Die Welt ist laut
Kennt ihr das, wenn ihr fröhlich sein solltet und euch die Trauer ereilt? Eigentlich ist doch alles perfekt. Noch drei Tage bis Heiligabend. Die Geschenke sind gekauft und der Baum wartet darauf, geschmückt zu werden. Die frisch gebackenen Plätzchen erfüllen das Haus mit dem Duft von Zimt, Nelken und Vanille. Jubelnde Kinderstimmen schallen durch die Räume während „Last Christmas“ aus dem Radio trällert. Alle sind glücklich. Alle, außer mir. Für einen Moment fühle ich mich unbeobachtet, schleiche in mein Büro und schließe die Türe. Die Geräusche aus dem Erdgeschoss sind nur noch gedämpft zu hören, werden aber durch ein monotones Pfeifen in meinem Ohr ersetzt. Kraftlos sinke ich in meinen Drehstuhl, als die Tür mit brachialer Gewalt aufgestoßen wird: „Mensch Papa, hier bist du also! Mama ruft nach dir. Du musst noch mal in die Stadt.“ Bevor ich antworten kann, ist mein Ältester wieder verschwunden. Ich stütze mich auf die Stuhllehnen und stemme meinen Körper nach oben. Widerwillig schleppe ich mich in die Küche. Meine Frau wirbelt gefühlt gleichzeitig mit Mixer, Staubsauger und einer Stichsäge, die den Baum auf Zimmerhöhe kürzen soll. Mein Gewissen zwingt mich dazu, meine Hilfe anzubieten. Sie antwortet, ohne von ihrer Tätigkeit aufzusehen: „Ja, aber beeil dich. Du musst noch mal los. Ich hab vorhin mit Onkel Thorsten telefoniert und ihn für Heiligabend eingeladen. Wir sollten ihm eine Kleinigkeit schenken. Den Schinken vom Weihnachtsmarkt mag er gerne.“ „Och nö…“, schimpfe ich in mich hinein, während ich die Stichsäge greife und statt des Baumstamms das Stromkabel der Säge durchtrenne. „Das mit dem Baum mache ich später.“, rufe ich meiner Frau zu und verschwinde. Die Straßen sind verstopft. Im Autoradio ist „Last Christmas“ zu hören. Ich murmle: „Schon wieder…“, und spiele an den Knöpfen, um einen anderen Sender einzustellen. Zuerst werde ich vom penetranten Hupen, dann von einem strafenden blitzen darauf aufmerksam gemacht, dass die Ampel eben wohl rot gewesen sein musste. „Ups…“ Gekonnt fahre ich Slalom um die kreuzenden Fahrzeuge und erreiche unversehrt mein Ziel. Der Weihnachtsmarkt ist mindestens genauso überfüllt, wie die Straßen. Glühwein ist noch begehrter als Klopapier beim Lockdown. Der Alkoholgeruch mischt sich mit dem Gestank von Urin und aus den Lautsprechern plärrt „Last Christmas“. Es sind ungefähr 50 Meter Menschenmasse bis zum Schinkenstand. Ich gelange zur Überzeugung, dass dieser alte Klugscheißer Thorsten die Mühe nicht wert ist, fechte in Gedanken eine schnelle Diskussion mit meiner Frau aus und kapituliere. „Kann ja nicht so schwer sein.“, denke ich mir und stürze mich ins Unglück. Auf der Zielgerade rempeln mich zwei sturzbetrunkene Jugendliche an und stoßen mich gegen ein Pärchen. Sein Glühwein verteilt sich auf ihrer weißen Steppjacke. „Verdammt!“ Er starrt auf mich herab. Ich starre zurück. Bevor er mich packen kann, drängle ich mich in Rekordgeschwindigkeit durch angeheiterte Passanten. Immer noch mit Kurs auf den Schinkenstand versuche ich, meinen Verfolger abzuhängen. Kurz entschlossen drehe ich eine Extrarunde um den Marktbrunnen. Meine Schuhspitze verhakt sich im unebenen Kopfsteinpflaster. Ich strauchle, schaffe es, mich für drei Schritte auf den Beinen zu halten und klatsche dann vollflächig auf den kalten steinernen Platz. Stöhnend setze ich mich in den Schneidersitz. Schnell halte ich Ausschau nach meinem Verfolger. Wie es scheint, habe ich ihn erfolgreich abgehängt. Mein Knie schmerzt. Durch das aufgeschlagene Hosenbein dringt Blut. Meine Glieder verkrampfen und ich presse meine Lippen aufeinander. Ich habe Lust zu schreien, kann es aber nicht. Erst jetzt bemerke ich einen älteren Mann, der mir beinahe gegenüber sitzt und an den Marktbrunnen lehnt. Unsere Blicke treffen sich und ich zucke zusammen. Er trägt mehrere Schichten alter, löchriger Kleidung. Seine aufgeplatzten Lippen sind von einem langen, verfilzten Bart umschlossen. Vor ihm steht eine kleine Schale, darin liegen einige Münzen. Seine dunkelbraunen Augen blicken mich sanft an. Er lächelt: „Wie geht es dir?“ Mein Versuch zu antworten misslingt. Mir stockt der Atem. Unkontrollierbar kullern Tränen aus meinen Augen. Geduldig wartet er, bis ich mich gefasst habe. Um mich herum wird es leiser. Er lächelt noch immer: Ich finde die ersten Worte: „Zu laut. Ich will nicht klagen. Aber es ist zu laut.“ Er nickt verständnisvoll und sagt: „So laut, dass keiner den anderen versteht.“ Wir unterhalten uns lange und ich lade ihn zum Abendessen ein. Bevor wir zum Auto gehen, kaufen wir einen Schinken, den wir auf der Heimfahrt verzehren. Beim Abendbrot ist die Stimmung gedrückt. Der muffige Gestank von den Käsefüßen unseres Gastes vermischt sich mit dem Duft von Zimt und Nelken. Keiner sagt ein Wort. Das Radio ist aus. Meine Frau blickt missmutig auf das restliche Stück Schinken, dass wir übrig gelassen haben. Kennt ihr das, wenn man schlecht gelaunt sein sollte und trotzdem fröhlich ist?