Aschenbrödel und der magische Spiegel Teil 1- Fortsetzung folgt weiter unten
24.12… Heiligabend. Alle Jahre wieder ist die Zeit zu knapp, um all das zu erledigen, was noch erledigt werden müsste. Vielleicht nehme ich mir auch jedes Jahr zu viel vor, mag ja sein. In meinem Kopf eiert eine Platte mit Sprung „Still schweigt Kummer und Harm.“ Aus welchem Weihnachtslied ist das gleich? Ich versuche, mir die Zeilen zusammenzureimen, während ich im Badezimmer mit der Ampulle aus dem Kalender versuche, das Altern zu bremsen. Alt werden wollen alle, alt aussehen - relativ.
„Bis gleich, Schatz …“ Tönt es über den Flur. Die Tür fällt ins Schloss. Der Mann macht immer dasselbe am Heiligabend: Mal schnell einkaufen, was fehlt. Irgendwas fehlt immer. Ist offenbar auch Tradition. „Mama - Pulli hat an den Weihnachtsbaum gepinkelt!“ Beschwert sich das liebe Kind aus dem Wohnzimmer heraus über den Flur.
„Pulli ist eine Katze. Katzen pinkeln nicht an Bäume. Hunde tun das.“ Rufe ich zurück, schnappe mir die Futterdose und eile zum Apfelbaum. Draußen warten schon meine Hühner. Genauer gesagt in ihrer Vogelschutzhecke. Unten die Fasane, oben die Spatzen - Gang und die Meisen. Die Kleinen begrüßen mich flötend und stürzen sich in das Futterhaus am Baum, sobald ich ein paar Schritte zurückweiche. Die Fasanendamen warten immer, bis ich wieder in der Küche angelangt bin. Dann frühstücken wir zusammen. Nieselregen. Na, welch ein Weihnachtswetter. Das Kind hatte sich Schnee gewünscht, um mit seinem neuen roten Hörnerschlitten von letztem Weihnachten den Berg unsicher zu machen. Ich hoffe, das bleibt die einzige Enttäuschung heute. Ich warte auf den Paketboten. Den, der meist innerhalb eines Tages kommt. Das Kind kam auf die Idee, dem Weihnachtsmann einen Brief zu schreiben. Natürlich kriegt er den. Auch noch vier Tage vor Weihnachten. Er ist der Weihnachtsmann. Er ist magisch. Sicher liest er den, höre ich mich selber sagen. Zwei Tage vorher erzählt meine Tochter mir dann stolz, dass sie dem Weihnachtsmann übrigens geschrieben hat, dass sie sich eine Eisenbahn wünscht- und ein Pad aus ihrer Lieblingsserie mit den kleinen Rettungshunden. Während ich mein Handy zücke und hoffe, dass Jeff zufällig eine kleine Eisenbahn im Angebot und Sofortversand hat, lächle ich tapfer. „Ja, dann mal schauen, ob die Elfen das so schnell zusammenbauen können …“
„Aber die können doch Magie …“ Recht hat sie. Aber er kann ja auch noch kommen, der Bote. Und ich kann schlecht draußen auf ihn warten. Drinnen wieder angekommen, rappelt das Handy. Die reumütige Patentante, die am zweiten Feiertag mit ihrem Liebsten im Romantikurlaub weilt, anstatt uns zu besuchen, schickt nun ständig Nachrichten vom Schnee. Ich schleppe derweil unseren singenden Elchkopf mit Leuchtgeweih und einen Hammer. Den wollte ich gefühlt seit drei Wochen aufhängen, aber ich hatte bisher kein Stromsuchgerät gefunden. Und danach werde ich schnell die Geschenke für die Cousins einpacken. Morgen ist für Oma und das Schwägermonster reserviert. Immerhin Heiligabend haben wir seit einiger Zeit für uns, murmele ich düster, während ich den Nagel in die Wand malträtiere. Stahlnägel zählen zu den besten Erfindungen unserer Zeit. Und ab dem 26. werde ich dann Urlaub machen. Yoga, mit den Kleinen kuscheln, essen, meditieren und die Rauhnächte feiern. Die Zeit zwischen den Jahren, außerhalb der Zeit. Eine herrliche Zeit. Der Elch hängt. Und er singt. Das macht der Bewegungsmelder. Genauer gesagt die kleine Katze davor, die sich gruselt. Die Große findet ihren vollen Teller interessanter.
„Mama, es hat geklingelt!“ Auf der Couch diskutieren gerade die kleinen Rettungshunde aus dem Adventskalender mit den bunten Ponys aus dem Land der Freundschaft, was es zu Weihnachten gibt, und ob die Eisenbahn rechtzeitig ankommt.
„Ich habe gar kein Auto gehört …“ Geistesgegenwärtig lege ich meinen Hammer schnell auf der Konsole ab, bevor ich öffne.
„Was zum-?“ Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. An der Wand gegenüber unserer Haustür lehnt ein riesiges, zerfleddertes Paket.
Ich habe keine Ahnung, was das ist. Und es ist auch keiner mehr da, den ich fragen kann.
„Na, der wird wissen, warum er direkt wieder abgehauen ist. DAS ist KEINE Eisenbahn! So ein verdammter Mist!“ Fluchend renne ich um das Paket herum. Mir wurde mal gesagt, dass man es in meinem Beruf geschafft habe, wenn ein Stammkunde anrufe und man, auch wenn der seinen Namen sage, ihn beim besten Willen erstmal nicht zuordnen könne. Offenbar habe ich es bei den Kleinanzeigen endgültig geschafft. Ich habe keine Erinnerung daran, sowas Großes bestellt zu haben. Ich zupfe an der kaputten Verpackung. Gold, Stuck und Glas- und als Empfänger bin zweifellos ich eintragen. Siedend heiß schießt mir durch den Kopf, dass das jetzt bitte kein Weihnachtsgeschenk von denen ist, über die wir kein Wort mehr verlieren. Es gibt Menschen, in denen will ich mich auf keinen Fall geirrt haben. Und es regnet. Wenn ich das nicht bald hier wegschaffe, ist es hinüber. Falls der Transport es nicht schon dahingerafft hat. Ich hebe vorsichtig eine Seite an. Irgendwo kräht einer unserer Raben.
„Ich glaube kaum, dass Du mir dabei helfen kannst! Es sei denn, Du bringst Deine 29 Brüder mit und ihr könnt zufällig zaubern!! Scheiße, ist das schwer! Wie kriege ich das jetzt bloß durch die Tür?“
„Mama, ich will einen Kakao!“ Tönt es über den Flur.
„Zwergi, nein!“ Gerade noch geschafft, die Tür zu zu schubsen. Die kleine Katze wollte schauen, wo ich bleibe. Sie ist ein Kuschel-Kontrolletti. Eins ist klar, wenn der Mann das sieht, kennt seine Begeisterung keine Grenzen.
„Kann ich Euch vielleicht helfen?“ Als ich erschrocken herumfahre, steht vor mir ein Hüne in merkwürdiger schwarzer Kleidung. Sein Gesicht ist alterslos, und er trägt eine Augenklappe. Mit dem heilen Auge zwinkert er mir zu und greift direkt nach dem Paket. Er hebt es mühelos an. „Wo soll es denn hin?“
„Äh. Ja. Das soll rein. Ich habe zwar keine Ahnung, wo es herkommt, aber hier im Regen kann es nicht bleiben. Für den Fall, dass ich ein Widerrufsrecht haben sollte, darf es sich nicht verschlechtern. Wo kommen Sie eigentlich so plötzlich her? Ich habe Ihren Lieferwagen gar nicht gehört … Oder haben Sie so ein E-Auto?“ Murmele ich und öffne die Tür.
Er lacht leise vor sich hin und trägt das Paket rein.
„Sowas Ähnliches. Ach, ab und zu bin ich hier im Wald. Wir sind quasi Nachbarn. Ich gehe gern im Nebel spazieren um diese Zeit, wenn noch alles ruhig ist. Abends ist ja so viel zu tun.“
„Wohl wahr.“ Ungläubig schaue ich zu, wie er das Paket an der freien Wand anlehnt und von der großen Katze begrüßt wird. Sie schnurrt um seine Beine herum und hinterlässt weiße Haare auf seiner Kleidung.
„Normalerweise ist sie eher skeptisch, wenn sie jemanden nicht kennt …“
Offenbar bei ihm nicht. Er hebt sie auf seinen Arm und krault sie, während die kleine Katze um die Ecke kommt und dort weitermacht, wo die Große eben aufgehört hat.
„Mama, mein Kakao …“ Meine Tochter lugt neugierig um die Ecke, dann hüpft sie auf den Fremden zu, nimmt seine Hand und zeigt ihm den Weihnachtsbaum und die Sammlung der Rettungshundefiguren.
Ich löse vorsichtig die durchweichte Verpackung. Ein mannshoher Wandspiegel kommt zum Vorschein. Wunderschön verziert. Mit Sicherheit antik.
„Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, den bestellt zu haben …“ Kopfschüttelnd stehe ich vor dem Spiegel und knülle die Verpackung. „Was mache ich jetzt damit? Bei den Kleinanzeigen gibt es kein Widerrufsrecht…“
„Vielleicht kann unser Nachbar Dir den aufhängen? Dann musst Du nicht wieder Hämmern!“ Meine Tochter versorgt den Fremden bereits mit selbstgebackenen Keksen. „Und dann zeige ich Dir meine Bilder!“
„Wo soll er denn hin?“ Der Fremde nimmt schon den Hammer von der Konsole und greift nach dem Spiegel.
Wortlos deute ich auf die einzige freie Wand. „Brauchen Sie das Stromsuchgerät? Es muss hier irgendwo -“
Doch ehe ich danach greifen kann, hängt der Spiegel schon.
„Du kannst das viel besser als Mama …“ Meine Tochter klatscht strahlend in die Hände. „Ich mache uns einen Kakao. Weißt Du, dass unser Nachbar auch ein Pferd hat? Wie Deinen Kapitän Schwarzohr?“
„Schön“ flüstere ich mit zusammengepressten Lippen und spüre, wie meine Augen feucht werden.
„Was macht Euch so traurig? Mögt Ihr keine Pferde?“
„Im Gegenteil- nur an Weihnachten bin ich immer zuerst zu meinem Pferd gefahren.“
„Heute ist Weihnachten.“
„Und mein Pferd ist tot.“
Unser seltsamer Nachbar mustert mich und legt ungläubig den Kopf schief.
„An Eurer Tür steht Meditation. Ihr seid eine Heilerin. Und ihr glaubt ernsthaft, dass der Tod das Ende ist?“
„Da steht Mediatorin. Das bedeutet, dass ich in zwischenmenschlichen Konflikten vermittle, und hat nichts mit Meditation zu tun. Auch, wenn ich privat gerne meditiere.“
„Ah, Buddha! Guter Mann!“ Begeistert greift er nach einer Statue.
„Ja, der steht da, weil ich seine Denkansätze ungemein schätze …“
„Shiva!“ Er deutet auf den Fernseher. Ich habe keine Ahnung, wieso das Kind statt der Rettungshunde nun den Guru eingeschaltet hat.
„Ja, das- schauen viele Leute, der ist ein Meister - Yogi-“ stöhne ich augenrollend.
„Jesus!“
„Ja, der steht auf unserem Kamin, weil wir auch seine Gedanken sehr“-
Unser Nachbar eilt zum Wohnzimmertisch, schnappt sich mein altes Räuchergefäß und hält es unter meine Nase.
„Rauchnächte?“ Erwartungsvoll mustert er mich. „Was fällt Euch dazu ein? Die, die alle möglichen alten Gegenstände in ihr Haus trägt und mit den eigenen Händen restauriert? Das spürt man- Ihr habt sie mit neuer Energie beseelt!“
„Ja. Schön. Und weiter?“
„Was gehört dazu? Wer reitet nachts durch Wald und Wind? Aktuell meine ich! Wer? Hm?“
„Jedenfalls nicht der Erlkönig …“ Brumme ich genervt und schnappe mir das Gefäß. „Ich reflektiere gerne in dieser Zeit. Ich bilde mir ein, dass mir das guttut … Das alte Jahr abschließen und verarbeiten, dann schleppt man über die Jahre weniger Ballast mit sich rum. Und wenn Ihr es gerne esoterisch mögt - weniger feinstofflichen Müll. Und um Eure andere Frage zu beantworten: Bifröst, Nornen, Yggdrasil, die wilde Jagd, Sleipnir, Hugin, Mugin und Odin - zufrieden???“
Keine Antwort. Der Fremde scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.
„Du hättest unserem Nachbarn einfach Danke sagen können …“ Konstatiert meine Tochter trocken, zwei Kakao-Becher in den Händen. Pulli sieht das offenbar ähnlich. Laut knurrend rennt sie an mir vorbei und verschwindet durch die Katzenklappe im Auslauf.
„Tut mir leid.“ Im Fernsehen flimmern wieder die Rettungshunde. Zwergi schnüffelt interessiert an dem Baum.
„Untersteh Dich! Das ist KEIN Pipi, das ist nur Wasser! Und Wasser muss man keinesfalls übermarkieren, Zwergleinfein!!!“ Brummend schnappe ich mir Reiniger und Küchenrolle. Und wo ich schonmal dabei bin, beginne ich auf dem Rückweg zum Putzschrank, den Spiegel zu Säubern. Als ich die erste Staubschicht beseitigt habe, fällt mir auf, dass an meiner Nase Ruß klebt. Von der Weihnachtskerze. Ich muss lächeln und wische ihn mit dem Ärmel ab.
„Ach, Genoveva, was hast Du immer gesagt? Mit dem Reflektieren ist das so eine Sache. Wer kann sich schon ohne Spiegel selber in die Augen schauen? Und selbst mit Spiegel ist es oft noch so, dass die meisten versuchen, den Dreck auf der Oberfläche des Spiegels abzuwischen, anstatt direkt bei sich selbst. Das Außen. Es ist nur ein Spiegel. Vergiss das nie.“ Mir kommen schon wieder die Tränen.
„Ich vermisse Dich. Ich hoffe so, dass es Dir besser geht. Ich wünschte, Du wärst hier. Mit wem sonst kann ich so offen über Gott und die Welt und das Universum sprechen, wie mit Dir?“
„Na, vielleicht mit MIR?“ Ich fahre entsetzt zusammen. Hinter mir steht das Aschenbrödel. Das mit den drei Haselnüssen. In seinem Hochzeitskleid. Allerdings ohne das weltbekannte, unschuldige Lächeln. Eher angesäuert.
„Hast ja lange gebraucht, Schwester!“
„WAS? Was – wieso redest Du so? Du bist im Fernsehen- wie jedes Jahr an Weihnachten.“
„Ja, genau. Ungefähr seit fünfzig Jahren rette ich Euch allen an Weihnachten Euren Glauben an das Gute, die Liebe und die Romantik. Was ist mit mir, hm? Hat sich je einer von Euch Gedanken gemacht, was ich sonst so tue? Wenn ihr wieder Eurem Alltag nachgeht und mehr oder weniger unachtsam miteinander und Euch selbst seid? Du hast da was!“
Aschenbrödel schnappt sich die Küchenrolle und putzt den letzten Ruß von meiner Nase. Dann lächelt sie.
„Ja, lange ist es her. Die letzten Jahre hast Du mich an Weihnachten nicht mehr besucht. Wieso?“
„Ich dachte - es ging mir gut. Und Du bist eine Märchenfigur. Dich gibt es im Grunde ja nur im Märchen…“ Stammele ich.
„Ja. Es ging Dir besser. Zum Glück. Bis dahin habe ich Dir jedes Jahr geholfen, Weihnachten zu ertragen. Erinnerst du Dich? Du hast mal gesagt, dass erst Weihnachten ist, wenn wir uns getroffen haben. Du hast Dir sogar die DVD gekauft, damit Du mich nie verpassen würdest. Ich habe gewartet. Auf Dich. Jedes Jahr. Ich dachte, wir wären Freundinnen. Schwestern. Aber Du bist nicht mehr gekommen. Also komme ich heute zu Dir. Was ist los? Was ist so witzig?“
„Ach, ich bin nur gerade heilfroh, dass Du es bist. Und nicht die böse Stiefmutter. Sonst müsste ich jetzt den Hammer suchen.“
„Richtig. Die blöde Nuss. Meine habe ich im zugefrorenen See geparkt. Wo steckt Deine?“
„Ich habe keine Ahnung, und es ist mir auch egal. Hauptsache weit weg.“
Aschenbrödel nickt. „Gute Lösung.“
„Zugefrorener See ist besser. Da können sie nicht einfach auftauchen, wie es ihnen passt. Allerdings ist das in unserer Welt strafbar. Und in Deiner auch, es sei denn, man ist zufällig mit dem Prinzen verheiratet. Oder?“ Ich zwinkere ihr belustigt zu. „Ich freu mich, dass Du da bist. Ich hatte keine Ahnung, dass Du merkst, dass ich Dich anschaue.“
„Genau das ist das Problem. Ihr seht mich alle nur als Projektionsfläche. Und übrigens:
Glühende Pantoffeln hätten mir besser gefallen. Aber leider war nur noch der See verfügbar. Aschenputtel war schneller.“
„Warum bist Du ausgerechnet heute gekommen? Du hättest schon viel früher -“
„Weil ich Deine Hilfe brauche. Weiß Du, an Weihnachten beobachtet ihr mich- wie ich immer wieder dasselbe tue. Den Rest des Jahres beobachte ich Euch. Und zu dieser Zeit sind die Schleier zwischen den Welten dünn, und da habe ich jemanden um Hilfe gebeten … Deinen Nachbarn.“
„Den seltsamen Paketboten, der in seinen Pausen gerne durch unseren Wald rennt?“
„Eben diesen.“ Aschenbrödel mustert mich skeptisch.
„Möchtest Du einen Tee? Ich habe auch Kekse …“ Ich rappele mich auf und wir zwei gehen in die Küche. Während ich Tee koche, schlendert Aschenbrödel ins Wohnzimmer. Von weitem höre ich, wie sie sich meiner Tochter als meine Schwester vorstellt und sogleich in die Geheimnisse der Rettungshunde eingeweiht wird. Anschließend möchte meine Tochter wissen, ob sie auch von den bösen Eltern aus dem Krankenhaus mitgenommen wurde und noch ihre guten Eltern sucht. Aschenbrödels Antwort kann ich nicht verstehen. Als ich mich zum Tisch drehe, entgleitet mir fast die Kanne. Aschenbrödel steht vor mir und mampft mit Hamsterbacken Kekse, Zwergi auf dem Arm.
„Ich will auch ein Kind. Und eine Katze – und diese Kekse sind himmlisch!“
Ich schenke Tee ein und wir setzen uns gemütlich an den Tisch.
„Ich will auch ein Leben“ wiederholt sie ernsthaft.
„Das verstehe ich gerade nicht, Du hast doch Deinen Prinzen, wieso hab ihr-“ Ihr Blick bringt mich zum Schweigen.
„Denk mal nach. Was ist die letzte Szene in meinem Film, der gleichzeitig mein Leben ist?“
„Na, Du galoppierst sehr emanzipiert auf Deinem eigenen Pferd neben Deinem Prinzen durch den Schnee unter einem strahlend blauen Himmel.“
„Eben. Das ist das Ende. Und dann springt alles wieder auf Anfang. Jedes verdammte Jahr. Und dazwischen ist nichts. Null.“
„Ich dachte, ihr lebt dann glücklich auf Eurem Schloss bis ans Ende -“
„Bla, bla. Jeder von Euch denkt sich das, was er sich denken will. Aber keiner hat sich je die Mühe gemacht, mir ein Leben „danach“ zu schreiben. Deswegen bin ich heute hier. Bei Dir. Hast Du noch Kekse? Die sind so lecker!“ Aschenbrödel stopft sich weiter fröhlich Kekse in den Mund. „Eine Katze will ich auch. Besser zwei.“ Wie auf Kommando hüpft Pulli auf ihren Schoß.
„Wieso kommst Du denn damit zu mir?“
„Na, weil Du Märchen schreibst?! Und weil unsere Geschichten uns zu Schwestern machen. Wenn einer mir ein Leben schreiben kann, dann einer, der mich versteht und das geschafft hat, was ich will. Ein neues Leben. Und ganz viele von denen.“ Aschenbrödel angelt nach der nächsten Keksdose.
„Sag mal, weißt Du, dass Kekse Kalorien haben?!“
„Keine Ahnung, was Du meinst.“
„Davon nimmt man zu, wenn man zu viele davon isst. Dann passen Dir Deinen tollen Klamotten bald nicht mehr. Wie schaffst Du es, bei dem Kohldampf so schlank zu bleiben?“
„Na, hast Du mich in meinem Film jemals essen sehen? Beantwortet das Deine Frage?“
„Also alles, was da nicht ist, ist auch nicht? Ich meine -“
„Ja. Ich schiebe seit fast 50 Jahren Nulldiät. Oder hast Du mir jemals Kekse in meine Geschichte geschrieben? Immernoch so angetan von meiner Figur?“
Ich schüttele entsetzt den Kopf und schiebe ihr die Dose hin.
„Das tut mir leid. Nimm so viele Du willst.“
„Halb so wild, jetzt bin ich ja hier.“
„Und Dein Prinz? Wollte der nicht mit?“
„Was soll mit dem sein? Ich habe ihn gefragt. Aber er ist zufrieden da, wo er ist. Der Hahn im Korb, alle himmeln ihn an. Und seine Kumpels, die konnte er unmöglich alleine lassen.“
„Das tut mir leid.“
„Na komm, Du weißt doch, worum es im Märchen wirklich geht, oder? Im symbolischen Sinn meine ich. Oder habe ich nur geträumt, dass Du jahrelang diese Bücher verschlungen hast?“
„Der weibliche und der männliche Anteil eines Menschen müssen sich finden, gegenseitig retten und vereinen, damit die Wunden heilen, die das Leben schlug. Alles muss in Einklang kommen. Und in Märchen wird diese Symbolik mit dem Prinzen und der Prinzessin, die sich gegenseitig kriegen müssen, damit es gut ausgeht, verkörpert. Es geht in diesem höheren Sinn niemals wirklich darum, dass erst ein anderer Mensch kommen und einen befreien und erlösen muss. Man rettet immer nur sich selbst. Zufrieden?“
„Sehr gut. Nun haben wir Euch fast fünfzig Mal aufgezeigt, dass durch emotionalen Missbrauch und Misshandlungen seelische Verletzungen entstehen und wie man sie heilen kann.“
„Fort von den Tätern, indem der männliche Anteil erwachsen wird und sich den weiblichen schnappt, und die Täter schiebt man in einen zugefrorenen See.“
„Mindestens. Apropos, was hast Du eigentlich mit Deinen gemacht?“
„Unspektakulär. Einen bösen Brief geschrieben. Den Kontakt abgebrochen. Mit strafrechtlichen Konsequenzen gedroht, falls sie sich mir noch mal nähern.“
„Kommen sie dann in den Kerker und kriegen glühende Pantoffeln?“
„Eher vor den Kadi. Und kriegen einen mächtigen Rüffel.“
„Enttäuschend.“
„Ach, es kommt immer drauf an, was man zu verlieren hat. Und manchen Leuten ist ihr - vermeintlich - guter Ruf ihr ein und alles- und Einziges. Das schöne Bild, was sie allen anderen gerne vorgaukeln wollen, weißt Du? Die meinen tatsächlich, wenn sie nur überzeugend genug schauspielern, dass der Rest der Welt so doof ist, und ihnen auf den Leim geht, weil sie sich für die Allerschlausten und Gerissensten halten!“
„Also sind die sowas wie die Könige in Eurer Welt?“
„Eher Vollblutnarzissten. Aber das mit der königlichen Attitüde passt schon. Die sind gefühlt irgendwie alle Könige und halten sich gegenseitig und alle anderen für Idioten.“
„Das klingt stark nach meiner Stiefmutter und ihrer blöden Tochter. Aber egal, schreibst Du mir nun mein Leben? Bitte.“
„Ich glaube, Du verstehst nicht. Es ist wahr, dass ich versucht habe, ein Märchen zu schreiben, nachdem ich so viele gelesen hatte, die dann vom Autor psychologisch eingeordnet wurden. Ich war schon immer fasziniert von Märchen. Und später von Psychologie. Und seit meiner Kindheit schreibe ich Geschichten, aber -“
„Aber was?“
„Naja, ich bin gescheitert.“
„WAS???“
„Weißt Du, mir ist in der Mittagspause mal der Kragen geplatzt, da kam mir die Idee, mich auf dem Papier auszukotzen. Weil mir plötzlich der Narzissmus an allen Ecken ins Gesicht sprang. Nachdem ich verstanden hatte, was mit meiner Stieffamilie falsch war. Dass man mir immer weismachen wollte, dass, wenn ich nur alles richtig machen würde, sie auch besser mit mir umgehen würden. Es war immer meine Schuld, wenn sie mich demütigten und beleidigten. Ich hatte es mir verdient, dass man mich mit Büchern bewarf und Treppen runter schubste, nur weil ich gerne las und mir zu sagen erlaubte, dass ich Dinge unlogisch fand. Seltsam war nur, dass die Menschen draußen genau das an mir schätzten, wofür ich zu Hause bitter bestraft wurde. Und ich habe einige kluge Menschen getroffen, die mich ermutigt haben. Und irgendwann hatte ich begriffen, dass man mir immer nur vorgaukelte, dass ich den Fehler bei mir finden müsste, damit ich nicht durchschaue, dass ein paar Verrückte mich die ganze Zeit ausnutzen und verarschen. Knüppeldicke kam es auf der Beerdigung meiner Oma. Ich verabschiedete mich damals von unserem Dorfpastor. Ich sagte ihm, dass er bitte künftig immer meinen Opa zum Geburtstag besuchen solle. Auch wenn der natürlich immer schimpfte, er wolle keinen Pfaffen im Haus, der ihm nicht mal garantieren könne, dass er in den Himmel komme. Weil ich nun mit dieser Familie durch sei. Daraufhin freute sich der Pastor und sagte nur, dass es auch irgendwann mal gut sei und ich mal an mich denken müsse. Immerhin hätte ich den Laden die ganzen Jahre zusammengehalten. Ich war entsetzt. Denn der hatte mich nicht mal konfirmiert und konnte mich gar nicht so gut kennen. Offenbar hatte ihn der Rest des Dorfes fleißig auf dem Laufenden gehalten.“
„Ich kann da kein Scheitern erkennen“ Aschenbrödel hebt ihre Schultern und mustert mich fragend.
„Ich meine ich habe versucht, ein normales Märchen zu schreiben. Eine kurze Geschichte mit tiefer Symbolik. Ich wollte Narzissmus und Borderline kurz und knackig dort hineinpacken. Und dann zur Tagesordnung übergehen. Heraus kam, dass dann täglich irgendwelche Gestalten auf meiner geistigen Matte erschienen und mir Sachen erzählten. Einfach so. Egal, ob ich Auto fuhr oder abspülte oder Blumen einbuddelte.“
„Und dann?“
„Dann habe ich das aufgeschrieben. Neben der Arbeit, neben dem Alltag. Jahrelang. Heimlich. Und ich habe noch keinen müden Cent damit verdient. Will sagen, wenn Du jemanden suchst, der Dir ein Märchen schreibt- dann nimm lieber jemanden, der das kann.“
Aschenbrödel schmunzelt.
„Fein. So wie ich das sehe, sitze ich auf Deiner Matte und erzähle Dir gerade mein Problem. Wenn das so viele vor mir getan haben, bin ich hier goldrichtig. Und ich will ums Verrecken kein Märchen, ich will ein echtes Leben. Apropos. Ich habe leider kein Gold dabei, aber tut es meine Halskette?“
Ich schüttele den Kopf.
„Ich werde bestimmt keine Halskette vom Aschenbrödel -“
„Scheiß jetzt mal auf Aschenbrödel!“ Wütend schlägt sie auf den Tisch und knallt mir eine lange, weiße Feder vor die Nase. „Schreib! Damit. Das ist eine magische Feder. Was Du damit schreibst, wird wahr. Ich will leben. Hilf mir. Jetzt!“
„Kannst Du das nicht selber damit?“ Ich wiege die Feder nachdenklich in meiner Hand.
„Ich bin eine verdammte Märchenfigur! Glaubst Du denn, ich hätte das nicht versucht? Jedes Mal, wenn ich das tue, verschwimmt es vor meinen Augen und ich lande wieder auf dem schneebedeckten Feld mit meinem Prinzen.“ Tränen stehen in ihren Augen.
„Wo hast Du das Ding her? Ich frage nur, damit wir nicht im Nirvana landen, wenn ich -“
„Vom Berggeist.“ Kleinlaut dreht sie die Hände ineinander.
„Etwa dem aus Schneeweißchen und Rosenrot?? Der mit dem Bart, den die ständig abschneiden?? Der Typ ist ein Arschloch! Was wollte er dafür haben?“
„Meine Armbrust?! Die brauchte ich eh nicht mehr, ich hatte ja den Prinzen -“
„Das bedeutet, dass wenn Du wieder in Dein Märchen zurückgehst, Du Deinem Prinzen nie auf der Jagd begegnest, und dann bist Du auf ewig bei Deiner grässlichen Familie gefangen.“
„Scheiße.“
Ich schüttle die Feder und setzte sie aufs Papier.
„Da kommt nichts raus.“
„Vielleicht musst Du stärker drücken.“
„Vielleicht brauchen wir Tinte.“
„Deswegen hat er gelacht, als er sie mir gab. Er hat sie absichtlich zurückbehalten. Warum macht der sowas?“
„Vermutlich will er Deine Rolle übernehmen und am Ende mit dem Prinzen tanzen?! Ich habe keine Ahnung, vielleicht ist er einfach nur frustriert und bösartig. Aber wir brauchen diese Tinte.“
„Bis Mitternacht.“
„Wieso das?“
„Na, ich bin Aschenbrödel?“
„Ich hatte ja keine Ahnung, dass wir dieses Weihnachten Besuch bekommen. Möchtest Du uns nicht vorstellen, Schatz?“ Der Mann stolpert in die Küche, beladen mit einer Wasserkiste und den letzten Einkäufen.
„Das ist Aschenbrödel!“ Flötet schon meine Tochter, schnappt sich einen Schokoladennikolaus von ihrem Vater und hüpft von dannen.
„Der ist für Deinen Cousin!“ Ruft er ihr noch hinterher.
„Das ist – also- das ist mein Mann- und das ist das Christkind. Genaugenommen hat sie sich so verkleidet …“ Ich ringe die Hände.
„Wegen der Kleinen. Als Überraschung!“ Pflichtet Aschenbrödel bei.
„Für mich sieht das eher aus wie Aschenbrödel“ kommentiert der Mann, während er die Einkäufe sortiert.
„Ja, das sagten die im Kostümverleih auch. Flügel halt waren aus.“
„Und wie heißt das Christkind ohne Flügel?“
„Das ist A-“ ihr Ellbogen trifft meine Rippen und sie zischt gänzlich unmärchenhaft. „Angela. Aus - Köln. Deswegen das Kostüm. Karneval. Vom Mediationskurs.“
„War der nicht in Hamburg!?“
„Ja, aber sie ist halt von Köln dorthin gereist. Und dann hatten wir mal wieder geschrieben und sie hat mich heute spontan besucht. Kann sein, dass sie ein paar Tage bleibt.“
„Überraschung“ trällert Angela alias Aschenbrödel.
Der Mann schaut, als hätte ich den Verstand verloren.
„Du hast nie was von ´ner Angela erzählt, und nun soll sie ein paar Tage bleiben? Über Weihnachten? Hier übernachtet sonst nie einer, ohne dass wir darüber gesprochen haben. Und das alle Jubeljahre. Hat sie denn keine Familie? Keinen Mann?“
„Genau das ist ja das Problem!“ Knurre ich lauthals, während ich der kreischenden Angela vors Schienbein trete und ihr ein Stück von der Küchenrolle ins Gesicht drücke. „Sie haben Stress. Er hat Schluss gemacht. Wegen einer anderen. An Weihnachten! Und sie hatte sich gerade einigermaßen beruhigt. Das war sehr einfühlsam. Danke, Schatz!“
Auf Kommando heult Angela zum Steinerweichen in ihre Küchenrolle.
„So ein – so ein Arschloch!“ Jammert sie.
„Tut mir leid! Soll ich Euch vielleicht allein lassen?“
„Schon gut, ich glaube, wir machen mal einen Spaziergang! Bis später!“ Ich zerre Angela aus der Küche und drücke ihr ein paar Klamotten von mir auf den Arm. „Nicht ganz Deine Größe, aber Hauptsache, es erkennt Dich niemand. Du hattest Dir ja ein normales Leben gewünscht, jetzt fangen wir mit normalen Klamotten -“
„Hosen!!! Ich liebe Hosen!!!“ Angela strahlt und schlüpft in Jeans, Wollpulli und Boots. Ihre Sachen verstauen wir in einem Rucksack.
„Mama, ich will mit!“ Meine Tochter kommt gelaufen, ihre Mütze in der Hand.
„Na gut, wir wollen ein bisschen in den Wald!“
Sie strahlt. Eine Rettungshunde-Winter- Garnitur später laufen wird zu dritt durch den Wald. Es wird allmählich dunkel.
„Hast Du eine Ahnung, wo der Typ wohnt?“
„Na, im Berg? Er ist der Berggeist.“