Die 11. Weihnachtswoche von Seitenwind

Who is it? – I’m the doctor

Ich bin im Sommer geboren und meine Eltern sind Waldrene. Während Mitzi sich um mich kümmert, ist Donner unterwegs. Die Sami, das sind unsere Hüter, haben mir eine Marke ins Ohr geknipst. Es hat gar nicht weh getan und fast alle aus der Herde haben so ein Ding am Ohr.
Es ist seit einen Monat dunkel, und ich vermag nicht mich sattzusehen, an den Polarlichtern. Dies ist meine erste Polarnacht mit ihrer Aurora Borealis, wie es die Menschen manchmal nennen. Die Abenteuerlust treibt mich von der Herde fort und durch die fein riechende Rentiernase gelange ich an einer Stelle mit köstlichen Islandgras. Das zupfe ich genussvoll und träume vor mich hin. Was für große Abenteuer warten auf mich?
Da kommt mir ein gefährliches Knurren an die Ohren. Ich halte inne und meine Lauscher bewegen sich nervös in verschiedene Richtungen. Dort! Nach rechts wende ich langsam den Kopf und starre in die grünbeleuchtete Dunkelheit. Zwei gelbe Punktpaare. Sie stehen gegen den leichten Wind, deshalb habe ich sie nicht gerochen. Wölfe! Mutter Mitzi hatte mich gewarnt, nicht so weit von der Herde wegzulaufen. Aber jetzt war Reue zu spät.
Plötzlich vernahm ich seltsame Geräusche. Eine Art von asthmatischem Pfeifen, gemischt mit einem metallischen Scharren. Es schwoll an und wieder ab. Ich sah die gelben Wolfsaugen hierhin und dorthin bewegen, dann waren sie verschwunden. Schreckhaft sind sie ja, denke ich.
Die Luft um das Geräusch flimmerte. Erst schwach, dann stärker, dann wurde eine Kiste sichtbar. Sie war etwas höher als der größte der Sami Juhani. Ich hatte inzwischen die Wölfe vergessen (Mutter würde sagen: „Diese Jugendlichen.“), denn die blaue Kiste stand, keine zehn Rentiersprünge entfern. So versteckte ich mich hinter dem nächsten Baum und lugte herum.
Es öffnete sich eine Tür, und ein gelbes Lichtdreieck erschien auf dem Schnee davor. Ein Mann trat wankend daraus hervor, blieb kurz stehen und betrachtete seine Hände, welche in goldenen Dampflicht leuchteten. Er fiel auf die Knie und rammte Beide zu Fäusten geballt in den Schnee. „No, not yet!“
Ich verstand nicht seine Worte, denn es war mir eine unbekannte Sprache.
Dann hörte ich eine andere Stimme: „Who is it?“ Es war wohl dieselbe Sprache.
Der Mann aus der Kiste erhob sich und sagte: „I am the doctor!“
Er bewegte sich in die Richtung der anderen Stimme. Neugierig geworden schlich ich mich auf leisen Hufen zur Kiste. Zwar hörte ich sie reden, aber verstand nichts Genaueres, um es hier weiter zu geben. Ich spähte um die Ecke, sah die Tür, trabte leise zum Licht und streckte meinen Kopf in den Raum dahinter.
„Boah!“, entfuhr es mir staunend. „Größer im Innern als Außen.“
Alles voller Maschinen, Hebel und Knöpfen. Fußböden aus Metall. An den Wänden Krimskrams und Kabels.
Sicherlich hätte meine Neugierde mich tiefer in die blaue Kiste gezogen, aber ich erinnerte mich der Wölfe. Und mein Denken lenkte sich dahin, dass so lange dieses Ding hier stand, sie sich fernhalten. Kurzum, ich verließ den Ort und wusste was zu Erzählen.
Die Kleinen und die Jährlinge hingen förmlich an meinen Lippen. So gab ich noch zusätzliche Ausschmückungen bei. Und es wurde immer wilder, bis Mutter mich zur Seite nahm und sagte: „Hör mir mal zu, junger Mann. Wenn du so weiter lügst, dass sich die Geweihe biegen, dann wird deine Nase röter und röter und zu Letzt, so Rot, dass sie bis zum Himmel leuchtet. Willst du so eine Nase haben, Rudi?“
Ich schluckte vor Charme und sagte kleinlaut: „Nein Mama. Möchte ich nicht.“
„Na, dann ist es ja gut“, sagte sie, „dann weißt du auch, was auf deinem Wunschzettel an Jultomte gehört.“
Nun wendete sie sich der Herde zu.

Die letzte stille Nacht

„Stiiiihiiille Naaaacht, heiiiliigee Naaacht“, tönt es durch die Lautsprecher von Galeria Kaufhof. Im dritten Stock rechts von der Rolltreppe steht eine ergraute, aber gepflegt frisierte Dame an einem Stehtisch neben den Umkleiden. Sie hat sich die Lesebrille mit dem pinkfarbenem Gestell, die ihr mit einem türkisen Band um den Hals hängt, auf die vorderste Nasenspitze platziert und fädelt mit Bedacht einen roten Spitzenschlüpfer zurück auf einen durchsichtigen Kleiderbügel. Auf ihrem rosafarbenen Cashmere-Pullover pinnt ein Schild: Rosemarie Spengler. Rosemarie müsste dieses Schild nicht tragen. Schon vor Jahren wurde das abgeschafft. Doch Rosemarie bestand darauf, es gehörte für sie zum Kundenservice.

Rosemarie hängt den Kleiderbügel zurück zur restlichen roten Damenwäsche, Größe 38, und wirft einen Blick auf die Anzeigetafel über der Rolltreppe: 24.12.2022. 13:18. In einer dreiviertel Stunde war es vorbei. Sie lässt ihren Blick über die leeren Gänge schweifen und seufzt. Am anderen Ende des Ganges Klaus aus der Porzellanabteilung. Ihre Blicke treffen sich, kurzes Nicken. Was sollte man sonst schon tun?

Gedankenverloren zupft Rosemarie an den seidenen Damennachthemden, richtet hier einen Ärmel zurecht oder verdreht ein Preisschild. Sie denkt sich zurück in alte Zeiten. Stellt sich die dicht gedrängten Menschenmassen vor, die sich die Rolltreppen hinaufschieben und sich dabei mit ihren Galeria-Taschen ineinander verhaken. Sie denkt an die vielen schwitzigen Hände, die sich durch Wühltische graben. Und an Kinder, die sich auf den Boden werfen und weinen. Ja, oben in der Spielzeugabteilung ist noch am meisten los. Zehn Kunden. Vielleicht zwölf. So wie unten in der Parfümerie und in der Schmuckabteilung. Naja, die Zeiten ändern sich. Das hatte ihre Tochter gesagt. Die Zeiten ändern sich, Mama.

Der einzige, der heute noch im Stress ist, ist der Amazon-Bote. Sie denkt an den jungen, dunkelhaarigen Mann, den sie jeden Montag, ihrem freien Tag, durch das Fenster beobachten kann. Er steigt aus seinem Laster mit dem Amazon-Logo und lädt Päckchen auf eine Sackkarre. Letzten Montag musste er zweimal gehen. In ihren Wohnungen springen die Eltern mit Headset von ihrem Home Office Schreibtisch auf und nehmen die Geschenke an, die sie dann ihren übergewichtigen Kindern unter den Weihnachtsbaum legen. Die Zeiten ändern sich.

39 Jahre lang hatte Rosemarie bei Galeria Kaufhof gearbeitet. Sie hatte so viel Wäsche verkauft, dass man davon wahrscheinlich ganz Deutschland einmal hätte einkleiden können. Sie fühlt Stolz bei diesem Gedanken. Sie hatte alle Trends der Dessous hautnah miterlebt. Vielleicht ein Stück weit mitgestaltet. Durch ihre Beratung. „Sehen Sie, Madame, heute trägt man einen solchen Wonderbra. Der würde Ihre Form auch ganz wunderbar unterstützen“. Oder: „Ja, nun sehen Sie dieser spitzenbesetzte String… ich hab schon Kinder zur Welt gebracht, ich kann das nicht mehr tragen mit meinem Hintern, aber Sie, ja bei Ihnen würde das phantastisch zur Geltung kommen.“ Nie hätte sie sich ausgemalt, dass ihr letzter Tag vor der Rente so aussehen würde. „Unterhosen und Schuhe – das braucht der Mensch immer!“, hatte Walter immer gesagt, Gott hab ihn selig. Ihr Mann Walter war Schuhverkäufer gewesen. Sie fühlt Erleichterung, dass er das heute nicht miterleben musste.

Rosemarie richtet gerade den Gürtel eines Flanell-Morgenmantels zurecht, als sich plötzlich jemand hinter ihr räuspert. Fast erschrocken dreht Sie sich um.

„Entschuldigen Sie, ich brauche…“, ein Mann vielleicht Anfang 40, steht vor ihr. Seine engen Jeans, sein Vollbart und seine zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haare lassen ihn wie einen typischen Mann der heutigen Zeit aussehen. Doch in seinen Augen findet Rosemarie etwas, das sie längst verloren geglaubt hatte. Sie drücken die Dringlichkeit alter Weihnachtstage aus. Die Hektik der letzten Minuten vor Ladenschluss. „Ich brauche…“ hatte er gesagt. Nicht „Ich hätte gern…“ oder „Ich suche…“… Dieser Mann brauchte etwas. Er brauchte ihre Hilfe, ihre Dienste. Und ein Gefühl von tiefster Verbundenheit und Sinnhaftigkeit durchflutet Rosemarie, als sie sagt: „Ja, bitte?“

„…einen Pyjama für meine Mutter. Etwas Bequemes. Aber auch nicht zu bunt. Vielleicht was weißes, schlichtes.“

Und Rosemarie führt ihn zur Nachtwäsche. Zeigt ihm die Baumwollschlafanzüge, die spitzenbesetzten und die bedruckten. Erzählt etwas über die Qualität des Stoffes, darüber wie das Material atmet, wie die Hose fällt. Sie zeigt Exemplare in zartrosa, aprikot und weiß. Und als der Herr seine Wahl getroffen hat, ertönt die Durchsage: „Sehr verehrte Kundinnen und Kunden, unserer Filiale schließt in 15 Minuten. Wir bitten Sie, sich zu den Kassen zu begeben.“

„Mein Gott, ich dachte schon ich krieg gar nichts mehr“, sagt der Mann, als er ihr seine EC-Karte reicht. „Meine Mutter kam erst gestern mit dem Wunsch an. So schnell liefert ja Amazon gar nicht…“ Rosemarie nickt und reicht ihm seine Tüte mit dem Zahlungsbeleg. Ihr Herz klopft ihr bis zum Hals, fast möchte sie ihn umarmen. „Also vielen Dank nochmal…“, sagt der Mann. Und Rosemarie sagt wie immer „Der Dank ist ganz meinerseits.“ Und noch nie hatte sie es so gemeint, wie heute.

Aus den Erinnerungen eines kleinen Rabauken

Nun hatte ich schon seit ein paar Monaten keinen Hund mehr, und es wurde Weihnachten. Ich war zu alt, um noch an den Weihnachtsmann und diesen Kinderkram zu glauben. Spannend war es trotzdem, weil das heimliche Getuschel der Eltern auffällig zunahm, wobei ich immer so tat, als kriegte ich davon nichts mit. In diesen Wochen vermied ich, irgend etwas zu tun, was die Großen verärgern konnte, und ich stellte mir vor, dass mein geheimer Wunsch trotz der finanziellen Not, die Anfang der sechziger Jahre bei uns herrschte, erfüllt würde. Bobbys Tod hatte ich noch längst nicht verwunden, sein Name durfte in meinem Beisein nicht ausgesprochen werden. Dennoch wünschte ich mir wieder einen neuen kleinen Freund.

Nach dem Besuch der Nachmittagsmesse gab es in der guten Stube die große Bescherung. Unter dem geschmückten Weihnachtsbaum fand sich, was man als Kind so brauchte: einen warmen Winterpullover, bunte Strickhandschuhe, einen gestreiften Schlafanzug, in den man noch reinwachsen sollte, und so’n Zeugs. Darüber musste man sich freuen und fertig. Kann sein, dass meine Dankbarkeit etwas dünn rüberkam, was mir mein Vater wohl an meiner verdrießlichen Miene ansah. Er sagte nichts und widmete sich meinem älteren Bruder, der sich wie verrückt über irgendetwas freute, das mich nun gar nicht begeistern konnte. Deswegen kann ich mich auch nicht mehr erinnern, was das überhaupt war.

Während ich lustlos die bunten Strickhandschuhe überstreifte, sagte ich mir: „Kerl, so’n Satan warste doch auch nicht. So schlimm warste doch nicht, dass du nun gar nichts Vernünftiges kriegst.“
Im Kerzenschein wurde die Stille Nacht gesungen, und als es so schien, dass damit der Heilige Abend rum wäre, wandte sich mein Vater mir zu und wies mit einer kurzen Kopfbewegung zur Tür: „Arnie, kannste mal gucken, was da in deiner Kammer los ist? Ich habe da vorhin was gehört.“
Folgsam taperte ich die knarrende steile Holztreppe hinauf, öffnete die Tür zu meiner Kammer, drehte am Lichtschalter, und was ich dort sah, kam mir vor wie ein Wunder: Auf meinem schmalen Bettvorleger lag ein schwarzer wolliger Hundewelpe, der sich freudig aufrichtete, mit zusammengekniffenen Augen blinzelte und erwartungsvoll fiepte, als wollte er sagen: „Wo bleibst du denn den ganzen Abend?“
Jetzt gab’s doch einen Weihnachtsmann!

Sternenfeuer

Er streifte den Pullover über, den Onkel Frederic voriges Jahr gestrickt hatte. Die weißen Einsprengsel in der hellbraunen Wolle verrieten ihre Herkunft aus dem Winterfell eines Jährlings, deshalb war er genau richtig für Helden, die vorhatten, das Zukunftsritual zu vollziehen, wie man es bereits den Allerkleinsten beibrachte. Dieses Jahr zog er zum ersten Mal alleine los.

Jamie warf einen Blick auf die Mütze im Regal, dachte kurz nach, dann ließ er sie liegen. Heute brauchte er einen klaren Kopf, auch wenn es etwas frisch werden sollte. Außerdem … aber das gestand er sich selbst nicht so richtig ein. Er verließ die Baracke und drückte die Tür von außen zu, bis der Riegel einschnappte. Dann wandte er sich um und stapfte los.

So lange er noch im Viertel war, hielt er den Blick beharrlich auf den Weg vor sich gerichtet, was jedem zeigte, dass James Frederic III. heute nicht aus war auf Schwatz und Vergnügen. Zielstrebig durchquerte er das angrenzende Schänkenviertel und folgte dem Bewässerungsgraben entlang des Gartenrings. Endlich passierte er den nördlichen Durchgang über den mit Fettblattsträuchern befestigten Sandwall, der die Stadt vor dem Wüstenwind schützte.

Der war jedoch bereits, wie jeden Abend, eingeschlafen. Jamie richtete den Blick in die Ferne und wanderte hinaus auf die mit Steinbrocken übersäte Hammada. Sorgfältig achtete er darauf, um jede der vereinzelt auftauchenden Sandpfützen einen respektvollen Bogen zu machen. Nach und nach verlor sich der Lärm der Stadt hinter ihm, bis er nur noch die Stille hörte.

Nach einer Weile wurden weit voraus die ersten Ausläufer des Waldgebirges sichtbar. Doch sie waren heute nicht sein Ziel, zumal er für die Reise zu den Bäumen mindestens vier Tagesrationen gebraucht hätte. Seine Wegstrecke war bescheidener.

Weil beide knapp über dem Horizont standen, konnte das fahle Wechselspiel von Mond und Sonne den Augen manchen Streich spielen. Deshalb sah er die großen Felsquader erst, als er auf weniger als vierzig Schritte heran war. Jamie blieb stehen und sah sich um. Dort, diese zwei waren genau richtig. Er ging hinüber und berührte mit der Rechten den nackten Fels. Die Quader strahlten noch Reste der Tageshitze ab, gleichzeitig schützte ihre Größe vor neugierigen Blicken. Er setzte sich mit dem Rücken zu den doppelt mannshohen Quadern, wie er es gelernt hatte.

Nach einer Weile richtete er seinen Blick hinaus in die Wüste und begann, tiefer zu atmen:

Ein - aus - ein - aus - ein - aus.

Jamie spürte, wie er ruhig wurde. Ohne aufsehen zu müssen wusste er, dass die Sterne über ihm zu funkeln begonnen hatten.

Großes Dünenkamel, dachte er,
dieses Jahr wünsche ich mir keine Dinge.

Ich wünsche mir, dass ich genug Liebe aufbringe für die Arbeit in den Gärten.
Ich wünsche mir, dass ich genug Ausdauer aufbringe, wenn die Arbeit mühsam wird.
Ich wünsche mir, dass ich genug Tapferkeit aufbringe, um die Angst vor den Schlangen zu überwinden.
Ich wünsche mir, dass ich genug Beharrlichkeit aufbringe im Erwerb von Geschick mit Spaten, Klinge, Schnur und Bohrer.
Ich wünsche mir, dass ich genug Gelassenheit aufbringe bei allem, was mich von meinem Pfad abbringen könnte.
Ich …

Obwohl Jamie die Schnur seiner Wünsche in den letzten Tagen sorgfältig geknüpft hatte, schob sich ganz plötzlich noch ein anderer hinein. Aber genau diesen getraute er sich nicht, dem großen Dünenkamel zu unterbreiten.
Eigentlich wusste er, dass auch große Dünenkamele einst von dieser Welt gekommen waren und für seinen Wunsch Verständnis haben würden. Aber wie das so ist, wenn man etwas ganz unerwartet braucht …

Ich wünsche …

Es ging nicht.

Jamie spürte einen Knoten im Hals.

Er begann wieder von vorn, tief zu atmen:
Ein - aus - ein - aus - ein - aus.

Ich wünsche mir …

„Jamie?“

Für einen Augenblick glaubte er, sein Herz müsse stehenbleiben.
Natürlich tat sein Herz ihm diesen Gefallen nicht. Es hüpfte ein bisschen, schlug dann aber enfach weiter. Jamie blieb nichts anderes übrig, als aufzuspringen und puterrot anzulaufen.

Den Helden in den Schwänken der Geschichtenerzähler wäre das natürlich nicht passiert - denen fiel in solchen Augenblicken immer etwas Souveränes ein. Schließlich waren es Helden.
Jamie schaffte gerade mal ein „Öh… hm…“. Zur Sicherheit setzte er ein höfliches „… hallo Alima.“ hinterher, und verfärbte sich dann, falls das überhaupt möglich war, ins Purpurne.
Seine Ohren glühten, er spürte es deutlich. Ziemlich praktisch in der Kälte, aber auch nicht wirklich heldenhaft.

In ihren Augen, die aus der halben Dunkelheit heran zu schweben schienen, funkelten Sterne, so geheimnisvoll wie die über der Steinwüste.

Jamie wurde es ungemütlich. Er setzte noch einmal an, aber mehr als ein „Hrchrm“ brachte er nicht zustande.

Zum Glück schien Alima kaum überrascht zu sein. Vermutlich, weil sie ihm gefolgt war. Aha, dachte er in merkwürdig gleichzeitiger Erkenntnis wie irrelevant das war, mein Verstand funktioniert noch.

Als Alima ihre Hand hob, hatte Jamie das deutliche Gefühl, irgend etwas in seinem Kopf müsse gleich „Krk“ machen.

„Dein Haar“, sagte sie, „es leuchtet durch die Nacht wie blaues Feuer. Wie machst du das?“

Jamie hätte ihr erzählen können, dass er viele Tage damit verbracht hatte, in den Wadis genügend der hellblauen Steine zu finden, fünf weitere im Vorgebirge auf der Suche nach Glitzerquarzen, sowie etliche Abende, um alles zu mahlen und einzuschlämmen, bis das Quarzmehl sich in funkelndes Blau verwandelte. Aber um nichts in der Welt hätte er jetzt auch nur ein Augenblinzeln lang aufhören wollen, in diesen beiden Sternenteppichen zu versinken.

Alima schien auch nicht wirklich eine Antwort zu erwarten.

Statt dessen tat sie einen Schritt auf ihn zu.
Und dann noch einen.

Als Aram seinen Glauben fand

Es war der 20 Dezember 1957. Long Island lag unter einer winterlichen Schneedecke. Die Weihnachtsferien hatten begonnen, in der Schule herrschte Hochbetrieb. Die Vorbereitungen für das Krippenspiel lagen in den letzten Zügen und fast jeder meiner Schulfreunde nahm daran teil, außer mir.

Unser Haus war ebenso geschmückt und die Lichterketten funkelten mit denen unserer Nachbarn um die Wette. Meine Freunde konnten den 24 Dezember kaum abwarten. Nach der Weihnachtsfeier würden am nächsten Morgen die Geschenke unter dem Baum liegen.

In unserer Familie war das anders. Wir feierten die Ankunft Jesu am 6. Januar.

Als achtjähriger wurde ich deshalb von meinen Schulkameraden ausgelacht und gehänselt. Da half es auch nichts, dass unser Klassenlehrer von Millionen orthodoxer Christen berichtete, die ebenso wie ich am 6. Januar feierten.

Ich war genervt, denn ich wollte nicht anders sein, als die anderen. Deshalb erklärte ich am Abend des 23. Dezember meinen Eltern, dass ich wie meine Mitschüler und Freunde feiern wollte.

Meine Mutter sah mich eine Weile an und sagte dann zu meinem Vater: „Es wird Zeit für das Gespräch.“

„Welches Gespräch?“, platzte es aus mir heraus.

Vater nickte und ging mit mir in das Kaminzimmer, wo wir es uns gemütlich machten. Das Feuer prasselte und gab seine wohlige Wärme in den Raum ab.

Papa war Architekt und hatte unser Haus selbst entworfen und mit seinem eigenen Bauunternehmen aufgebaut. Er war sehr stolz darauf und erzählte allen unseren Gästen, dass zu jeder Tageszeit und egal wo die Sonne stand, alle Räume lichtbeschienen wären. Bis zu diesem Tag wusste ich nicht, wie privilegiert meine Familie war. Wir konnten uns reich nennen. Für mich war das allerdings normal, denn ich hatte keine Armut kennen gelernt.

„Wir feiern das Weihnachtsfest am 6. Januar, weil wir Armenier und gregorianische Christen sind“, begann er.

Dass wir Armenier waren wusste ich, aber alles andere hatte mich bis dahin nicht interessiert.

„Der heilige Gregor machte uns zu den ersten Christen dieser Welt, aber das ist eine andere Geschichte. Mein Vater Aram.“

„Dede“, unterbrach ich ihn.

Papa nickte. „Ja, dein Dede. Er lebte mit seiner Frau Miriam und seinen Söhnen Hayk und Arman, die zwei und fünf Jahre alt waren, in Ostanatolien. Das ist bis heute die Türkei.“

Mein Interesse war geweckt, denn ich wollte die Geschichte von Dede und meinem Vater, Arman hören. Allerdings kannte ich keinen Onkel Namens Hayk und keine Jaja namens Miriam. Doch bevor ich noch fragen konnte, erzählte der weiter.

„Es war das Jahr des Genozids.“

Ich schaute ihn verständnislos an.

„Genozid bedeutet, die Auslöschung eines Volkes durch ein anderes“, erklärte er.

„Wie die Juden in Deutschland?“ Davon hatte ich in der Schule gehört und mein Freund Isaac war ein Jude.

„Ja, genauso. Die Armenier waren unerwünscht und so hatte man begonnen sie aus ihren Häusern zu holen, Männer, Frauen und Kinder ohne Unterschied.“

„Was ist mit ihnen passiert?“, fragte ich und mir fröstelte dabei.

„Man hat sie von überall her aus dem Land zusammengetrieben und nach Osten in die syrische Wüste geführt. Es war ein Todesmarsch ohne Wiederkehr. Die Schwächsten unter ihnen starben unterwegs an Durst und Hunger, der Rest bei Aleppo.“

Er machte eine Pause, weil ihm die Erzählung sichtlich schwerfiel.

„Weiter, weiter“, drängte ich.

Er schluckte mehrmals, bevor er weitersprach. Seine Stimme brach bei den ersten Worten, aber dann berichtete er flüssig, als ob er es hinter sich bringen wollte.

„Dein Dede kam eines Tages von einer kurzen Handelsreise nach Hause, die er abgebrochen hatte, als er von dem Beginn der Deportationen erfuhr. Die Tür stand offen, das Haus war verwüstet. Türken, die ihm unbekannt waren, gingen ein und aus und schleppten alles weg, was nicht niet und nagelfest war. Dede rannte von Zimmer zu Zimmer und suchte nach Jaja und seinen Söhnen, aber er fand sie nicht. An der Tür traf er einen seiner Nachbarn, der ihm wohlgesonnen war. –Wo ist meine Familie-, fragte er ihn. – Sie wurden abgeholt. Jeder Armenier aus unserer Stadt wurde das. Ali, der Nachbar nahm Dede mit in sein Haus, wo er ihn versteckte.“

Ich saß auf dem Teppich vor dem Kamin und hörte gebannt zu. Ich konnte die Augen nicht von ihm wenden. Papa streckte die Hand aus und strich mir über die Wange.

„Das ist nicht das Ende der Geschichte“, sagte er. „Nach einigen Tagen verabschiedete sich Dede von Ali, um seine Frau und Kinder zu suchen. –Sei vorsichtig, Aram und gib dich nicht zu erkennen- riet ihm sein Nachbar. Ali hatte ihn mit Wasser und Proviant versorgt. Sie umarmten sich zum Abschied, der Türke, der ihn unter seinem Dach aufgenommen und versteckt hatte und der Armenier. Sie sollten sich nie mehr wiedersehen.

Wochenlang lief er Richtung Osten. Unterwegs gab er sich als Ahmet aus. Er ernährte sich von Beeren und Obst, das er sich von den Feldern und Gärten stahl. Manchmal erbettelte er sich etwas Brot in den Dörfern, an denen er vorbeikam. Hier und da hörte er auch von den Menschenkolonnen, die vorbeigezogen waren. Dann kam der Tag, an dem er auf die ersten Toten am Wegesrand stieß. Von weitem schon drang ihm der Gestank verwesenden Fleisches in die Nase. Und dann sah er sie, aufgedunsene Körper. Dort wo sie gestorben waren, hatte man sie liegen lassen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zu verscharren. Dein Dede folgte diesem Weg des Todes, Tag um Tag, auf der Suche nach seiner Familie. Am Anfang waren es alte und gebrechliche Menschen, die nicht mehr weitermarschieren konnten. Mit der Zeit wurden sie immer jünger. Jeden Toten schaute Dede sich an, während er zu Gott betete, dass seine Lieben nicht darunter sein mögen.“

Vater hatte aufgehört zu sprechen. Er stand von seinem Sessel auf und legte zwei große Holzscheite in das heruntergebrannte Kaminfeuer nach. Ich saß auf dem Teppich und konnte mich nicht rühren. Papa hatte das bemerkt. Er kniete sich vor mich hin und nahm mich in die Arme.

„Vielleicht bist du noch zu jung für diese Geschichte“, sagte er.

Heftig schüttelte ich den Kopf. „Bin ich nicht. Ich will den Rest wissen. Wie ging es weiter? Hat Dede seine Familie wiedergefunden?“ Das musste er doch, dachte ich bei mir, denn mein Vater stand ja vor mir.

Papa setzte sich wieder in seinen Sessel.

„Ja und nein“, antwortete er. „Nach Tagen des Suchens und Umherirrens, an denen er bei jeder Leiche, die er inspizierte und die nicht seine Lieben waren, ein Dankgebet gen Himmel schickte, kam es wie es kommen musste. Mitten auf der holprigen Straße fiel ihm vom weiten das kaminrote Tuch ins Auge. Als er näherkam, erkannte er die Umrisse eines zarten Körpers und rannte los. Sein Herz klopfte ihm bis zum Halse. Vor der Toten ließ er sich auf die Knie fallen und da lag sie, seine Miriam, in den Armen fest umschlungen, ihr totes Kind, Hayk.“

Ich hielt den Atem an und die Tränen schossen mir in die Augen. Im Zimmer war es still, nur das Prasseln des Feuers drang aus der Ferne an meine Ohren.

„Ein paar Meter entfernt fand er auch seinen zweiten Jungen, Arman. Ihm war der Schädel eingeschlagen worden. Das rote Tuch, das er Miriam zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte, an die Brust gepresst, blickte zornig in den Himmel und rief: „Warum? Warum hast du mir das angetan? Seine Schreie verhallten in der Weite des Landes. Er war allein weit und breit. Dort auf den Knien kauernd beschloss er nicht mehr an seinen Schöpfer zu glauben, an einen Gott der das Geschehene zuließ und der ihm alles genommen hatte. Mit eigenen Händen begrub er seine Frau und Kinder am Wegesrand. Während er das tat, verhärtete sich sein Herz und er weinten keine Träne mehr.“

„Aber“, stotterte ich. „Aber du lebst doch.“

Bevor er antworten konnte öffnete sich die Tür und Mama kam mit einem Tablett herein.

„Ein Becher Kakao wird euch guttun“, sagte sie, setzte die Getränke auf dem Couchtisch ab und ging wieder. Sie hatte Recht. Wir tranken den warmen Kakao, der unserem Gaumen und Seele gleichermaßen nutzte. So gestärkt, erzählte mein Vater weiter.

„Das kaminrote Tuch um den Hals geschlungen, streifte er ziellos umher. In den Dörfern, an denen er vorbeikam, erbettelte er etwas zu Essen und gab sich dabei als Ahmet aus. So vergingen Wochen und sein Weg führte ihn immer weiter nach Westen, Richtung Küste. Umweit des Städtchens Eskisehir, kam er an einem Bauernhof vorbei, dass ihn an sein Zuhause im Osten erinnerte. Die Türen waren eingetreten worden. Lange konnte die Gewalttat nicht her sein. Letzte Habseligkeiten lagen wahllos herum. Dede betrat das Gebäude, auf der Suche nach etwas Essbarem. Wieder ging er von Raum zu Raum, wie damals in seinem Heim in Anatolien. Es war ein armenisches Haus. Kreuze waren umgeworfen worden und im Wohnzimmer fand er eine zerfetzte Bibel, an der er achtlos vorbeiging, ohne sie aufzuheben. Warum sollte er auch. Es gab ja keinen Gott. Er schaute sich weiter um. Alles war durchwühlt, die Schränke von den Wänden gerissen. In ein paar Wochen würde das Haus komplett geplündert worden sein. Nichts würde mehr daran erinnern, dass Armenier hier gewohnt haben. So war es im ganzen Land. Er beeilte sich, bevor weitere Marodeure kamen. Gerade als er das Schlafzimmer verlassen wollte, hörte er ein Piepsen. Er schaute sich um, sah und hörte aber nichts weiter. Wird wohl eine Katze gewesen sein, dachte er bei sich. Doch da war es wieder, schon etwas lauter und jämmerlicher. Es kam von der anderen Seite des Bettes. Er lief hin und sah einen Lumpenhaufen auf dem Boden, der sich bewegte. Dede beugte sich nach unten und räumte alles beiseite. Da sah er es!“

„Was? Was sah er, Papa?“, rief ich aufgeregt dazwischen.

„Mich! Ich muss nur wenige Monate alt gewesen sein und lag da, nackt in Lumpen gehüllt. Dede traute seinen Augen nicht. Vorsichtig hob er mich auf. Er hielt mir seine Hand hin und bis heute schwört er, dass ich danach gegriffen hätte, um seinen Finger nicht wieder loszulassen. Bei der Deportation muss meine Mutter mich unter diesen Lumpen versteckt haben, in der Hoffnung, Gott würde mich retten und das hat er auch getan.

Dedes Herz quoll über vor Glück und er weinte. Bäche von Tränen rannen über seine Wangen und er schaute zur Decke hoch.

Danke Gott, Danke,

murmelte er. Dann wickelte er mich ein und verließ das Haus. Er gab mir den Namen, Hayk.“

Papa lehnte sich in seinen Sessel zurück und atmete tief durch, als ob ihm mit dem Bericht ein Stein vom Herzen gefallen wäre.

„Was ist dann passiert?“

„Dede schlug sich mit mir weiter Richtung Westen durch. Hier und da arbeitete er auf Bauernhöfen, wo er sich als Witwer, Ahmet ausgab, dessen Frau bei der Geburt des Sohnes gestorben sei. Als Tagelöhner sei er dann mit dem Kind weitergezogen. Er sorgte für mich so gut es ging. So gelangten wir, Vater und Sohn, an das Waisenhaus, das durch eine deutsche Organisation gegründet worden war und von einem Theologen Namens Dr. Lepsius geführt wurde. Das war unsere Rettung. Sie nahmen uns auf und als sie Dedes Geschichte hörten, halfen sie uns. Dede verschwieg, dass ich nicht sein leiblicher Sohn war, denn er wollte mich nicht mehr hergeben.

Dr. Lepsius besorgte uns über seine zahlreichen Kontakte die nötigen Papiere und setzte uns in Istanbul auf ein Schiff, dass uns in Sicherheit und Freiheit nach Amerika brachte.“

Papa schwieg. Lange saßen wir beisammen und sprachen nicht. Jeder hing seinen Gedanken nach.

„So hat Dede also Gott gefunden“, sagte ich.

„Ja, das hat er. Eines solltest du noch wissen. Der Tag, an dem er mich in Lumpen versteckt fand, war der 6 Januar 1918.“

Jetzt konnte ich mich nicht mehr halten. Ich sprang auf und rannte johlend um den Couchtisch herum.

„Ein Christkind. Papa ist ein Christkind“, rief ich immer wieder.

Vater lachte. In diesem Moment ging die Tür auf und Dede kam herein. Ich rannte in seine Arme und unaufhörlich rief ich weiter.

„Papa ist ein Christkind.“

Seither beschwerte ich mich nie wieder, dass wir Armenier das Weihnachtsfest am 6 Januar begingen.

Weihnachten 2022/2023 – Hripsime Rüstemyan

FROHE BOTSCHAFT 2022

Schneeflocken tanzten im Schein der Bremsleuchten. Alwin kniff die Augen zusammen, die Lichter blendeten. „Besetzt!“, warnten rote Lettern rund einhundert Meter vor der Zufahrt zum Parkhaus des Einkaufszentrums „Wunderwelt“. Alwin nahm die Pudelmütze ab, wischte sich mit ihr den Schweiß von der Stirn und warf sie auf den Beifahrersitz. Ein Kombi verließ die Ausfahrt, löste ein grünes „Frei“ aus. Sekunden später bestätigte die Anzeige wieder den Sprecher des Verkehrsfunks, der mit Verzweiflung in der Stimme zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel aufrief.
„Die Verkehrsnachrichten wurden präsentiert vom EKZ Wunderwelt, ihrem Shoppingparadies. Heute, Heiligabend, bis 16:00 Uhr geöffnet!“ Alwin drehte das Radio leiser. Die Instrumententafel zeigte 14:47 Uhr. „Könnte knapp werden, wenn´s so weitergeht“, flüsterte er und zerrte am Reißverschluss seiner Steppjacke. „Ha!“, die Bremsleuchten erloschen, Alwin legte den Gang ein und zockelte fünf Meter weiter. Der Scheibenwischer schabte über die Windschutzscheibe.

Nach vier Runden im Parkdeck U3 öffnete sich endlich eine Lücke. 15:30 Uhr. Waren die Ziffern schon immer so fett? Alwin ruckelte den Schalthebel in den Rückwärtsgang, tuckerte auf das „Bitte vorwärts einparken!“-Schild zu. Reifen quietschten. Eine Hupe bellte. Der Fahrer eines Sportwagens schüttelte die Faust. Sein Bizeps drohte das weiße Maßhemd zu sprengen. Alwin setze vor, zurück, vor, zurück. Geschafft! Unter seinen Achseln war es feucht.

„Mann, Alter!“ Die zum Platzen gefüllte Einkaufstüte eines 1-Euro-Ladens traf Alwins Hüfte und brachte ihn ins Schwanken. „Alter Mann wäre korrekt“, schnaufte Alwin. Er griff nach dem Gummigeländer der Rolltreppe. Seine Nackenhaare stellten sich auf, er wischte sich die Hand an seiner Cordhose ab. Ein blonder Junge mit Undercut drehte sich zu ihm um und verdrehte die Augen, hastete mit seiner Tasche die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Fast im Takt der Weihnachtsliedbeschallung. „Jingle Bell, Jingle Bell, Jingle Bell Rock“ dröhnte es. Im Obergeschoss angekommen, tippelte Alwin drei Schritte zur Seite und atmete tief ein. Hustete, lächelte entschuldigend als Antwort auf den kritischen Blick einer alterslosen Frau. Die Haut ihrer Wangen war so straff wie ein frisch aufgezogenes Spannbettlaken. Sie schlug den Kragen ihres Pelzmantels hoch und stöckelte davon. Unter der Glasdecke des Einkaufszentrums sirrte und brummte es. Schellen klirrten. Weihnachtsmänner leierten ihr Ho-Ho-Ho. Lichterketten blinkten. Deos und Parfums mischten sich mit dem Geruch verbrannter Mandeln. Preisschilder schrien neongrün und pink aus den Schaufenstern. Ein Athlet in Jogginghose hechelte an Alwin vorbei, stolperte, krachte mit ausgestreckten Armen auf den Boden. Mit beiden Händen umklammerte er Taschen, die das Gepäck für eine Reise nach Übersee fassen konnten. Paare, Singles, Kinderhorden wogten. Alwin taumelte, blickte sich um. Da waren sie, die sieben Massagesessel. Alle besetzt, besser: belegt. Leblose Leiber lümmelten sich auf dem geschundenen Kunstleder. Familienväter mit Einkaufstüten von Mode-Discountern zu ihren trommelnden Füßen.
Alwin Blick wanderte über das Weihnachtschaos. Er atmete schwer. Seine Kopfhaut juckte.
„Gehörst Du noch dazu, Alter? Wohl nicht!“, murmelte er, ohne seine eigene Stimme zu hören. „Möchtest Du wieder volles Haar und pralle Tüten tragen?“ Eine Minute stand er so da. Verharrte. Dann schüttelte er den Kopf und ein Lächeln glättete seine Gesichtszüge. Ihm war, als nehme ihn seine Frau in den Arm. Wärme floss in seinen Bauch, es prickelte in seiner Brust. Die Lichter um ihn herum glänzten weihnachtlich, die Musik hüllte ihn ein. Er setzte einen Fuß vor den anderen. Mit ruhigen Schritten schlug er den Weg zum Westflügel ein.

Alwin schob den Jackenärmel höher, sah auf die Armbanduhr. Das Ziffernblatt glänzte im goldenen Licht des Firmenschildes. „Juwelier Christmann“ sparte nicht an Strom. Drei vor vier. „Na, klappt doch!“, dachte Alwin. Die Automatiktüren glitten zur Seite und er betrat den leeren Laden.
„Herr Schubert, stimmt´s?“ Die Dame hinter dem Verkaufstresen räusperte sich mit verkniffenen Lippen.
„Ja, Alwin Schubert. Ist der Ring für meine Frau fertig?“, fragte Alwin mit samtweicher Stimme.
„Wir haben ihn auf Größe 52 gebracht.“ Die Verkäuferin zog die Schublade unter dem Ladentisch auf. Sie wischte den Samthandschuh beiseite, nahm den Ring aus der Schatulle. Er strahlte.
„Ein herrliches Stück, 585er Gold, lupenreiner Stein, 1 Karat. Das muss Liebe sein!“ Alwins Blick funkelte mit dem Brillanten um die Wette. Die geröteten Augen der Verkäuferin schlichen zur Wanduhr.
„Bezahlt ist ja bereits. Sie verpacken das Geschenk selbst?“ Sie reichte ihm den Ring in dem rubinfarbenen Kästchen. „Das ging ja noch einmal gut, so kurz vor Ladenschluss. Ich muss schon sagen, Sie haben Nerven an Heiligabend!“
„Nerven? Erfahrung! Dies ist mein siebzigstes Christfest, da lernt man, wie es im Leben am besten geht: Immer mit der Ruhe. Und Weihnachten ganz besonders!“

Alvin steuerte aufs Treppenhaus zu. Die Massagesessel zitterten. „Freut euch auf Weihnachten 2057! Dann erwartet euch ein schönes Geschenk!“, rief er den Mittdreißigern zu. Leere Blicke trafen ihn. Alwin spitzte die Lippen. „Fröhliche Weihnacht überall“ pfeifend ließ er sich von der Rolltreppe zum Parkdeck tragen.

Eine kleine „nachweihnachts“ Geschichte…

Der kleine Jänwaar…

Jänwaar lief mit schleifenden Füssen durch die Gassen. Er schlenderte richtung Altstadt. Langsam wurde es dunkel und immer mehr Weihnachtslichter erleuchteten seinen Weg. Alles war, wie jedes Jahr, wunderschön geschmückt und die kleinen Kinder klebten ihre Nasen an die Vitrinen der Spielwarengeschäfte.Fasziniert sahen sie dem bunten Treiben der Animationen hinter den Glasscheiben zu…
„Dezember!“ , grummelte Jänwaar vor sich hin…„Dezember Dezember Dezember!Alles dreht sich immer nur um Ihn! Die Menschen freuen sich… Ja! Sie wünschen sich sogar Schnee und Kälte herbei! Es wird gebastelt, gebacken und geschmückt…und kaum sind die Festtage vorbei?
Ja, da schauen sie auf das zurückgelassene Chaos im Wohnzimmer zurück und beginnen zu pusten… Pffff… Oh je … schon vorbei! Die Zeit geht einfach viel zu schnell…
Sie geben sich dann noch etwas Mühe, räumen alles auf, weil ja noch der fröhliche Silvester vor der Tür steht …Aber am ersten Januar … Da ist es definitiv vorbei! Sie sind müde, geschafft und pleite!
Da hocken sie nun, mit vollen Bäuchen auf ihren Sofas und jammern…“Ach es war einfach zu viel…Ach , jetzt kommt ein strenger Monat …Diät, Geld ist alle, wieder arbeiten gehen ,…Sie haben dafür sogar einen Namen: Das JANUAR LOCH!“
….und weiter stöhnen sie: „ach wäre der Schnee doch bloß schon weg! Und jetzt wird’s auch nochmal richtig kalt!“…
Und die gute Vorsätze? Na ja; Ihr kennt das schon…spätestens am Zehnten des Monats, sind sie vergessen …

Jänwaar schaut sich um . Eine kleine Träne kullert wie von selbst seine Wange herunter… Aber trotz dem ganzen Elend das er gerade fühlt, hat er ein Ziel…

Da vorne ist sie: Die Altstadt! Eine kleine Gasse, schlängelt sich, auf der einzigen Wölbung der Stadt, nach oben. Dort, ganz ganz am Ende der Straße die eine Sackgasse ist, befindet sich oben auf dem Hügel ein kleines, uraltes Häuschen. Es thront dort oben, mitten auf der Erhöhung, und ein diskretes schimmerndes Licht scheint aus seinen Altglas Fenstern…

Dort will Jänwaar hin…Plötzlich wird er wieder ein wenig fröhlicher und läuft etwas zügiger …Als er die kleine antike Mercerie erreicht, hält er kurz inne und öffnet dann vorsichtig die Tür …Staunend steht er erst mal da und schaut sich um…: „woaw“ denkt er sich … „ Wunderbar, wie immer“
Der kleine Laden ist vollgepackt mit vielen, wunderschönen Objekten. Da gibt es allerlei, doch jetzt kurz vor Weihnachten sind auch schon viele kleine Lücken auf den Gestellen. Manche Kenner hatten, wie jedes Jahr, das kleine Geschäft regelrecht bestürmt, denn sie wussten, dort gibt es noch das Ursprüngliche, das Schöne, das Handgemachte…
Die nette alte Dame, der dieser kleine Ort gehörte,wusste dass ganz genau. Sie bastelte, nähte und häkelte das ganze Jahr hindurch, für diese eine Zeit, im Dezember…denn nur dann hatte sie geöffnet.
Nicht nur von ihr, selbstgemachtes, fand man dort…Auch viele schöne Objekte aus aller Welt, trug das Weiblein, das ganze Jahr hindurch zusammen. Sie wusste dass die große Stadt, vielen Menschen anderer Kulturen ein Zuhause ist. Sie mochte es, dass jeder sich wohlfühlt und in der Weihnachtszeit ein kleines Stück „Zuhause“ bei ihr finden konnte…

„Aber wo ist sie denn?“ …“Wer? Na die nette alte Dame!"
Jänwaar suchte mit seinen glitzernden kleinen Augen den Raum ab… Da!
Da hinten brennt ein licht. Da sitzt sie, wie immer ganz konzentriert und andächtig vor sich her summend, mit ihrer runden Brille mit dicken Lupengläsern …Sie näht gerade die letzten Stiche eines kleinen Stoffsäckchen zu ende…

„Da bist du ja endlich“…Sie schaute kurz auf und ihre Schalk erfüllten Augen blickten den kleinen Jänwaar direkt an …„Ich hatte dich zwar früher erwartet, war aber schlussendlich froh, dass ich noch die angefangene Arbeit beenden konnte“.

Sie stand auf , öffnete ihre Arme und Jänwaar eilte zu ihr, um sie liebevoll zu umarmen. „Komm“ sagte sie…“gehen wir nach hinten etwas Warmes trinken…Ich denke ich habe dieses Jahr eine kleine Überraschung für dich“.
Jänwaar’s verschmitzter neugieriger Blick, schaute auf sie herauf… Ein breites Lächeln zierte nun sein vorhin noch so trauriges Gesicht, den er freute sich! Die heiße Schokolade und das Weihnachtskonfekt seiner alten Freundin schmeckten einzigartig!

Da saß er wieder, wie an jedem Jahresende, in der warmen alten Küche, ganz hinten im Laden…Er aß, trank, und schüttete dabei sei Herz aus…Er erzählte wie sehr er sich wünschte, dass die Menschen auch einmal ihn anerkannten:
„Auch der Januar kann schön sein“, jammerte Jänwaar… „Wieso sehen das die Menschen nicht? Ich bringe auch warme Suppen und auch oft, viel mehr schöner weißer Schnee! Ich bringe Ruhe und Einkehr in die warmen Häuser …und, ich hab die edlen Drei Könige…Sie sind doch auch nette Gesellen! Kein Geld mehr haben heißt doch schließlich nicht…“

Jänwaar! unterbrach ihn die alte Freundin, freundlich aber resolut…
„Ich weiß das doch Alles…ich kenne dich nur zu gut …Ich weiß wonach du dich sehnst… und deshalb habe ich mir dieses Jahr etwas ausgedacht… Doch du musst mir jetzt noch helfen…Wir beenden das zusammen… Schließlich weißt du am besten, was du alles zu bieten hast“, lächelte sie ihn an.
Sie entnahm aus ihrem Korb eine lange Schlange an kleinen Umschlägen, die sie mit einer Schnur verbunden hatte. „Gefüllt mit kleinen Geschenken sind sie schon“, meinte sie dazu…“Aber ich möchte jetzt, dass du mir zu jedem Tag eine Kleinigkeit nennst, die dich ausmacht…Ich mache mir Notizen dazu…

Jänwaar schaute sie interessiert an ….

„Dann, wirst du dir zwei junge Menschlein aussuchen; ein Junge und ein Mädchen…Wir müssen dieses Jahr herausfinden, ob meine Idee auch gefällt… Zwei sind auch überschaubar, und so kannst du dann in aller Ruhe beobachten, ob mit unserer Überraschung, Freude bei Ihnen einkehrt“

„Ja …! Los!!!“, rief Jänwaar euphorisch…“Ein toller Plan!"

Da saßen sie nun, als die zwei Freunde die sie schon immer waren, und entwarfen ihr neues Projekt im Kerzenlicht…“Denn Kerzen“, sagte die alte Dame immer… „Kerzen , haben eine schöne, sanfte, kreative Kraft …und sie Duften auch so schön nach Honig“…

So meine Lieben…und das, was ihr jetzt vor euch habt, dass kam dabei heraus… Ein „Januar“ Kalender!

Jänwaar wünscht euch viel Freude damit …und dass ihr mir ja eure kindliche Seele mitspielen laßt…Denn die Leichtigkeit und die Freude sind es, was sich der kleine Jänwaar für euch wünscht!

In Liebe…

……Der kleine Jänwaar ……:relaxed:

Der allerletzte Weihnachtsbaum

Ich hatte abgeschworen! Keine Beteiligung am Konsumwahn!
Sollten sich doch alle anderen in die Bresche werfen, sich verausgaben und diesem unsäglichen Kitsch frönen. Ich wollte mich da raushalten. Mein Sohn war erwachsen, der brauchte auch keinen Tannenbaum mit Glöckchen und Kugeln und Kettchen.
Aber manchmal ändert sich alles schlagartig. Kennt man ja. Man fährt einkaufen, sieht den Trubel und denkt: Na, macht mal, viel Spaß beim Stressen.
Wie immer zog ich am letzten Tag vor Heiligabend los, um Lebensmittel zu kaufen. Der Mensch muss essen, auch zu Weihnachten. Mein Sohn wollte mir helfen. Vor dem Supermarkt gab es einen Verkaufsstand für Weihnachtsbäume. Ich grinste. Was da noch lag an Bäumen, sah richtig übel aus.
„Wir könnten noch einen retten!“, sagte mein Sohn.
„Dein Ernst?“, fragte ich.
„Klar! Los, lass uns mal gucken!“
Wir gingen auf den Platz und betrachteten die, die keiner haben wollte.
„Guck mal den, der sieht ja furchtbar aus!“
„Genau! Den nehmen wir mit!“ Mein Sohn hatte schon den Stamm fest gepackt. Wir bezahlten ihn und dann fiel uns ein:
„Upps, haben wir überhaupt Weihnachtsbaumschmuck?“ Mein Sohn sah mich an.
„Komm, lass uns in den Baumarkt gehen. Mal sehen, was die so haben!“ Langsam begann es, Spaß zu machen.
Im Baumarkt war man dabei, die Weihnachtsdekoration ins Lager zu bringen. Wir waren eindeutig zu spät dran. Eine Verkäuferin, die wir nach Kugeln und einer Lichterkette befragten, rief einen Kollegen herbei.
„Ist alles schon im Lager! Na, kommt mal mit, ihr zwei.“
Wir folgten dem Mann. Ohne große Umstände zu machen, wählten wir einen Karton mit blauen Kugeln und eine Lichterkette, bedankten uns, bezahlten und wünschten den Mitarbeitern ein schönes Fest.
Wir mussten lachen auf der Heimfahrt. Ich am meisten über mich. War ich doch schwach geworden!
Das hässliche Bäumchen sah dann geschmückt bezaubernd aus. Wir hatten neben unserem Weihnachtsbaumständer auf dem Dachboden auch noch ein Kästchen mit Strohsternen gefunden.
Ich dachte, dass wir eigentlich ein gutes Werk vollbracht hatten: Ein Bäumchen war nicht umsonst gefällt worden. Das war doch entscheidend, oder?

23.12.2022
© Katrin Streeck

mittwinterstill …

… bin ich zuhaus.

Der Küchenwecker tickt
ganz leise vor sich hin

und ich genieß’ das Grün
der Tannenzweige auf dem Tisch.
Den Glühwein hab’ ich längst entsorgt
vor Jahren schon
die Whiskyflasche weggekorkt,

'ne Tasse Kaffee duftet
zu 'nem Stück Blätterteigkonfekt -
oh Mann, das schmeckt.

Der kleine Paul und der Engel

Mutter rührte Teig.

Sie saß auf ihrem alten Küchenstuhl. Die breite Kittelschürze verhinderte, dass die Schüssel zwischen ihren Beinen durchrutschte. Mehl und Eier waren schon darin und gerade begann sie, einen dicken Würfel Margarine mit dem Rührlöffel zu zerstoßen, um das Fett unter das Mehl zu heben.

Ich saß am Tisch vor einem großen Blatt Papier. Alle meine Buntstifte lagen quer über dem Tisch verteilt.

Es war schwierig, mit einem weißen Stift auf dem hellen Papier zu malen. Es wollte und wollte nicht gut genug gelingen. Also wählte ich ein sehr helles Blau und malte in der weißen Fläche mit dünnen Strichen die Konturen eines Mannes.

Daneben befand sich schon eine Badewanne, aus der ein kleiner runder Kopf mit großen Augen schaute. Die Augen blickten mich an, aber auch diesen hellen Mann. So deutlich war das nicht zu unterscheiden.

Oben im Bild, zwischen dem Mann und der Wanne, war leerer Raum.

»Mama, wie schreibt man ICH?«

Meine Mutter rührte und rührte, und sie antwortete beiläufig, ohne den Blick von der Schüssel zu wenden: »Iii, Cee, Haa. Wozu willst du das wissen?«.
»Mein Bild heißt so,«, antwortete ich, »und ich will das dahin schreiben.«

Ich wusste längst, dass die Erwachsenen Wörter, die sie redeten oder dachten, auch schreiben konnten. Diese Wörter konnte man dann lesen und wieder neu denken oder sprechen. Das faszinierte mich. Ich ärgerte mich darüber, dass mein Vater sich weigerte, mir Lesen und Schreiben beizubringen.
»Du kannst schon rechnen.«, sagte er, wenn ich ihn bat. »Willst du dich in der Schule völlig langweilen, wenn es so weit ist?«.

»Wie schreibt man Iiii, Ceee, Haaaa, Mama? Kannst Du mir es hier aufschreiben?«

Mutter hielt inne. Der Rührlöffel kam zur Ruhe. Sie stellte die Schüssel zur Seite.

»Was malst du denn da?«, fragte sie und beugte sich über mein Bild.
»Einen Engel, Mama.«, sagte ich.
»Einen Engel?«, fragte sie.
»Ja.«, sagte ich.
»Aha!«, sagte sie.
»Und das daneben?«, fragte sie.
»Das bin ich.«, sagte ich. »Ich sitze in der Badewanne.«
»Und was macht der Engel da?«, fragte sie.
»Der hat mich besucht, als ich vorhin gebadet hatte.«, sagte ich.

Kann sein, dass dies in der Adventszeit geschah und der Teig für Weihnachtsplätzchen vorgesehen war, aber vielleicht auch zu Ostern oder Pfingsten – so genau erinnere ich mich nicht. Könnte man annehmen – wegen des Engels. Wichtig ist das allerdings nicht.

Vermutlich war es einfach ein Samstagabend, denn während Mutter die ersten Vorbereitungen für den Sonntag traf, wozu das Backen eines Marmorkuchens oder eines Streuselkuchens gehörte, wurden wir Kinder der Reihe nach in die Badewanne gesteckt. Gerade saß mein Bruder drin. Die Türen standen in der kleinen Wohnung offen und aus dem Badezimmer drangen quietschende, platschende und blubbernde Geräusche.

»Ein Engel hat dich besucht?«, fragte meine Mutter.
»Ja.«, sagte ich.
»Siehst du? Er redet mit mir.« Ich zeigte auf das Bild.
»Und hat der Engel auch einen Namen?«, fragte sie.
»Ja,« sagte ich. »Er heißt ICH.«


Der kleine Paul war ein Träumer.
Paul war neugierig, und Paul wollte so viel wissen. Er ging noch nicht zur Schule, aber er konnte Schach spielen, er konnte rechnen, und er kannte die Uhr. Doch je mehr er lernte, desto mehr Geheimnisse taten sich für ihn auf. Das größte Geheimnis war für ihn in jenen Tagen die Zeit.

Ja, er kannte die Uhr und er konnte zuverlässig ablesen, wie spät es jeweils war. Aber genau das sorgte dafür, dass die Zeit für ihn zu einem großen Geheimnis wurde. Manchmal wollte sie nicht verstreichen, die Zeiger bewegten sich nur langsam und behäbig. Ein anderes Mal müssen sie geradezu gerast sein. Er hatte das zwar nicht beobachten können, aber die Zeit verging so schnell, sie flog nur so dahin.
Was ist es, das die Zeit mal langsam und mal schnell vergehen lässt? Paul wusste keine Antwort.

Paul lag in der Wanne. Das warme Wasser bedeckte ihn fast völlig. Nur sein kleiner Kopf blieb über der Oberfläche. Dicke Schaumkronen trieben auf dem Wasser, deren winzige Bläschen nach und nach mit prickelnden Lauten platzten.

Paul träumte.
Er war weit weg im Land seiner Träume, das er so gerne bereiste. Hier traf er all die Menschen, Tiere und Geister, die Geschöpfe aus den Geschichten und Märchen, die ihm seine Mutter vorlas. Hier segelte er über die Meere und besuchte fremde Länder. Hier konnte er viele Fragen stellen und Dinge entdecken, die er so noch nie gesehen hatte.

Paul döste und träumte.
Auf einmal wurde es sehr hell um ihn herum. Der Raum verschwamm, die Konturen lösten sich auf, der Boden verflüssigte sich und die Wände schmolzen. Pauls Wanne schwamm in einem Meer aus Nichts.

Paul erschrak sehr. Große Furcht überfiel ihn. Ängstlich klammerte er sich an den Rand der Wanne. Mit großen Augen blickte er in die gleißende Helligkeit. Aber er spürte nichts, es tat nicht weh, er hatte keine Schmerzen. Er suchte etwas, woran sich sein Blick festhalten konnte, doch außer endloser Weite und hellem Licht war da nichts.

»Hallo Paul!«, hörte er eine Stimme.

Der kleine Paul erschrak noch mehr. Fast erstarrt, wagte er kaum, zu atmen.

»Hab keine Angst, Paul. Ich bin es nur.«
Die fremde Stimme war ihm plötzlich ganz nah und gar nicht so fremd. Kannte er sie schon aus anderen Träumen?
»Sieh dich um, Paul. Hier ist nichts, wovor du dich fürchten musst.«.

Die Zeit verstrich. Endlich verflog die Starre aus Pauls Gliedern und aus seinem Kopf.

»Wer bist du?«, fragte der kleine Paul.
»Ich bin ICH«, sagte die Stimme.
»Eigentlich bin ich dein ICH.«, fuhr sie fort. »Aber das ist ziemlich kompliziert. Vielleicht ist es einfacher, wenn du dir vorstellst, ich bin ein Engel.«
»Du bist ein Engel?«, fragte der kleine Paul.
»Ja.«, sagte die Stimme.
»Du bist ein Schutzengel wie in den Geschichten, die mir Mama vorgelesen hat?«, fragte Paul.
»Nein.«, sagte die Stimme. »Kein Schutzengel. Ich bin eher, sagen wir mal: ein Begleiter. Und vielleicht bin ich hier und da so etwas wie ein Lehrer.«
»Ein Lehrer?«, fragte Paul.
»Ja.«, sagte die Stimme.
»Aber ich gehe doch noch gar nicht in die Schule!«, rief Paul.
»Ich bin ja auch kein Schullehrer.«, antwortete die Stimme. »Ich lehre dich, zu leben. Ich helfe dir dabei, die Geheimnisse des Lebens zu ergründen. Gemeinsam werden wir rausfinden, was Recht und was Unrecht ist, was Gut und Böse unterscheidet. Ich werde mit dir üben, mit den Fröhlichen zu lachen und mit den Traurigen zu weinen.«

Die Stimme hielt kurz inne und fuhr fort: »Ich werde dir Ruhe geben, wenn du Ruhe brauchst – aber nur, wenn du auf mich hörst. Und ich werde dein Gemüt erhitzen, wenn dein Eifer nötig ist. Ich bin da, immer. Aber ganz besonders dann, wenn du mich brauchst, wenn dein ICH wichtig ist.«

Paul hörte ganz genau zu. Aber so sehr er sich auch mühte, er verstand kaum etwas von dem, was ihm der Engel da erzählte. Aber er spürte wohlige Wärme. Ein unbeschreibliches Gefühl machte sich in ihm breit. Es war eine Mischung aus Glück, Zufriedenheit und Zuversicht.

Der kleine Paul hatte ein neues Geheimnis ergründet: Er fühlte sein ICH. Er ahnte vage, dass er noch vieles erleben, entdecken und ergründen würde, und dass ihn sein ICH dabei stets begleiten würde.

Mutters Stimme drang aus der Küche ins Bad: »Paul! Sitzt du noch immer in der Wanne? Mach hin, dein Bruder muss auch noch rein!«

Paul erwachte aus seinem Traum. Mit prickelnden Geräuschen nahm das Badezimmer wieder seine vertraute Gestalt an. Die weißen Schaumkronen hatten sich fast völlig aufgelöst.

»Das muss ich malen!«, sagte Paul zu sich selbst und beeilte sich, aus der Wanne zu kommen.


Mutter schaute mich mit großen Augen an. Sie hatte den Teig völlig vergessen, während ich ihr von der Begegnung mit dem Engel erzählte, der ICH heißt.

Heute, viele Jahre später, weiß ich, dass sie damals sehr erstaunt darüber war. Sie hörte zu, sie schaute auf das Bild und sie schaute auf mich. Ich bin mir sicher, dass damals diese wenigen Minuten für sie sehr langsam und doch viel zu schnell vergangen sind. Sie fand die Zeit, jede Bewegung meiner kleinen Finger und Hände, mit denen ich auf das Bild deutete, jedes Öffnen und Schließen meiner Lippen, jedes Hin und Her meiner Augen, die euphorisch gestrahlt haben mussten, aufzusaugen und zu genießen. Und doch verging wohl für sie alles viel zu schnell.

»Ja, Paul!«, sagte sie, als ich endlich fertig damit war, zu zeigen, zu erzählen, zu berichten.
»Behüte dein ICH und es wird dich behüten. Gib ihm Raum, sich zu entfalten. Auch ich will dir dabei helfen. Obwohl ich kein Engel bin.« Mutter lächelte.

Sie nahm einen Stift und mit großen Buchstaben schrieb sie für mich zwischen dem Engel und dem kleinen Paul in der Wanne: ICH.

Sie strich mir liebevoll lächelnd mit mehliger Hand übers Haar, bevor sie sich wieder um ihren Teig kümmerte. Ab und zu blickte sie zu mir rüber. Ihr Gesicht war dabei so hell und klar, und wenn sie sprach, war ihre Stimme so ruhig, dass sich das Bild und der Klang dieses Augenblicks für immer in mein Gedächtnis brannten.

Meine Mutter ist längst verstorben. Nun ist es mal wieder Weihnachten und jetzt ist es wichtig. Denn ganz oben an der Spitze unseres Weihnachtsbaums thront ein Engel.

Manchmal, wenn ich auf diesen Engel blicke, kommt ein wenig Wehmut auf. Die Zeit meiner Kindheit, die Zeit mit meiner Mutter, sie raste dahin.
Das Geheimnis der Zeit bleibt ungelöst.

Doch die Wehmut weicht der Dankbarkeit. Denn in einer Sache hatte meine Mutter Unrecht: In meiner Erinnerung war sie ein Engel. Einer jener wichtigen Engel, die mein ICH begleitet haben.
Der Klang ihrer Stimme ist da, immer wenn mein ICH sie braucht.

Und dann höre ich auch die Stimmen aus dem Land meiner Träume wieder. Ab und zu kehre ich dahin zurück, träume und finde die Ruhe, die das Rasen der Zeit ein wenig verlangsamt.

Weihnachten abgeschminkt

Ein ohrenbetäubendes Gebrüll ertönt, dann ein leises Wimmern. Gitta sitzt mit zusammengezogenen Knien vor dem Sofa. Die Tränen fliessen an ihren Wangen hinunter, aber sie bemerkt sie nicht. Was waren das für Geräusche? Sie klangen, als wären sie unendlich weit weg. Es waren Schreie aus ihrem Herzen. Sie kann es nicht glauben. Ein Lächeln breitet sich auf dem tränenverschmierten Gesicht aus. Es hat etwas Skurriles an sich. Kleine schwarze Linien, mal dicker, mal dünner, die sich unterhalb der Augen Richtung Hals ausbreiten. Das Makeup löst sich auf, auch die Fassade, die sie wie jedes Jahr über drei Tage, vielleicht auch über mehrere Wochen, aufrecht erhalten hat. Es fühlte sich an wie ein Urknall, mit einem lauten Schrei brach alles aus ihrem Inneren heraus.

Und das tut so gut. Jetzt wo alles vorbei ist. Sie erinnert sich…

Wie jedes Jahr zu dieser Zeit ist es ein endloses Hetzen, ein Hindurchschieben durch ein Gewimmel von Menschenkörpern, deren Seelen im Stress unsichtbar bleiben. Kaum ein Lächeln, außer das aufgesetzte Getue der Verkäuferinnen, die ihr noch ein Zusatzprodukt aufschwatzen wollen. Die letzten Kleinigkeiten liegen in ihrem Einkaufswagen. In der Schlange vor der Kasse stehend registriert sie, dass sie bereits jetzt schon zu spät dran ist. Sie kann die Gesichter ihrer Lieben vor sich sehen, die Enttäuschung, dass sie nicht alles besorgt hat, nicht jeder Wunsch erfüllt wird. Oder ist es der Überfluss, der ihrem Mann nicht bewußt ist und die Kinder völlig überfordert? Aber es ist doch Weihnachten, und auch Gitta möchte die Menschen, die ihr lieb und vor allem teuer sind, glücklich sehen. Aber wie kann das gehen? Heute, in diesem reichen Land welches wir Heimat, andere Zuflucht oder Deutschland nennen. Ihre Gedanken, so erinnert sie sich jetzt, begannen in diesem Moment sich zu drehen, zu verdrehen, ineinander zu verhaken, sodass sie nicht einen einzelnen davon aus dem Knäuel herausziehen konnte, um ihn genau betrachten und etwas verändern zu können.

In ihren Gedanken kommt Gitta noch einmal die Einfahrt hoch, bepackt mit Tüten und Päckchen, bepackt mit Ballast, der ihr zu viel zu werden droht. Was ist nur los mit ihr? Kann sie sich nicht einfach zusammenreißen? Doch sie kann.

Sie bereitet das Weihnachtsessen vor, bittet ihren Mann den Weihnachtsbaum aufzustellen und die Kinder um Hilfe beim Schmücken. John kann den Christbaumständer nicht finden, also läuft sie selbst die Treppen hinauf zum Dachboden und kramt ihn aus der Ecke, in der dieser seit fast 20 Jahren steht. Noch einmal bittet sie Lisa und Leon, den Baum zu schmücken. Die beiden Kinder lümmeln gemütlich auf der Couch und daddeln auf ihren Handys herum. Die Stimme der Mutter nehmen sie nicht wahr.

Wie schön das früher war, denkt sie, als die Kinder noch klein waren und wir mit einer Kanne Kakao am alten Küchentisch saßen, die selbstgebackenen Weihnachtsplätzchen probieren durften und jeder etwas zu erzählen hatte. Die Aufregung der Kinder konnte man wie ein Knistern in der Luft spüren. Alles war geheimnisvoll und besonders. Ab und zu konnte man von draußen Glockchenläuten vernehmen, viele Erwachsene versteckten sich hinter Häuserecken, um das Christkind anzukündigen und das Leuchten in den Kinderaugen noch größer zu zaubern. Ab und an waren schwere Schritte zu hören, wenn die letzten Weihnachtsbäume über die liebevoll beleuchteten Bürgersteige gezogen wurden, oder waren es die Geräusche der fleißigen Helfer des Christkindes? Die Haustüren waren mit echten Tannenzweigen dekoriert und in den Wohnungen mischte sich der Duft von Tannengrün und Kerzenwachs. Alles war so heimelig. Am Abend sah man bei den Nachbarn vorbei und sammelte die Menschen ein, die sonst den Heiligen Abend alleine verbracht hätten. Niemand durfte an so einem Abend alleine bleiben. Es wurde gefeiert und gelacht und es war immer ein Platz am Tisch frei, man konnte ja nie wissen, wer noch kommen wollte.

Diese Erinnerungen wärmen Gitta das Herz. Doch dann fallen andere Gedanken nach vorne, landen genau am heutigen Nachmittag des Holidays. Fast muss sie sich übergeben, als die Bilder der kleinen Katastrophe sie übermannen. „Das ist kein Weihnachtsfest mehr“, hört sie sich rufen, „das ist eine Farce, eine Veranstaltung, bei der ich nicht mehr mitmachen möchte. Ich finde das alles nur noch zum Kotzen.“ John und die Kinder schauen sie an, als wäre sie verrückt geworden. „Habt ihr denn gar nichts kapiert von dem was ich gesagt habe? Spreche ich eine andere Sprache als ihr, oder wollt ihr nicht verstehen?“ hört sie sich fragen. - Keine Antwort. Sie springt auf, öffnet die Wohnzimmertür und befördert ihre Familie mit barschen Worten aus dem Zimmer. Oh Wunder, stumm verläßt diese den Raum. Liegt das an Weihnachten oder an Gittas hysterischem Anfall? Sie setzt sich auf das Sofa und versucht sich zusammenzureißen. Gerade hat sie ihrer Familie von der syrischen Familie aus dem abbruchreifen Haus an der Ecke erzählt. In deren Wohnung ist heute nachmittag das Heizungsrohr in der Küche geplatzt, hat diese unter Wasser gesetzt und die vorbereiteten Speisen ruiniert. Jetzt sitzt Familie Abdel mit Wolldecken im kalten Wohnzimmer. Wie aus einem Reflex heraus hatte Gitta Wael, seine Frau Razan mit ihren drei kleinen Kindern eingeladen, das Weihnachtsfest bei ihr und ihrer Familie zu verbringen. Und jetzt darf sie von ihrer Familie erfahren, dass diese gerne in Ruhe essen und einen Film schauen möchte, da wäre so ein fremdländisches Gequassel doch sehr störend. Ticken die denn noch ganz richtig? Gitta atmet tief ein und aus und langsam beruhigt sie sich wieder. Sie versucht, ihre Lieben zu verstehen und doch möchte sie nicht aufgeben. Sie weiß, wenn sie noch einmal ruhig ihre Sichtweise erklärt, wird ihre Familie sie verstehen und vielleicht auch unterstützen.

Sie wischt sich das verlaufene Makeup aus dem Gesicht und beginnt, den Baum zu schmücken. Sie zündet die elektrischen Kerzen mit der Fernbedienung an und geht leise in die Küche. Ohne ein Wort bereitet sie eine Kanne Kakao zu, holt die Weihnachtskekse aus dem Versteck und stellt sie auf den Tisch. Gitta findet die verloren geglaubten Worte wieder und bittet ihren Mann und die Kinder sich mit ihr an den Küchentisch zu setzen.

Sie beginnt zu erzählen. Von früher, als Weihnachten noch anders war. Und jeder in der Küche kann ihn spüren, den Geist der Weihnacht.

Gitta endet mit den Worten, was für sie Weihnachten bedeutet:

„Weihnachten ist Musik von der Stillen und Heiligen Nacht, und auch ein liebevolles Wort und ein offenes Ohr.

Weihnachten ist ein festlich gedeckter Tisch mit Kerzen und Tannengrün, an dem es für JEDEN einen Platz gibt.

Weihnachten sind leuchtender Schmuck und ein riesengroßes Herz in dem es Raum für ALLE hat.

Weihnachten ist wie eine Umarmung der ganzen Welt.

Weihnachten geht nur zusammen.“

John, Lisa und Leon sind ganz still.

Es klingelt, alle springen auf, jeder möchte als Erster an der Tür sein, um sie für die Fremden zu öffnen.

Gitta lächelt glücklich. Das ist Weihnachten.

Gänsebraten Marina

Fließendes Wasser und Duschen für fast alle gibt es noch nicht sehr lange. So vor Hundert Jahren ging das erst los. Vorher hat man sich kaum gewaschen und wenn dann mit einer Schüssel. Dazu gab es noch einen Waschwasserkrug. Ein Relikt dieser Waschprozeduren waren sogenannte Waschhocker. Ein kleiner Hocker, wo man den Sitz hochklappen konnte und darunter befand sich eine rechteckige Emaille Schüssel und manchmal auch eine Vorrichtung, wo sich die Seife, oft ein Stück Kernseife befand. So ein Ding aus dem Anfang der fünfziger Jahre schleppen Klaus und Jana Bölcke aus dem Haushalt der einen Oma mit in ihre neue Wohnung in Halle Neustadt kurz vor Weihnachten 1969. Beide haben jung ein Jahr vorher mit 18 geheiratet und von Gänsebraten braten absolut keine Ahnung. Im Kinderzimmer kräht ein 2 Monate alter Säugling und in der Küche liegt eine 3 Kilo Mastgans aus Polen.
Aber nun mal noch eine Weile mit dem Waschhocker weiter. Der war nämlich ganz praktisch. Manchmal, wenn ich beiden Bölckes besuchte, saß Rainer vor dem Fernseher und badete seine schwarzen Füße. Die Füße waren oft schwarz, weil er als Dreher in Leuna Graugussteile drehte und schwarzer Graphitstaub seine Füße schön gleichmäßig schwärzte. Erst nach einem halbstündigem feierabendlichen Fußbad vor dem Fernseher konnte man das Zeug mit einer Wurzelbürste ab schrubben. Das geschah in der rechteckigen Waschschüssel, welche dazu einfach aus dem Hocker entnommen wurde. Und da beide keine Waschmaschine hatten, wurden anschließend die vollgekackten Windeln von ihrem kleinen Scheißer in der Waschschüssel auf dem Gasherd gekocht. Das war praktisch, denn der Hocker stand immer in einer Ecke der kleinen Einbauküche.
Eine große Bratschüssel befand sich nicht in ihrem Haushalt und da war beim ersten Gänsebraten im gemeinsamen Haushalt die rechteckige Schüssel auch außerordentlich geeignet.

Wie gesagt von Gänsebraten hatten beide keine Ahnung und ein Kochbuch hatten sie auch nicht. Also wurde mit der Gans auch 3 Würfel Marina Margarine im Konsum gekauft und die 3 Margarinewürfel landeten mit 2 Äpfeln und 10 Zwiebeln in der Emaille Schüssel. Diese Kalorienbombe schoben sie dann am 25. Dezember früh um 7 in die Bratröhre.

Ich war mit meiner Frau von beiden zum Gänsebraten eingeladen. Wir waren gegen 12 Uhr pünktlich da und wickelten eine Flasche Wein aus dem Weihnachtspapier.

In diesem Moment gab es in der Küche eine Explosion und vor uns auf dem Flur lag eine leichenblasse zerfetzte polnische Mastgans und eine schwarzbraun randige Waschhockerschüssel. Das Nachfragen brachte die Ursache zu Tage. Klaus hatte irgendwo mal gehört, das Speisen, welche mit Alkohol übergossen wurden, besonders gut schmecken. Also hatte Klaus eine halbe Flasche 60 Prozentigen Deputat Schnaps auf die Gans geschüttet. Der Alkohol war verdunstet und irgendwann beziehungsweise als wir den Wein auswickelten machte es Bummmmm!

„Die schöne, schöne Margarine“ sagte erschrocken Jana stolz. „Extra 3 Würfel Margarine“ hätte sie zum Braten der Gans genommen „damit sie schön zart wird“.

Inzwischen war auch die Feuerwehr eingetroffen, welche besorgte Nachbarn fernmündlich bestellt hatten und lauschten andächtig dem Rezept. „3 Würfel Margarine,2 Äpfeln und 10 Zwiebeln und eine halbe Flasche Kumpeltod“.

Die Feuerwehrleute hatten Tränen vor Lachen in den Augen. Inzwischen ist Jana in der Küche auf der Gänse-Margarine Schmiere ausgerutscht und hat sich den linken Arm gebrochen. Dem Roten Kreuz Sanitätern wurde dann das Rezept auch noch einmal erzählt. „3 Würfel Margarine,2 Äpfeln und 10 Zwiebeln und eine halbe Flasche Kumpeltod“.

Klaus ist mit Jana ins Krankenhaus gefahren und wir haben den Wein und das Baby mit nach Hause genommen und haben uns 2 Eier in die Pfanne gehauen. Ohne Äppel, ohne Zwiebeln ohne Margarine. Als wir die Spiegeleier verputzen, schrie das Baby wie am Spieß. Es war nichts passiert. Die Windeln vom Baby Marina waren voll.

Böses Erwachen

„Das nächste Mal, wenn ich mich todesmutig durch die Dornen kämpfe, um eine Prinzessin zu retten, dann hoffentlich für eine die auch kochen kann!“

"Wie oft denn noch? Du hast mich nicht gerettet! Erstens ich wäre eh nach hundert Jahren aufgewacht ich, ich war ja nur noch am Schlummern. So ein bisschen am Dösen. Und zweitens ist das sehr unsensible von dir, zu meiner Zeit waren die Öfen ganz anders und ich musste nie kochen lernen, weil ich eine Prinzessin war. Und ich dachte, ich bleibe auch eine, du sagtest du bist „Prince Charming“.

„Das ist eine umgängliche Bezeichnung für gutaussehende Jünglinge, die Prinzessinnen retten. Das weiß doch jeder.“

Vor hundert Jahren wusste das niemand! Meine Familie hat alles verloren, die Scharlatane haben unser Land geraubt, Vater musste das Schloss verkaufen."

„Das sind keine Scharlatane, das sind Demokraten. Und Schloss? Das ich nicht lache! Bruchbude nennt man sowas heutzutage. Von dem Vorratskeller will ich gar nicht reden.“

„Heutzutage! Ich kann es nicht mehr hören, dein ‚Heutzutage‘ ist furchtbar, ich werde mich nie an die Umgangsformen gewöhnen, gescheigedenn die ‚fortschrittlichen‘ Maschinen.“

„Ach hör du doch auf zu heulen, eure Bediensteten haben ihre Familien verloren, weil du so dösig in eine Spindel packen musst. Und eigentlich ist alles besser geworden, du willst dich bloß nicht anpassen. Die Kleider zum Beispiel, die altmodischen Plünnen die du trägst, die sind furchtbar.“

„Lass mich doch in Ruhe mit deinen neumodischen Kleidern, am Ende soll ich noch Hosen tragen“

„Mach dich nicht lächerlich, Frauen in Hosen wird es niemals geben.“

Der Weihnachtsbus

Sandra hüpfte wie ein Flummi im Wartehäuschen auf der Stelle. Ihre Augen tränten, die Nase lief. Es war kalt, bitterkalt. Hätte sie bloß Hosen angezogen. Aber zumindest war sie weihnachtsfein. Leicht verächtlich musterte sie Sabine in den schmutzigen Jeans.
„Ich war noch im Stall“, murmelte die und versuchte vergeblich die Erdbrocken von der Hose zu kratzen. Es ging doch nicht um Klamotten, es ging darum, gemeinsam zu feiern, die anderen wieder zu sehen, dachte sie wütend. Sie umklammerte den Beutel mit den Geschenken aus dem 1€-Laden.
„Spannende Einladung, nicht wahr?“, sagte Sandra in die Stille. Auf der Karte in ihrer Hand stand in grünen Lettern:
„Pünktlich zum Sonnenuntergang wird Euch ein Bus an der alt bekannten Haltestelle einsammeln. Steigt ein! Auf ein gemeinsames Weihnachtsfest!“
Annette kauerte auf der Bank im Wartehäuschen und bibberte vor Kälte.
„Die hab´ ich auch bekommen“, sagte sie leise.
„Ob alle eingeladen sind?“, murmelte Sandra, ohne eine Antwort zu erwarten. Sie kontrollierte unauffällig Haare und Make-up im dämmrigen Licht der verkratzten Glasscheiben.
„Ich wüßte gerne, WER eingeladen hat“, maulte Sabine. Immer noch die gleiche Quengelstimme, dachte Sandra und legte noch etwas Rouge auf.
Mit quietschenden Reifen rauschte plötzlich ein Bus um die Ecke.
„Das ist er!“, sagt Annette leise. Ein fast unscheinbares Leuchten überzog ihre pergamentartige Gesichtshaut.
„Ein großer roter Bus wie in einem Weihnachtsfilm aus Hollywood!“, sagte Susanne ungläubig. Vielleicht hätte sie sich doch noch mal umziehen sollen. Das alte Automobil glänzte wie ein zuckerlackierter Apfel auf dem Weihnachtsmarkt. Farbige Lichterketten innen und außen blinkten um die Wette. Auf der Kühlerhaube war ein kleiner Tannenbaum montiert, der sich um die eigene Achse drehte. Kugeln, Zapfen und anderer Behang kamen kaum hinterher. Alles glitzerte und leuchtete.
Wie schön, dachte Sandra und ihre innere Kälte machte sich aus dem Staub.
„So weihnachtsfein“, sagte Annette andächtig und vergaß, an ihrer Zigarette zu ziehen.
Der Bus bremste am Straßenrand, die Türen öffneten sich im Zeitlupentempo. Musik, Geplauder und weihnachtliche Düfte quollen ihnen entgegen.
„Spekulatius“, sagte Sandra lächelnd.
„Glühwein“, sagte Sabine hoffnungsvoll.
„Du trinkst zu viel“, sagte Annette gouvernantenmäßig. Sabine erschrak. Ob die Weinflasche zu erkennen war, die auch in dem Stoffbeutel mit den Geschenken steckte?
Annette zog noch einmal an der angefangenen Zigarette, bevor sie diese gleichermaßen mit Bedauern und mit Schwung in den Schnee warf. Ihre neue Hose rutschte leicht nach unten. Sie trug inzwischen Kindergrößen. Hoffentlich unbemerkt.

Im Bus war die Stimmung bereits auf Hochtouren.
Klaus und Günther winkten wild von der hintersten Bank, um dann wieder zu streiten, wie in alten Zeiten. Der eine trug inzwischen einen grauen Bart, der andere eine hochglanzpolierte Glatze.
Sie ist mollig geworden, registrierte Sandra. Sie beobachtete Barbara, die die Ankömmlinge aus vollem Herzen anlachte. Dabei drehte und schraubte sie mit wulstigen Fingern an einem Ghettoblaster herum, was den Busfahrer störte.
„Das ist ja dein Michael, der da fährt!“, sagte Sabine erstaunt.
„Hat der einen Busführerschein?“, fraget Sandra.
„Nö“, antwortete Barbara lakonisch. „Aber er kriegt das bestimmt irgendwie hin. Mein Männe kriegt alles immer irgendwie hin.“ Sie knetete an dem großen Kreuz herum, das sie an einer Lederkette trug. Michael grinste in den Rückspiegel.
Die Musik hörte genauso abrupt auf, wie der Bus anfuhr.
„Was soll das?“, schrie Edgar und krachte in seiner Weihnachtsmannmontur in den Mittelgang. Sein Becher flog durch die Gegend. Glühwein lief Edgars weißen Kunstbart hinunter. Auf dem roten Anzug mit den viel zu kurzen Ärmeln und Beinen fiel die rote Lache dann nicht weiter auf.
„Her mit Glühwein!“, brüllte er. „Ich brauche Nachschub!“
„Glühwein?“, fragte Sabine begeistert. Ihre Weinflasche würde sie aufheben können.

Michael starrte angespannt auf die Straße und griff dann zum Mikrophon.
„Guten Abend alle zusammen! Wir sind jetzt insgesamt 2 Stunden unterwegs. Kurz vor dem Ziel gibt es eine Überraschung. Bis dahin: amüsiert Euch, Plätzchen stehen überall in Dosen auf leeren Sitzen verteilt. Edgar ist wie immer der Master of disaster und wird den Glühwein ausschenken. Genießt die Tour!“
Die Stimmung war ausgelassen. Es wurde gealbert, gesungen und gelacht. Die Scheiben waren schnell beschlagen und Sabine schmierte Muster und Herzen in den Wasserdampf.
„Sind alle da?“, fragte Barbara auf einmal mit erhobener Stimme und blickte den Gang entlang.
Wie früher, dachte Sandra. Die Mutter der Nation.
„Ja!“, erklang der altbekannte Familienchor.
„Nee!“ , schrie Edgar und riss sich den glühweinklebrigen Bart runter.
„Philipp fehlt.“
Stimmt, dachte Sandra.
Seltsam, überlegte Susanne.
„Wer hat eigentlich eingeladen?“, fragte Barbara in die Runde.
„Vielleicht Philipp?“, sagten Klaus und Günther gleichzeitig, obwohl sie keine Zwillinge waren.
„Ja, hat er“, sagte Michael ins Mikrophon. Und drückte seiner Barbara eine CD in die Hand.
„A Message for you“, grinste er und jonglierte den Bus zwischen parkenden Autos hindurch.

Es war auf einmal mäuschenstill im Bus. Klaus und Günther hörten auf zu streiten und stopften Kekse in sich rein. Annette sehnte sich intensiv nach einer Zigarette. Barbara trennte sich schweren Herzens von der weihnachtlichen Meditationsmusik und schob die CD in das Gerät.
„Laut!“, rief Edgar und Sabine nickte.
Dann erklang Philipps Stimme:

„Hallo liebe Familie! Jetzt fahrt ihr schon eine ganze Weile zusammen im Weihnachtsbus und keinem von euch ist bis jetzt aufgefallen, dass ich fehle. So war das schon immer. Als Jüngsten und Kleinsten habt ihr mich immer übersehen. Im Nachhinein betrachtet war das perfekt für mich, denn so konnte ich mich frei von euch entwickeln, zu dem, was ich heute bin, mein Philipp-ich.
Diese Fahrt heute und diese Einladung habe ich voller Freude ausgesprochen. Wie schön, dass es mir gelungen ist, euch alle in den Weihnachtsbus zu packen. Denn das wird uns einen unvergesslichen Weihnachtsabend bescheren.“
„Tolle Idee!!“, schrie Edgar.
„Typisch Philipp“, murmelte Sabine.
Barabara nahm sich vor ihn gleich beim Wiedersehen zu umarmen.
„So wunderbar, dass er uns alle zusammengebracht hat!!“, rief sie gerührt.
„Ruhe!“, rief Michael. „Die Message geht weiter!“
Er spulte ein bisschen zurück und Philipps Stimme wiederholte den Satz:
„Denn das wird uns einen unvergesslichen Weihnachtsabend bescheren. Ganz besonders mir. Ich werde den Streitereien und Sticheleien von Günther und Klaus entgehen. Ich kann meine eigene Musik auflegen und muss nicht dauernd diese heilige Meditationsmusik hören. Mir bleibt das jährliche Geschenk von Sabine aus dem 1€ Shop erspart und auch ihr Anblick in ganz sicher wieder unfestlicher Montur, wie immer direkt aus dem Pferdestall. Richtig Sabine? Annette kann sich weiter zu Tode rauchen und Edgar: Du kannst auf meine Kosten den ganze Abend bechern und deine Leber weiter in den Abgrund saufen. Sabine hilft dir bestimmt dabei! Sandra, hast du den Spiegel auf deinem Platz schon entdeckt, damit du dir immer die Lippen schön nachmalen kannst?
Ja, ihr habt richtig geraten: ich muss euch enttäuschen! Ich bin bei diesem Weihnachtsfest nicht dabei. Weder hier im Bus noch später beim Essen. Seit Jahren quäle ich mich immer an Weihnachten mit Euren Marotten, euren Lieblosigkeiten und Familienquerelen. Eurem Gezeter und den heimtückischen Streitereien. Und ich bin zu dem Fazit gekommen: Die Dinge haben den Wert, den man ihnen gibt.
Genau deshalb feiere ich heute nicht mit Euch.
Fröhliche Weihnachten!“

Rudi allein zuhause

Seit einer Stunde wanderte ich durch das Zimmer hin und her.
„Er wird kommen. Es wird passieren.“ Kreisten die Gedanken unentwegt durch meinen Kopf. Mein ganzer Körper zitterte deswegen. Mir stand der Schweiß auf der Stirn, trotz das ich fror. „Er kommt. Es passiert. Ich weiß es. Es liegt Schnee. Die ganze Stadt versinkt darin.“
Ich versuchte, mir ein Glas Wasser einzuschenken, dabei verschüttete ich die Hälfte. Mein Hals war trocken. Ich goss die Flüssigkeit in den Mund, und sabberte das Meiste davon auf meinen Norwegerpullover.
„So ein verfluchter Mist“, schimpfte ich, „mein Maul taugt zu nichts als Flechten rupfen.“
Ich blieb abrupt stehen.
„Was denk ich da? Wie komm ich darauf?“
Ich entschloss mich zur Ablenkung. Plumpste in dem Sofa, grapschte nach der Fernbedienung und starrte auf den Bildschirm des kleinen Portable-TV. Die herausgezogenen Antennen erinnerten mich an einem Geweih.
„Komische Gedanken“, nuschelte ich mir im Bart.
Es lief ein Gruselklassiker, der mich sogleich im Bann zog. Endlich war es eine Weile still in meinem Kopf. Ich folgte der Handlung ohne zu Denken. Ich hatte den Film mindestens hundertmal gesehen. Dann ging es los. Ich wusste es. Es wiederholte sich jedes Jahr, seit ich mich versteckt hatte. Ich wollte einfach nicht mehr vorgespannt werden. Es war zum …
„Ah! Aua! Nein! NEIN!“, schrie ich aus Leibeskräften. „Oh, wie das brennt!“
Ich riss mir den Pullover vom Körper. Stieg aus meiner Jeans. Zerriss die Unterwäsche. Warf mich auf den Fußboden. Wälzte mich herum. Und stöhnte vor Schmerzen.
Im TV klang der Oldie „Bad Moon Rising“. Während mir die Knochen knackten und streckten, und meine Hände sich zu Fäusten zusammen ballten. Wusste ich, dass er in der Nähe war und mich holen kam.
Mein Gesichtsfeld veränderte sich drastisch, als ich voller Erwartung zum Fenster schaute: Ja, da kam er. Ich sah den Schlitten, und die Bande, die ihn zog. Die Hände verhornten und die Füße taten es ihnen gleich.
„Oh, diese Schmerzen“, durchfuhr mich der Gedanke, als sich meine Haut wendete und das innere Fell die Oberfläche zu bilden begann. „Die elende Qual.“
Das Fenster sprang wie von Geisterhand auf. Kalter Wind blies ins Zimmer und brachte den Schnee mit. Aber das machte mir jetzt nichts mehr aus.
Bei dieser Verwandlung war mir das Schlimmste, wenn sich die Gesichtsknochen neu formierten, länger wurden und die menschliche Haut zum Zerreißen dehnte. Schließlich leuchtete die Nase vor mir auf.
Der bärtige Mann in seinem Schlitten beugte sich vor und rief durch das geöffnete Fenster zu mir herüber: „Verstecken bring doch nichts. Ich finde dich überall. Los komm und übernimm wieder die Führung.“
Ich stand auf meinen breiten Hufen und glotze blöd drein. „Wo sind die Geschenke? Was willst du mit den alten Julböcken?“
„Das ist eine lange Geschichte, Rudolf.“ Der Weihnachtsmann lachte sein berüchtigtes: „Hoho ho!“
Ich sprang nach draußen, was nicht so leicht war, mit meiner Schulterhöhe von einem Meter und fünfzig, und reihte mich vorne ein.
„Und was ist das jetzt mit den Strohböcken?“, fragte ich nach hinten. Innerlich verfluchte ich alles, denn wieder war es schiefgelaufen, wie in den letzten Jahren davor. Man konnte dem Weihnachtsfest nicht entkommen. Nicht hier im hohen Norden. „Nächstes Mal“, so dachte ich, „wandere ich aus nach Afrika. Dort kann es nicht schief gehen. Die feiern doch keine Weihnacht, oder?“

„Ach, weiß du Rudi“, sagte Santa, „ich traf Thor und seinen Bruder Loki.“

Linderung

Es war wieder einmal…

der 24. Dezember für eine Frau, die nicht nur am Morgen des Heilig Abend an ihrem Küchentisch saß, Kaffee trank und Zeitung las.

Erschüttert über die schlimmen Ereignisse der letzten Monate, grübelte sie darüber nach, was alles kommen möge. Plötzlich hörte sie einen dumpfen Knall. Sie hob den Kopf und schaute sich um. Nichts. Das Geräusch war am Fenster, oder? Sie ging ins Wohnzimmer, das an die Küche grenzte und schaute durch das Glas der Balkontür.

„Oh nein, das war es!“, sagte die Frau erschrocken zu sich, und blickte auf einen Spatzen, der verkrümmt und sehr schwach atmend auf der gepolsterten Auflage ihres Gartenstuhls lag.

Hilflos und traurig stand die Frau an der Balkentür und rätselte: „Hat er sich die Flügel gebrochen oder hat er innere Verletzungen? Muss ich ihn sterben lassen oder was kann ich tun?“

Ihr Herz pochte laut und sie entschied, zuerst einmal zu googeln. Die Frau wischte mit dem Finger über ihr Tablet und suchte und suchte. Als sie wieder aufblickte, hatte sie den Eindruck, dass der Spatz nicht mehr so flach atmete. Hob er tatsächlich sein Köpfchen und bewegt seine Flügel? Ja! Was zuerst so aussah, als würde er in den nächsten Minuten sterben, änderte sich. Sie wartete ab, beobachtete ihn und ließ ihm Zeit, Zeit, Zeit. Nach einer Weile saß der kleine Spatz auf seinen dünnen Beinchen und drehte nervös sein Köpfchen hin und her.

Die Frau legte ihr Tablet zur Seite, stand auf, ging in die Küche und holte eine kleine Hand voll geschälter Sonnenblumenkerne. Sie schöpfte Hoffnung für ihren gefiederten Freund und als sie wieder durch das Glas der Balkontür blickte, war der Spatz verschwunden.
Sie öffnete die Balkontür, legte die Sonnenblumenkerne auf den Gartenstuhl und war zu Tränen gerührt.

Sie ging zurück in die Küche, faltete ihre Zeitung zusammen, lächelte und dachte: „Ruhe für Genesung geben;
Verletzungen mit Zeit heilen und die Kraft finden - wieder zu fliegen. Welch‘ schöne Aussicht auf unsere Zukunft!"

Nun konnte der „Heilig Abend" kommen.

(© Claudia Meinzold 2022)

Er gehört zu uns. Ein Märchen zur Heiligen Nacht

Es spielen mit:
Ein Ochse (O) und ein Esel (E), ein Drache (D), eine Fledermaus (F).

Drache - repräsentiert das alte System, Vergangenheit, Rückwärtsgewandtheit, Fressen und Gefressenwerden, der Stärkere hat Recht, ich “trumpele” alles nieder, was sich mir in den Weg stellt.

Esel - Sympathiefigur, hat Jesus beim Einzug in Jerusalem getragen, Königtum ohne Pomp und Pracht, ohne weltliche Macht, störrisch: nicht jede Mode mitmachen, kein Populismus, andere anerkennen, sich nicht beirren lassen, ich helfe, wo ich kann.

Ochse - hin und her gerissen, hat einerseits die Geburt Jesu im Stall miterlebt, die armen Hirten gesehen, ist noch ganz ergriffen von dem Kind: so klein, andererseits hat er keine Hoffnung für die Welt, muss immer noch einen schweren Pflug ziehen, Knochenarbeit, wird schikaniert, für ihn hat sich noch nichts geändert.

Fledermaus - eigentlich ein Engel, hört Töne und Signale, die andere nicht hören, weiß daher von Dingen, die andere nicht wahrnehmen können, visionär, hat die Erscheinung der Engel mitbekommen, kennt die himmlischen Wahrheiten.

I.

F (allein auf der Bühne) Hallo, ist da wer? Haalloo! Keiner da. Das ist gut, da kann ich ungestört flattern und muss nicht damit rechnen, dass ganz plötzlich vor mir irgend ein Ochse oder Esel auftaucht, so dass ich blitzschnell ausweichen muss. Wie aus dem Nichts stand vor kurzem ein Drache vor mir, ein riesiges Vieh. Stand da wie eine Mauer. Ich konnte gerade noch so nach oben ziehen.
O (kommt langsam dazu, klagend) Ich mag nicht mehr, Ich kann nicht mehr. Es ist wirklich eine Ochsentour: Jeden lieben langen Tag den Pflug ziehen, den Wagen ziehen. Kaum habe ich mal ein wenig herumgestanden und vom ohnehin spärlichen Gras gefressen, da heißt es: “Steh nicht so faul herum, komm her, anspannen, du musst beim Dreschen helfen, du musst dein Futter verdienen, von nichts kommt nichts.” Und ich alter Ochse mache alles mit. Ich habe gar keine andere Chance. Immer die gleiche Mühle.
E (kommt auch dazu, munter) Ii-aah. Na, du Ochse, kurze Zigarettenpause, bis die Herrschaft wieder ruft: “Hey anspannen, der Tag ist noch lange nicht zu Ende”? Du hast es echt schwer, du Arbeitstier! Deine Leute machen dir ganz schön Druck.
O Machst du dich lustig über mich? Dann bist du ein echter Esel. Als ob du deinen Leuten befehlen könntest: “Auf, Futter in den Trog! Ich brauche meine Ruhepause!” Wir Tiere sind doch das Allerletzte auf der Welt. Wir werden erst ausgebeutet und dann aufgegessen, wenn wir nicht mehr zur Arbeit taugen.
E Seit ich mich bei “Animal Rights Watch” engagiere, haben meine Besitzer mehr Respekt vor mir. Wir wollen, dass Tierrechte in die Verfassung aufgenommen werden. Wir sind nämlich gegen die Versklavung der Kreatur. Wenn schon die Menschen sich krumm legen für ihr kleines Auskommen, dann sollen sie das nicht auch von uns verlangen. Immer dieses: “Sei pünktlich! Mach deine Arbeit! Jeder ist seines Glückes Schmied!” Das nervt dermaßen!
O Tierrechte? Und du denkst wirklich, dass du damit durchkommst? Das glauben doch wirklich nur Esel! Nein, nein. Für uns ändert sich nichts mehr auf der Welt. Früher habe ich das auch mal geglaubt, aber das ist lange her. Da habe ich in einer Nacht mal erlebt, wie ein Kind in meiner Futterkrippe gelegen hat. Das war so schön, so friedlich, so ruhig. - Aber die alltägliche Maloche hat mir meine hochfliegenden Gedanken ausgetrieben.
F Verzeiht bitte, dass ich mich einmische, ihr edlen Nutztiere.
O Nutztiere?
F Ja, Nutztiere. Ihr nützt den Menschen, das ist eure Bestimmung. “Nützlich” klingt ja irgendwie wertvoll im Gegensatz zu “schädlich”. Einen Nutzen habt ihr aber nur für die Menschen, nicht für euch selbst, im Gegenteil: Wenn ihr nicht mehr nützlich seid, werdet ihr abgemurkst. Und dann nützt ihr den Menschen noch einmal, indem ihr gefuttert werdet. Es geht nie um euch, immer nur um die Menschen. Ihr seid nützlich - aber eher nützliche Idioten.
E Und was ist dann mit den Schädlingen?
F Die werden gleich totgemacht, die haben gar keine Chance, nützlich zu werden, obwohl es die meisten in der Natur sogar sind. Aber die Menschen sehen alles nur aus ihrer Perspektive. Der Unterschied ist nur: Ihr werdet vor dem Abschlachten noch ausgebeutet. Nützlich heißt also: Ihr leidet gleich doppelt.
D (stürmt auf die Bühne) Ich finde auch, ihr seid nützlich. Und ich werde euch nicht vorher ausbeuten, das verspreche ich euch. Ich fresse euch gleich! Ist das nicht human?
O Hilfe, ein humaner Drache!
E Human ist ganz schön unkultiviert!
D Kultiviert oder nicht, euer letztes Stündlein hat geschlagen!
F Wenn ich dich so betrachte, dann vermute ich mal, du bist 20 Meter lang und hast eine Flügelspannweite von 35 Metern?
D Du bist klug, du Winzling.
F Lieber Ochse und lieber Esel, ich kann euch sagen: In dem Drachen ist tatsächlich genug Platz für euch beide. Seid getrost, denn eure Erlösung naht!
O Erlösung?
F Ja klar, der Drache erlöst euch von euren Leiden. Du, Ochse, brauchst keinen Pflug mehr zu ziehen, und du, Esel, brauchst nicht mehr für deine Rechte zu kämpfen.
E Und du, Flattertier?
F Ich bin aus dem Schneider. Erstens bin ich ein viel zu winziger Happen für den Drachen, und zweitens muss ich mir dann nicht mehr euer Gejammere anhören. Soll ich noch ein Gebet für euch sprechen? Vielleicht, dass es schnell geht mit dem Hinübergehen?
O Hast du denn Beziehungen nach da oben? Mir wäre es dann, ehrlich gesagt, lieber, wenn du mich vor dem Drachen retten könntest. Also ich meine, wenn es da eine Gewalt gibt, die alles kann, was sie will.
F Ja, die gibt es, und die kann auch, was sie will, aber ob sie auch alles will, was sie kann, das entscheidet sie höchstselbst. “Allmächtig” heißt eben, dass sie die Macht hat zuzulassen, dass der Drache euch verspeist. Und dass man dem Allmächtigen nicht vorschreiben kann, was er zu tun und zu wollen hat, und man eben auch nichts von dem versteht, was er warum will. Seine Pläne sind höher als die eines Ochsen oder eines Esels. Selbst ich, die ich mehr herumkomme als ihr, kenne die allerhöchsten Pläne nicht.
D Was redet ihr da für einen Schwachsinn!
F Sieh an, ein Drache, der philosophieren möchte!
D Wie, philosophieren?
F Na, die Welt verstehen, die Zusammenhänge begreifen, eine Orientierung finden im Dschungel der tausend Möglichkeiten.
D Damit habe ich keine Probleme, das kann ich euch schon mal sagen. Denn erstens habe ich eine Länge von 20 Metern und eine Flügelspannweite von 35 Metern. Da müssen die Argumente schon sehr groß und stark sein, wenn sie sich mir in den Weg stellen wollen. “Size matters”, sagt der Amerikaner: Die Größe macht den Unterschied. Wenn ich euch einatme, seid ihr Geschichte!
F (spaßig) Uuuuh, Grusel! Man kriegt ja wirklich Angst vor dir, wenn du so daherschwadronierst mit deiner schieren Größe. Du denkst also wirklich, dir kann nichts passieren, weil du so groß bist? Too big to fail! Zu groß, um unterzugehen? Mal ganz ehrlich, mein lieber Drache: Erinnerst du dich an den Kometen damals, der durch seinen Einschlag Brände verursachte und so viel Staub aufgewirbelt hat, dass die Sonne verdunkelt wurde, eine eisige Kälte entstand und kein Futter mehr da war, so dass die riesigen Saurier ausgestorben sind? Du scheinst irgendwie der letzte Deiner Art zu sein.
D Egal, ob ich der Letzte bin: Ich trumpele einfach alles nieder, was sich mir in den Weg stellt. Bei mir gelten noch die alten Tugenden: Der Stärkere hat Recht. Fressen und Gefressenwerden. Und der Erfolg bestätigt meine Einstellung.
F (ironisch) Das ist ein beeindruckendes ethisches Programm, lieber Drache: Gut und richtig ist alles, was dir den Magen füllt. Du machst etwas nicht, weil es einen Wert für das Zusammenleben hat und für die Gemeinschaft, sondern weil du es kannst. Mal ganz ehrlich: Das ist Terror pur! Du verbreitest Angst und Schrecken, wo du auftauchst. Du bist ja kein verlässlicher Partner! Mit dir kann man keine Bündnisse schließen! Kein Wunder, dass du keine Freunde hast!
D Hier stehe ich, ich will nicht anders. Das ist meine Natur, fürchte ich. Und ich fahre gut damit: Jeder will sich gut mit mir stellen, jeder bewundert meine Größe.
F Wie hast du eben gesagt: Du trumpelst alles nieder? Mit diesem komischen “R” erinnerst du mich an jemanden…
D Das kann nicht sein. Ich bin einzigartig!
F Das würde ich nicht sagen. Du bist Old School, sehr alte Schule, um nicht zu sagen: Du bist von vorgestern! Ein übrig gebliebener Dinosaurier, hoffentlich der letzte seiner Art!
D Du weißt aber schon, dass wir unsere Gene in den Vögeln hinterlassen haben? Die gibt es noch heute, also kann durch Mutation auch wieder die gute alte Zeit erstehen, in der man sich einfach durchsetzt, weil man die Macht dazu hat. Der Kampf des Lebens, das um jeden Preis leben will: Jeder gegen jeden, und wer übrig bleibt, hat gewonnen.
E Hat gewonnen? Ist allein, solltest du wohl sagen! Wie uncool du bist! Die Fledermaus hat Recht: Du bist so was von außer der Zeit! Du passt einfach nicht in die Gegenwart. Und wirkliche Freunde hast du nicht. Denn alle haben Angst vor dir.
D Rechte, Bündnisse, Verlässlichkeit? Freunde? Mir doch egal. Hauptsache, ich kriege, was ich will.

II.

E Ich will dir mal erzählen, Drache, was ich erlebt habe, und was mein Leben so verändert hat, dass ich jetzt für Tierrechte eintrete. Ich war mal bei einem Bauern in einem Kaff bei Jerusalem beschäftigt, da kam ein Mann mit Namen Jesus, der wollte mich als sein Reittier benutzen. Der war ganz anders als du. Der hat nichts und niemanden nieder-getrampelt, im Gegenteil. Der hat den Gefallenen aufgeholfen, die Kranken geheilt und die draußen hat er hereingeholt. Er hat keine Mauern gebaut, sondern sie niedergerissen. Ihm ging es nicht um sein eigenes Wohl, sondern um das aller. Und er wollte den Frieden überall auf der Welt. Er war ein König, aber irgendwie anders als andere Könige. Er wollte so eine Art Revolution von ganz oben. Der hat mich beeindruckt. Mehr als du!
D Vom Frieden und vom Helfen werde ich aber nicht satt. Es geht doch im Leben einzig um Macht und darum, dass man alles haben kann!
F Es mag sein, dass es so ist, aber es ist nicht gut so. Ich möchte die Erde als einen Ort für alle. Mit deiner Haltung verursachst du nur Chaos.
D Im Chaos kann man doch am besten jagen. Wenn alle auf den Beinen sind, wenn jeder nur noch an sich denkt, wenn es keine Gemeinschaft, keine Freundschaft mehr gibt, wenn alle auf der Flucht sind, dann bin ich in meinem Element und mache meinen Profit. Und außerdem: Ein König muss Stärke zeigen, er muss die anderen klein halten.
O Nein, nein, ein König muss für seine Leute sorgen. Ich habe euch doch von dem Kind in der Futterkrippe erzählt. Es war in einem Stall bei Bethlehem, da kamen abends Leute, ich glaube, sie hießen Maria und Josef. Die Frau war schwanger und hat ihr Kind zur Welt gebracht mitten in der Nacht, und Hirten und weise Männer sind gekommen und haben es angebetet. Es war eine ganz besondere Nacht damals, eine schöne Nacht, eine Art heiliger Nacht. Alles war so friedlich, so liebevoll, so hell und klar. Die Hirten und die Weisen haben gesagt, sie hätten das Heil der Welt gesehen, und das hätte ihr ganzes Leben verändert. Sie haben gesagt: Er heißt Jesus, das heißt: “Gott hilft, Gott rettet”.
E Das ist ja toll. Du kennst Jesus auch? Und dann jammerst du immer noch so herum, wenn du den Heiland mit eigenen Augen gesehen hast, so wie ich ihn auf meinem eigenen Rücken getragen habe?
O Ich werde diese Nacht nie vergessen, ich habe sie in wunderbarer Erinnerung, das kann ich sagen. - Aber am Tag darauf ist die Familie in großer Eile aufgebrochen nach Ägypten. Man munkelte, die Soldaten des Herodes seien hinter ihnen her, und Herodes wolle den neugeborenen König töten lassen.
E Ja und?
O Da habe ich mir gedacht: Wenn dieser Junge in der Futterkrippe davonlaufen muss vor einem anderen König, dann ist er wohl schwach und hat keine Zukunft. Dann wird sich mein Leben auch nicht ändern. Und deswegen ist es eine wundervolle Erinnerung, an die ich gerne zurückdenke, wenn es mir schwer wird ums Herz, wenn ich mal wieder völlig ausgepowert bin. Aber eben nicht mehr als eine Erinnerung.
E Als ich den Jesus getragen habe, da war er ja schon erwachsen. Er hatte viele Leute geheilt und viele kluge Worte gesagt. Aber nachher, nachdem ich ihn abgesetzt hatte in Jerusalem, da wurde er kurz darauf festgenommen und gefoltert und umgebracht.
O Na siehst du, ein König, der abhauen muss, erst recht ein toter König - was kann der schon verändern? Ich jedenfalls habe mich wieder auf die viele Arbeit eingestellt und auf die Tritte, die ich kriege. Und das wird ewig so weitergehen, bis ich eines Tages im Kochtopf lande, wie es die Fledermaus gesagt hat. Wer soll mich denn retten?
E Auf jeden Fall nicht der Drache, der dich erlöst, indem er dich frisst.
O Sondern?
E Eine echte Erlösung eben, eine Befreiung aus dem Gefängnis, ein Leben in Frieden und Freiheit, im Paradies.
O Wo es keine Ochsentouren mehr gibt! Und keine Schläge mit dem Stock! Das wäre schön. Aber bis dahin…?
E Mein Leben hat sich schon verändert, seit ich diesen Jesus getragen habe. Ich habe nämlich gehört, dass Jesus auferstanden ist, dass er lebt. Ich bin ein Esel und verstehe nicht alles, was die Menschen sagen. Aber so viel habe ich doch mitgekriegt, dass er stärker ist als der Tod. Und das hat mir Energie gegeben, dass ich nicht so ein einfaches Eseldasein friste, sondern versuche, etwas zu verändern. Dass ich also für Tierrechte eintrete. Ich finde, wir sollten nicht alles mitmachen, was so volksnah daherkommt, so populistisch.
O Dann bist du also ein störrischer Esel, wie er im Buche steht? Wann machst du dich denn starr?
E Ich bin ein sprichwörtlich störrischer Esel, wenn meine Herrschaften mal wieder meinen, man müsste alle, die fremd sind, aus dem Land jagen und dürfe keine neuen mehr reinlassen. Die fangen dann an, ganz seltsame Sachen zu sagen: Man muss immer zuerst an sich und das eigene Land denken. Wer anders denkt, den bezeichnen sie als Verräter von Volk und Vaterland. Sie denken allen Ernstes, die Leute in Deutschland zum Beispiel dürften keine dunkle Hautfarbe haben oder eine andere Nasenform als die gerade oder sich kleiden wie Afrikaner. Und sie sind nicht die einzigen, die so denken.
F Ja, der Populismus geht um wie ein gefährlicher Drache. Die denken ernsthaft, die Welt wird besser, wenn man sich von Stimmungen leiten lässt statt von Prinzipien wie Nächstenliebe, Respekt und Gerechtigkeit. Die wollen ihre Kultur wahren, indem sie sie abschaffen.
O Woher weißt du denn solche Sachen?
F Ich habe euch ja gesagt: Ich komme herum in der Welt, und ich höre Töne, die ihr allesamt nicht hören könnt, hohe Töne, himmlische Töne.
O Und was sagen diese Töne?
F Sie sagen, dass alle Menschen Brüder und Schwestern sind unabhängig von ihrer Kleidung, von ihrer Religion, von ihrer Nasenform und ihrer Hautfarbe. Sie sind Gottes Kinder und Geschöpfe Gottes ebenso wie die Tiere.
O Ist schon komisch, dass die Tiere mehr wissen als die Menschen, wo doch die Menschen die Herrschaft über die Tiere ausüben. Für den Esel ist das sicher nicht lustig, wenn er sich den Anordnungen seiner Herrschaft widersetzt.
F Man nennt das passiven Widerstand oder zivilen Ungehorsam. Das haben auch Menschen schon gemacht. Ein gewisser Herr Gandhi zum Beispiel.
O Das finde ich toll und mutig. Denn eigentlich spiegelst du den Menschen ja nur, dass sie selbst störrisch sind, halsstarrig, weil sie nicht auf diesen Jesus hören, auf dieses Kind in der Krippe und den friedfertigen König, weil sie nicht den Frieden suchen und sich um Hilfsbedürftige kümmern, sondern sie abweisen und ihnen nicht beistehen. Und immer, wenn du störrisch bist, müssten eigentlich sie ihre Haltung ändern.
E Ich werde deswegen auch oft malträtiert, aber das macht mir nicht mehr so viel aus, weil ich für eine gerechte und gute Sache eintrete. Und für den König, dessen Reich anders aussieht als die Weltreiche und Nationen, die wir haben.
F Die Töne, die ich auffangen kann, die sagen: Eines Tages wird es so weit sein, dass wir nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander leben. Dass wir uns aneinander freuen und uns nicht mehr übereinander ärgern. Dass wir einander fördern und nicht mehr behindern. Dieser Jesus, den ihr kennengelernt habt, der steht dafür gerade. Und der kann das auch, weil er allmächtig ist.
D Und was wird dann aus mir? Ich habe schließlich Hunger!

III.

E Als ich das Reittier für Jesus gewesen bin, da hat er mal gesagt: “Wenn es soweit ist, dann wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind.”
O Alles wird so friedlich sein und so schön und so ruhig wie damals im Stall von Bethlehem.
D Und was mache ich bis dahin?
F Wie wäre es mit einer Abmagerungskur der besonderen Art?
D Der besonderen Art?
F Du musst deine Haltung ändern, dein Habenwollen, deinen Hunger nach Macht, deine Meinung, dass die Stärkeren automatisch auch Recht haben. Es ist nämlich diese Haltung, die dich so groß gemacht hat, dass du zwanzig Meter lang bist und eine Flügelspannweite von 35 Metern hast.
D Jeden Tag so viel jagen zu müssen, ist echt anstrengend, das stimmt schon.
O Und du machst nur Terror damit und hast keine echten Freunde, die es gut mit dir meinen.
E Und du verbrauchst wertvolle Ressourcen, die wir noch nötig haben. Den Ochsen zum Beispiel.
D Aber ich bin nun mal so groß…
F Vielleicht übst du mal, weniger oft zu sagen: “Ich will! Ich kann! Ich brauche!” Und öfter mal zu fragen: “Was brauchst du? Was kann ich dir Gutes tun? Was möchtest du?”
D Dann werde ich kleiner und friedlicher?
F Das geht wie von selbst. Denn wer sich selbst nicht so groß macht, passt viel besser zu den anderen, die auch leben wollen wie jedes Leben. So ähnlich hat das Albert Schweitzer gesagt.
D Das geht aber nicht so schnell, dass ich mich gleich von Grund auf ändere.
O Besser langsam als nie.
E Fang doch mal mit uns an. Sage dir einfach: Der Ochse und der Esel, die sind eine kluge Gesellschaft für mich. Die sind viel zu schade, als dass man sie einfach wegfrisst.
D Das stimmt ja auch. Ihr seid zum Fressen zu schade.
O Schaut mal, der Drache ist auf einmal viel kleiner geworden.
E Wenn wir das weiter mit ihm üben, wird das schon.
F Ein wenig Zeit braucht es schon noch. Aber irgendwann ist er dann freundlich und zutraulich wie ein Schaf. Ein richtiges Gemeinschaftstier. - Er ist als Schaf natürlich ein Nutztier, von den Menschen her gesehen…
O Dann werde ich mich zukünftig zusammen mit dem Esel dafür stark machen, dass “Nutztiere” nicht mehr nur als Sachen gesehen werden, sondern dass sie nützlich für den Menschen sind, weil er von ihnen viel lernen kann. Zum Beispiel, wie man als Mensch nicht mehr als das gefährlichste Raubtier auf Erden erscheint, sondern sich einordnet in die Natur. Wenn ein Drache das lernen kann, dann erst recht ein Mensch, sollte man meinen.
D Und wenn ich dann nicht mehr so bedrohlich bin, unternehmen wir etwas zusammen?
O An dem Drachen können sich die Menschen echt ein Beispiel nehmen. Er merkt, dass er andere braucht, dass er Freunde braucht. Und schrumpft dabei zusehends.
F Was haltet ihr davon: Ich wollte ja schon lange mal in diesem Stall bei Bethlehem abhängen, von dem der Ochse erzählt hat.
O Au ja, vielleicht wiederholt sich ja die Geschichte von dieser heiligen Nacht, das wäre zu schön.
E Und ich könnte den noch mal in klein sehen, den ich schon in groß bewundert habe.
F Das würde sich gut treffen, denn es heißt schon in der Bibel bei Jesaja: “Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn.” Ihr kennt beide den Herrn Jesus, viele andere müssen ihn noch kennenlernen und begreifen, dass er keine Hirngespinste verbreitet, sondern dem Leben eine Bedeutung gibt.
D Und ich, darf ich mit?
O Ein bisschen größer als ein Schaf wirst du wohl noch sein, wenn wir im Stall ankommen…
E und du hast Federn statt Wolle und glühende Augen und Flügelchen…
F und siehst auch immer noch ein wenig unheimlich aus.
O Das ist aber nicht so schlimm. Wenn Maria, Josef, die Hirten und die Weisen aus dem Morgenland angstgeweitete Augen kriegen, wenn du da auftauchst, dann sagen wir einfach: “Er gehört zu uns.”
D Aber … das Jesuskind wird sich doch hoffentlich nicht erschrecken vor mir?
F Da kannst du ganz unbesorgt sein. Das Jesuskind lässt sich von deinem Äußeren nicht beeindrucken. Es sieht direkt hinein in dein Herz und weiß sofort alles und wie du es meinst. Es ist ja Gottes Sohn.
D Du Flattertier bist wirklich klug.
F Als ich vor langer Zeit mit den himmlischen Heeren vor den Hirten gesungen habe: “Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens”, da mussten wir anschließend gleich wieder zurück. Ich habe ich es mir damals so sehnlich gewünscht, auch mal das Jesuskind in dem wundersamen Stall zu besuchen! Und jetzt darf ich als Fledermaus dahin. Kaum jemand wird mich bemerken, wenn ich da irgendwo im Dunkeln im Gebälk hänge und still den Anblick genieße.
D Na, dann auf nach Bethlehem, damit wir die Geschichte sehen, die da geschehen ist. Und keine Angst, auch wenn ich noch nicht ganz so aussehe: Ich benehme mich friedlich und niedlich wie ein Schaf.

Die Reise der 3 Könige

Casper, wir müssen uns beeilen, wir schaffen das nicht mehr!

Immer mit der Ruhe Balthasar, ich mach ja schon so schnell ich kann.

Glaub mir Casper, das wird wirklich knapp, los gib Gas!

Gib Gas? Hast Du da eben wirklich „gib Gas“ gesagt? Ja wie soll ich denn?

Ich weiß ja noch nicht Mal, ob wir hier überhaupt noch richtig sind, und außerdem stecken wir hier fest, das siehst Du ja!

Melchior versucht, die Situation zu beruhigen. Es kann doch nicht sein, dass sich die beiden schon wieder zanken, und das heute, am 24. Dezember. Jetzt, am Weg zu Maria.

Jetzt kommt mal runter ihr zwei, wenn es unser Schicksal sein soll, dann werden wir pünktlich sein. Ansonsten wird uns das Leben eben in eine andere Richtung weisen. Vertraut auf Gott, er wird uns ans Ziel führen.

Vertraut auf Gott, vertraut auf Gott, man Melchior, Dein esoterisches Gequassel wird uns hier nicht raus helfen.

Plötzlich erstarren die drei vor Schreck. Sie nehmen noch aus dem Augenwinkel ein Blinken wahr, da öffnet sich direkt vor ihnen ein Korridor und ein Licht schießt vorbei.

Balthasar ist der Erste, der die Sprache wiederfindet. Er fuchtelt aufgeregt mit dem Finger in der Luft und zeigt schließlich nach vorne.

Da – Casper! Wir folgen dem Licht, dem auf dem Stern!

Wir dürfen dem Stern nicht folgen Balthasar.

Aber, aber sieh da, der Schwarze folgt ihm doch auch.

Das heißt noch lange nicht, dass wir das auch dürfen. Stell dir mal vor, jeder würde das machen, denkst Du wirklich, dafür wäre der Korridor da? Und vor allem, hast Du nicht gesehen? – Der hatte einen Bullen dabei.

Bulle hin, Esel her. Wir müssen uns sputen. Maria wird bestimmt enttäuscht sein, wenn wir zu spät kommen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, und wenn wir Pech haben, dann stehen wir vor verschlossenen Türen!

Maria hat bestimmt andere Sorgen und wird unser Fernbleiben erst gar nicht bemerken.

Hast du gesehen? Da folgt noch einer dem Schwarzen. Und da! Noch einer.

Meinetwegen, damit die arme Seele seine Ruhe hat. Wir schließen uns ihnen an, aber ich sage Dir – das ist keine gute Idee!

Gott sei Dank, dann lass uns mal losziehen, dem Stern hinterher.

Nach kurzer Fahrt:

Sieh da, verdammt, das Licht winkt uns zu und der Schwarze steht auch schon da.

Na super, ich hab´s ja geahnt, dass der schwarze AUDI eine Zivilstreife ist, und das Licht winkt uns nicht zu, es winkt uns heraus.

Guten Abend meine Herren! Die Fahrzeugpapiere und Ihren Führerschein bitte.

Caspar reicht dem Inspektor den Fahrzeugschein und die kleine Plastikkarte aus dem Fenster.

Der Inspektor beugt sich nach unten, um ins Fahrzeuginnere sehen zu können.

Herr König, dann machte er eine kurze rhetorische Pause, und die sind?

Sein Finger kreist und weist auf die restlichen Insassen.

Das sind meine Brüder, wir sind sozusagen die 3 Könige.

Kaspar grinst verlegen. Er weiß genau, was nun kommt. Seine Eltern hatten bei der Namenswahl eine ordentliche Portion schrägen Humor bewiesen, welchen ihn und seine 2 Brüder bereits des Öfteren zur Lachnummer degradiert hatte. Zum Erstaunen aller verkneift sich der Polizist ein Grinsen und setzt seine Amtshandlung fort, als wäre es alltäglich, den 3 Königen ein Knöllchen zu verpassen.

Sie wissen schon, dass das Befahren des Rettungskorridors verboten ist?

Es tut uns sehr leid Herr Inspektor, wissen Sie, wir sind unterwegs, um unsere Schwester Maria zu besuchen, es gibt Ente, als Weihnachtsmahl, verstehen Sie? Und da wir jetzt schon so lange im Stau stehen mussten, waren wir der ehrlichen Meinung, Sie hätten jetzt eine dritte Fahrspur eröffnet, und eben dieser wollten wir folgen. Der Stern, der Mercedes, also der Rettungswagen, war ja schließlich schon durch, den haben wir nicht mehr behindert, das kann ich Ihnen versichern, Herr Inspektor.

So so, eine dritte Fahrspur, in der Fahrbahnmitte?

Die fragende Mimik des Beamten wird ernst.

Tut mir leid, aber das kostet Sie 120,- Euro und ich mache es nur deshalb so günstig, weil wir Weihnachten haben.

Aber Herr Inspektor, nun bleiben Sie seriös. 120 Euro? Könnten Sie es vielleicht bei einer Verwarnung belassen, und wir versprechen Ihnen, künftig brav im Stau abzuwarten, bis es weitergeht? Und schauen Sie, die Fahrzeuge, welche hinter uns im Stau standen, haben uns längst schon wieder überholt. Wir hatten also keinerlei Vorteil – Ihretwegen!

Casper beißt sich auf die Zunge, die kleine Spitze gegen den Polizisten ist ihm einfach so herausgerutscht.

Meinetwegen also?

Der Polizist zückt seinen Block, schiebt sich die Brille ein Stückchen hoch und wirft Caspar einen skeptischen Blick zu.

Wenn Sie gleich bezahlen, lass ich Gnade vor Recht ergehen und Sie kommen mit 50 Euro durch, aber wirklich nur, weil heute der 24.12. ist, und nebenbei, Ihr habt noch Zeit genug, ihr kommt doch normal ohnehin erst am 6. Januar.

Dann kann sich auch der Beamte ein dümmliches Grinsen nicht verkneifen. Da war sie also endlich, die Spitze gegen ihren Namen. Caspar ist schon fast erleichtert, das Warten auf eine dumme Bemerkung hat ihn schon ganz kribbelig gemacht.

Caspar reicht zerknirscht einen Geldschein aus dem Fahrzeug und versucht, den sarkastischen Unterton in seiner Stimme etwas zu unterdrücken .

Herr Inspektor, ich danke Ihnen von ganzem Herzen.

Was ist da vorne eigentlich los? Ich meine wie kann es sein, dass auf einer kerzengeraden Straße, ohne Kreuzung, Autos stehen?

Eine Frau bekommt ein Kind.

Und da braucht sie Publikum, oder warum muss das ausgerechnet an der Autobahn sein?

Ich denke nicht, dass der Ort mit Absicht gewählt wurde, und würden Sie jetzt bitte weiter fahren!

Sollen wir ihr ein Geschenk dalassen? Ich meine, jetzt wo wir schon mal hier sind? Jetzt dringt der Sarkasmus eine Spur deutlicher durch.

Weihrauch und Myrrhe? Der Polizist grinst erneut.

Caspar wühlt in seiner Tasche, zieht eine Orange hervor und streckt sie aus dem Fenster.

Denken Sie, sie würde sich darüber freuen?

Der Beamte rückt seine Kappe zurecht und lehnt sich ans offene Autofenster.

Also, wenn sie ihr Fahrzeug jetzt nicht augenblicklich weiterbewegen, sehe ich mich dazu veranlasst, über die Strafhöhen noch mal nachzudenken! Also bitte jetzt.

Caspar wirft die Orange nach hinten zu Melchior und lässt das Fenster nach oben.

Auf jetzt, wir haben schon genug Zeit verloren. Maria wartet!

Ludmilla backt Stollen

Immer, wenn Ludmilla sich Anfang Dezember an den alljährlichen Christstollen machte, ging sie zuvor in die kleine Kapelle auf dem nahegelegenen Friedhof, um zu beten, dass ihr der Stollen auch dieses Jahr gut gelingen möge.
Sie wusste, dass sie viel von ihrem Schutzengel verlangte, denn es konnte eine Menge schieflaufen. Zum Beispiel, dass der Hefeteig nicht aufging und platt in der Schüssel schmollte oder dass sich ranzige Haselnüsse in den Teig mogelten, um sich vor dem grünen Tod auf dem Komposthaufen zu retten. Womöglich weigerten sich die in Rum getränkten Sultaninen, sich dekorativ zu verteilen, und sackten stattdessen auf den Boden des Stollens ab.
Ach, und die Puderzuckerschicht, nicht auszudenken, sie rutschte vom Stollen wie eine Lawine.
Um all diese Katastrophen zu vermeiden, betete Ludmilla mit Inbrunst zum Schutzengel der Christstollen.
Nach getanem Gebet machte sie sich himmlisch gestärkt und gegen alle Widrigkeiten gewappnet auf den Weg in den Supermarkt, um die Zutaten für ihr Backwerk zu kaufen. Nun konnte nichts mehr schief gehen. Dachte sie.
Das sah der Schutzengel der Fußgänger allerdings etwas anders, der sich just in dem Moment von Ludmilla löste und in die Lüfte erhob, als sie die Straße überqueren wollte. Plötzlich packte ihn jemand unsanft am Flügel und zog ihn mit kräftigem Nachdruck auf die Erde zurück.
„Sag mal, was soll das? Willst du sie vom LKW überfahren lassen?“, kreischte der Christstollenschutzengel mit sich überschlagender Stimme.
„Tja, hat diese backwütige Stollenexpertin etwa zu dir in der Kapelle Kontakt aufgenommen oder zu mir?“
„Bei dir ist doch das Gehirn umwölkt, seit wann verhängst du Todesstrafen, nur weil eine schlichte harmlose Frau mal nicht an dich denkt. Halt sofort den LKW an!“
„Pffft… darfst du Stollenwichtel mir überhaupt befehlen? Du bist niederster Rang. Einmal im Jahr ein kurzer Auftritt zur Adventszeit und sonst nix zustande bringen. Ich bin ganzjährig Tag und Nacht unterwegs, du fliegender Teilzeitschutz.“
„Wenn du nicht auf der Stelle, … ich bring dich vor den Himmelsrat.“
„Haha, ich mach doch nur Spaß.“
Völlig auf ihre Zutatenliste konzentriert, Ludmilla befand sich auf der Straße nur vier Schritte vor dem Bordstein, hörte sie von rechts ein langgedehntes Quietschen und sah einen dunklen Schatten auf sich zurasen. Zehn Zentimeter neben ihr kam das LKW-Ungetüm dumpf schnaufend zum Stehen.
‚Komisch‘, dachte Ludmilla, ‚die Fahrbahn war doch frei, als ich sie betrat. Wo ist der denn nur hergekommen?‘
„Siehste? Nix passiert. Ich mach das öfter, dass ich eine Sekunde vor dem Aufprall den Wagen stoppe“, sagte der Fußgängerschutzengel mit blitzenden Augen und schiefem Lächeln.
„Du hast doch nicht mehr alle Federn am Flügel, solche Spiele zu spielen, was, wenn es mal schief geht? Du bist nicht der Allmächtige!“
„Du verstehst echt den Kick nicht, was das für’n Kitzel ist, das bis zur allerletzten Zehntelsekunde auszureizen. Ihr von der Backabteilung seid tatsächlich dröge wie Brot. Und hey, du schuldest mir jetzt was.“
Der Fußgängerschutzengel boxte den Christstollenschutzengel heftig in die Seite. Der stolperte nach vorne und schlug mit seinen Flügeln um sich, um sein Gleichgewicht wieder zu erlangen, wobei sich ein paar Daunen aus seinem Gefieder verabschiedeten.
Besorgt blickte er auf die niedersinkenden weichen Flocken.
„Lass das gefälligst! Deinetwegen verliere ich wertvolle Federn. Du weißt selbst, dass die nicht nachwachsen, und dir schulde ich gar nichts.“
‚Ach guck mal‘, dachte Ludmilla fasziniert, ‚die ersten Schneeflöckchen treffen ein.‘
„Ohoho doch, du schuldest mir was. Ich hab grad deinem Backwahn in Frauengestalt das Leben gerettet. Und deine bekloppten Federkiele kannst du ja wieder ankleben, machen alle so.“
„Nee, du wolltest sie umbringen, schon vergessen? Dir bekommen die ewigen Abgase nicht und Federn ankleben, wie sieht das denn aus? So geflickt lauf ich nicht rum.“
„Ich sag nur eins: Deine Ludmilla ist noch lange nicht mit ihrem Gepäck zu Hause angekommen. Da gibt es noch ein paar interessante Straßen, die sie überqueren muss.“
„Was willst du?“, seufzte der Christstollenschutzengel.
„Spaß haben, bisschen mitbacken, na, dabei sein und so.“
„Dann komm, aber wehe, du tust ihr weh!“
Ludmillas Wohnküche hatte eine gemütliche Eckbank, vor der sich ein geräumiger Esstisch befand.
Sie wuchtete einen Einkaufsbeutel auf diesen Tisch, die Tasche mit dem ganz schweren Inhalt ließ sie zu Boden sinken und angelte aus ihm je eine Packung Zucker und Mehl.
„Lass mal spitzeln, was sie so eingekauft hat“, sagte der Fußgängerschutzengel und stibitzte den Hefewürfel, den er sich blitzschnell unter seinen Flügel klemmte.
Kopfschüttelnd betrachtete der Christstollenschutzengel das Geschehen. Ludmilla hatte bereits alle ihre Einkäufe auf einer Seite des Tisches gestapelt und sogar den Beutel umgekrempelt, um doch noch die Hefe zu finden. Nun blickte sie ratlos drein.
„Das finde ich nicht lustig“, sagte der Christstollenschutzengel zum Fußgängerschutzengel, „leg ihr sofort den Würfel auf den Tisch!“
„Nö, der Spaß beginnt doch erst, wenn sie …“ Aber da hatte sich bereits der Christstollenschutzengel dicht vor ihm aufgebaut und geschwind mit zielgerichtetem Zeigefinger den Hefewürfel aus dessen Flügelbeuge gedrückt.
‚Ach, da liegt er ja‘, staunte Ludmilla und hob das Würfelchen vom Boden auf, tat es in eine kleine Schale, fügte etwas lauwarmes Wasser und einen Esslöffel aus der frisch geöffneten Zuckerpackung hinzu, die danach sofort an der Kante des Esstischs umfiel, so dass der Zucker munter auf den Küchenfußboden rieselte.
„Mann, sind deine Streiche dämlich. Jetzt wirst du gleich die Küchenbank mit Mehl bestäuben und Haselnüsse über den Boden kullern, stimmts?“, gähnte der Christstollenschutzengel gelangweilt an den Türrahmen gelehnt, „du kannst vielleicht auf die Zehntelsekunde Autos stoppen, aber hier gelingt dir nur langweiliger Kinderkram.“
Ludmilla hatte in einer großen Schüssel die Teigzutaten mitsamt dem Hefeansatz verrührt. Ihre Hausschuhsohlen knirschten beim Zertreten des Fußbodenzuckers. Zum Glück hatte die Restmenge in der Packung für den Stollen ausgereicht. Sie begann den Klumpen auf der bemehlten Tischfläche zu kneten. Ihre Fäuste flogen nur so in den Teig, den sie geschwind, wenn er plattgeboxt war, wieder zu einem dicken Paket zusammenklappte, um ihm wieder und wieder kräftige Püffe zu verpassen.
„Beleidigst du mich grad?“, fragte der Fußgängerschutzengel mit drohendem Blick zur Küchentür, „und willst behaupten, du hättest was drauf? Dann zeig doch mal was, du Windbeutel.“
„Ich könnte, wenn ich wollte, aber ich gebe Straßenbanditen wie dir nicht noch 'ne Vorführung.“
„Pah, wusst ich‘s doch, du bist nur eine hohle Teigtasche, nix kannste.“
Ludmilla hatte in der Zwischenzeit den Teig wieder in die große Schüssel gepackt und ein Handtuch drübergelegt, damit er keine Zugluft beim Aufgehen bekam. Die Küche hatte sie verlassen, denn der Stollen benötigte ihre Dienste in der nächsten Stunde nicht.
„Einen so aufbrausenden Typ wie dich hätte ich besser in der Gosse stehengelassen. Wenn du wüsstest, was ich hier alles anrichten könnte“, sagte der Christstollenschutzengel.
„Tja, wenn Mehlbeutel Andeutungen absondern, wird allenfalls die Sicht trübe, du abstürzender Tortenrand. Beweis es endlich. Aber du bist so unwichtig wie ein Kekskrümel am Mundwinkel.“
„So, jetzt reicht es mir, dir werde ich es zeigen und dir dein Lästermaul stopfen. Du wirst gleich sehen, was passiert.“
Und noch während der Fußgängerschutzengel sich vor Lachen schüttelte, was allerdings etwas hohl klang, denn so richtig Spaß hatte er grad nicht, hatte der Christstollenschutzengel wieder Position im Türrahmen bezogen, ein paar Formeln gebrabbelt und den Hefeteig in der Schüssel so kräftig in die Höhe wachsen lassen, dass das Handtuch zur Seite flog.
„Ist das alles? Ich bin schwer beeindruckt“, kicherte der Fußgängerschutzengel, nun hoch amüsiert, schlug sich vor Lachen auf die Schenkel und rutschte auf dem Zuckerteppich aus. Immer noch belustigt, saß er auf dem Küchenfußboden, seine Flügel links und rechts hinter ihm aufgestellt, als würden sie ihn stützen. Der Teig wuchs, hatte sich über alle Seiten des Tisches ausgebreitet und den Boden erreicht, wo er sich geschwind, wie eine in diesen Raum gekippte Betonladung, ausdehnte. Verdutzt blickte der Fußgängerschutzengel auf die Teigmassen, die über seine Beine zogen, seine Flügelspitzen bereits eingeteigt hatten und nun Kurs auf seine Hüften nahmen.
„Verdammt, willst du mich mit dem Zeug ersticken? Hör auf damit!“
Unwirsch griff er an seinen Bauch, um dort den Teig wegzuschieben, aber dieser stieg unbeirrt an ihm hoch, legte sich schwer auf seine Brust und überzog die Flügel, die sich unter dieser Last zusammenfalteten.
„Es reicht!“, wütete der Fußgängerschutzengel „ich hab’s kapiert, kannst aufhören, hörst du?“
Der Christstollenschutzengel reagierte nicht. Er hatte aus seiner Hosentasche einen Borstenpinsel gezogen, mit dem er in Seelenruhe sein Flügelgefieder säuberlich abbürstete.
Der Teig hatte den Hals des Fußgängerschutzengels erreicht und drückte unangenehm gegen seine Gurgel.
„Willst du mich umbringen? Ich krieg keine Luft mehr.“ Die Stimme des Fußgängerschutzengels klang panisch.
„Solange du noch was sagen kannst, hast du auch genügend Luft. Aber vielleicht solltest du nicht so viel reden, wenn sich der Teig erst mal in deinem Mund ausgebreitet hat, wird das mit dem Sprechen schwierig.“
Der Fußgängerschutzengel reckte seinen Hals, um etwas Abstand zum bereits vor dem Kinn befindlichen Teig zu erringen und keuchte:
„Stopp das! Mach endlich.“
„Das kann ich gar nicht. Ich hab es ja auch nicht herbei gerufen.“
„Was? Du lügst, du Windhund!“, stieß der Fußgängerschutzengel mit letzter Kraft hervor.
Er wusste, jetzt musste er sich beeilen, die Losung auszusprechen, wenn er aus dieser Lage befreit werden wollte. Jeder Schutzengel kannte sie. Wer die magischen Worte sagte, bekam garantierte rasche Rettung. Aber der Preis war eine gründliche Untersuchung des Vorfalls. Und dabei waren schon so manchem Schutzengel die Flügel gehörig gestutzt worden.
„Himmel hilf!“, röchelte der Fußgängerschutzengel und der Stollenteig schrumpfte augenblicklich und zog sich in seine Schüssel zurück.
Als Ludmilla nach einer Stunde wieder die Küche betrat, begrüßte sie ein gut aufgegangener Hefeteig unter dem Handtuch, der sogleich nochmals von ihr durchgeknetet wurde.
‚Seltsam‘, dachte Ludmilla, ‚wo kommen bloß die Federn her, ich ziehe schon die Dritte aus dem Teig.‘

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Märchenhafte Weihnachten

Es war einmal… wenn sie nicht gestorben sind… blablabla.
Natürlich bin ich nicht gestorben, ich habe mich ja auch hundert Jahre ausgeschlafen und konnte genügend Kraft sammeln für das, was dann kam. Aber ich will der Geschichte nicht vorgreifen, fangen wir am besten am Anfang an…

Ich stelle die Zauberkugel auf den festlich gedeckten Tisch und werfe einen letzten Blick auf die Dekoration. Alles ist perfekt vorbereitet. Wie jedes Jahr. Zwei Gedecke, Servierten mit weihnachtlichen Motiven, Kerzen. Der Tannenbaum mit Kugeln, Lametta und Lichtern.

Ein leichter Luftzug weht durch den Raum und da ist auch schon mein Prinz. Wir fallen uns in die Arme und küssen uns. Wenn man sich nur einmal im Jahr für wenige Stunden sieht, ist jede Minute kostbar und man darf keine Zeit verlieren.

Er sieht mich vorwurfsvoll an und sofort setze ich einen schuldbewussten Gesichtsausdruck auf. Ich weiß, was jetzt kommt, und muss seine Ansprache geduldig ertragen. So wie jedes Jahr. Das bin ich ihm einfach schuldig.
„Dornröschen, was hast du getan? Nicht nur, dass du mit der Spindel der Hexe gespielt hast. Durch riesige Dornenhecken musste ich mich kämpfen, mein ganzer Körper war zerkratzt.“
Ja, mein Prinz ist tapfer und hat sein Leben für mich aufs Spiel gesetzt. Aber ich bin neugierig und undiszipliniert. Gerade erst gerettet, hatte ich schon wieder eine neue Idee, und die Folgen waren schlimmer als der hundertjährige Schlaf.

„Kaum hatte ich dich wachgeküsst, musstest du mit der Zauberkugel der Hexe spielen“, fuhr er fort. „Ihr Fluch hat dich in diese Welt geschleudert und wir können uns nur einmal im Jahr sehen. Für wenige Stunden am Weihnachtsabend!“
Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen, denn ich habe alles verbockt. Jedes Jahr wirft er mir das vor. Ich nehme mir vor, ein besserer Mensch zu werden. Sollte ich je wieder in meine Welt zurückkommen, werde ich keine Extratouren mehr drehen und mich an die geltenden Regeln halten. Aber heute Abend will ich mich nicht mit guten Vorsätzen belasten.

„Wie oft bin ich schon hier rüber geflogen?“, fragt er.
„Zum siebzigsten Mal. Vielleicht müssen wir die hundert Jahre wieder voll machen und dann ist alles gut?“, erwidere ich.
Er seufzt und drückt mir eine Tasche in die Hand. Mit Briefen von meinen Eltern, Freundinnen und dem Hofstaat. Dazu Golddukaten von meinem Vater, damit ich in der fremden Welt überleben kann.
Wir stellen die Tasche achtlos beiseite und setzten uns an den Tisch. Er legt einen Brief neben die Zauberkugel.
„Was ist das?“, frage ich neugierig.
„Dein Weihnachtsgeschenk“, grinst er, bleibt mir aber eine Antwort schuldig.

Wir essen das Weihnachtsmenü und feiern dann unser ganz persönliches Weihnachtsfest. Wenn man nur so wenige Stunden zur Verfügung hat, darf man wie gesagt keine Zeit verschwenden. Aber irgendwann geht die Wiedersehensfreude in Abschiedsschmerz über und ich werde traurig. Wir haben schon viele Versuche unternommen, mich zurück ins Märchenland zu bringen. Uns aneinandergebunden, wenn er zurückfliegen musste. Irgendwelche Zaubersprüche aus Fantasyromanen gesprochen – nichts hat genutzt. Irgendwann haben wir es aufgegeben und ich musste lernen, mit dem ewigen Abschied zu leben.

Es ist schon 23.30 Uhr. In einer halben Stunde wird er verschwinden und ich muss wieder ein Jahr auf ihn warten. Aber der Prinz bleibt gelassen und wirkt kein bisschen traurig. Ist es ihm egal? Hat er längst eine andere? Aschenputtel? Schneewittchen?

„Du hast dein Weihnachtsgeschenk noch nicht geöffnet“, unterbricht er meine düsteren Gedanken.
Ich öffne den Brief und verstehe kein Wort. „Was soll das bedeuten?“, frage ich.
„Eine Gebrauchsanweisung für die Zauberkugel. Wie wir zusammen zurückfliegen können“, antwortet er. „Mit vielen Grüßen von der guten Fee.“

Wir suchen Kräuter in der Wohnung, verstreuen sie in der Luft und setzen uns einen Mistelzweig auf den Kopf. Gemeinsam sprechen wir die magischen Zeilen, welche die Fee auf den Brief geschrieben hat. Die Kugel presse ich fest an mich, denn sie muss uns Nachhause bringen. Eine sanfte Kraft umfängt uns und zerrt immer energischer an unseren Körpern. Dann fliegen wir gemeinsam zurück ins Märchenland.