Weihnachtswehen
Wir haben heute den 24. Dezember, es ist 17.30 Uhr, und mein Mann, der Jupp, hat gekocht. Das mag zunächst nicht ungewöhnlich klingen. Das Dumme an der Sache ist: Ich bin im 9. Monat schwanger und das Abendessen besteht aus Tütensuppe, Discounter-Kartoffelsalat, Gummiwürstchen mit in 2012 abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum und klumpigem Schokoladenpudding. Jupp ist eben sparsam und hat es gerne schnell. Wie beim Sex auch. Im Übrigen ist sein Geburtstag am 1. April. So hatten wir am 1. April dieses Jahres schnellen Aprilscherz-Sex und dummerweise war auch das Mindesthaltbarkeitsdatum des Kondoms in 2012 abgelaufen. So kann’s gehen. Aber ich schweife ab.
„Lass es dir schmecken, Mary“, strahlt Jupp mich mit dem Stolz eines 5-Sterne-Koches an. Ich wuchte mich vom Sofa, schleppe mich zum Esstisch und sehe durch das Wohnzimmerfenster dem wüsten Schneetreiben zu, um mich von dem abzulenken, was mir – kulinarisch gesehen – bevorsteht. „Manche Leute haben noch nicht mal das“, meditiere ich stumm vor mich hin, löffele ungare Nudeln, würge eiskalte Mayopampe herunter, lasse ein Würstchen auf der Gabel hin und her wackeln und sage schließlich sehr gelassen: „Ich glaub‘, es geht los.“
„Mary, ich habe mir solche Mühe gegeben, manche Leute haben noch nicht mal das!“, motzt Jupp. Offensichtlich hat er meinen Satz missverstanden.
„Die Wehen gehen los, HERRGOTTSAKRA!“, motze ich glubschäugig zurück.
„Aber es gibt doch noch Nachtisch“, scherzt der Aprilscherzmann und wird blass.
„Hol gefälligst das Auto aus der Garage, aber flott!“, presse ich hervor und hoffe, dass ich dabei nicht noch etwas anderes herauspresse.
Jupp wankt zur Wohnungstür und steht 2 Minuten später wieder im Wohnzimmer. „Alles zugeschneit. Sieht schlecht aus mit Autofahren.“
Ich atme. Wie man das mit Wehen eben so macht. Immer schön durch die Nase ein und mit Ooooooh und Aaaaaah aus dem Mund wieder aus.
„Soll ich den Krankenwagen rufen?“, fragt Jupp und hampelt herum, als müsse er mal dringend. Ich antworte nicht und atme weiter. Das Krankenhaus ist, nebenbei bemerkt, nur ungefähr einen Kilometer entfernt.
„Ich hab’s! Bleib hier, Schatz, nicht weglaufen, bin gleich wieder da!“ Atmend starre ich meinem Mann auf seinem Weg zur Kellertreppe hinterher. Es rumpelt irgendwo unter mir, dann scheppert es, dann rumpelt es wieder, dann steht Jupp schwitzend vor mir. Mit Spinnweben in den Haaren, einer verstaubten Weihnachtsmannmütze auf dem Kopf und einem Schlitten neben sich. Ja, Sie haben ganz richtig gehört. Mit einem Holzschlitten, den er irgendwann während seiner Tischlerjahre zusammengezimmert hat. „Leg dich da drauf, mein Engel, wir schaffen das! Beeil dich!“
Schwupps, weg ist er schon und mit dem Schlitten vor der Haustür. Mein Gatte meint es ernst. Wenn er „mein Engel“ sagt, meint er es immer ernst. Zu einem Widerspruch bin ich gerade leider nicht in der Lage. Ich muss mich aufs Atmen konzentrieren, egal wo. Draußen sind wenigstens andere Menschen. Vielleicht sogar ein Arzt. Oder eine Hebamme. Wenigstens ein Medizinstudent, ein Heilpraktiker oder ein Veterinär, irgendwas. Egal, alles ist jetzt besser als mitten im Wohnzimmer in Gegenwart von Jupp und vor den Augen unseres Katers zu gebären. Ich torkele samt Wolldecke zur Tür hinaus und warte auf Hilfe. Von Jupp.
„Ihr Taxi, Madame, bitte steigen Sie ein!“
Ich kann nicht mehr und gucke auch so. Es scheint zu wirken. Mein Ehemann greift mir unter die Arme. Buchstäblich. Es ist eine sehr, sehr absurde Situation, und ich bin sehr, sehr froh, dass uns niemand beobachtet, bis ich auf dem Schlitten liege. Wie ein dicker, gestrandeter Delfin auf dem Transportweg ins nächste Meeresaquarium liege ich da. Ein- und ausatmend, nur ohne Blasloch.
Nach 300 Metern sind wir an der Kirche, die auf dem Weg zum Krankenhaus liegt. Just in dem Moment, als ich von meinem bekloppten Mann daran vorbeigezogen werde und ein bisschen über Scheidung nachdenke, öffnet sich die Kirchentür. Die frühe Abendmesse ist zu Ende. Die mit dem Krippenspiel. Eltern mit Kindern drängen heraus, mittendrin Josef, Maria, Caspar, Melchior, Balthasar und ein paar Hirten.
„Ho ho ho, sehet her, heute wird euch ein Christkind geboren! Ho ho ho!“
Jupp ist in Bestform. Das meint er zumindest. Andere sehen das anders. Ich winsele und schnaufe inzwischen wie ein adipöser Bernhardiner, Jupps Nase leuchtet röter als die von Rudolf Rentier und weiter als der Stern von Bethlehem. Kinder und Mütter zeigen unterschiedliche Reaktionen. Die einen jubeln und klatschen, die anderen heulen hysterisch, andere bekreuzigen sich.
Doch da, da, ein heller Hoffnungsstreifen am verschneiten Horizont! Das Meer, äh, Menschenmeer teilt sich. Strammen Schrittes steuert der Pastor direkt auf uns zu. Und erkennt den Sinn und Ernst unserer unvorteilhaften Lage sofort.
„Machen Sie mal Platz, junger Mann, zu zweit geht das viel besser. Junge Frau, alles wird gut.“
Ja, zu zweit geht es in der Tat viel besser, das hat der Pastor sehr schön gesagt. Ich frage mich, warum Jupp nicht einfach beim Nachbarn geklingelt hat. Zehn Minuten später erreiche ich mit Doppelgespann vor und den heiligen drei Königen hinter mir das Krankenhaus. Der Pastor verabschiedet sich und verschwindet mit den drei Jungs in den dunklen Heiligabend, als sei nichts Besonderes gewesen.
Kurz vor Mitternacht sind wir, Mary und Jupp, mit bürgerlichem Namen Maria und Josef, jauchzende Eltern eines knackigen Jungen. Als uns die Hebamme fragt, wie er heißen soll, antworte ich ohne zu zögern: „Casper, aber nicht wie der König, sondern wie der Sänger. Wir mögen seine Songs.“
Das mit den Songs stimmt nicht so ganz, aber das muss sie nicht wissen. Caspar mit „a“, Melchior oder Balthasar wollten wir unserem Kind nicht zumuten. Jesus wäre gar nicht gegangen.
Und der Pastor heißt Kevin. Also echt.