Instinktiv küsste ich ihn.
In dem Moment sprühte ein Feuerwerk von Regenbogenfarben durch mein Schlafzimmer und blendete mich. Ich rieb mir die Augen. Als ich sie öffnete, lag der Raum wieder im Halbdunkel von Nacht und Straßenlaternen. Und neben mir … lag ein junger Mann. Was für ein hübsches Gesicht er hatte …
»Und jetzt küsse ich dich«, sagte er.


Frohe Weihnachten euch allen! :gift_heart: :full_moon_with_face: :snowman_with_snow: :christmas_tree:

Ein Geschenk nach Mitternacht

Ein leichter Hauch vom Schnee rieselte ihm von seinen roten Mantel, als er sich der schweren Eichentür näherte. Da war er, zu Hause und das bereits kurz nach Mitternacht. Endlich.
Nach Mitternacht bedeutete Stille, Frieden und Ausschlafen.
Er trat in die Wohnstube, und warf den leeren Leinensack in die Ecke. Der Geruch von Bratäpfeln lag in der Luft. Er lauschte und hörte leises Schnarchen. Ach ja, seine kleinen Helfer. Sie schliefen nun alle friedlich und erledigt von der Arbeit der letzten Wochen. Die modernen Menschen meinten, Firmen wie Media Markt bekamen ihre Geschenke von chinesischen und koreanischen Zulieferern. Aber hatte das schon einmal jemand überprüft? Er wusste es besser. Die Geschenke kamen vom Nordpol, gefertigt von tausend fleißigen Elfenhänden. So war es schon immer gewesen und so würde es immer sein.
Weihnachten war wie Liebe: Gesicht und die Gestalt mag sich ändern, doch das Gefühl blieb stets das Gleiche.
Er räusperte sich.
Seine Elfenhandwerker lagen herum, als wären sie nach einem Festmahl an Ort und Stelle eingeschlafen. Hier baumelte ein Bein über das große Sofa, dort schnarchelte es aus dem Bücherregal. Vorsichtig durchquerte er das Zimmer und warf einen flüchtigen Blick in die Küche. Offenbar hatte ein Elf die Idee verfolgt, Zuckerwatte für alle in beschleunigter Zeit herzustellen. Reste davon hüllten nun die Arbeitsflächen wie Schnee ein und hingen sogar wie Eiszapfen von der Decke.
Elfen. Nur schnell weiter zu seinem Arbeitszimmer. Dort wartete sein bequemer Sessel und sein Kamin. Füße hochlegen, war nun angesagt.
Humpelnd betrat er sein Zimmer, weil er gleichzeitig seine Stiefel auszog. Er drehte sich durch sein Gewicht beschleunigt einmal um die eigene Achse und plumpste in seinen Sessel.
„Hoppala“, rief er aus.
Das Zimmer war mollig warm, gemütlich eingerichtet und vom Kamin orange flackernd erhellt.
Aber was war das?
Durch sein Hereinstolpern hatte er es nicht bemerkt.
Ein kitschig blaues Geschenk mit gelben Bändern stand auf seinem Kamintisch. Hatte er es vergessen mitzunehmen?
Vorsichtig beugte er sich vor, berührte beinah zittrig den Namenszettel. War das Herzklopfen in seiner alten Brust? Doch es ist war wahr. Dort stand es:
„Für den Weihnachtsmann.“

Erna kommt

Es begab sich an einem warmen, milden Septembertag. Einer dieser lauen blauen Tage, die noch einmal an den Sommer erinnern und doch schon die Vorfreude auf die kommende Zeit wecken. Eben jene Zeit, in der in den Regalen Sangria und Bademode verschwanden und Glühwein, Spekulatius und dicke Socken sich breitmachten.

Ich döste friedlich in meinem Liegestuhl, als mein mir Angetrauter, der gelobt hatte mich zu lieben, zu ehren und stets die Post hereinzuholen, mit einem Umschlag wedelte. Ein kalter Hauch ließ mich erschauern.

"Erna kommt,"sagte er mit ersterbender Stimme.
Als der Nebel sich lichtete und ich aus dem Koma erwachte, stieß ich ein krächzendes „Wann ?“ hervor und er vollendete „… zu Weihnachten.“

Erna kommt. Wieviele Verwandte hatte dieser Ruf schon zur Verzweiflung getrieben? Irgendwann einmal suchte sie jeden von uns heim, einer Naturkatastrophe gleich zog sie durch Deutschland und hinterließ hinter sich eine Schneise der verwüsteten Nerven und zerbrochenen Ehen.
Wer Erna überlebt hatte begriff, warum Taifune stets weibliche Namen trugen.

Nun traf es also uns. Aber da wir rechtzeitig vorgewarnt waren, konnten wir uns auf das Kommende vorbereiten und beriefen eine Familienkonferenz ein, um die Operation Erna zu planen.
Ab sofort war Schluss mit verwüsteten Kinderzimmern, verrotteten Apfelgriebsen in Schultaschen, miefigen Socken und leeren verschimmelten Jogurtbechern unter den Betten. Zucht und Ordnung musste in unseren verlotterten Haushalt einkehren. Erna war der Inbegriff der Pedanterie.

Aus und vorbei das Herumlümmeln und Geplapper bei Tisch, Mäkeleien aller Art und Ertränken jedweder Speisen unter Hektoliter Ketchup.
Erna war der wandelnde Knigge.

Schluss mit den geschwisterlichen Zankereien, Türknallen, schreien, rennen, hopsen, toben oder auch nur geräuschvollem atmen.
Erna war allergisch gegen Lärm.

Außerdem war sie Expertin in Fragen der Kindererziehung (sie hatte keine Kinder), sparsamer Haushaltsführung (sie hatte keinen Haushalt) und eine Koryphäe was eine glückliche Ehe anbelangte.(einen Mann hatte sie auch nie)

Wir setzten unsere drei Sprösslinge über das drohende Unheil in Kenntnis, umrissen kurz das vor uns liegende Umerziehungsprogramm und baten um konstruktive Vorschläge.

„Warum vernageln wir nicht Türen und Fenster und warten in aller Ruhe ab bis Ostern,“ schlug unser 15-jähriger vor. (dieser Gedanke sagte mir zu, aber mein mir Angetrauter, der geschworen hatte mich zu lieben, zu ehren und vor alten Tanten zu schützen, schüttelte bedauernd den Kopf)

"Wieso fährt Tante Erna nicht woanders hin ?“ Fragte unsere Jüngste.
"Am besten zu Tante Lilli, da war sie schon mal, die ist das schon gewohnt. (auch eine prima Idee, leider weilte Tante Lilli noch immer in einem Sanatorium)

"Wieso lasst ihr euch das überhaupt gefallen ?“ Fragte unser pfiffiger 12-jähriger. „Wenn die so eklig ist, soll sie doch sehen, wo sie bleibt .“

Woraufhin sein Vater ihn aufklärte über die Verpflichtung einsamen, alten Menschen gegenüber und das man gerade zu Weihnachten sich kümmern sollte und es der armen, einsamen Tante Erna so gemütlich und bequem wie möglich zu machen.
„Und außerdem ist die alte Schachtel stinkreich und will einem der Familie mal alles vererben und deshalb lassen sich alle von ihr schikanieren“, ergänzte unser Ältester.

Nach unsere drei einen Wunschzettel für den Fall von Tante Ernas Ableben schreiben durften, fügten sie sich murrend in alle Aktivitäten.

Bis Ende Oktober war das Haus keimfrei, alle schlurften in großen Filzpantinen durch die Räume, die nicht nur keinerlei Geräusche verursachten, sondern nebenbei auch noch die Böden polierten.

Bis Ende November konnten die Nachkommen den Knigge auswendig, benutzen Messer und Gabel ohne sichtbare Kampfspuren und saßen gerade bei Tisch. Geschwisterliche Reibereien wurden vermieden, indem die drei möglichst sorgsam voneinander getrennt aufbewahrt wurden.

Der Dezember war halb verstrichen, alles war perfekt und doch beschlich mich das böse Gefühl, das etwas fehlte. Albträume plagten mich, Visionen suchten mich heim, mir fiel nicht ein, was es sein könnte bis unsere Jüngste eines Abends – es war der 15 Dezember – sagte: „Ich freue mich schon auf Heiligabend. Erst gibt es Kartoffelsalat mit Würstchen und dann kommt der Weihnachtsmann“
.
Ein simultaner Aufschrei ließ unser Haus erbeben. Weiß wie ein Laken taumelte mein Mann zu einem Stuhl um sich ächzend niederzulassen. Auch meine Knie gaben nach und ich sank in seine Arme.

„Kartoffelsalat…“ Krächzte er. "…mit Würstchen…“ Setzte ich röchelnd hinzu.

Das hatten wir total vergessen. Erna bestand am heiligen Abend auf Karpfen schlesische Art.

Nicht blau, nicht gebraten, gekocht oder frittiert – schlesich musste er sein. Was auch immer das heißen mochte.

„Es hilft nichts, Mann.“ Sagte ich energisch. „Gehe hin und bestelle einen Karpfen, zu liefern am 24. Dezember, fertig zubereitet nach schlesicher Art. Einen , den ich nur noch in den Backofen schieben oder in einem Topf werfen muß.“

Die Tage vergingen und nirgends war so ein Karpfen aufzutreiben. Mein mir Angetrauter, der geschworen hatte, mich zu lieben, zu ehren und das Weihnachtsessen aufzutreiben, mühte sich redlich, kam jedoch jeden Abend mutlos und unverrichteter Dinge heim. Kein Karpfen auf schlesische Art weit und breit.

Dann eines Tages, es war der 20. Dezember, brachte er einen großen Eimer mit nach Hause. Ein Ungetüm zappelte darin und spritzte brackiges Wasser auf unseren keimfreien Fußboden.

„Was ist das ?“ Fragte ich streng und zeigte unterstreichend mit meinem Zeigefinger auf den Eimer.

„Dieses ist ein Karpfen,“ sagte mein Mann fröhlich und sichtlich stolz, dass er seine Aufgabe so gut erledigt hatte.

„Du irrst“, sagte ich. „Dieses Ding hat einen Kopf, Schwanz, Flossen und es jappst. Dieses Ding ist ein stinkender Fisch.“

Woraufhin mich mein Gatte aufklärte, dass niemand, aber auch niemand im Umkreis von 100 km einen brat- und kochfertigen Karpfen schlesische Art zu veräußern hätte und dass er auf dem Heimweg ein Kochbuch erstanden hätte - schlesische Küche leicht gemacht- und daraufhin an einem Fischteich dieses Prachtexemplar von einem Karpfen erwarb. Nun müsse man diesen hier nur noch schlesich zubereiten - fertig wäre das Heiligabendmenü.

"Warum lebt der noch " fragte unser Ältester, der aufmerksam die Schwimmversuche im kleinen Eimer beobachtete.
"Ja, warum lebt der noch ?“ Fragte ich streng."Warum ist der nicht tot, ohne Kopf, entschuppt, entgrätet und filetiert?“

„Karpfen leben in moorigen Gewässern“, belehrte mich mein Mann. „Sie müssen sich noch einige Zeit im frischen klaren Wasser tummeln, damit ihr Fleisch den modrigen Geschmack verliert. Es sind noch vier Tage bis Erna kommt.“

„Wo soll er sich tummeln ?“ Fragte meine Jüngste interessiert. „Der Gartenteich ist zugefroren.“

"Und das Aquarium ist zu klein“, setzte unser Ältester hinzu.

"Ja, wo soll er sich tummeln und seinen modrigen Geschmack verlieren? "Fragte ich misstrauisch.

Die Antwort ließ mich erbeben, doch unter lauten Protesten wurde das brackige Ungetüm in unser keimfreies Badezimmer verfrachtet. Wasser wurde eingelassen und dann taumelte es dümmlich glotzend durch unsere sterile Badewanne.
"Nur einen Tag,“ tröstete mich mein Mann, „dann schlachte ich ihn und du kannst hier alles wieder desinfizieren.“

Inzwischen war die ganze Familie im Bad versammelt. Das Ungetüm schnappte nach Luft, klappte seine flunschigen Lippen auf und zu und zog mit erheblicher Schlagseite seine Bahnen.

"Er sieht aus wie Onkel Theo“, sagte unsere Jüngste plötzlich und plätscherte ein bisschen im Wasser, von dem ein penetranter Fischgeruch ausging. „Sieh mal Mama, wie Onkel Theo, wenn er zuviel Aquavit getrunken hat.“

Wir mussten zugeben, eine gewisse Ähnlichkeit war vorhanden, diese wässrigen Augen und dieser Mund …

Unsere Jüngste plätscherte wieder im Wasser.
„Theo“, lockte sie ihn, "Theolein.“

Der dicke Karpfen zog eine Kurve und schwamm an ihrer Hand vorbei.
Er hört auf mich“, jauchzte sie,“er hat sich von mir streicheln lassen.“

Mein Mann sah mich an. Nur bis morgen, sagte dieser Blick.

Am 21. Dezember hielt sich die Jüngste hauptsächlich im Bad auf und fütterte das hässliche Vieh mit Brotkrumen und streichelte seine schillernden Schuppen. Die Aufforderung zur Schlachtung ignorierte mein Gatte und belehrte mich, der Fisch müsse noch schwimmen, das Wasser wäre noch zu brackig. Wir wuschen uns in der Küche, die Kinder wuschen sich gar nicht. Es roch nach Fisch.

Am 22. Dezember hielten sich alle Kinder nur noch im Bad auf. Sie fütterten den Fisch mit Brotkrumen und lockten ihn mit selbstgefangenen Fliegen. Sie bewunderten sein schillernden Schuppen und streichelten seine Flossen. Die energische Aufforderung zur Schlachtung wurde von meinem Gatten ignoriert. Auch nach dreimaligem Wasserwechsel, (wobei wir unsere Jüngste gerade noch daran hindern konnten Fichtennadelschaumbad hinzuzufügen) schien es ihm, als wäre der Fisch noch etwas moorig. Er müsse noch ein wenig schwimmen. Wir wuschen uns in der Küche, die Kinder sich gar nicht, es roch nach Fisch und etwas anderem, nicht definierbarem.

Am 23. Dezember hielten sich alle im Badezimmer auf. Theo hatte in der Zwischenzeit einige Kunststücke erlernt, er steckte seine flunschigen Lippen über den Badewannenrand und fraß die Fliegen aus der Hand. Unsere Jüngste lockte ihn zu einem Sprung durch ihren Hulahoppreifen, aber dafür war er noch nicht bereit.
Auf meine bereits hysterischen Aufforderungen zur Schlachtung hin holte sich mein Gatte ein Brotmesser und ging ins Bad. Markerschütternde Schreie alarmierten mich, Blut war auf dem Kachelboden, der Fisch schwamm mit Schlagseite, aber ansonsten putzmunter in der Badewanne. Mein Gatte hatte sich in die Hand geschnitten. Wir wuschen uns in der Küche, die Kinder wuschen sich gar nicht. Es roch nach Fisch, schwitzigen Pullovern und miefigen Socken.

  1. Dezember - D - Day
    Alles wofür wie so hart geschuftet hatten, wurde von einem brackigen Moorbewohner zerstört. Theo schwamm noch immer in unserer Badewanne. Alles war keimfrei und aseptisch, außer unser Abendessen. Unter Androhung aller biblischen Plagen forderte ich meinen Gatten zur Schlachtung auf. Nur noch wenige Stunden bis zum Einzug von Erna und dieser Mistfisch musste nicht nur entschuppt, sondern auch noch schlesisch zubereitet werden. Doch mein Gatte sass im Kreise seiner Nachkommen mit einem Gummihammer bewaffnet auf dem Badewannenrand, schaute todtraurig auf und seufzte: „Ich kann es nicht tun, er ist durch den Hulahoop gesprungen.“

In diesem Moment klingelten es Sturm an der Haustür.

„Erna“ flüsterten wir in kaum unterdrückter Panik.

Erna und kein Mahl vorbereitet, Fischgeruch in der Luft, Schuppen in der Badewanne und ungewaschene Kinder. Schlimmer hatte es nicht werden können.

Wir schickten in aller Eile die Kinder zur Hintertür hinaus mit der Aufgabe, sich beim Nachbarn zu duschen und erst heim zukommen, wenn sie völlig keimfrei wären, dann verfrachteten wir Theo in eine Wäschewanne. Während ich die Badewanne schrubbte, versuchte mein Mann Tante Erna an der Tür ein bisschen aufzuhalten, was bei einem Sturm Stärke acht wirklich nicht so einfach war. Sie fegte über ihn hinweg, platzierte Koffer für einen Jahresbesuch im Hausflur und überfiel mich, als ich Theo klammheimlich im Keller verstecken wollte.

„Ah“ rief sie erfreut, „ein Karpfen, welch ein Prachtstück und ganz frisch, er jappst ja noch. Kind welch eine Freude, ich werde dir beim Kochen helfen. Da muss ja nur noch der Kopf ab.“

Jeder Einwand kam zu spät, wir hätten doch die Tür vernageln sollen. Ohne sich aufhalten zu lassen hatte Tante Erna das schärfste Messer gegriffen und ohne zu zögern massakrierte sie den armen Theo, der doch bereits gelernt hatte, durch einen Hulahoop zu springen. Dann annektierte sie mein Küche, köpfte und entschuppte den armen Fisch und schwuppdiwupp hatte sie einen Karpfen auf schlesische Art gezaubert.

Der Tisch war festlich gedeckt, die Kinder frisch gewaschen, die Kerzen brannten und Tante Erna war glänzender Laune. Wir saßen bei Tisch und Tante Erna trug stolz den dicken Karpfen auf einer Platte herein. Sie hatte den Kopf mit auf die Platte gelegt und nd ein Sträußchen Petersilie in seine flunschigen Lippen gesteckt.

„Guten Appetit allerseits“, wünschte sie fröhlich und tat sich einen großen Bissen auf.
Um sie herum wurden die Mienen immer betretener, die Jungs schauten finster, mein Mann knirschte etwas durch die Zähne und unsere Jüngste schaute fassungslos auf den Fisch.

„Du bist eine Mörderin“, schluchzte sie. „Gestern hoppste er noch durch meinen Hulahoop.“

Erna kaute genüsslich. „Noch etwas brackig“, sagte sie, „er hätte noch ein wenig schwimmen können.“

Das war zu viel für unsere Kleine, sie erbrach sich geräuschvoll über den cremefarbigen Damast.

Erna erschrak, als sie die Bescherung sah. Während wir das Kind entfernten und hektisch versuchten, das Desaster zu mildern, sass
sie stocksteif auf ihrem Stuhl, erst kreidebleich, dann puterrot und schließlich fiel sie röchelnd vom Stuhl.

Ratlos standen wir vor ihr und klatschten ihre Wange, doch ihr Kopf pendelte hin und her. Der herbeigerufene Notarzt stellte fest, dass sie an einer Gräte erstickt war. Tante Erna war mausetot.

Wir aßen dann noch lange gemütlich bei Kartoffelsalat mit Würstchen und alle schrieben einen langen Wunschzettel.

Weihnachten mit roten Bäckchen

Blass war er, farblos und ideenlos. Ich hasse solche Geschenke. Ist ein Weihnachtswunsch unbedingt verpflichtend? Muss ich jemanden etwas schenken, das mir zutiefst zuwider ist? Mit ideen- und farblos meine ich meinen Ex-Stiefsohn. Ja, es ist kompliziert, aber um das geht es hier nicht. Was kann man sich wünschen, mit fünfzehn? Ein Mountainbike, eine elektrische Eisenbahn, ein Survivalmesser mit feststehender Klinge von Bowie, eine Angel, möglichst klein, damit man sie auch zum Schwarzfischen benützen kann. Spaß, Abenteuer, Adrenalin und Fantasie wollte ich ihm schenken, aber nein, eine Apple Card wünscht sich der Blödmann. Nichts anderes als ein Einkaufsgutschein von Apple, damit man sich etwas bestellen oder downloaden kann, um weiter ideenlos und blass vor dem Computer hinzu gammeln. Ein Geschenk ohne Spaß und Adrenalin. Man packt es aus und „Ui eine Apple Card“, sagt man dann, monoton und ohne erhöhten Pulsschlag, beim Auspacken. Man wünscht es sich, bekommt es und sitzt wieder vor „dem Kasten“ und wird immer ideen- und farbloser. Wenn ich ihm nichts schenke, ärgert er sich zumindest! Das wäre eine Gefühlsregung, immerhin!
Dann gibts aber wieder Ärger mit seiner Mutter, wie gesagt meine Ex. Schwierig! Er interessiert sich nicht mal für Mädchen, mit fünfzehn!
Eine Stripperin! Das wär’s! Ein riesengroßes Paket unterm Weihnachtsbaum und wenn „Last Christmas I gave you my heart“ kommt, hüpft das leicht bekleidete Christkind aus dem Karton und wackelt mit allem, was sie so hat. Opa greift sich ans Herz, der Schrittmacher reguliert sich zu Tode, Oma richtet Ihre strengen Blicke auf mich, weil sie genau weiß, wem man „diese Bescherung“ zu verdanken hat. Die Ex hyperventiliert und starrt auf ihren Sohn, wie der blasse Jüngling anfängt, nicht nur Gefühlsregungen zu zeigen. Onkel Erwin sabbert.
Das wäre schön, denk’ ich noch, da wäre Leben in der Bude. Wahrscheinlich hätte sich Jesus Christus auch mehr darüber gefreut, dass man seinen Geburtstag mit Menschen, Gefühlen und Erregung feiert als mit einer Apple Card. Aber praktisch natürlich nicht umsetzbar! Das würde zu viele menschliche Konflikte nach sich ziehen. Aber eine „light“ Version des Ganzen, das sollte möglich sein! Ich fuhr in einen Supermarkt, drei Ortschaften von der meinigen entfernt und suchte nach einer Apple Card, da gab’s mehrere. Die auf dem Foto, das mir der Ex-Stiefsohn per WhatsApp zukommen hat lassen, war blau. Diese da, am Ständer, waren bunt. Ich wollte mich bei einer älteren Supermarktangestellten erkundigen, ob „diese“ Karte „das“ gleiche sei, wie die auf meinem Handy. Aber, wieso sollte es einer älteren Supermarktangestellten anders gehen wie mir. Sie hatte keine Ahnung! „Da brauchen wir den Herrn Tschipner, der kennt sich aus“, erklärte sie, und so liefen wir zwischen ein paar Supermarktregalen hin und her, bis wir den Herrn Tschipner gefunden hatten. Der bestätigte, dass sich die Karten lediglich im Design unterschieden, ansonsten aber identisch sind.
Ich hielt jetzt also „das Wunschgeschenk“ für 25 € in den Händen. 25 €, was bekommt man heute noch für 25 €? Ganz zu schweigen von der Euphorie, die in mir brodelte, wegen meines Geschenkes, beziehungsweise, der Verpackung meines Geschenkes. Ich ging noch mal zurück zum Kartenständer und tauschte die 25 € Karte zu einer 50 € Karte um.
Ich werde die Apple Card ganz dezent zwischen zwei schönen Seiten eines Playboy-Magazins verstecken. Ein bisschen peinlich war’s mir schon, ich entdeckte keinen Playboy im Zeitungsregal und musste somit nach der Zeitung fragen. „Entschuldigung?“, fragte ich die ältere Verkäuferin wieder, haben sie keinen Playboy? „Nein, bestimmt schon seit zehn Jahren nicht mehr, da hat sich mal eine Frau beschwert, weil Ihr pubertierender Sohn in der Öffentlichkeit mit so ‚schmuddel Sachen‘ konfrontiert wird, seit dem führen wir so was nicht mehr“. Das ist ja wieder typisch, EINE beschwert sich und alle anderen bekommen keinen Playboy mehr. Derweilen zeichnet sich das Magazin, durch die gut recherchierten Artikel aus, unter anderem.
In drei anderen Supermärkten erging es mir genauso, kein Playboy!
Da fiel mir so ein Lotto Toto, Tabak, und Hermes Paket-Zeitungsladen bei mir in der Nähe ein. Vor zwanzig Jahren war ich da ungefähr das letzte Mal drin und werde ihn auch die nächsten zwanzig Jahre wahrscheinlich nicht mehr brauchen. Da probiere ich mein Glück. Zwei Leute mit Paketen zwängten sich die kleine steile Treppe ins Laden innere hinauf, drinnen wurde es nicht besser, der Laden war klein und es waren mindestens acht oder zehn Leute drin. Einer von Ihnen war sogar ein bekannter von mir, welch eine Freude! Ich grüßte höflich und wandte mich dem Zeitungsregal zu. Alles vorbildlich beschriftet: Haus, Garten, Hobby, Auto, Heimwerken, aber kein Sex. Ich schaute alle Zeitungen noch einmal genauestens durch, konnte aber keinen Playboy entdecken. Zwei Leute standen bei der Paketabgabe, nur eine Frau an der Kasse. Es gab zwei Verkäuferinnen mittleren Alters und einen Bekannten. Soll ich jetzt einfach wieder gehen oder nach dem Playboy fragen? Das Wohl des Jungen liegt mir sehr am Herzen, mit fünfzehn sollte er langsam merken, dass es auch noch etwas anderes außer Computer gibt. Also fasste ich den mutigen Entschluss, trotz des Bekannten im Laden, und den zwei Verkäuferinnen nach dem Playboy zu fragen. Die Sache war es wert. Ich stellte mich hinter die Frau an der Kasse, es dauerte nicht lange und mit einem freundlichen „bitteschön“ begrüßte mich die Verkäuferin. „Äh, haben sie einen Playboy?“, fragte ich leise, aber nicht leise genug. Die Verkäuferin sagte: „natürlich“, als ob das, das normalste von der Welt wäre, und ging Richtung Zeitungsregal. Aber mein Bekannter brüllte durch den Laden: „Aus dem Alter, für den Playboy bist Du doch raus“. Einige schauten beschämt in den Boden, andere hatten ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht und niemand hatte es nicht mitbekommen. „Der ist ja nicht für mich“, sagte ich mindestens genauso laut. Jetzt lachten alle. Auch die nette Verkäuferin, mit einem „bitte sehr“ und „das macht dann 11,90“ überreichte sie mir das Objekt der Begierde. „Der ist für meinen fünfzehnjährigen Stiefsohn“, versuchte ich mich zu verteidigen. Ex-Stiefsohn zu erklären, wäre jetzt zu kompliziert gewesen. Mein Bekannter reagierte mit einem überzogenen und ungläubigen „Ach soooo“. „Ja, wirklich“, erwiderte ich. „Der sitzt nur vorm Computer und wünscht sich eine Apple Card, die ich jetzt in diesem Playboy verstecken werde, dann bekommt er zumindest beim Auspacken des Geschenks ein paar rote Bäckchen“. Meine vermeintliche Ausrede hatte Erfolg, alle in dem Laden lachten. Sofort begannen Diskussionen über „die Jugend von heute“ und dass sie nur vorm Computer säßen, und ich dachte 11,90 für einen Playboy! Kommt der jetzt auch aus der Ukraine? 24 Mark für eine Zeitung!
Zu Hause angekommen suchte ich gleich die berühmte „aufklappbare Seite“ und deponierte dort die Apple Card. Es war der 23. Dezember und mit diesem Geschenk hatte ich jetzt alle zusammen, nur kein Geschenkpapier mehr. Kurzerhand packte ich das „Rotbäckchengeschenk“ in Zeitungspapier ein.
24. Dezember, 18.00 Uhr!
Meine Eltern und ich schlugen bei der Ex auf. Onkel Erwin war auch schon da. Beim gemeinsamen, friedlichen und besinnlichen Weihnachtsessen wurden die Kinder ständig lautstark ermahnt, endlich stillzusitzen, und wenn nicht, dann kommt das Christkind nicht, bis hin zum Hausarrest. Onkel Erwin zischte noch ein Bier und komplettierte das Chaos mit den Worten „Wenn jetzt hier nicht gleich Ruhe ist, dann gibts den Popo voll“. Worauf der Kleinste weinte und in sein Zimmer wollte, was er natürlich nicht durfte, denn es wird erst aufgestanden, wenn alle aufgegessen haben. So besinnlich ging es weiter, mit weihnachtlichen Themen wie: Ukraine, drohender Atomkrieg, Inflation, Altersarmut, Arbeitslosigkeit und Bürgergeld statt Hartz IV. Als Nachtisch Flüchtlinge und Klimakleber oberflächlich und kleinkariert diskutiert. Was würden diese Leute bloß sagen, wenn eine Sexzeitung unterm Weihnachtsbaum liegen würde? Die Kinder taten mir leid. Der Weihnachtsabend ist doch schließlich kein normaler Abend, da dürfen die Kinder doch ein bisschen hibbelig sein. Bei nächster Gelegenheit nahm ich den Ex-Stiefsohn zur Seite und flüsterte ihm ins Ohr „Das Christkind hat ein Geschenk mit Zeitungspapier eingepackt, das solltest Du nicht vor allen Leuten aufmachen“ Er nickte nur mit einem verwunderten „OK“.
Bescherung! Die Ex bekam Kosmetik und Düfte, der kleinste Lego, Oma Wolle zum Stricken, Opa Zigarren, immer wieder mal waren Pralinen dabei und Onkel Erwin bekam nichts, ohne Alkohol. Alle Geschenke waren aufgerissen, fast alle. „Das ist noch Deins“, rief die Mama ihrem Sohn zu, „das mit Zeitungspapier, mach’s auf“. „Nein, jetzt nicht“, sagte mein Ex-Stiefsohn brav. „Doch, mach das jetzt auf“ polterte Onkel Erwin dazwischen.
Mit einem unbeschreiblichen, aber auf keinen Fall wohlwollenden Blick sah mich meine Ex an. Sie wusste genau, dass das Geschenk von mir war und sie kannte mich. Noch dazu die untypische Reaktion Ihres Sohnes, ließ sie nichts Gutes, erahnen. „Es ist sein Geschenk, damit kann er machen, was er will“, sagte ich in die Runde. Und plötzlich wussten alle, dass ich etwas weiß, was sonst keiner hier wusste. Neugierde ist etwas Furchtbares. Onkel Erwin lallte uralte, gerade eben frei erfundene, neue Gesetze in den Raum: „Alle Geschenke müssen immer in diesem Raum sofort ausgepackt werden“. Die Ex: „Jetzt pack es schon aus“. Oma wandte sich diplomatisch an mich: „Warum packt er es denn nicht aus?“ Nichts war, in diesem Moment, interessanter als dieses in Zeitungspapier eingepackte und nicht ausgepackte Geschenk. „Wir wollen das jetzt wissen“ erhob Onkel Erwin, während er sich ein Gläschen Grappa nachschenkte. Das Schöne an der Situation war, der Ex-Stiefsohn wusste ja auch nicht, was sich in dem Zeitungspapier befand. Somit war ich der Einzige, der um das Geheimnis des Päckchens wusste. Während alle versuchten, den armen Ex-Stiefsohn dazu zu bewegen, das Päckchen aufzumachen, genoss ich das Schauspiel und dachte nur, wie befriedigend doch so ein Playboy ist, der war sein Geld wirklich wert. Den Tränen nahe und genervt, von der Drängelei, sprang der Ex-Stiefsohn wütend auf und verbarrikadierte sich, mit einem lauten Türschmiss, in seinem Zimmer. „Der kommt so bald nicht mehr raus“ lallte Onkel Erwin. „Das glaub’ ich auch“, sagte ich befriedigt, mit einem Lächeln im Gesicht.

Lieber guter Weihnachtsmann
Ich war gerade drei Jahre alt.
Mutti sagte: „Wenn du artig bist, dann bringt der Weihnachtsmann Geschenke.“
Bei uns zu Hause war es nicht üblich nachzufragen, also blieb ich mit meinen Gedanken, wer dieser Weihnachtsmann war, alleine.
Gedichte und Lieder über ihn hatte ich schon ein paar gelernt, aber gesehen hatte ich ihn noch nie.
Eines Tages wurde ich in ein neues rotes Samtkleid gesteckt, das meine Patentante genäht hatte. Die Zöpfe fest geflochten und mit kleinen Samtschleifen verziert. Die schwarzen, steifen und neuen Lackschuhe das erste Mal angezogen. Wir fuhren in die Stadt!
Es ging ins Weihnachtsmärchen.
Wir kleinen Kinder saßen, ohne Mutti oder Vati, vorne in der erste Reihe. Dahinter die größeren Kinder. Das Märchen war wunderschön!
Danach gab es noch nahrhaften heißen Kakao und ein Stück Kuchen für uns Kinder. Es war noch nicht in allen Familien der Nachkriegswohlstand angekommen.
Ich war glücklich!
Nun sollte es wieder nach Hause gehen. Die Mäntel aus der Garderobe geholt und angezogen, wurden wir in der Menge zum Ausgang geschoben.
Dort stand ER!
Riesengroß war er, mit rotem Mantel und weißem Bart und mit einem riesigen Jutesack.
Der leibhaftige Weihnachtsmann!
Er gab jedem Kind die Hand und sprach mit ihm. Und jedes Kind sagte seinen kleinen Spruch oder ein Gedicht auf. Und dann bekam auch jedes Kind ein Geschenk.
Ich war sehr, sehr aufgeregt! Ich hatte das alles beobachtet und war verzweifelt, was passiert, wenn mir mein Gedicht nicht mehr einfällt.
„Lieber guter Weihnachtsmann…,“ es hat geklappt! Ich erhielt mein Geschenk. Ein Beutelchen mit einem Schokoladenweihnachtsmann, Nüssen und einer Mandarine.
Das zu Hause ein paar Tage später der Tannenbaum geschmückt wurde und Geschenke unter dem Baum lagen, das war alles nicht mehr wichtig.
Ich hatte den richtigen Weihnachtmann gesehen und meine Bescherung schon gehabt.

Onkel Pauls Idee

Es war Onkel Paul, der den Vorschlag machte, da bin ich ganz sicher.

Auf der Geburtstagsfeier von Tante Klara im September sagte er es sogar mehrere Male. Außer Heiligabend und den immer seltener werdenden Taufen und Hochzeiten ist dieser Geburtstag das einzige Fest, bei dem die gesamte Familie sich trifft. Jedenfalls sagte Onkel Paul, wir sollten das mit dem gegenseitigen Beschenken zu Weihnachten doch endlich lassen. Schließlich wüsste niemand vom anderen so recht, was der sich wünsche. Und dann immer das Gehetze durch die Stadt. Weihnachten sei doch sowieso nicht ein Fest der Geschenke, sondern der Liebe. Die Kinder, klar, die sollten natürlich weiterhin etwas bekommen. Aber dafür sei schließlich der Weihnachtsmann zuständig.

Ich glaube übrigens; auch wenn Torsten es energisch bestreitet - aber der will schließlich immer recht haben - ich glaube, auch in den letzten beiden Jahren hatte Onkel Paul diesen Vortrag gehalten.

Alle, außer Reinhard, haben zuerst nur auf ihre Tortenstückchen gestarrt. Gudrun hat sich beinahe am Kaffee verschluckt. Nachdem aber Reinhard begeistert zugestimmt hatte, wie er es jedes Jahr macht, waren auch die anderen von dieser völlig neuen Idee ganz angetan. Schon lange sieht keiner mehr mit Begeisterung der Bescherung für uns Erwachsene entgegen.

Besonders seit einigen Jahren, seitdem sich das mit den Bildern ergeben hate. Jeder schenkt nun jedem ein gerahmtes Bild. Kunstdrucke, einheitliches Format, zeitlose Motive, wie mir die Verkäuferin in der Kunsthandlung dieses Jahr wieder versichert hat. Wer wem welches Bild mit welchem Motiv gibt, fällt am Heiligen Abend nicht auf. Vor drei Jahren allerdings bekam Onkel Rudi das Bild mit dem Rahmen in Eiche-rustikal-Nachbildung, das er für Torsten im Jahr davor ganz bewusst ausgewählt hatte. Na ja, das hat die Stimmung dann ein wenig gedrückt. Aber nach dem fünften oder sechsten Cognac sprachen die beiden doch wieder miteinander.

Oma Luise traf ich in der Kunsthandlung, als meine Bilder zum Glück gerade eingepackt worden waren. Sie hatte auch nur einmal sehen wollen, was man denn für eine Auswahl gehabt hätte, wenn man denn Geschenke hätte kaufen wollen. Nicht, dass ich denken würde, gerade sie könne sich nicht an eine so sinnvolle Abmachung halten.

Heiligabend, gleich nach dem Essen - es gab wieder Gudruns unvergleichlichen Kartoffelsalat und diese schönen Würstchen, die Heiner immer so günstig in den großen Dosen besorgt - war Onkel Max der Erste, der sich an seiner großen Tasche zu schaffen machte. Es seien ja nur Kleinigkeiten, schließlich könne man nicht einfach vom einen zum anderen Mal ganz das Schenken lassen. Und wirklich, die die Bilder waren etwas kleiner als sonst.

Auch die anderen Taschen und Beutel wurden nun geöffnet, es wurde verteilt. Bitte, auch von mir eine Aufmerksamkeit; danke, ich habe natürlich trotzdem auch etwas für dich. Schließlich schälte jeder mehrere Kunstdrucke im zeitlosen Rahmen aus dem ebenso zeitlosen Geschenkpapier. Nur Tante Rita hielt zwei genau gleiche Werke in der Hand. Das war aber nicht so tragisch, schließlich hatte man Umtausch vereinbart.

Das Gespräch kam ein wenig ins Stocken, nachdem sich jeder bei jedem nachdrücklich für die gelungene Überraschung bedankt hatte. Schließlich hob Onkel Max als erster zu sprechen an: „Für das nächste Jahr sollten wir doch einmal darüber nachdenken, ob …“
„… wir wieder das gleiche Essen an Heiligabend haben möchten“, setzte Heiner den Satz fort.

Santa’s Rückkehr

Claus liegt mit weit aufgerissenen Augen im Bett und starrt an die Zimmerdecke. Goldene Glöckchen klimpern fröhlich die Melodie zu Jingle Bells. Eine tiefe Verzweiflung überkommt Claus. Er setzt sich schwerfällig auf die Bettkante und bringt den Radiowecker mit einer müden Handbewegung dazu endlich still zu sein. Er hat einen furchtbaren Geschmack im Mund und seine Zunge klebt ihm pelzig am Gaumen. Glücklicherweise liegt auf dem Nachttisch eine Aspirin bereit.
Es ist wiedereinmal Weihnachten.
Claus zieht sich seine braune Cordhose und ein Holzfällerhemd an, kämmt sich den weißen Bart, bis er wie der flauschige Schwanz eines Eichhörnchens aussieht und zieht dann die Vorhänge zurück. Golden geht die Sonne über der schneebedeckten Weite des Nordpols auf. Eine echte Idylle, wäre da nicht dieses nagende Gefühl, dass etwas schrecklich schief läuft.
Ruhig und besonnen geht Claus zu seinem massiven Eichenschrank öffnet die Tür und nimmt eine doppelläufige Schrotflinte heraus. Es wird Zeit die Fehler des letzten Jahres zu korrigieren.
In der Küche werkelt Harry herum. Wenigstens das hat sich nicht geändert.
Claus lehnt die Schrotflinte an die Wand und setzt sich an den Frühstückstisch.
„Morgen Boss“, begrüßt ihn Harry.
Sein ehemaliger Assistent sieht müde aus, während er Claus Tee einschenkt.
Claus blickt den Tee misstrauisch an.
„Zistrosentee“, sagt Harry, während Claus den Tee in der verkrüppelten Zimmerpflanze entsorgt.
„Wo ist er“?
Mit „er“, meint Claus seinen Nachfolger, den Geschäftsführer der Santa Claus GmbH.
„Er“, hatte den Posten letztes Frühjahr übernommen und gleich damit begonnen alles umzukrempeln.
„Er“ ist sportlich, jung, gutaussehend und ein unglaubliches Arschloch.
Als erstes hatte „er“ die Weihnachtbäckerei in ein Gym verwandelt. Kohlenhydratarme Ernährung und Sport ist seine Devise.
Dann hatte er die Rentiere verkauft und einen Co2-neutralen e-Schlitten angeschafft. Dieser sollte mit Solarenergie aus der neu installierten PV-Anlage geladen werden. Dummerweise hatte Einstein alias „er“ nicht bedacht, dass es am Nordpol im Winter gar keine Sonne gibt.
Anstelle des klassischen Santa-Claus-Outfits trägt „er“ eine eng anliegende rote Jeans, darüber schwarze Cowboystiefel und ein lächerliches rotes Sakko. Und sein Bart erst! Sauber gestutzt und viel zu kurz.
Außerdem nennt er sich Carlos.
„Er ist im Gym“, sagt Harry.
„Natürlich“, antwortet Claus und erhebt sich, wobei er sich die Schrotflinte in die Armbeuge klemmt.
Harry blickt ihn an.
„Sind wieder Eisbären an der Mülltonne“?
„Riesige, bösartige Eisbären“, sagt Claus.
„Ach Harry würdest Du den Schlitten vorbereiten“?
„Klar Boss, ich hoffe nur das Ding ist geladen“.
Claus nimmt das zum Anlass die Schrotflinte zu inspizieren.
„Geladen und entsichert“ und damit verlässt Claus die Küche Richtung Gym.
Während Harry den Schlitten beläd, hört er einen dumpfen Knall.
Wenig später schleift Claus ein längliches in schwarzem Plastik verpacktes Paket zum Schlitten und hieft es auf die Ladefläche.
"Ist es das, was ich denke? ", fragt Harry überflüssigerweise.
Claus nickt nur und schwingt sich auf die mit rotem Leder bezogene Sitzbank.
„Bevor es losgeht, machen wir einen kleinen Abstecher zu einer entlegenen Gletscherspalte, um dieses Paket zu entsorgen“.
Harry kichert irre, das letzte Jahr hat auch bei ihm Spuren hinterlassen.
„Was ist so komisch“?
„Ich musste an Ötzi denken“.
Claus grinst auch.
„Ab sofort übernehmen wir das Geschäft wieder. Morgen lassen wir Carlos aus dem Handelsregister streichen und dann besorgen wir uns einen Praktikanten oder Azubi“!
„Und Rentiere“, sagt Harry.
„Und Rentiere“!
„Merry Christmas“!

Meine 5 Adventstürchen

*20. Dezember. *
Das Türchen öffnet sich.

Ein grosser Mensch ist wer, sein Kinderherz nicht verliert.

Mein Gedanke dazu:
Kindliche Neugier und Fantasie sind die Eckpfeiler der Schreibkunst. Was man die letzten 10 Wochen immer wieder lesen konnte.

*21. Dezember. *
Das Türchen öffnet sich.

Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem einzigen Schritt.

Mein Gedanke dazu:
Unser Dasein besteht aus hunderten von ersten Schritten. Sie formen uns zu dem Menschen, der man ist.

*22. Dezember. *
Das Türchen öffnet sich.

Das Wasser kann ohne Fisch auskommen, aber kein Fisch ohne Wasser.

Mein Gedanke dazu:
Unser Schiff Erde ist einmalig. Halten wir ihr Sorge.

*23. Dezember. *
Das Türchen öffnet sich.

Sammelst du Früchte, so gedenke auch derer, die den Baum gepflanzt haben.

Mein Gedanke dazu:
Ich danke meinen Eltern, für die Liebe die ich erfahren durfte. Es ist ein Privileg, so behütet aufwachsen zu dürfen und keinesfalls selbstverständlich. Dem bin ich mir immer wieder voll bewusst.

*24. Dezember Heiligabend. *
Das Türchen öffnet sich.

Obschon die Liebe in der Einzahl ist, so wohnt sie dennoch in zwei Herzen.

Mein Gedanke dazu:
Seit 46 Jahren öffnen wir gemeinsam das Türchen zum 24. Dezember. Liebe kennt kein Alter, es zählt nur, was die Herzen fühlen!

Weihnachtsloyalität

„Severin, räum endlich deine Legos aus dem Flur. Leo kommt gleich“, rufe ich Richtung Wohnzimmer, wo mein Fünfjähriger Geschichten hört. Fussgetrampel erklingt und Severin steht neben mir in der Küche.
„Ma, Leo darf heute nicht zu uns kommen“, sagt Severin und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich muss schmunzeln, das hat er mir abgeschaut.
„Warum nicht? Du freust dich doch immer, wenn er kommt“, frage ich erstaunt.
„Heute nicht. Er kann morgen kommen.“
„Schatz“, ich gehe in die Knie. "Er ist sicher schon auf dem Weg.“
„Wenn Leo hier ist, kommt der Weihnachtsmann nicht“, sagt er trotzig.
„Aber bei uns kommt doch das Christkind.“
„Ja, aber wenn Leo hier ist, kommt der Weihnachtsmann nicht.“ Ich versteh nicht was er meint, bei uns kommt nie der Weihnachtsmann. „Ich will, dass Leo nicht kommt. Der Weihnachtsmann muss kommen. Ich will, dass der Weihnachtsmann kommt.“ Severin beginnt zu weinen und schreien. Ich nehme ihn in die Arme. Er weint weiter und murmelt an meinem Hals immer wieder Weihnachtsmann.
Die Türklingel schrillt. Ich gehe mit dem weinenden Severin auf dem Arm aufmachen.
„Hallo meine Lieben – was ist denn bei euch los?“, sagt Leo, der strahlend vor der Tür steht.
Severin windet sich auf meinem Arm und beginnt zu schreien: „Geh weg, geh weg!“
„Severin, beruhig dich, du magst Leo doch.“
„Geh weg. Der Weihnachtsmann … der Weihnachtsmann.“ Sein Schreien wird zu Schluchzen und seine Tränen tränken meine Bluse.
„Ich kann auch gehen und morge wieder kommen“, sagt Leo leise und ich erkenne die Enttäuschung in seinem Blick. Wir hatten uns beide auf das gemeinsame Fest gefreut. Eigentlich alle drei, auch wenn es nicht mehr den Anschein hat.
„Ja!“, ruft Severin, neigt sich von meinem Arm zu Leo rüber und flüstert ihm verschwörerisch zu, „Du musst zu Lucy. Sie wartet auf dich.“
„Zu Lucy?“, fragen wir beide.
„Ja“, flüstert Severin weiter, „du bist doch ihr Weihnachtsmann.“
„Nein“, Leo lacht, „ich bin Leo und nicht der Weihnachtsmann.“
Severin macht grosse Augen. „Aber Lucy hat heute im Kindergarten gesagt, dass du der Weihnachtsmann bist und ihr heute Geschenke bringst. Und wenn du hier bist, dann bekommt sie keine Geschenke und weint. Ich will nicht das Lucy weint.“ Nun schluchzt mein Kleiner wieder und Tränen kullern ihm über die Wangen.
„Ich versprich dir, ich bin nicht Lucys Weihnachtsmann“, sagte Leo.
„Ehrlich?“
„Ganz ehrlich.“
„Wenn du willst, können wir Lucy nach dem Essen anrufen und fragen, ob der Weihnachtsmann bei ihr war“, sagte ich.
„Oh ja. Jetzt gehen mein und Lucys wünsche in Erfüllung“, sagt Severin und schaut verträumt.
„Was hast du dir denn gewünscht?“, fragt ihn Leo.
„Das verrate ich nicht“, sagt Severin und strahlt uns beide an.

Der Weihnachtsmarkt öffnet Herzen

Es war Advent. Der erste Advent, um genau zu sein.
Zur Freude aller, also zumindest all jener die es zu schätzen wussten, dass die Bäume und die Dächer der Häuser in ein weißes Gewand gekleidet waren, hatte es wie seit vielen Jahren nicht mehr, geschneit. Ob dies der Grund war, dass der Weihnachtsmarkt besonders gut besucht war? Vielleicht.
Es lag ein Hauch von Lebkuchen in der Luft und insgesamt war an jenem Sonntagabend eine Sinfonie von Düften unterwegs.
Man musste nur seine Nase in den Wind stecken, dann war es möglich, das Eintauchen in die weihnachtliche Zeit.
Nicht nur von Lebkuchen war die Luft schwanger, sondern auch von Weihrauch, Zimtkipferl, Champignonpfanne, Shrimps in Weißweinsoße, Eierpunsch und Glühwein. Für letzteres hatten insbesondere die Nasen der Erwachsenen ein feines Gespür, das sich jedoch in Luft auflöste, wenn sie zu viel davon tranken. Der Eierpunsch mit Sahne schmeichelte meist den Damen, wobei diese aber gerne auch einmal das Getränk wechselten.
Neu war in diesem Jahr ein Marktstand der Bratäpfel feilbot , die es mit Sahnehaube, Zimtzucker, Ahornsirup oder alles gleichzeitig gab. Dort hatte sich, gleichauf mit dem Glühweinstand, die längste Schlange gebildet. An einem Marktstand gab es Omas Apfelkuchen, der himmlisch gut roch und bei den Kindern sehr beliebt war, zumindest in diesem Jahr. Dies war wohl dem Umstand geschuldet, dass Herr Kowalsky, er verstand es die Weltbesten Crêpes zuzubereiten, erkrankt war.
Die Zeit, welche alle Kinderherzen höher schlagen ließ war eingekehrt. Alle fieberten dem Heilig Abend entgegen und waren gespannt wie ein Flitzebogen, ob sich denn ihre Wünsche erfüllen würden. Endlich Advent.
Die Grünfläche des großen Parks war mit einer weißen Decke überzogen und die Bäume die ihn säumten waren mit einer zarten Schicht Raureif versehen, so, als hätten sie sich für den Weihnachtsball geschmückt.
Bunte Lichterketten verzierten das Ganze und in der Mitte des Weihnachtsmarktes sorgte ein großer Weihnachtsstern für Aufmerksamkeit, der vom Park bis zur anderen Straßenseite gespannt war und die Straße in ein beruhigendes, zartes Licht tauchte.
Mit dicken Mänteln, Schals und Mützen bekleidet, schoben sich die Menschen aneinander vorbei und wärmten ihre Hände an ihren Glühwein- und Eierpunsch Tassen. Sie genossen den erneut einsetzenden Schneefall, der dem Ganzen einen Zauber verlieh und noch mehr Weihnachtsstimmung aufkommen ließ. Der Schneefall wurde so heftig, dass nach einer knappen halben Stunde die ersten Schneebälle durch die Luft flogen und hier und da ein Gesicht trafen. Kinder lachten und kreischten vor Freude. Väter standen, vom Glühwein leicht beflügelt, am Straßenrand und feuerten ihre Söhne an. Mütter mahnten eher, am Eierpunsch nippend, zur Vorsicht.
Nahe der großen Parkbank, welche Platz für ein Dutzend Stehmüde bot, hatte sich eine Menschentraube versammelt, die begann „Stille Nacht, Heilige Nacht“ zu singen. Anfänglich war es ein leises Summen, das letztlich mit mehr Glühwein und Mut zu einem schönen Gesang wurde. Ein Gesang, der nicht nur die Herzen der Menschen erwärmte, sondern auch in den umliegenden Wohnhäusern Gehör fand. Trotz der Kälte gingen hier und da Fenster auf und Menschen begangen mitzusingen. Oh, wunderbare Weihnachtszeit.

irgendwo dort oben

Irgendwo dort oben

Irgendwo dort oben

Zwischen Grauzonen

In blauen Zwischensphären

Singen die Götter

Bzw.

Sie tun so als wären sie Götter

Singen allmächtig

Spielen Glücksspiele

Und Pechspiele

Mit unseren Samen

Irgendwo im unendlich schwarzen All

Steht eine Werkstatt für geplatzte Träume

Hier wird

Gehämmert gesägt

Gelötet geleimt

Geklammert und verputzt

Es dauert lange

Bis da was vorwärts geht

Bis da was geflickt ist

Da wird man ja verrückt

Wer will schon so lange warten

Und oft so oft

Kommt Pfusch zurück

Irgendwo dort am Ende

Wo kein Ende ist

Rast ein verwirrter Komet

Hin und her

Lichtjahre rauf Lichtjahre runter

Schlägt mit dem Schweif an des

Lieben Gottes Ohrensessel

Weckt Jehova

Neckt ihn

Wer weiß das schon

Irgendwelche engelsgleiche Wesen

Putzen sich heraus

Zum großen Fest

Oder heißt es Test

Jedenfalls

Sie bummeln durchs Universum

Und außen herum

Wollen retten helfen richten

Gehen den

Geretteten

Geholfenen

Gerichteten

Gehörig auf die Nerven

Baden beleidigt

In der Milchstraße

Irgendwo hier unten

In einer stummen Schlange

Wartet einer träumend vorm Kino

Kennt weder Schauspieler

Noch Regisseur

Kennt nur den Drehbuchautor

Wartet

Erste Regentropfen

Er zerknüllt das nasse Billet

Geht zur U-Bahn

Nimmt den Lift

Zum Bahnsteig Eins

Will zurück

Unentschlossen

Bleibt stecken

Im Zwischengeschoß

Weint zwei Tage und drei Nächte

Und verpasst den Faschingszug.

Weihnacht defekt

Wir sind ein Ehepaar, das die Silberhochzeit bereits hinter sich hat. Also 55+, beide Vollzeit berufstätig, wirtschaftlich unabhängig und sozial integriert. Wir fahren zwei Mal jährlich in Urlaub und genießen zusätzlich intensiv die freien Wochenenden – oft gemeinsam aber manchmal auch allein. Wir unternehmen gerne etwas mit unseren Freunden und lachen viel. Auch wenn wir allein zu Hause sind. Die gute Stimmung und der Humor wirken auf Besucher ansteckend. Für Auenstehende sind wir das Sinnbild für eine glückliche und harmonische Ehe, um das uns viele beneiden.

Im Großen und Ganzen mag dieses Bild auch stimmig sein, wären da nicht diese Bananenkisten, deren Inhalt unser gutes Verhältnis über sechs Wochen jedes Jahr belastet hat. Trocken und vor Mäusen gut geschützt harrten die Kisten im Halbdunkel des Dachbodens 46 Wochen lang geduldig auf ihren Einsatz. Im Laufe der Jahrzehnte war der Stapel der Kisten durch Erbschaften, Geschenke und die Ergebnisse von Kreativkursen gewachsen. Mit ihrem eigenen Sinn für Systematik hatte meine Ehefrau die Kisten befüllt und beschriftet. Auf ihnen stand mit einem breiten Edding geschrieben: „Weihnacht Glas“ oder „Weihnacht Elektro“. Die Liste der Kisten war lang und ich möchte hier nur noch die Beschriftung der letzten Kiste im hinteren Stapel erwähnen: „Weihnacht defekt“. Ich weiß nicht genau, mit welchem der dort abgelegten Dinge sich mein Gemütszustand am Sonntag vor dem 1.Advent vergleichen ließ: mit den angeschlagenen Porzellanengeln, der defekten Spieluhr oder dem elektrischen Lichterbogen mit Kabelbruch?

Mit einem fröhlichen „Heute wird endlich dekoriert!“ endete unser gemeinsames Frühstück stets an dem besagten Sonntag. Ich hatte einmal und nie wieder gefragt: „Weshalb müssen wir bereits eine Woche vor … ?“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Weil es mir Freude macht!“ Diese Begründung hatte mich entwaffnet, weil mir kein sinnvolles Argument gegen die Freude einfiel. Im Übrigen kann kein normaler Mensch etwas dagegen haben, dass sein Gegenüber etwas mit Freude verrichtet. Eins zu null. Auch Versuche die Menge der Dekoartikel zu reduzieren, verliefen ohne Ausnahme argumentativ im Sande. Mein pauschales „Zu viel ist zu viel!“ fand als Antwort immer nur ein müdes Lächeln. Danach erfolgte ein klarer Hinweis auf diverse mir bekannte Räumlichkeiten bei anderen Personen, die ich – obwohl mit Deko überfüllt – selbst als „schön und gelungen“ bezeichnet hätte. Hier sollte ich also der Heuchelei überführt werden oder die kurzfristige optische Verdichtung im eigenen Hause dulden. Zwei zu null. Bei meiner Kritik an einzelnen Dekoartikeln oder dem Inhalt der Kiste „Weihnacht defekt“ wartete meine Liebste immer mit einer Hintergrundgeschichte zu jedem Objekt auf, die mich betroffen machte. Meistens ging es um sehr liebe Menschen,
Verstorbene, Entbehrungen, große Mühe oder fleißige Kinderhände. Sie übertrug sehr geschickt jedes einzelne Objekt in unsere persönliche Geschichte und ich musste schließlich kapitulieren, um nicht als emotionaler Eisberg da zu stehen. Drei zu null – das Spiel hatte ich schon sehr früh in unserer Beziehung für alle Zeit verloren und musste etwas abnicken, was ich gar nicht wollte.

Der Inhalt der Bananenkisten besetzte also Jahr für Jahr Fensterscheiben und –bänke, die verfügbaren freien Wand-, Tisch-, Regal- und Schrankflächen, hing von unseren Holzdecken und Gardinenstangen oder stand in Zimmerecken. Selbst die kahlen Obstbäume im Garten und der Rückspiegel meines Wagens wurden nicht verschont. Für mich hießen die Bestandteile dieser Reizflut irgendwann pauschal „Dekolls“. Meine nur noch selten und dann leise geäußerte Sehnsucht: „Wie schön wäre jetzt eine leere und weiße Wandfläche. Ich könnte wieder frei atmen.“ wurde meist mit einem freundlichen Schulterklopfen und der Anmerkung ins Lächerliche gezogen: „Haben wir wieder einen kleinen ADHS-Schub? Dafür gibt es doch Fachärzte. Sollen wir nächste Woche einen Termin … ?“ Meine langjährigen Gespräche mit Freunden und Kollegen bestätigten den Eindruck, dass es sich bei diesem gegen-die-Männer-andekorieren um eine geschlechtsspezifische Eigenart handelt, die ich irgendwann als Retourkutsche mit dem Begriff „Über-Deko-Aktivitäts-Syndrom“, kurz „ÜDAS“, bezeichnete. Beim Versuch die unterschiedlichen Wahrnehmungen zwischen Mann und Frau zu erklären, endeten wir in der Betriebskantine immer bei kochenden Frauen in Felsenhöhlen und speerbewaffneten Männern in weiten Ebenen. Diese Männer mussten stets den Überblick behalten und durften sich nicht
von Nebensächlichkeiten und Staubfängern ablenken lassen, sonst wären sie selbst schnell zum Opfer eines Raubtiers oder Feindes geworden. Und somit lag die kollektive männliche Sehnsucht nach der leeren weißen Wand in unserer
Menschheitsgeschichte begründet und nicht in einer unbegreiflichen Tageslaune des Gatten – zumindest nach dem einstimmigen Urteil unserer Büroabteilung. Aber was meine Frau zu dieser Argumentation sagte, möchte ich lieber nicht zitieren.

So vergingen die Jahrzehnte mit dem Dekorationsspiel zwischen meiner Frau und mir. Ich hatte es längst aufgegeben, gegen die „Dekolls“ ernsthaft zu protestieren. Doch in diesem Jahr ergab sich eine für mich unerwartete Veränderung, die ich anfangs als vorweihnachtliches Wunder bezeichnete. Sämtliche Bananenkisten wurden wie üblich zur alljährlichen Inspektion vom Dachboden geholt und ausgeräumt. Unser Schlafzimmer und die Bäder wurden von meiner Frau zunächst ohne Erläuterung zur dekorationsfreien Zone erklärt. Die Anzahl der „Dekolls“ im Haus fiel anschließend im Vergleich zu früher sehr sparsam aus. Der Inhalt der Kiste „Weihnacht defekt“ verschwand am Ende sogar auf dem Recyclinghof. Ich war sprachlos über den optischen Rückbau und wollte kein Wort über das „Warum“ verlieren. Zeitweise vermutete ich als Ursache einen Lifestyle-Ratgeber mit dem üblichen „Simplify“ im Titel, konnte jedoch in unserem Haushalt nicht fündig werden. Plötzlich nahm ich die Dinge wieder einzeln wahr – das hatte ich seit Jahrzehnten nicht erlebt. Bereits am zweiten Tag fiel mir jedoch auf, dass die winzige kleine Weihnachtspyramide fehlte, die sonst immer auf dem Esstisch gestanden hatte. Sie war aus dem Erzgebirge, kunstvoll geschnitzt, eine richtige Augenweide. Ähnlich verhielt es sich mit den handgetriebenen Kupfersternen, die uns ein bereits verstorbener Freund vor vielen Jahren geschenkt hatte und dem schönen rot-weißen Papierstern aus DDR-Produktion, der nicht wie gewohnt im Gästezimmer strahlte. Im Laufe der Tage wurde meine Liste der vermissten Gegenstände immer länger.

Ein Blick mit der Taschenlampe in die Restmüll- und die Papiertonne brachte mir keine Ergebnisse, nur ein skeptisches Stirnrunzeln meiner plötzlich auftauchenden Frau. Auf den Dachboden traute ich mich einfach nicht, weil es aufgefallen wäre. Ohne zwingenden Grund stieg ich niemals über die Trittleiter auf den Dachboden. Da sich über Tage keine Gelegenheit bot, alleine im Hause zu sein, scheiterte auch diese Möglichkeit zur Aufklärung. Erst am Samstag vor dem 2.Advent wurde meine Frau zu einem Kaffeekränzchen eingeladen und kurz nach ihrer Abfahrt öffnete ich bereits die erste Bananenkiste. Dank der bereits geschilderten Systematik und Beschriftung konnte ich innerhalb einer Viertelstunde den Verbleib der mir am Herzen liegenden Dinge klären und aufatmen. Sie waren alle noch da, nichts war im Müll gelandet. Ich trug alles vom Dachboden hinunter und stellte oder hängte es an seinen gewohnten Platz. Mir wurde bewusst, wie seltsam ich mich im Gegensatz zu meinen bisherigen Argumenten verhielt, aber gleichzeitig gab es eine bisher unbekannte Sehnsucht in mir. Nicht die bekannte nach der leeren weißen Wand, sondern eine Sehnsucht nach einigen Dingen in den Bananenkisten, die einen Teil meiner und unserer Geschichte ausmachten. Die sich versteckt hielten und nur für eine kurze Weihnachtszeit in unserer Erinnerung auftauchten, wie eine Seite aus einem alten Tagebuch. Es musste nur weniger werden, damit ich klarer sehen konnte.

Als ich schließlich die defekte Glühbirne in dem rot-weißen Papierstern ersetzt hatte und er wieder strahlend im Fenster des Gästezimmers hing, erfüllte mich eine große Ruhe. Den Stern würde meine Frau bei ihrer Rückkehr schon von der Straße aus sehen. Vielleicht gäbe es heute Abend ein längeres Gespräch mit merkwürdigen Fragen und unerwarteten Antworten. Oder wir würden uns einfach nur umarmen, einen guten Wein trinken und uns auf den 2.Advent freuen.

Weihnachten lag in der Luft und die Katze Mau konnte es spüren. Er lebte nun schon seit fast einem Jahr bei seiner Familie, nachdem er von einem Mitarbeiter des Tierheims von der Straße gerettet worden war. Obwohl er klein war, fühlte er sich an diesem besonderen Abend größer - als ob alles möglich wäre.

Seine Menschen waren mit den Vorbereitungen für den Weihnachtsmorgen beschäftigt, packten Geschenke ein, schmückten das Haus und backten Plätzchen. Während sie um ihn herum arbeiteten, konnte Mau nicht umhin, neugierig zu sein, was der morgige Tag bringen würde

Der Abend vor Heiligabend war bei ihm zu Hause immer sehr feierlich, und in diesem Jahr war es nicht anders: Im ganzen Haus erklangen Weihnachtslieder, und das Lachen hallte bis spät in die Nacht von allen Wänden wider

Als alle erschöpft von den Feierlichkeiten zu Bett gingen, rollte sich Mau unter dem Baum zusammen, unter dem ein paar Geschenke nur für ihn bereitlagen! Er wusste nicht genau, was sie enthielten, aber er wusste, dass es etwas Besonderes sein musste, und so schlief er ein und träumte von den Überraschungen, die noch kommen würden.

Als am Weihnachtsmorgen alle erwachten, gab es Freudenschreie, als jeder sein Geschenk öffnete - darunter auch eines mit der Aufschrift „Für Mau“. Darin befanden sich zwei nagelneue Spielzeuge, die unter den Lichtern des Baumes funkelten und glitzerten: eine glitzernde Kugel aus Federn und eine flauschige Maus mit langem Schwanz, die sich perfekt zum Herumjagen eignet! Seine Menschen lachten darüber, wie aufgeregt er sich auf die beiden stürzte, bevor er zurücklief, um sich wieder unter dem Baum zu verstecken!

Von da an gab es jedes Jahr zu Weihnachten weitere, Überraschungsgeschenke für Mau: Spielzeuge oder Leckereien, die alle liebevoll verpackt waren, nur für ihn! Es wurde schnell zur Tradition in seinem Zuhause, dass, egal, was sonst an diesen festlichen Tagen passierte, Mau’s Anwesenheit jeden Raum heller erleuchtete als der Weihnachtsmann selbst.

Damals …

Spätschicht. Gelangweilt sitze ich auf der Arbeit. Nichts los. Wie denn auch. Jeder ist zu Hause bei seiner Familie und freut sich auf Geschenke oder darauf, daß sich die Lieben an jenen Geschenken erfreuen, die von ihm sind.

Wie gerne wäre ich jetzt zu Hause, und würde den Christbaum anschauen. Würde …, ja, würde.

Doch das geht noch nicht. Einige Stunden muß ich noch hier verweilen. Herumsitzen, und warten. Doch nichts passiert. Hauptsache ich bekomme die Stunden gut bezahlt.

Nein, schießt es mir in den Kopf. Geld ist nicht alles. Scheiß auf den Feiertagszuschlag.

Meine Gedanken kreisen um jene Zeit, als ich noch eine intakte Familie hatte und wir vor dem Weihnachtsbaum gemeinsam Geschenke überreichten und auspackten. In glückliche Kinderaugen sah ich. Waren die Kinder glücklich. Ich war es auch – damals.

Damals als die kleine Christine mit ihren vier Jahren ein Weihnachtsgedicht aufsagte. Waren ihre Fehler süß!

„Advent …

Licht bennt …

Eins … vier …

Christkind vor Tür …

Selbst heute schmunzle ich noch darüber.

Oder als der kleine Michael krampfhaft versuchte, aus der Blockflöte eine Melodie zu zaubern, welches völlig mißlang. Nur eine Aneinanderreihung schriller Töne war die Folge. An den folgenden Weihnachten verzichteten wir auf diese Darbietung.

So denke ich auch daran, dass immer ein gefüllter Eimer Wasser neben dem Tannenbaum mit echten Kerzen stand, da Elektrokerzen verpönt waren. Echte Kerzen sind viel sinnlicher.

Das gehörte alles zum weihnachtlichen Ritual damals. Lange ist es her. Die Kinder sind schon lange aus dem Haus und leben ihr eigenes Leben. Weit weg von mir. Mit ihren eigenen Kindern, die ich fast nicht kenne.

Durchatmen.

Schwermut macht sich breit.

Mein Blick wandert zur Uhr.

Noch vier Stunden bis zum Feierabend.

Dann aber, dann gehe ich nach Hause. Dort, wo keine Kinder, keine Frau, keine Geschenke und kein Weihnachtsbaum auf mich warten. Nur der Fernseher, der unablässig läuft. Dauerberieselung.

Ja, damals war es schöner.

Aber ich habe nur noch die Erinnerungen. Davon zehre ich.