Die 11. Weihnachtswoche von Seitenwind

Die Welt ist laut

Kennt ihr das, wenn ihr fröhlich sein solltet und euch die Trauer ereilt? Eigentlich ist doch alles perfekt. Noch drei Tage bis Heiligabend. Die Geschenke sind gekauft und der Baum wartet darauf, geschmückt zu werden. Die frisch gebackenen Plätzchen erfüllen das Haus mit dem Duft von Zimt, Nelken und Vanille. Jubelnde Kinderstimmen schallen durch die Räume während „Last Christmas“ aus dem Radio trällert. Alle sind glücklich. Alle, außer mir. Für einen Moment fühle ich mich unbeobachtet, schleiche in mein Büro und schließe die Türe. Die Geräusche aus dem Erdgeschoss sind nur noch gedämpft zu hören, werden aber durch ein monotones Pfeifen in meinem Ohr ersetzt. Kraftlos sinke ich in meinen Drehstuhl, als die Tür mit brachialer Gewalt aufgestoßen wird: „Mensch Papa, hier bist du also! Mama ruft nach dir. Du musst noch mal in die Stadt.“ Bevor ich antworten kann, ist mein Ältester wieder verschwunden. Ich stütze mich auf die Stuhllehnen und stemme meinen Körper nach oben. Widerwillig schleppe ich mich in die Küche. Meine Frau wirbelt gefühlt gleichzeitig mit Mixer, Staubsauger und einer Stichsäge, die den Baum auf Zimmerhöhe kürzen soll. Mein Gewissen zwingt mich dazu, meine Hilfe anzubieten. Sie antwortet, ohne von ihrer Tätigkeit aufzusehen: „Ja, aber beeil dich. Du musst noch mal los. Ich hab vorhin mit Onkel Thorsten telefoniert und ihn für Heiligabend eingeladen. Wir sollten ihm eine Kleinigkeit schenken. Den Schinken vom Weihnachtsmarkt mag er gerne.“ „Och nö…“, schimpfe ich in mich hinein, während ich die Stichsäge greife und statt des Baumstamms das Stromkabel der Säge durchtrenne. „Das mit dem Baum mache ich später.“, rufe ich meiner Frau zu und verschwinde. Die Straßen sind verstopft. Im Autoradio ist „Last Christmas“ zu hören. Ich murmle: „Schon wieder…“, und spiele an den Knöpfen, um einen anderen Sender einzustellen. Zuerst werde ich vom penetranten Hupen, dann von einem strafenden blitzen darauf aufmerksam gemacht, dass die Ampel eben wohl rot gewesen sein musste. „Ups…“ Gekonnt fahre ich Slalom um die kreuzenden Fahrzeuge und erreiche unversehrt mein Ziel. Der Weihnachtsmarkt ist mindestens genauso überfüllt, wie die Straßen. Glühwein ist noch begehrter als Klopapier beim Lockdown. Der Alkoholgeruch mischt sich mit dem Gestank von Urin und aus den Lautsprechern plärrt „Last Christmas“. Es sind ungefähr 50 Meter Menschenmasse bis zum Schinkenstand. Ich gelange zur Überzeugung, dass dieser alte Klugscheißer Thorsten die Mühe nicht wert ist, fechte in Gedanken eine schnelle Diskussion mit meiner Frau aus und kapituliere. „Kann ja nicht so schwer sein.“, denke ich mir und stürze mich ins Unglück. Auf der Zielgerade rempeln mich zwei sturzbetrunkene Jugendliche an und stoßen mich gegen ein Pärchen. Sein Glühwein verteilt sich auf ihrer weißen Steppjacke. „Verdammt!“ Er starrt auf mich herab. Ich starre zurück. Bevor er mich packen kann, drängle ich mich in Rekordgeschwindigkeit durch angeheiterte Passanten. Immer noch mit Kurs auf den Schinkenstand versuche ich, meinen Verfolger abzuhängen. Kurz entschlossen drehe ich eine Extrarunde um den Marktbrunnen. Meine Schuhspitze verhakt sich im unebenen Kopfsteinpflaster. Ich strauchle, schaffe es, mich für drei Schritte auf den Beinen zu halten und klatsche dann vollflächig auf den kalten steinernen Platz. Stöhnend setze ich mich in den Schneidersitz. Schnell halte ich Ausschau nach meinem Verfolger. Wie es scheint, habe ich ihn erfolgreich abgehängt. Mein Knie schmerzt. Durch das aufgeschlagene Hosenbein dringt Blut. Meine Glieder verkrampfen und ich presse meine Lippen aufeinander. Ich habe Lust zu schreien, kann es aber nicht. Erst jetzt bemerke ich einen älteren Mann, der mir beinahe gegenüber sitzt und an den Marktbrunnen lehnt. Unsere Blicke treffen sich und ich zucke zusammen. Er trägt mehrere Schichten alter, löchriger Kleidung. Seine aufgeplatzten Lippen sind von einem langen, verfilzten Bart umschlossen. Vor ihm steht eine kleine Schale, darin liegen einige Münzen. Seine dunkelbraunen Augen blicken mich sanft an. Er lächelt: „Wie geht es dir?“ Mein Versuch zu antworten misslingt. Mir stockt der Atem. Unkontrollierbar kullern Tränen aus meinen Augen. Geduldig wartet er, bis ich mich gefasst habe. Um mich herum wird es leiser. Er lächelt noch immer: Ich finde die ersten Worte: „Zu laut. Ich will nicht klagen. Aber es ist zu laut.“ Er nickt verständnisvoll und sagt: „So laut, dass keiner den anderen versteht.“ Wir unterhalten uns lange und ich lade ihn zum Abendessen ein. Bevor wir zum Auto gehen, kaufen wir einen Schinken, den wir auf der Heimfahrt verzehren. Beim Abendbrot ist die Stimmung gedrückt. Der muffige Gestank von den Käsefüßen unseres Gastes vermischt sich mit dem Duft von Zimt und Nelken. Keiner sagt ein Wort. Das Radio ist aus. Meine Frau blickt missmutig auf das restliche Stück Schinken, dass wir übrig gelassen haben. Kennt ihr das, wenn man schlecht gelaunt sein sollte und trotzdem fröhlich ist?

In der Weih-nachts-bäck-e-rei …

„Watt wollnse?“

„Einen Christstollen, bitte.“

„Hamwanich.“

„Aber … heute ist doch Weihnachten?“

„Hamwatrotzdemnich.“

„Sie sind doch eine Bäckerei?“

„Ja und? Glaub’n se denn, die Christstoll’n waaten hier brav, bisse Kundschaft geruht, am letz’n Tach einen abzugreif’n inner Hoffnung, se kricht ihn führde Hälfte?“

‚Jetz kuck‘ dir den an, Luise, läuft rot an. Jaja, erwischt.’

„Jungamann, ich geb’ Ihn’n gutgemeint’n Rat: Wennse unbedingt spa’n woll’n, kommse nächstes Jahr ach Tage früher, manchmal hammwa da noch ein’n, zweie, so am dritt’n Advent rum, solche, bei den’n der Puderzucka ablättert. Dett sin imma die Lad’nhühta.
Fü’n Richtigen, so mit Rosin’ un’ Zittronat alles an der richtigen Stelle, da müssen’se viiiieel früa aufsteh’n - spähdestens am zwoten.“

„… Advent.“

„Nö, Dezemba.“

„Aber vielleicht …“

„Nachmach’n??? Wie stell’n se sich das vor? Christstoll’n wer’n doch nich’ gedruckt!! Datt brauch’ Zeit. Un’ wir sin’ schon in der Nachweihnachtsproduktion: Neujahrsbrezeln un’ so, die Maschin’n sin’ alle umgestellt. Gips ab Silvester, sogar mit Rosin’n drin.
Ich bin ja mehr auf Laugenbrezel, so mit Butta un’ Kaffee, unne Bockwurs’ dazu. Der ganze Süßkram geht mir ja sowatt von ab, mittlaweile. Ich muss ja, von Berufs wegen, Kunde is’ Könich un’ so, aba verkauf’n Se mal sechs Woch’n lang Christstoll’n, da wird ihn’n auch anners … Watt?“

„Dasssin’ Nusseck’n. Ja, könn’se hab’n. Zwei sinnoch da, ham’ se Glück, die wollt’ keina, ham’ alle zuerst die Christstoll’n abgegriffen. War fast 'ne Weihnachtsmejnija, wie die Amis sagen.“

„Watt?“

„Ja, nichwahr? Sin’ ja irgendwie auch fast sowas wie Plätzchen. Riesenplätzchen, sogar mit Haselnuss drin.“

„Un’n Taigabrot? Jawohl der Herr. Bodenständich, Roggenschnitte, Butter drauf un’ haps. Muss ja nich’ jed’n Furz mitmach’n, sach’ ich imma, nichma’ die süßen, auch Feiertage geh’n rum, wennma nur lang genuch waartet.“

„In so’ne Jute Tasche? Jawohl, der Herr, bitte, hier, mit Christbäumchen drauf, ist unserm Scheff eingefall’n, da ham’ se doch noch’n bisschen Weihnachten, wehnichstens auß’n drauf. Denn bis nahche Feiertage, vielleicht auf 'ne Brezel zu Neujahr.“
„Watt?“

„Ja, haha. Ihn’n auch gut’n Rutsch.
Achtung!!! Vorsicht mitt’m Putzlappen anner Tür. Auf Wiedaseh’n.“

„Luiiiiiise? Ich’ mach’ schon ma’ die Kaffemaschiene aus, dasse abkühlt. Kannste dann putz’n. Gib’ aba vorher mal die drei Christstoll’n, die ich da inne Jutetüte unners Regal gestellt hab’. Meine zwei futtern die erst’n imma weg wie nix, da musst’ ich was zurückleg’n. Ich’ mach jetz’ auch Feierabend, inner letzten halben Stunde kommt eh’ keina mehr. Unn selbs’ wenn, ich mein’, sin’ ja eh’ nur noch die Nachzügler unnerwegs, die ohne Christstollen. Dehn’ könn’wa jetz’ eh’ nich mehr helf’n.“

Weihnachten im Kaufhaus

In der Abteilung Comics geht es rund,

da ist es lustig, frech und bunt

da werden die Figuren schnell aktiv!

Kaum zu glauben was geschieht:

Alles klappt und nichts geht schief,

wer noch sehr genau hinsieht,

der staunt was alles doch passiert -

ein Traum wird wahr, ganz ungeniert:

Weihnachten mit Micky Maus!

Klarabella holt die Kerzen raus.

Donald kommt und auch die Neffen,

Goofy klimpert am Klavier

ohne einen Ton zu treffen…

dazu ist er schließlich hier!

Dann wird’s heimelig auf Erden,

schließlich will man selig werden!

Minnie tanz auf auf allen Tischen,

Ede Wolf will Karten mischen -

Gevatter Bär ist strikt dagegen,

Oma Duck will Brauchtum pflegen,

Bambi grüßt vom Märchenwald

(ihm ist überhaupt nicht kalt),

Dagobert zählt froh sein Geld -

und in Ordnung ist die Welt!

Düsentrieb fährt mit dem Schlitten,

den zwei Kolibris nur ziehen -

und wer lässt nicht lange bitten?

Draußen steht, im Sternchenglühen,

komplett die Panzerknacker-Bande.

Aber das ist keine Schande -

Kommissar Hunter ist dabei!

„Hei, du Didel, hei du Dei…“

So singen die drei Schweinchen froh,

Ahorn und das Behorn stimmen

fröhlich in den Chor mit ein,

wenn die vielen Kerzlein glimmen!

Dann kommt Daisy mit dem Stollen,

den sie alle schmausen wollen…

Dazu gibt’s, auch für Franz Ganz,

den berühmten Ringeltanz…

Alle sind vergnügt und froh!

Gustav der Glückspilz sowieso -

der ist es das ganze Jahr!

Er kennt nicht Unbill und Gefahr -

im Hintergrund erzählt, hübsch leise,

der Weihnachtsmann die alte Weise,

aus dem Kamin – und hoppsassa

ist die gute Stimmung da: Trallalla!

Man trifft sich immer zweimal …

Es kommt mal wieder völlig überraschend, das Fest der Feste. In zwei Tagen ist Heiligabend und mir fehlen, wie fast jedes Jahr, immer noch einige Geschenke für die Lieben.
Es ist zwar seit Jahren beschlossene Sache, dass nur noch die Kinder der Familie beschenkt werden, aber das ist natürlich Auslegungssache. Auch wenn alle ihre Kinder mittlerweile jenseits der 50 sind und bei allen Events den vollen Preis zahlen müssen, behauptet unsere Mutter unbeirrt, wir sind nun mal ihre Kinder und brauchen deshalb auch Geschenke. Basta!!!
Das hat natürlich zur Folge, dass auch wir “Kinder“ unserer Mutter etwas schenken und unseren Kindern, die aus Kindersicht auch mittlerweile schon fast steinalt sind. Der Ordnung halber kriegen selbstverständlich auch die Hunde und Katzen etwas Besonderes, denn im weitesten Sinn sind sie ja auch irgendwie fast so etwas wie Kinder.
Da mir keine andere Wahl bleibt und die Zeit langsam drängt, stürze ich mich zwei Tage vor Heiligabend kurz entschlossen mit Todesverachtung ins Getümmel. Wie ich bereits befürchtet habe, ist es schon eine Herausforderung überhaupt auf den Parkplatz des Einkaufsmarktes zu gelangen, denn ganz offensichtlich wurden außer mir noch zahlreiche andere Leute von dem drohenden Fest überrascht.
Da die meisten Mitmenschen am liebsten direkt bis in den Laden fahren würden, finde ich nur noch in der äußersten Ecke des Parkplatzes eine Lücke, die nur auf mich wartet. Ich blinke ordnungsgemäß, um den anderen Parkplatzsuchenden zu zeigen: Diese Lücke gehört mir!!! Wegen der herrschenden Enge will ich lieber rückwärts einparken. Gerade als ich den Rückwärtsgang einlege, kommt von hinten so ein obercooler, geschniegelter Schnösel mit seinem allradangetriebenen Geländewagen angerauscht und nimmt mir blöd grinsend meine Parklücke weg. Unter wüsten Beschimpfungen, die der feine Herr leider nicht hört (was vielleicht auch ganz gut ist, denn sie passen so gar nicht zum Fest der Liebe, sondern eher zum Fest der Hiebe) suche ich mir genervt eine andere Parkmöglichkeit.
Die erste Hürde ist genommen und ich kämpfe mich tapfer ins Innere des Marktes vor, um meine Besorgungen zu machen. Überall in den Gängen herrscht dichtes Gedränge. Zum Glück brauche ich nur noch ein paar Kleinigkeiten und kann mich schnell wieder aus dem Staub machen. Als ich alle Objekte meiner Begierde sicher in meinem Einkaufswagen verstaut habe, fällt mein Blick auf meinen Parkplatzdieb, der leicht genervt einen vollen Einkaufswagen vor sich herschiebt, während er gleichzeitig in sein Smartphone brüllt und so alle Leute in der näheren und weiteren Umgebung zwingt, an seiner Unterhaltung teilzuhaben.
Der Typ geht mir wirklich auf den Senkel und als er seinen Wagen mitten im Gang stehen lässt, um drei Gänge weiter irgendwelche Regale umzukrempeln – natürlich ohne Rücksicht auf Verluste – kommt mir eine geniale Idee. Der Einkaufswagen steht aber auch wirklich im Weg. Deshalb beschließe ich kurzerhand ihn ein wenig zur Seite zu schieben, gut vielleicht auch etwas mehr. Genaugenommen schiebe ich den Wagen einmal quer durch den Laden und stelle ihn unauffällig zwischen zwei Wühltischen ab. Da stört er wenigstens niemanden.
Mit mir und der Welt zufrieden schlendere ich zurück zu meinen gesammelten Werken und entdecke zu meiner Freude einen gar nicht mehr so coolen Schnösel, mit hochrotem Kopf und Schweißperlen auf der Stirn, der gerade einer alten Dame ihre Einkäufe samt Wagen entreißen will. Man weiß ja, dass sich alte Leute schon mal gerne an fremden Einkaufswagen vergreifen. Erst als die renitente Rentnerin ihm mit ihrem Gehstock droht, gibt er klein bei und trollt sich.
Für mich wird es Zeit, meine Beute nach Hause zu bringen. Was für ein schöner Tag. So kurz vor dem Fest einzukaufen hat wirklich seinen besonderen Reiz. Das mache ich nächstes Jahr wieder.

Ilonas Geschenk

„BMW – Bewegungslos mit Wagen!“ Marcel trat gegen den platten Reifen, als wollte er die Karre in den Graben befördern. Dazu dieses Mist-Wetter! Frau Holle schüttelte keine Kissen – das boshafte Frauenzimmer kippte einen Mehlsack nach den anderen über der Landstraße aus. Weiße Weihnacht – wann hätte man die je gehabt? Das letzte Mal vor elf Jahren, hatten die Sprecherin im 1Live gesagt, zwischen der Katzenmusik, die man dort am Heiligen Abend servierte. Und dann ausgerechnet heute …

Er stieg ins Auto, um Ilona anzurufen. Neiiin! Er durchwühlte die Taschen seiner Wildlederjacke. Das Handschuhfach. Wieder die Taschen! Heute Nachmittag, als er Ilonas Ge-schenk, dass er vorsichtshalber zu seinem Freund hatte schicken lassen, bei Jochen abgeholt hatte, hatte er das Smartphone doch noch gehabt! Lag es noch immer auf dem Küchentisch, wo er bei Kaffee und Honigbrot kurz seine Nachrichten gecheckt hatte?
Vorhin war es ihm wie eine gute Idee erschienen, den zähen Schleim der Autobahn zu verlassen, jetzt verfluchte er sie. Weit und breit keine Menschenseele!
Seit ein paar Tagen klebte das Unglück wie eine Stalkerin an seinen Fersen. Zuerst die Untersuchungsergebnisse beim Urulogen. Zeugungsunfähig! Gut, Jonas hatte er adoptiert, als Ilona ihn mit in die Ehe brachte, aber wie, zum Kuckuck, war Hummelchen zur Welt gekommen, wenn er … Er hatte Ilona darauf ansprechen wollen, aber es immer wieder heraus ge-schoben, ebenso wie die lästige Pflicht, das defekte Reserverad zu ersetzen. Jetzt rächte sich beides.
Wie hatte sie ihm das antun können? Er liebte sie doch und … Und jetzt lag die Liebe zerdeppert in den Kammern seines Herzens. Hier die Porzellantrümmer, die beim Polterabend das Glück nicht hatten fixieren können, da der Flaschenhals des schottischen Whiskys, der seinen Schmerz nicht hatte betäuben können, dort die Splitter der Eifersucht, die stachen und schnitten …
Er tauchte wieder auf aus seiner Verzweiflung, atmete tief durch. Ein Schritt nach dem anderen.
So stapfte er durch den Schnee, geleitet von den weißbe-mützten Leitpflöcken, seine Boots, eher nach modischen Aspekten als nach Tauglichkeit ausgewählt, quatschten, die Jeans waren längst „durch“, Finger und Zehen erstarrt und sein dichter Borstenschopf, für gewöhnlich stark wie Rosshaar, hing
ihm in die Stirn, so dass ihm das Wasser in die Augen rann. Zwar war der sichelförmige Mond nicht zu sehen, kein Lichteinfall – nicht einmal die winzigste Idee vom Mondlicht durchdrang das Schneegestöber, aber er müsste längst aufgegangen sein …
Da – das Brummen eines Autos! Marcel fuhr herum, hüpfte auf und ab und flatterte mit den Armen wie ein aufgescheuchter Uhu. Ein Ford Transit schlitterte an ihm vorbei. Die Brems-lichter blitzen auf. Marcel raste los, riss Autotür auf, kaum dass die Reifen zum Stehen kam.
„‘n Abend,“ keuchte er, „würden Sie mich ein Stück mitnehmen? Ich hatte eine Panne …“ Und bevor der Fahrer ein einziges Wort entgegnen konnte, tropfte er schon den Bei-fahrersitz nass. Der Mann hinterm Steuer, der sich als Ingo vorstellte, grinste mitleidig. „Wo soll‘s denn hingehen?“
„Nach Biedersheim. Aber es reicht völlig, wenn Sie mich an einem Bahnhof absetzen würden …“ Irgendwie kam ihm der Fahrern bekannt vor. Blonde Haarstoppeln, Dreitagebart, schlaksige Gestalt.
„Biedersheim? Da bring ich dich hin. Bin da früher oft langgefahren, wenn ich Vattern besucht hab. Obwohl‘s eigentlich ein Umweg is‘ …“
„Ja?“ Marcel zermarterte sich das Hirn. Woher kannte er den Kerl?
„Ja … wegen ’ner Frau … Hab sie verlassen, sie und das Baby. Und es hinterher bereut … Hab immer gehofft, sie nochmal zu sehen …“
„Und hast du?“
Ingo nickte kurz zu Marcel hinüber. „Jep. Einmal. Der Junge war in der Kita, ihr Mann auf Montage. Sie hatten Streit gehabt und … naja, dann hab ich sie getröstet.“
Marcel lachte bitter. „Die alte Leier. Der Mann geht buckeln und die liebe Ehefrau …“
Sein Retter schüttelte vehement den Kopf. „So war es nicht. Irgendwie hab ich den Kopf verloren, sie bedrängt. Wir sind wieder in der Kiste gelandet, aber …“ Er machte eine Pause. „Am nächsten Tag hat sie mich angerufen und gesagt, dass sie mich nie wieder sehen will. Dass sie ihren Mann liebt …“
Stille. Etliche Kilometer weit. Marcel hörte es schnarren und klackern, wenn der Fahrer die Gänge wechselte.
Das Schneegestöber flaute ab. Rechts musste der Muggelsee liegen. Er war von hier aus nicht von den umliegenden Feldern zu unterscheiden, der Wasserspiegel zugefroren, unter einer dicken Schicht verborgen, so wie Marcels Inneres.
Am Ortseingangsschild Biedersheim kam ihnen ein Schneepflug entgegen, die Schaufel vom weißen Matsch umschäumt wie eine Bugwelle.
Ingo zeigte nach links. „Da ist übrigens die Siedlung, wo meine Ex wohnt.“
Marcel schluckte. „Hier kannst du anhalten. Jetzt hab ich‘s nicht mehr weit.“, krächzte er und bedankte sich beim Aussteigen fürs Mitnehmen. Erst als der Transporter hinter einer Kurve verschwunden war, drehte er sich um und eilte heim.
Ilona umarmte ihn im Hausflur. Durch die milchige Scheibe der Wohnzimmertür leuchtete das Tannengrün des Weihnachtsbaumes.
„Na, endlich.“, sagte sie, „Gott sei Dank! Ich hatte solche Angst …“ In ihren Augen flackerte Erleichterung.
Marcel küsste sie, küsste sie wie beim allerersten Mal, küsste sämtliche Untersuchungsergebnisse in Grund und Boden, wo sie für immer vergraben bleiben sollten.

Die Christmette
Der Gang zur Christmette, ist auch heuer für Ira, beschlossene Sache. So war es schon in ihrer Kindheit Brauch. Ihre Mutter schickte sie und ihre Geschwister um achtzehn Uhr zur Christmette. Auf dem Heimweg, reckte sich Ira schier den Hals aus, bei manchen Häusern, an denen sie vorbei mussten, durch die Fenster, den Christbaum zu sehen und vielleicht auch den Gabentisch.
Zuhause wurde erst einmal das traditionelle Weihnachtsessen aufgetischt, ein leckerer Kartoffelsalat mit drei verschiedenen Würsten. Für uns Kinder eine harte Geduldsprobe.
Ihre Eltern verschwanden dann im Wohnzimmer, sie mussten ja den Engel, der den Christbaum so schön schmückte, zum Fenster hinaus lassen. Dann ertönte eine silbern klingende Glocke und wir Kinder durften jetzt hinein. Der Christbaum stand da in seiner ganzen Pracht mit wunderschönen, bunten Kugeln in allen möglichen Ausführungen, Daneben hingen auch feine Lebkuchen, rotbackige Äpfel und kleine Fläschchen mit Likör. Diese Dinge wurden dann an Sylvester verlost. Noch nicht genug damit der Baum war zusätzlich noch mit silbern glänzendem Lametta geschmückt, was ihm eine geheimnisvolle Note verlieh.
Nun aber stellten wir uns vor dem Christbaum auf und sangen mehrstimmig, schöne Weihnachtslieder. Wir liebten das sehr
Nun erst kam die Bescherung. Meist Dinge, die von Herzen geschenkt wurden und einen sehr erfreuten. Daneben hatte jeder seinen mit Sternen und Tannen verzierten Pappteller gefüllt mit den feinsten Weihnachtsplätzchen, die Mutter gebacken hatte und auch wir dabei, etwas mithelfen durften
Ein neues schönes Kleid, eine Puppenküche mit heizbarem Ofen und einem abgetrennten Bad und Boiler, aus dem man Wasser lassen konnte. Zusammen mit ihrer Schwester, spielte sie dann vierhändig am Klavier, schöne Weihnachtslieder.
Später machte Ihre Mutter Feuerzangen-Bowle. Die auch wir Kinder ein wenig kosten durften.
Eine schöne, unvergessene Erinnerung.
Die Zeit hat sich gewandelt. Ira ist am heiligen Abend allein und besucht da die Mette. Früher, als sie noch Mitglied des Kirchenchores war, freute sie sich schon immer auf die Messe die sie sangen und das Transe a mus. Am Ende der Messe geht das Licht aus und nur noch die Kerzen am Altar und den Christbäumen, mit denen die Kirche geschmückt ist, brennen. Nun singen Alle das Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“, Ja, das ist Weihnachten, da geht einem das Herz auf.
Ira stellt keinen Christbaum mehr auf, schmückt aber ihren doppelten Glastisch mit Zweigen und schönen Kugeln. In der Mitte, auf einer schönen weißen Spitze, liegt das wunderschöne Wachs-Jesukind, umgeben von Glasvögeln, die ihm ein Lied singen sollen. Versteckt unter dem ganzen ist rundum eine Lichterkette, die der Dekoration den nötigen Glanz verleiht.
Am 1. Weihnachtsfeiertag Kommen ihre Kinder um den Weihnachtstag mit ihr zu feiern.
Worauf sie sich schon freut.
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Nicht von dieser Welt

Das Kaufhaus brummte, das Chaos aus Lichtern, Geräuschen und Gerüchen erschien mir wie ein Bombardement auf meine Sinne.

Meine schlechte Laune wuchs.

„Lieber Herr, ihr schaut so düster drein, was grämt euch denn?“

Vermutlich schaute ich tatsächlich düster drein. Zu meiner Verteidigung muss ich jedoch sagen: Wenn sich eine magische Prinzessin bei dir einquartiert, tendiert dein Leben dazu sehr viel turbulenter zu werden, als du es dir bis dahin hättest vorstellen können.

„Also“ antwortete ich „bitte höre erstens auf, mich lieber Herr zu nennen. Das ist schräg, so reden die Leute in meiner Zeit oder besser gesagt Welt nicht miteinander. Benutze einfach meinen Namen. Und zweitens, wir hatten doch über diese Sache geredet? Mit dem singen? Und den Tieren?“

„Natürlich lieber Michael, das hatten wir. Ich habe ihnen gesagt sie mögen ihre Besuche einschränken.

Meine Schläfen pochten.

„Okay Schneewittchen, wenn du ihnen das gesagt hast, warum habe ich dann als ich heute von der Arbeit gekommen bin 10 Waschbären…“

„12“ warf sie ein. „Es waren 12“.

Das Pochen intensivierte sich.

„Oh mein Gott…also gut, 12, was haben 12 Waschbären in meinem Garten verloren?“

Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

„Ach, lieber Michael, ihr hattet davon gesprochen noch das Laub harken zu müssen, und sehr laut und wiederholt beanstandet dass euch die Zeit dafür fehle. Da habe ich meine kleinen Freunde um Hilfe gebeten. Sie haben so geschickte Pfoten, wisst ihr?“

Ich seufzte.

„Mach das nicht noch mal. Ich möchte keine, ich wiederhole, KEINE Horde Waschbären im Garten haben wenn ich Nach Hause komme. Verstanden?“

Das Lächeln auf Schneewittchens Gesicht verstarb. Beschämt blickte sie zu Boden. In all dem Lärm meinte ich sogar ein schniefen hören zu können.

„Es…es tut mir leid lieber Michel. Diese Welt ist wirklich ganz anders als die meine. Ich wollte nur helfen, und stattdessen mache ich euch nur mehr Kummer und Sorgen.“

Toll. Jetzt war ich der Kotzbrocken, der die Prinzessin zum Weinen gebracht hatte.

Zaghaft legte ich ihr die Hand auf die Schulter.

„Nein, du machst mir keinen Kummer. Und ich weiß das du wirklich nur helfen wolltest. Nichts was du macht ist gemein. Ehrlich gesagt glaube ich, das du nicht mal weißt, wie man gemein sein kann. Aber du hast Recht, diese Welt funktioniert nach anderen Regeln als deine. Wir haben Glück das wir hier in Berlin sind, wo es die Leute nicht mal mehr kümmert wenn eine Rotte Wildschweine durch die Straße marschieren.“

Ihr Gesicht hellte sich wieder auf und sie klatsche in die Hände.

„Heißt das die Wildschweine dürfen zu Besuch kommen?“

Inzwischen fühlte ich den Kopfschmerz ziemlich deutlich.

„Äh…darüber reden wir später. Erledigen wir erstmal den Einkauf. Was steht nochmal auf deiner Liste?“

Sie zog den mit wahrlich prinzessinnenhaft schöner Handschrift verfassten Zettel aus ihrer Manteltasche. Das mit dem Kleid hatte gleich am ersten Tag unterbunden.

„Also, Rapunzel wünscht sich einen Lockenstab, den besten denn es gibt. Ihre Haare sind manchmal sehr widerspenstig. Und Elsa will…“

Ich konnte es mir nicht verkneifen.

„Eine Wärmedecke?“ Fiel ich ihr ins Wort.

Schneewittchen sah mich verwirrt an.

„Aber lieber Michael, Elsa braucht keine Wärmedecke. Sie sagt immer die Kälte hat sie noch nie gestört.“

„Ich weiß, das war ein Wi…egal, gehen wir.“

Freudestrahlend hackte sich Schneewittchen bei mir ein.

Mich beschlich das Gefühl, es würde noch ein sehr anstrengendes Weihnachten werden. Aber das musste ja nicht unbedingt etwas Schlechtes sein.

Letzter Kunde?

Hätte Runia Rara gewusst, wie stressig es an Heiligabend werden würde, hätte sie sich nie bereiterklärt, diese letzte Schicht vor den Weihnachtsfeiertagen zu übernehmen. Doch ihre beste Freundin Lisbeth war mit ihren Eltern zu Verwandten gefahren, ihr Ex-Freund Ric stalkte sie jedes Mal, wenn sie das Haus verließ, und für die Uni hatte sie alle Aufgaben schon erledigt, darum hatte sie ohnehin nichts Besseres zu tun gehabt, als heute auf den Laden aufzupassen. Ihre Eltern wollten noch letzte Besorgungen für Weihnachten erledigen und ihr herzallerliebster Zwilling hatte sich sonst wohin verdrückt, darum war sie ganz allein und das hätte auch genauso gut ein netter, entspannter Vormittag werden können.
Wären da nicht die Kunden gewesen.
„Willkommen in Raras Runenreich“, sagte Runia und ihr Lächeln fühlte sich mittlerweile wie aufgenäht an. „Sollen es diese Runen werden?“
„Ja, bitte“, sagte die ältere Dame auf der anderen Seite des Tresens. „Und können Sie die gleich einpacken? Das sollen Geschenke für meine Enkel werden, wissen Sie? Die Große ist jetzt vierzehn und in dem Alter, wo sie ständig spät wegbleibt und auf Partys geht, darum bekommt sie diese Alarmrune, damit sie um Hilfe rufen kann, falls irgendeiner ihr dumm kommt. Und die Jüngere wünscht sich, dass ihr Plüschtier fliegen lernt, da …“
Runia hörte nicht wirklich zu, nickte nur immer wieder höflich, während sie die Runen einbuchte, verpackte und dann abkassierte. Unglaublich, wie viele Leute Runen als Weihnachtsgeschenk kauften. Gutschein? War einmal. Wem nichts einfiel, der verschenkte Runen. So wie der nächste Kunde.
„Haben Sie auch Runen, mit denen man schweben kann?“, fragte der Mann. „Ich glaube, das könnte mein Neffe ganz toll finden.“
„Ja, gleich da drüben im Regal“, sagte Runia und zeigte. „Schauen Sie einfach mal.“ Der Mann war zwar nicht der erste, der nach Schweberunen fragte, aber der Stapel dürfte noch groß genug sein. Runias Eltern hatten da vorgesorgt.
„Einmal diese Heiterkeitsrune bitte“, kam ein Student an. „Damit heißt es dröges Familientreffen ade!“
„Die ist Level 5“, sagte Runia und musste wirklich an sich halten, nicht aufzustöhnen. „Da muss ich erst deine Lizenz sehen.“
„Entschuldigen Sie“, kam schon die nächste Frau an den Tresen. „Ich hatte vor einer Woche hier eine Leuchtrunenkonstellation für unseren Weihnachtsbaum gekauft. Aber jetzt hat leider die Katze …“
„Wie viele Lichter?“
„Einhundertundviertausenddreihundertsiebenundachtzig.“
Runia verschluckte sich fast. Wie groß war der Baum bitte? So oder so, das hatten sie auf jeden Fall nicht auf Lager, das musste sie selbst zeichnen.
„Ich hoffe, ich störe nicht, aber könnten Sie mir vielleicht erklären, wie das mit dieser Weihnachtsdeko…runen…konstellations…dings funktioniert? Geht die auch für Räume größer als die Maximalangaben?“
Mit einem „Wir haben es zuerst gesehen!“ stürzten sich zwei Pärchen auf dasselbe Kaminfeuer-Artefakt.
„Das ist alles nicht das Richtige!“, fluchte eine andere Kundin und warf Runenpapiere in die Luft.
Die mussten alle den Verstand verloren haben, dachte Runia und hoffte, dass es bald zwölf wäre.
Doch der Strom an Kunden nahm kein Ende, obwohl die Zeit für den Ladenschluss kam und ging, und Runia fragte sich, ob die nicht alle langsam mal nach Hause wollten. Das hier vermieste ihr gerade jegliche Weihnachtsstimmung.
Die Ladentür schwang ein weiteres Mal auf, als Runia dem endlich letzten Kunden seine Tannenduftrune über den Tisch reichte.
„Tut mir leid, aber wir haben seit einer Stunde geschlossen!“, rief sie entnervt, ehe sie guckte, wer gerade die Öffnungszeit um die nächste Viertelstunde verlängern wollte.
„Das hoffe ich doch“, sagte ihr Zwillingsbruder Ran und grinste sie an. „Sonst wird das Mittagessen noch kalt, das ich mitgebracht habe.“ Er schwenkte eine Pappschachtel.
Essen! Das klang endlich mal nach einer vernünftigen Tätigkeit. Egal, was es war, sie würde es verschlingen.
„Du bist ein Lebensretter“, sagte Runia erleichtert.
„Krieg ich das schriftlich?“, fragte Ran und hob eine Augenbraue.
„Kannst du knicken“, sagte Runia und lugte unter den Deckel. Und stutzte. „Das ist ja Stollen! Und ist das in den Bechern Glühwein?“
„Ich dachte mir, du willst nach dem ganzen Stress eher Zucker als was Herzhaftes.“
Und Runia musste grinsen. „Du kennst mich zu gut.“
In dem Moment klopfte es und eine junge Frau streckte den Kopf zur Tür herein. „Entschuldigen Sie, haben Sie noch offen? Ich brauche ganz dringend letzte Weihnachtsgeschenke und da hatte ich gehofft …“

Liebes Christkind,

Ich wünsche mir, weniger
Chaotische Tage, dafür mehr charmante Momente.
Hoffnung soll mein Herz erfüllen.

Weniger Ängste und Sorgen, dafür mehr Leichtigkeit in meinen Leben. Alles
Übel dieser Welt soll verschwinden.
Nie will ich meinen Glauben an das Gute verlieren. Denn
Schöne Momente gibt es viele. Das
Christkind ist fast da, deshalb wünsche ich mir, dass es
Harmonie und Heiterkeit, in mein Herz und in die Welt bringt.
Ein bisschen mehr Frieden auf der Welt, das wäre ehrenwert.

Einigkeit, anstatt Frust und Schmerzen.
Unbeschwert soll das Fest werden. Mit tollen
Chancen auf viele glückliche Stunden voller
Hoffnung und Hilfsbereitschaft.

Frieden, Freude und Toleranz, das wünsche ich mir.
Respekt, Rücksicht und Ruhe mit einer großen Portion Resilienz. Mehr
Optimismus wäre auch nicht schlecht.
Herzlichkeit, anstatt Hass und Habgier. Mit
Engel, die mich begleiten, wo immer ich auch bin.

Wunder gibt es immer wieder.
Eine helle Kerze für dunkle Stunden, das wünsche ich mir.
Innige Umarmungen gegen Einsamkeit. Denn die
Hoffnung, stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Nur schöne Überraschungen für mich und dich. Das
All meine Wünsche und Träume in Erfüllung gehen. Liebes
Christkind, ja das wünsche ich mir vom Herzen. Deshalb
Habe wundervolle
Tage und nicht zu vergessen,
Ein ganz besonders glückliches und gesundes
Neues Jahr 2023

Liebes Christkind, ja das wünsche ich mir.

Frohe Weihnachten, Rabenvater!

Jan war tiefgefroren. Sein Atem ließ kleine Eiskristalle an seinem Vollbart wachsen und auch die Haare hatten Reif angesetzt. Heute kamen keine Kunden mehr und es standen auch nur noch zwei unansehnliche Exemplare von Weihnachtsbäumen auf dem Gelände. Es war der 24.12. und sein Job vor dem Discounter war mit Ladenschluss endlich zu Ende.

Der Schotter spritzte, als ein Volvo in scharfer Kurve auf den Parkplatz einbog.

„He, haben Sie noch geöffnet?“ rief der Fahrer aus der halbgeöffneten Autotür bei laufendem Motor. Er stieg aus und musterte das mit dem Bauzaun umfriedete Gelände.

„Oh, ist ja kaum noch was da", war der zweite Satz mit Erkenntnis, dass die Auswahl an Weihnachtsbäumen sehr schlicht war.

Jan ärgerte sich über den Mann, der in seinen Augen ein Blödmann war. Wie kann man so verpeilt sein, Heiligabend kurz vor 14:00 Uhr noch einen Weihnachtsbaum kaufen zu wollen. Sein Geschäft war schon seit vier Wochen geöffnet, ein großes Banner hing über der Straße, das auf den Verkauf hinwies und so ein Baum war schließlich keine verderbliche Ware.

„50 Euro pro Stück, Sonderpreis“, sagte er, fest entschlossen, den Mann nicht so leicht davonkommen zu lassen, der ihn an seinem Feierabend hinderte.

„Was? Für diese Gerippe?“, protestierte der Mann, der ihn konsterniert ansah. Jan konterte: „Sehen Sie es als Schmerzensgeld, mir frieren gerade die Finger ab. Sie können es auch bleiben lassen, mir ist das egal.“

„Sie haben wohl keine Kinder“, maulte der späte Kunde, „die werden traurig sein, wenn ich keinen Baum stelle.“

Schließlich handelte er Jan auf 40 Euro runter und suchte in seinem Portemonnaie nach Geld. „Oh, ich habe kein Bargeld mehr, nehmen sie auch EC-Karte?“

Jan verdrehte die Augen. „Am Ende dieser Straße ist eine Sparkasse, da können Sie Geld abheben, aber ich weiß nicht, ob ich dann noch da bin, ich packe jetzt zusammen, also beeilen Sie sich.“

Der Kunde sprintete davon, während Jan die letzten Werkzeuge in seinen Transporter lud.

Jan besah die letzte beiden Weihnachtsbäume und band sie mit Kabelbinder zusammen. Jetzt sah das Gebinde nach einem anständigen Weihnachtsbaum aus. Er war doch ein Weichei, wenn es um Kinder ging, Die konnten ja nichts dafür. Zufrieden stellte er den Baum vor den Bauzaun und murmelte: „Frohe Weihnachten, Rabenvater!“

Bekannter Text in weihnachtlichem Gewand

Von Talern und von der Liebe

Es war Heiligabend. Lange hatte er es aufgeschoben. Jetzt musste er die Zähne zusammenbeißen. Das Sparschwein gab mit kühlem Klirren drei Münzen frei. Tom steckte sie seufzend ein, warf sich die Jacke um, zog die Skaterschuhe an und los ging es. Im Ort gab es nur ein kleines Kaufhaus, in dem zu dieser Tageszeit am Heiligabend noch Hochbetrieb war. Da waren sie, die Last-Minute-Geschenkekäufer. Tom schaute sich mit gerümpfter Nase um. Die hatten entweder vorher keine Zeit, weil sie selbst zu wichtig waren, oder nahmen Weihnachten nicht so wichtig. Es waren - samt ihm - nur die innerlich und äußerlich Gestressten unterwegs. Total verirrte Gestalten. Familienväter, die leider wenig zu Hause bei der Familie waren, immer unterwegs, sie waren ja woanders so wichtig. Übermütter, die noch das i-Tüpfelchen eines Geschenks in letzter Minute kaufen wollten, weil sie ein schlechtes Gewissen den Kids gegenüber und etwas Angst hatten, dass die Kinder mit der bisherigen Geschenkeauswahl unzufrieden sein könnten. Männer, die aus Ideenlosigkeit doch wieder in der Parfümerie standen und den ewig gleichen Duft einer ehemaligen Kollegin kauften, weil er vor 20 Jahren einmal bei der Ehefrau gut ankam und die Kollegin damals so gut damit roch. Und Teens, die ihr letztes Taschengeld zusammenkratzten, die noch etwas Besonderes für ihre Eltern suchen wollten, weil sie bis jetzt nur etwas Gebasteltes hatten oder sie noch gar nicht an ihre Geschwister gedacht hatten und die Läden ja bald schließen würden. Sie alle regten Tom auf. Es kochte in ihm hoch.

In die teuren Abteilungen brauchte er gar nicht vorzudringen. Er ließ sich eine Pralinenmischung zusammenstellen. „Dann noch eine mit Erdbeercrisp und eine Nuss-Nougat und die weiße mit Cornflakes und Beere.“ beendete Tom die bunte Bestellung. Er konnte sich kaum sattsehen an der Auswahl. Doch als die Verkäuferin den Preis der Schachtel nannte, wurde ihm schwindelig. Nicht einmal die Pralinen würde er bezahlen können. Seine Knie wurden weich, er entschuldigte sich, nuschelte, er habe wohl etwas in der Parfümerie liegenlassen, und huschte davon.

Von der Flut der Lichter und Angebote paralysiert und gleichzeitig den Tränen nahe, setzte er sich vor einen goldumrandeten Spiegel und versuchte nachzudenken, was er nun unternehmen sollte. Er wollte seine Mutter unbedingt glücklich machen, wenigstens an Weihnachten, hatte aber nur die paar Euro zur Verfügung.

Wie er so nachdachte, zwinkerte ihm der Weihnachtsmann im Spiegel zu. Tom drehte sich um. Ein Pappaufsteller zeigte einen weißbärtigen Weihnachtsmann, der mit Geschenkesack und Rentier für die Werbung posierte. Tom rieb sich die Augen. Ein Tagtraum, dachte er. Als er wieder in den Spiegel blickte, wurde er geblendet. Aus den Massen schob sich ein Mädchen wie aus Gold zielsicher zu ihm durch. Sie sah bezaubernd aus, von ihr ging ein Leuchten aus. Tom merkte nicht, wie er sie anstarrte. Ihr Kleid schien aus Leinen mit Goldfäden zersetzt zu sein. „Hallo, hallo, ich bräuchte Hilfe.“ sprach sie ihn an, während sie an ihrer Halskette nestelte. Er war so überrascht, dass sich seine Stimme überschlug: „Na-Na-natürlich, wie kann ich helfen?“ er vermutete, dass sie das Kaufhaus-Christkind oder etwas in der Art war. „Ich muss zurück nach Hause, aber…mein Amulett ist leer. Ohne die richtige Energie kann ich nicht zurück. Ich habe mich quasi…verlaufen.“

Tom starrte auf das Amulett. Es sah nicht so aus, als ob es in irgendeiner Weise mit Strom aufzuladen wäre. Ein roter ovaler Stein umfasst mit Schnörkeln, gedrehtem Silberdraht und kleinen Diamanten, die wiederum in Silber umfasst waren, das vom Alter schwarze Kanten hatte. „Wow, tolles Amulett. Aber wie kann man es aufladen?“ „Vielleicht ein Spaziergang an der frischen Luft?“ schlug das Mödchen vor. „Oh, ich vermute, dass die Kälte vielleicht kontraproduktiv wäre, wenn es entladen ist?“ dachte Tom laut nach. Dann fügte er hinzu „Aber wenn es hilft, ja, gehen wir. Hier ist es mir sowieso zu voll“. Dabei machte sein Herz einen Sprung. Er war schockverliebt.

Draußen angelangt, atmeten beide durch. „Du siehst nicht aus, als wärst du von hier.“ „Ja, das hab ich doch gemeint.“ lachte sie. „Jetzt erzähl mir eine Sache, warum warst du denn da drin?“ „Naja, aus dem Grund, warum alle dort drin sind. Sie suchen Geschenke für Weihnachten. Ich suchte eines für meine Mutter, aber das Geld reicht nicht. Wir sind allein, seit Papa verunglückt ist vor zwei Jahren. Und ich wollte wenigstens irgendwas kaufen für sie. Wenn ich ihr sonst so viel Stress mache….“ „Das tut mir leid. Auch das mit dem Geld.“ das Amulett fing an zu flackern. „Oh, geht es wieder?“ „Es ist auf jeden Fall…auf Empfang…“ grinste das Mädchen. „Erzähl mir mehr von deiner Mutter“ „Naja, wir haben uns in letzter Zeit oft gestritten und ich hab so viel Mist gebaut. Aber ich will das nicht. Ich hab sie doch lieb“. Er fühlte, dass seinem Herz beim Erzählen eine Schwere genommen wurde. War das Mädchen vielleicht eine Art Engel?

„Verstehe. Du machst eine schwierige Zeit durch. Du liebst deine Mutter sehr.“ Das Amulett leuchtete inzwischen. Tom sah dem Mädchen in die Augen. Sie hatte eine sonderbare Art zu sprechen, mit so viel Bedacht und Herz. Sie blickte ihn an und er wusste, dass dies ein Augenblick war, der sich zwischen ihren Seelen abspielte. Ein Augenblick, der sich vielleicht sogar in der Ewigkeit abspielte und nicht im Hier und Jetzt. „Ich kenne deinen Namen noch nicht mal, aber du scheinst mich gerade zu verstehen wie noch nie jemand zuvor.“
Das blondgelockte Mädchen ergriff seine Hand und umarmte Tom, der nun ganz von der Rolle war.
Es wurde derart warm um sein Herz, dass er eine unbändige Energie in jeder Pore seines Körpers ausgehend von seinem Herzen spüren konnte. Alles was vorher festsaß, alle Sorgen und Ängste, alle Trauer, Minderwertigkeitsgefühle, schlechtes Gewissen und Zweifel wurden wie Ketten, die bislang um sein Herz waren aufgebrochen. Tränen kamen und rollten sanft sein Gesicht entlang. Ein kurzer Moment, der ewig dauerte.
„Danke.“ brachte er nur hervor. Tom bemerkte das Glühen des Amuletts, das nun in allen Farben strahlte. „Es…ist aufgeladen?“ „Ja, danke!“ jubelte sie. „Ich kann zurückkehren. Meine Aufgabe ist auch fast erfüllt.“ sagte sie und gab ihm ein Säckchen Geld.

„Wohin wirst du gehen?“ fragte er sie. Doch sie verschwand am nächsten parkenden Auto, der Spiegel blitzte grell im Sonnenlicht und sie war plötzlich weg.
„Ein Engel…oder ein Geist der Weihnacht?“ dachte Tom und schüttelte immer wieder den Kopf.
Mit Liebe aufgefüllt ging er und holte die Pralinen ab. Beim Blick in das gefüllte Säckchen lächelte er. „Und für den Rest gehe ich mit Mama essen. Und… bezahle die offenen Rechnungen.“ Als er hineingriff kamen immer mehr Münzen, es wollte kein Ende nehmen. „Und… wer weiß was noch alles!,“ rief er laut, sodass sich Passanten nach ihm umdrehten.
Er rannte, schnell wie ein Dieb, nach Hause, aufgeladen mit dem Geist der Weihnacht der ursprünglichsten Art: Nächstenliebe. Irgendwie musste er an das Märchen vom Mädchen mit den Sterntalern denken.

Der Denker

Doktor Karoshi saß in seinem Büro und suchte den Fehler. Irgendetwas stimmte nicht mit den letzten Berechnungen und es war nicht die Programmierung. Aber Denken hilft, davon war er überzeugt.
Gestern hatte er bereits den ganzen Tag die Gleichungen und ihre Randbedingungen durchgesehen, war aber zu keinem Ergebnis gekommen. Schon seit sieben Uhr früh war er nun erneut dran.
Das Handy bimmelte kurz und Karoshi schaute gedankenverloren darauf: seine Frau hatte eine Nachricht gesendet. Er ächzte und schob den Apparat zur Seite. Nein, nein, das hielt ihn nur ab vom Denken.
Später kam der Doktor vom Mittagessen, legte das Paper, das er nebenbei gelesen hatte, auf den Schreibtisch und bemerkte, dass sein Handy blinkte. Zwei neue Nachrichten von seiner Frau. Schon wieder! Doch er würde sich nicht ablenken lassen. Das Telefon verschwand in einer Schublade des Schreibtischs.
Nur aufs äußerste konzentriert würde er in der Lage sein, das Problem zu lösen. Er dachte weiter nach.
Zwei Stunden später klingelte das Ding langanhaltend. Erneut seine Frau! Karoshi schüttelte den Kopf und verließ das Büro. Manchmal war es ganz gut, einen kleinen Spaziergang zu machen, um die Gedanken zu ordnen. Ja, Denken hilft, ganz sicher!
In den Nachbarbüros war alles dunkel. Die anderen waren schon gegangen, was ihn dann doch etwas wunderte. Normalerweise war hier mindestens bis 19 Uhr kein Mangel an rauchenden Köpfen.
Das Tablet immer vor sich, schaute er auf seine Notizen und Fragen, während er durch die Flure taperte.
In den nächsten zwei Stunden im Büro probierte er erneut dies und das, kritzelte seine Gedanken ins Gerät und bekam noch immer keine kohärenten Ergebnisse. Denken, denken, denken! – trieb er sich selber an.
Wieder kam eine Nachricht auf dem Handy und dann klingelte sogar das Festnetztelefon – mit der Nummer von zuhause. Er hob nicht ab.
Nach dem nächsten Kaffee atmete Karoshi ein paarmal tief durch und plötzlich, ja, da kam ihm ein Gedanke! Das Bild einer grünen Nordmanntanne!
Wie vom Blitz getroffen setzte er sich aufrecht hin. Er griff nach dem Handy, sein Herz pochte, und in diesem Moment kam erneut eine Nachricht. Diesmal las er sie.
Sitzen jetzt im wohnzimmer mit deinen eltern und machen bescherung. Falls du noch nachkommen möchtest.
Bescherung? Bescherung! Er schaute zum Digitalwecker auf seinem Schreibtisch. „24.12.“ war dort zu lesen. Na klar!
Er musste grinsen. Jetzt hatte er endlich noch einen guten Gedanken gehabt!
„Raus hier und nach Hause!“ sagte er lachend zu sich selbst.
„Ich hab‘ doch heute frei!“

Heiligabend 1961

»Was hast du jetzt schon wieder angestellt?« Die Stimme meiner Frau klingt besorgt, hat aber auch diesen leichten Unterton, den ich im Laufe unserer langen Ehe als bedrohlich bezeichnet habe.
»Nichts«, erwidere ich schnell. »Mir ist nur einer von diesen verdammten Kartons runtergefallen. Hier oben ist aber auch alles vollgepackt. Wenn wir nicht bald mal …«
»Die Weihnachtskugeln sind nicht auf dem Schrank, sondern im Schrank. Das habe ich dir doch gesagt. Warum hast du dir diese teuren Hörgeräte gekauft, wenn du sie doch nicht trägst?« Eine Frage, die durchaus berechtigt ist und auf die ich selbst keine Antwort weiß.
»Schon gut. Ich hab’s gleich.«
»Wir müssen in einer Stunde los, sonst kommen wir mal wieder nicht pünktlich. Du kannst unseren Enkeln dann erklären, warum sich der Weihnachtsmann verspätet.«
Ich seufze und räume die aus dem Karton gefallenen Sachen wieder ein. Warum verwahrt man diesen ganzen Krimskram nur? Irgendwann wirft man ihn sowieso weg. Ich nehme den Karton mit dem alten Weihnachtsschmuck aus dem Schrank und stelle ihn zu den anderen Sachen, die noch ins Auto geräumt werden müssen. Mein Blick fällt auf ein Stück Papier, das unter dem Tisch liegt. Das muss aus dem heruntergefallenen Karton stammen. Ich hebe es auf und betrachte es. Es ist dreimal gefaltet und aus dickem Papier. Bevor ich es auseinanderfalte, gehe ich hinüber zum Sessel und setze mich. Eine kleine Pause wird mir guttun.
Das Papier ist alt und die Falzstellen sind stark aufgeraut. Noch bevor ich es aufgefaltet habe, weiß ich, was es ist. Der Bogen stammt aus einem Malblock, wie wir ihn in der Schule benutzten. In der ungelenken Handschrift eines Kindes steht dort mit rotem Buntstift geschrieben ›mein Wunschzetell Weinachten 1961‹. Es folgt nur eine weitere Zeile, nur ein Wunsch: ›1 groose Tahfel Schockolahde‹.
Ich schließe meine Augen. Weihnachten 1961 war das erste Weihnachtsfest, das wir in unserer neuen Wohnung verbrachten. Vorher hatten wir fast ein Jahr lang bei meinen Großeltern gewohnt. Eine Baracke mit zwei Zimmern, in denen einschließlich der Kinder acht Personen lebten. Die Bezeichnung »DDR-Flüchtling« habe ich erst viel später verstanden. Mein Vater hatte im Sommer endlich Arbeit gefunden und kurz nach meinem siebten Geburtstag, anfang Dezember, sind wir umgezogen.

Die Erinnerungen tragen mich einundsechzig Jahre zurück durch die Zeit. Ich stehe im Flur vor der verschlossenen weißen Wohnzimmertür. Meine Mutter steht neben mir und hält mich an der Hand. Wir haben alle unsere Sonntagssachen an, es ist ja Weihnachten.
»Wie lange noch Mama?«, frage ich aufgeregt und kann kaum stillstehen.
»Es dauert nicht mehr lang, mein Großer.« Ihre Hand drückt die meine ein klein wenig fester.
»Haben wir auch einen Tannenbaum? Einen richtigen? Mit Kugeln und Kerzen?«
»Das wirst du gleich sehen. Aber wenn du weiter so viel redest, hören wir das Glöckchen nicht und dann dauert es noch länger.«
Wenn wir das Glöckchen hören, dürfen wir ins Zimmer, daran erinnere ich mich. Wie gern hätte ich an der Tür gehorcht, um das Klingelingeling nur nicht zu verpassen.
In diesem Moment höre ich es. Erwartungsvoll schaue ich Mama an. Sie nickt mir zu und öffnet die Tür. Das Erste was ich sehe, ist der Weihnachtsbaum. Seine Spitze reicht bis zur Decke. Viele bunte Kugeln hängen an den Zweigen. Goldenes Lametta schmückt den Baum und Kerzen brennen, richtige Kerzen. In diesem Moment weiß ich, dass das der größte und schönste Weihnachtsbaum auf der ganzen Welt ist.
»Schau mal, was unter dem Baum liegt.« Meine Mutter geht in die Hocke und zeigt auf ein in buntes Papier verpacktes Paket. Es ist lang, aber nicht dick. An der Oberseite ist eine kleine Karte befestigt. Auf den Knien rutsche ich darauf zu und nehm es in die Hand.
»Lies mal, was auf der Karte steht«, sagt Mama.
»Für Norbert«, lese ich laut vor. Es ist für mich; nur für mich. Mein Herz klopft so schnell, dass ich gar nicht weiß, was ich tun soll.
»Mach es auf!«, höre ich die Stimme meines Vaters.
»Darf ich wirklich?« Mama nickt mir zu.
Vorsichtig öffne ich das Papier an einer Seite und ziehe langsam mein Geschenk hervor. Im ersten Moment kann ich nicht glauben, was ich da in der Hand halte. Es ist die größte Tafel Schokolade, die ich mir vorstellen kann. Nie hat es eine größere gegeben.
Meine Mutter hat sich neben mich gehockt. »Gefällt dir dein Geschenk?«
Ich nicke. »Das ist das schönste Weihnachten in meinem ganzen Leben.«, dann heule ich los.

Ich öffne die Augen und betrachte den Wunschzettel in meiner Hand. Mit dem Blick auf den Karton auf dem Schrank sage ich leise: »Danke, Mama.«

Unvergessliche Weihnachten

Ein verklärt lächelnder Igel auf einem Ferienhaus, eine verschwitzte Zwiebel vor einer unmöglichen Aufgabe, eine schlecht gelaunte Elster im Anflug und ein verzweifeltes Eichhörnchen … was ist los?
Weihnachten.

Am Nachmittag: Eichhörnchen Ekorre stopft zufrieden eine weitere Eichel in den Spalt zwischen den zwei großen Steinen am See. Er schnuppert bereits nach der nächsten Nuss, als er Stimmen hört. Über die Steinkante spähend lauscht er Folgendem: „Und wann ist das?“ Diese Stimme gehört Igelkott, dem vergesslichen Igel. Auf seinem Kopf sitzt die Zwiebel Lökk, sie antwortet: „Heute! Das sage ich jetzt zum dritten Mal!“
„Wirklich? Und was ist heute?“
„Weihnachten!“
„Ist das was besonderes?“
Ihre Stimmen werden von der Moospolsterung in der Höhle unter dem Felsen geschluckt. Ekorre starrt ihnen nach. Die wollen doch nicht etwa da drinnen bleiben? Ahnungsvoll besieht sich das Eichhörnchen den Spalt voller Baumsamen. Es bleckt seine Nagezähne. Nicht, dass der Spalt unten offen ist und der ganze Segen in den Schoß dieser beiden Taugenichtse kullert!
In der Felsenhöhle, die Lökk für sich und Igelkott als Ferienhaus übernommen hat, beginnt eine Zwiebel zu verzweifeln. „Den Baum habe ich hier hereingestellt“, stöhnt Lökk, weil Igelkott das Gestrüpp argwöhnisch beschnuppert. „Wegen dem Fest!“
Der Igel schaut böse vor lauter Nachdenken. Dann hellt sich seine Miene auf. „Ich habe Geburtstag!“
„Nein!“, ruft Lökk.
„Du hast Geburtstag?“
„Auch nicht. Jemand anderes.“
„Kenne ich den?“
„Nein.“ Lökk seufzt. „Egal. Vielleicht erzähle ich dir nochmal vom Weihnachtsmann, ja?“

In der Zwischenzeit macht sich die Elster fertig für ihren Flug durch die erste deutlich kürzere Nacht nach der Längsten. Wie die Tradition es verlangt, wird sie kleine Gaben an alle Tiere verteilen, die sie findet. Eine schöne, rote Vogelbeere wird sie jedem vor die Tatzen legen und ihnen klar machen, dass der Winter jetzt kommt. Damit alle durchhalten, wenn es kalt wird und die Wärme von innen kommen muss. Gleich an der ersten Tür gibt es ein Missverständnis.
„Davon kriege ich Durchfall.“ Die Eule starrt herablassend, und da ihr kleiner Schnabel ohnehin aussieht, als würde sie ihn dauernd rümpfen, trifft der Blick aus ihren riesigen Pupillen die Elster tief. Beleidigt fliegt sie auf. „Gut“, entscheidet sie, „dann versuche ich es eben beim Wiesel.“

Währenddessen ist Ekorre damit beschäftigt, leise wie ein Dieb seine Nüsse aus dem Versteck zu kramen. So eng ist dieser Spalt! Wie hat er die Eicheln da nur hineingebracht? Endlich bekommt er ein besonders verkeiltes Exemplar frei und kriegt als Quittung die Stimmen der beiden Feriengäste zu hören.
„Durch den Schornstein?“
„Nicht unbedingt direkt durch den Schornstein. Es ist Zauberei, weißt du.“ Lökk hat sich beruhigt. Igelkott hat von dem Baum abgelassen und hört ihm begeistert zu. Es ist das vierte Mal heute, dass Lökk ihm von den Geschenken erzählt, aber das weiß der Igel nicht.
„Zaubert er wie die Elster?“, fragt er hingerissen. Lökk schaut zur Decke. „Du meinst, mit Vogelbeeren? Nein. Ich bin nicht sicher, aber ich habe nie davon gehört.“
„Hm. Ob sie dieses Jahr wieder kommt? Ich will ihr nicht sagen, dass ich ihre Beeren nicht mag. Mein ganzer Bauch gerät durcheinander, wenn …“
„Niemand mag ihre Beeren“, unterbricht Lökk ihn düster. „Bei mir akzeptiert sie es wenigstens, weil ich selbst Gemüse bin. Aber dieses Jahr sind wir schön weit weg von ihrem Nest. Sie hat bestimmt alles aufgebraucht, bis sie uns erreicht.“
„Ein Glück. Die Magenverstimmung vor drei Jahren war unvergesslich“, seufzt Igelkott erleichtert.

„Die Magenverstimmung jedes Jahr ist nicht sehr festlich“, dringt es ekelhaft aus der Behausung der Spitzmaus. Die Elster unterdrückt ein Schluchzen. Sie ist keine einzige Beere losgeworden. „Weihnachten ist besser ohne nervige Leute, die einem irgendeinen Dreck unter den Baum klatschen und dann behaupten, es wäre ein Geschenk und verlangen, dass man sich freut!“, keift eine zweite Stimme hinterher. Mit tränenverschleierten Augen hebt die Elster zu einem Instrumentenflug ab. Blindlings schlägt sie mit ihren Flügeln nach der Luft. „Bei einem Geschenk, das von Herzen kommt, ist der Inhalt doch egal“, keckert sie leise zu sich selbst. „Und das werden die nächsten, die ich treffe, zu schätzen wissen. Oder sie lernen es“, schnieft sie trotzig. Sie blinzelt ihre Augen trocken, zieht den Rotz hoch und hält unter ihren Brauen hindurch Ausschau nach einem Opfer. In der Nähe steigt Rauch aus einem Kamin. Sie hält darauf zu.

Ekorre hat seinen Fuß befreit. Die Eichel ist frei, er strebt den Rückzug an. Als er sich unterdrückt hustend umdreht, steht Igelkott direkt hinter ihm. Er lächelt auf mysteriöse Art. Sie starren sich einen Moment lang an.
„Na?“, fragt Ekorre dann. „Was machst du hier?“
„Hab ich vergessen“, antwortet Igelkott mit merkwürdig hintergründigem Ton. „Und du?“
Ekorre fällt nichts ein.
„Roter Umhang, steigt in unseren Kamin … bist du der Weihnachtsmann?“ Igelkotts Nase zeigt auf ihn. Ekorre will gerade antworten, da schießt die Elster an ihnen vorbei durch den Rauch, steigt auf und landet dramatisch neben ihnen. Während sie aufsetzt, zieht sie bereits ihre Tasche voller Vogelbeeren hervor. Eine ungeschickte Bewegung lässt jedoch alle ihre Mitbringsel in den Kamin fallen. Die Beeren kullern lustig in den Spalt. Kurz darauf hört man Lökk einen entsetzlichen Wutschrei ausstoßen. Verrußt und sauer rollt er aus der Höhle. „Wer war das?“, kreischt er.

Überspringen wir die betroffenen Mienen der Elster, Ekorres und Igelkotts, erzählen wir nichts davon, wie Ekorre betreten seine Eicheln in die Ferienwohnung räumt. Lassen wir es aus zu berichten, wie die Elster beschämt Lökks Suppe zu retten versucht. Betrachten wir nur Igelkotts überraschte Freude, als er Geschenke unter dem Baum entdeckt. Damit hat er nicht gerechnet.
„Das grenzt an Zauberei“, haucht er. „Ich war die ganze Zeit auf dem Dach und habe den Weihnachtsmann nicht gesehen!“
Lökk, der das Vogelbeerenmus zu den gerösteten Eicheln auf den Tisch hebt, an dem schon Elster und Ekorre sitzen, seufzt zufrieden. Für diesen Anblick nimmt er jede Strapaze in Kauf.
„Können wir anfangen?“, fragt Igelkott. Seine Tatzen streicheln ein Päckchen. Die Elster und Ekorre nicken, aber Lökk schaut streng.
„Haben wir nicht was vergessen?“, fragt er.
„Fröhliche Weihnachten!“, rufen alle miteinander.

Pünktlich

Mutter war ein Phänomen. Egal, ob sie viel Arbeit hatte oder wenig; egal, um was es ging, Privates oder Berufliches; egal, was davon abhing, Unangenehmes oder Folgenschweres: Mutter fing für gewöhnlich zu spät an und brach jedenfalls zu spät auf. Situationen, in denen Gelassenheit angemessen und hilfreich gewesen wäre, begannen mit Aufregung und endeten mit Strapazen. So auch dieses Mal.

Um fünf Uhr sollte der Familiengottesdienst zum Heiligen Abend beginnen. Das war Grund genug für sie, mich zwar zeitig anständig anzuziehen, wie sie es nannte, dann jedoch die restliche Zeit mit allerlei Haushaltsverrichtungen zu füllen. Kurz vor fünf brachen wir endlich auf, wie immer im Laufschritt.

Trotzdem kamen wir zuverlässig zu spät. Der Gottesdienst war schon reichlich fortgeschritten, als Mutter mit mir an der Hand den Gemeindesaal betrat. Vorsichtig, um nicht aufzufallen, suchte sie nach freien Sitzplätzen und verschwand eben mit mir in der vorletzten Reihe, in der einige Lücken waren, als der unvergleichliche Pfarrer Busch sich selbst unterbrach und uns laut und vernehmlich, begleitet vom leisen Lachen der Gemeinde, bat, nach vorn zu kommen. Mutter wurde rot, ich wurde noch verlegener als üblich, und wir fädelten uns wieder aus der Reihe heraus, um etwas weiter vorn erneut vor Anker zu gehen. Das misslang gründlich. Der Pfarrer, der bis jetzt nicht weitergesprochen hatte, wendete sich nochmals unmissverständlich an Mutter.

„Nein, nein“ , sagte er, „Sie gehören viel weiter nach vorn. Hier, in der ersten Reihe, sind gerade noch zwei Plätze frei“. Der Gottesdienst wurde erst wieder aufgenommen, als wir vorne angekommen waren.

Mutters Verlegenheit hatte keine nachhaltigen Konsequenzen. Außer, dass sie auf dem Heimweg ein wenig maulte und sich über die Unschicklichkeit des Pfarrers beklagte, änderte sich nichts. Der Erziehungsversuch war zwar recht publikumswirksam, prallte jedoch an ihr ab. Wir erreichten folglich auch danach unser Ziel grundsätzlich im Laufschritt, und Unpünktlichkeit galt bei ihr weiterhin als Zeichen der Vornehmheit.

Die Letzte

Ich bin die Letzte.

Niemals hätte ich gedacht, dass genau das mein Schicksal sein würde. Die vielen Monate in Dunkelheit, eingesperrt im Schrank, sollten sich gelohnt haben.

Heute ist der große Auftritt. Meine Geschwister sind schon vorausgegangen. Alle drei sind kaum noch zu sehen.

Und doch bin ich enttäuscht. Ich hatte eine riesige Halle erwartet, in einem Schloss vielleicht, oder zumindest eine Kirche. Jede Menge Tannengrün, viele Menschen, laute Gesprächsfetzen und Musik.

Stattdessen befinde ich mich in dieser dunklen Hütte. Auf dem harten Holztisch ist nichts zu sehen. Keine Kugeln, Zweige oder Tannenzapfen, nicht einmal ein Metallkranz. Nur ich auf einem alten Bierdeckel.

Was macht es da für einen Sinn, die Letzte zu sein?

Zu Beginn meiner Existenz hatte man mir gesagt: „Es ist nicht wichtig, wo oder wie lange du lebst, entscheidend ist, wie hell du scheinst.“

Schön und gut, aber das hier? So sollte es nicht zu Ende gehen.

Dem Knarzen der Tür folgt ein Luftzug, der mich erschaudern lässt. Meine Güte, ist das eisig hier.

„Mama, ist es jetzt so weit?“, höre ich eine zarte Stimme flüstern.

„Ja, mein Schatz, es ist so weit.“

Zwei Kinderaugen schauen mich ehrfürchtig an. Und als mein Docht zu brennen beginnt, kullert eine Träne über die Wange des kleinen Mädchens.

„Was hast du, meine Süße?“

„Psst Mama, wir müssen leise sein. Dies ist ein ganz besonderer Moment. Darauf habe ich so lange gewartet.“

Gewartet? Auf das hier? Erstaunt lasse ich den Blick durch die Hütte schweifen. Sie sieht in meinem Licht gar nicht so kalt und dunkel aus. Eher gemütlich. Ich friere auch nicht mehr. Und dieses Mädchen schaut mich an, als hätte sie noch nie etwas Schöneres gesehen.

„Die Letzte, Mama. Das ist die letzte Kerze. Ihr Licht ist so strahlend und warm. Jetzt wird das Christkind bestimmt den Weg zu uns finden.“

Und plötzlich wird mir klar, dass ich genau am richtigen Ort bin. Es hätte mich nicht besser treffen können.

Denn entscheidend ist, wie hell du scheinst!

Entschlossen sammle ich alle Kraft, damit mein Licht die Welt des kleinen Mädchens so hell und lange erleuchtet, wie möglich.

Weihnacht im Schnee

„Mama, die Leute erzählen, dass morgen Weihnachten ist, aber ich glaube, dass sie sich vertun.“

„Na, das erstaunt mich jetzt aber, meine Süße. Wie kommst du darauf, dass morgen kein Weihnachten sein soll?“

„Weil ich nachgedacht habe.“

„Du bist gerade mal acht Jahre alt, denk daran. Du solltest nicht so viel grübeln. Vor allem nicht , wenn so ein schönes Fest vor der Tür steht.“

„Aber schau doch mal Mama, das ist auch wieder sowas, was mich nachdenklich macht. Wenn ich die Tür aufmache, dann steht niemand davor. Dann kommt nur noch mehr Kälte rein, wo wir hier drin doch eh schon bibbern und frieren.“

„Ja, das ist ja nicht ganz falsch, was du sagst, aber du darfst auch nicht alles so wörtlich nehmen. Es gibt Dinge, die kann man nicht sehen, aber man kann sie spüren.“

„Mamaaa! Willst du mir Angst machen?“

„Um Himmelswillen nein mein Schatz, Entschuldigung. Morgen ist Weihnachten, da will ich dir bestimmt keine Angst machen. Wie kommst du darauf? Da möchte ich, dass du dich freust, und nicht so viel grübelst. Denk doch mal dran, wie schön wir letztes Jahr noch zusammen Weihnachten gefeiert haben.“

„Denke ich ja. Immer wieder, aber da war Papa auch bei uns.“

„Aber nur, weil Papa diesmal zu Weihnachten nicht bei uns sein kann, können wir es uns doch trotzdem schön machen. Weißt du, Weihnachten, das ist das Fest der Liebe. Wenn wir ganz doll an ihn denken, dann spürt er das und es tut ihm gut. Und uns tut es auch gut, weil es sich dann so anfühlt, als säße er mit uns vor dem Weihnachtsbaum.“

„Aber wir haben doch gar keinen Weihnachtsbaum, Mama. Wie sollen wir es da spüren?“

„Noch nicht, mein Kind, noch haben wir keinen Weihnachtsbaum. Aber es ist ja noch etwas Zeit. Vielleicht gelingt es mir ja heute Nachmittag, noch einen aufzutreiben.“

„Schaffst du nicht, Mama. Glaube ich nicht.“

„Wieso glaubst du das nicht? Mit etwas Glück gelingt es mir. Man soll die Hoffnung nie aufgeben, Süße. Das ist auch eine Lehre von Weihnachten.“

„Draußen ist so viel Schnee, da kommst du nicht mal mit trockenen Füßen bis zum Ende der Straße und bis zum Wald ist es noch viel weiter.“

„Ich weiß, dass ich nur diese dünnen Turnschuhe hier habe, aber ich muss ja auch nicht bis in den Wald gehen.“

„Und wie willst du dann einen Weihnachtsbaum besorgen? Außerdem, selbst, wenn du in den Wald gehen würdest, wir haben doch gar keine Säge. Mit unserem alten, langen Messer wirst du kaum einen Baum abschneiden können.“

„Ich sagte doch, ich brauche nicht in den Wald und deshalb brauche ich auch keine Säge. Unser Nachbar hat mir versprochen, uns einen mitzubringen. Er versucht es zumindest.“

„Der alte Mann, der dich immer so komisch anschaut?“

„Genau der, aber er schaut mich nicht komisch an. Er macht sich Sorgen um uns, weil wir hier so allein sind.“

„Er guckt trotzdem komisch. Ich habe Angst vor ihm.“

„Das solltest du nicht, mein Kind. Er ist ein lieber Mensch. Das sein Gesicht so entstellt ist liegt daran, dass er versucht hat, noch etwas aus seinem alten Haus zu retten, bevor alles verbrannt ist.“

„Dann war es da wenigstens warm und er musste nicht frieren, wie wir jetzt hier.“

„Nun denk doch nicht immer nur an die schlimmen Sachen. Morgen ist Weihnachten. Du solltest mal loslassen und überlegen, was wir morgen spielen könnten. Außerdem war das Feuer, das ihn so verletzt hat, mitten im Sommer. Da war es eh nicht kalt.“

„Hm, wusste ich ja nicht.“

„Du weißt so vieles noch nicht, Süße, und das ist auch gut so. Kinder müssen nicht alles wissen. Deshalb sind sie Kinder.“

„Ich weiß aber was anderes.“

„Was denn?“

„Was wir morgen spielen könnten.“

„Siehst du, geht doch. Das finde ich jetzt mal richtig gut. Du möchtest also doch gerne was spielen. Was ist es denn?“

„Ein Weihnachtsspiel.“

„OK. Und? Kenne ich das Spiel?“

„Na klar. Du hast es mir doch selbst beigebracht. Als ich noch klein war.“

„Aha, dann lass mal hören.“

„Wir machen Engel. Draußen, vor der Tür, wo niemand wartet. Wir legen uns auf dem Rücken in den Schnee und bewegen die Arme und die Beine hin und her. Wenn wir aufstehen, bleiben im Schnee Engel zurück.“

„Ja, das habe ich dir tatsächlich mal beigebracht, aber damals konnten wir uns danach in einer warmen Stube aufwärmen. Hier haben wir keine Heizung, kein warmes Wasser und die paar warmen Sachen, die wir anhaben, dürfen wir auf keinen Fall nass machen. Am Ende würden wir noch erfrieren.“

„Aber, Mama, du sagtest doch, dass uns der hässliche Nachbar heute noch einen Weihnachtsbaum bringt.“

„Ja, das hat er versprochen. Aber erstens, er ist nicht hässlich, sondern verwundet, und zweitens, was hat das mit deinen Schneeengeln zu tun?“

„Ist doch ganz einfach, Mama, denk doch mal nach. Wenn der uns den Baum heute noch bringt, ist er bis morgen nicht mehr so nass. Dann können wir ihn mit dem alten Messer in Stücke schneiden und die stecken wir in den alten Ofen in der Küche und zünden sie an. Das machen wir zuerst. Dann gehen wir in den Schnee und wenn wir wieder reinkommen, hocken wir uns vor den warmen Ofen und trocknen unsere Sachen.“

„Du hast ja Ideen, Süße, aber wollten wir uns nicht vor den Weihnachtsbaum setzen und an Papa denken? Wenn wir den Baum verbrennen, können wir das nicht mehr. Da wird Papa traurig sein.“

„Mama, jetzt hör aber mal auf. Glaubst du denn, ich bräuchte einen Weihnachtsbaum, um an meinen Papa zu denken? Ich denke andauernd an ihn. Und wenn wir etwas Spaß haben, wird er sich auch freuen. Er hockt jetzt irgendwo in einem eiskalten Panzer und friert noch mehr als wir.“

Das kleine Dorf, in das sie geflüchtet waren, lag nicht weit von Odessa entfernt. So waren die Sirenen aus der Stadt, die vor neuen Raketenangriffen warten, stets gut zu hören So, wie jetzt.

„Komm, mein Schatz, wir können das später weiter bereden. Jetzt müssen wir erstmal rüber in den Schutzkeller unterm Gemeindehaus.“

„Mensch Mama, andauernd da hin. Da ist es ja noch kälter als hier.“

„Komm schon. Wenn genug Leute kommen, können wir uns gegenseitig wärmen.“

„Na dann, schöne Weihnachten.“

„Mit diesen Worten solltest du nicht spotten.“

„Weiß ich ja, Mama, aber ich möchte echt mal wissen, warum uns die blöden Russen ihre Liebe zu Weihnachten mit Raketen verschicken.“

Statt ihr zu antworten, sah die Mutter ihre Tochter nur eine Weile lang an. Bevor sie das alte Haus verließen, fiel der Kleinen dann noch eine Frage ein. Sie hatte die Pause genutzt, um nachzudenken.

„Sag mal, Mama, können Russen denn überhaupt lieben?“

„Ja, mein Schatz, alle Menschen können lieben. Auch die Russen. Sie haben nur vergessen, dass man es nicht erzwingen kann, selbst geliebt zu werden.“

Als sie zum Schutzraum im Gemeindehaus liefen, blies ihnen ein eisiger Wind entgegen.

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Eine besondere Weihnachtsfeier

Es war Dezember und unser Sohn in seinem ersten Jahr im Kindergarten. Und wie überall, es gab eine Weihnachtsfeier. Es war so ein richtiges Winterwetter, kalt, windig, dunkel – eben Glühweinzeit. Aber wir waren in der Kita: kein Glühwein!

Hier war alles etwas kleiner gehalten. Eine Garderobe, die unten bei den Knien angebracht war und Platz für allerlei Kinderklamotten bot. Meine Jacke nebst Mütze und Schal fielen wieder runter – egal.

Überall waren Tische und Sitzmöbel aufgebaut. Eben solche, bei denen man sich gleich beim Setzen das Schienbein stößt und die Knie ganz nah bei den eigenen Ohren sind. Zwischen den Stühlen flitzten Unmengen von Kindern durch die Räume, alle zappelten und schnatterten unaufhörlich. Eine Lautstärke wie bei einem Heavy metal Konzert oder bei einem Handballspiel im Fanblock.

Nach einiger Zeit – ich bekam schon Krämpfe in den Beinen, rutschte hin und her, fiel fast vom Stuhl – da klopfte es laut und die Außentür öffnete sich knarrend. Der kalte Wind fauchte in die Räume und unter Glockenklingen kam der leibhaftige Weihnachtsmann mit einem großen lebendigen Esel herein. Auf seinem Rücken lag ein riesiger Sack.

Ein ohrenbetäubendes Geschrei begann – es war schlimmer als bei einem Handballspiel – und alle Kinder rannten auf den Weihnachtsmann zu. Nur einer nicht: unser Sohn. Er lief in die entgegengesetzte Richtung, direkt auf uns zu.
„Siehst du – siehst du“, rief er mir zu. „Es gibt ihn doch!“. Dann drehte er sich um und flitzte zu den anderen Kindern.

An diesem Tag habe ich gelernt, dass der Glaube etwas Besonderes und Bedeutsames im Leben ist. Und dass es nicht wichtig ist, wie und woran man glaubt, nur dass man glaubt. Das ist wichtig.

Und wenn man dafür die eigenen Knie ganz dicht bei den Ohren halten muss.

Die Sonnenkarawane

„Die Pinguine kommen! Die Pinguine kommen! Die Pingu …“

„Wir haben dich gehört, James Frederic III.“

„Ja, aber …“

Jamie - in Augenblicken, in denen er zur Ordnung gerufen wurde, gerne mit „James Frederic III.“ tituliert - zweifellos, um ihn im Hinblick auf seine künftige Aufgabe innerhalb der Gemeinschaft an die Unangemessenheit gezeigten Verhaltens zu erinnern - konnte einfach nicht begreifen, dass die Ankunft der Pinguine irgend jemanden ruhig bleiben ließ.

Er dachte noch einen winzigen Augenblick über die angebliche Unvereinbarkeit von „Erwachsen sein“ und „Spaß haben“ nach und beschloss, dass das mit dem Erwachsenwerden für ihn noch Zeit haben durfte.

Den Kritiker seiner Freude aufs Respektloseste hinter sich lassend, setzte er mit deutlich hörbarer Begeisterung seinen Dienst als selbsternannter Herold fort - mit einer Stimme, die jedem Marktschreier Ehre gemacht hätte. Auf schmutzigen Sohlen rannte er weiter durch die Gassen der Barackenstadt und schrie, was seine Lungen hergaben: „Die Pinguine kommen!!!“

„Was soll das Geschrei? Jeder weiß doch, dass sie zur Zeit der Sonnenwende bei uns Rast machen - und auch wozu. Jamie, mein Lieber, du predigst Bekehrten.“

Nur das unleugbare Vergnügen in der Stimme des Sprechers hinderte Jamie daran, auch hier seine Nase mit Verachtung zu rümpfen. Sebastian war sechzehn und damit nach allen geltenden Regeln erwachsen. Doch Jamie wusste um ein paar Dinge, erforscht im Zwielicht gelber Nächte auf Streifzügen durch die Außenbezirke der Barackenstadt, die ihn vermuten ließen, dass auch Sebastian noch wusste, wie man Spaß haben kann - sogar als Erwachsener. Und dass Eleanor Fairdagale dabei eine Rolle spielte, störte ihn nicht im mindesten. Erstens war sie neunzehn und damit viel zu alt für Jamie, außerdem war hinwiederum er alt genug, um zu wissen, dass es nicht schaden konnte, sich in Bezug auf die wichtigen Dingen schon mal erste Orientierung zu verschaffen.

Sebastians Aufgabe war die Leitung der Willkommenszeremonie. Gerade saß er am Feuer der Wachbaracke, beäugte sein Konterfei im blankgewienerten Blech von etwas, das zu einer Zeit, die fast schon nicht mehr wahr genannt werden konnte, angeblich „Felgendeckel“ geheißen hatte. Dieser spezielle sollte sich, konnte man Ernie trauen, auf dem rechten „Vorderrad“ eines „Citroen ZX“ befunden haben. Ernie kicherte regelmäßig, wenn er davon erzählte, wie sein eigener Ur-Ur-Urgroßvater sie gefunden hatte, kurz nachdem die letzte der großen „Rallyes“ die Oase mit frischen Vorräten in Richtung der Wanderdünen verlassen hatte. Alleine wie Ernie das Wort „gefunden“ betonte, gab Vermutungen reichlich Raum, dass das glänzende Stück Metall nicht einfach still im Sand gelegen hatte. Andererseits, nach dem vierten Becher Palmwein klang eigentlich jeder Geschichtenerzähler, als würden sich sogar hinter den einfachsten Wörtern schlafraubende Abenteuer mit fleischfressenden Büschen und sternlichtgebärenden Quarztrollen verbergen.

Jamie hatte beizeiten gelernt, geduldig zuzuhören und höflich zu lächeln, wenn nach drei oder vier Geschichten, von denen jede mit einem Becher Palmwein auf ex beschlossen werden musste - so verlangte es die Tradition der Geschichtenerzähler - nicht nur die Wörter etwas schwankend gerieten.

Sebastian jedenfalls ließ sich auch von der renommierten Herkunft seines Spiegels nicht aus der Ruhe bringen. Mit blauem Steinmehl, reichlich Spucke und seinem Zeigefinger zog er sich rechts und links je einen Strich vom Haaransatz über jedes Augenlid bis herunter zum Mundwinkel. Schließlich mussten die Pinguine, wenn sie in die Barackenstadt einmarschierten, auf den ersten Blick erkennen können, wer hier das Sagen hatte, denn die Begrüßung erfolgte traditionell in respektvollem Schweigen mit vielen Verbeugungen und komplizierten Tanzschritten, die dem jeweiligen Zeremonienleiter wochenlanges Einüben abverlangten.

„Und?“ fragte Sebastian. Herausfordernd hielt er sein Gesicht in das bleiche Licht der Mitternachtssonne und schielte dabei zu Jamie.
Jamie nickte überzeugt: „Besser als Ronaldo auf jeden Fall!“

Sebastian verzog den linken Mundwinkel zu einem verräterischen Grinsen, als er daran dachte, wie die Pinguine im vergangenen Jahr Ronaldo mit seiner Frau verwechselt und Ingeborg um Gastfreundschaft gebeten hatten. Es hätte das Kichern der Frauen nicht gebraucht, um jedem klarzumachen, dass der Wettbewerb für die Auswahl des Zeremonienleiters im nächsten Jahr nicht mehr zwischen den Männern alleine ausgetragen werden würde. Zumal auch die Pinguine regelmäßig in fröhliches Schnattern verfielen, wenn sie bei ihrer Durchreise nicht umhin konnten zu bemerken, dass so etwas wie die „Gleichberechtigung der Geschlechter“ für die Bewohner der Barackenstadt doch eher ungewohnt war - zumindest, soweit es das offizielle Protokoll betraf. Jedenfalls hatte Sebastian sich dieses Jahr gehörig anstrengen müssen. Als geübter Sandroller und bester Pfannkuchenbäcker der Südstadt hatte er sich im Finale gegen Lisalou nur um Haaresbreite behauptet.

Also - Jamie kicherte in sich hinein, zeigte nach außen jedoch eine bewundernswert gefasste Miene - würden die Pinguine auch in diesem Jahr wieder etwas zu schnattern haben.

Immerhin, der zweite Platz im Wettbewerb bedeutete, dass Lisalou al Fanufaresh dieses Jahr das Führungskamel reiten würde, wenn die Pinguine nach Abschluss der Friedenszeremonien zur Überquerung des großen Waldgebirges aufbrachen, ihrer vorletzten Etappe, bevor die Karawane der Schwarzbefrackten sich endlich, wie jedes Jahr, auf den eigenen Bäuchen in die Straße von Gibraltar stürzen konnte. Und das war schließlich auch etwas.